Blogtexte2021_1_12
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Gegensätze
Sep 24, 2021
Ich glaube, dass
viele Menschen unbewusst ein Korrektiv
der Welt suchen. Sie schöpfen Kraft daraus,
manches, das sie nicht bereit sind zu verstehen,
auszublenden und verdrängen es lieber.
Mit ihrem Intellekt beschreiben sie ein zur
Wirklichkeit alternatives Gebäude, in dem
sie aber auch gefangen sind. Sie möchten
besser sein? Es fällt ihnen leicht, schlechte
Dinge zu brandmarken, als wären diese nun
außerhalb vom Kosmos.
Nicht wenige verwechseln ihr kleines,
gefühltes Universum mit dem großen. In der
Verblendung unsere Gesellschaft insgesamt
zu korrigieren, wenn andere beschuldigt
werden, verdrängt es das wahre Bild der
Umgebung. Das Beschimpfen etwa von
Internetpornografie oder das Verwerfliche
der Prostitution anzuprangern, mag einige
darin bestärken, gute Menschen zu sein.
Unter Gleichgesinnten ausgesprochen, wirkt
Einbildung noch besser. Das wird kaum ändern,
dass viele, an einen bestimmten Platz
ins Leben gestellt, eklige Dinge tun. Penetrant
nehmen nicht wenige an, die anderen
könnten leichthin leben wie sie selbst – und
alles wäre gut.
# Follower der ‚guten‘ Partei
Mit einem Plakat beispielsweise Gewaltverzicht
einzufordern, ändert den Menschen
grundsätzlich nicht. Möglicherweise wird ein
neues Gesetz irgendwo Grenzen ziehen und
das Problem verlagern? Aggression an sich
kann nicht abgeschafft werden. Als Kreative
sind wir verpflichtet, Unverständliches und
absurde menschliche Empfindungen in uns
auszuloten, anstelle die Solidargemeinschaft
und das Regelwerk der Gesetze zu beschreien.
Ich komme aus Wedel, war dort
auf der Realschule. Um studieren
zu können, ist es nötig gewesen,
eine Art Abitur zu haben. Für mich
bedeutete das am Steinhauerdamm
in Hamburg zwei Jahre
dranzuhängen. Fachhochschulreife
hieß das damals. Die Lehrer an
dieser Schule standen mehrheitlich
politisch der SPD nahe
und ließen keinen Zweifel daran.
Sie waren grundsätzlich kritisch
gegenüber dem Staat eingestellt.
Der Deutschlehrer (den wir beim
Vornamen ‚Willi‘ nennen durften)
forderte uns beispielsweise auf,
die anstehende Volkszählung zu
verweigern. Man könne sagen,
man sei krank und etwa behaupten,
nicht fähig zu sein den
Fragebogen auszufüllen. Auf unsere
Frage, welche Krankheit wir
vorschieben sollten, wenn wir doch gesund
wären meinte der Lehrer, da könne man eine
erfinden: „Nabelsausen“, das würde er selbst
machen. Da haben einige gelacht.
Das damals neue, grüne Umweltverständnis
schlug sich auch im Unterricht nieder. Auf einer
Klassenreise stoppten wir an einem Bauernhof.
Ich würde sagen, dass es diejenige
war, die uns in das Hinterland der Oste führte.
Wir waren mit dem Fahrrad in Schulau
an Bord der Lühefähre gegangen. Dann sind
wir an einem schönen Tag bis halb nach
Bremen geradelt. Dort bezogen wir einen
renovierten Resthof, der extra auf solche
wie uns gewartet hatte. Etwa eine Woche
verbrachten wir dort? Vielleicht ist es nur
ein langes Wochenende gewesen. Ich
erinnere mich nicht mehr so gut daran.
(Ich spielte schlecht Tischtennis mit
Sandra und war ziemlich verliebt. Das
nütze mir nichts. Da waren anderswo
sportlichere Männer unterwegs, und
ich habe mir nur einiges eingebildet).
Ich glaube, dass das mit dem Biowindrad
auf der Rückreise war. Wir machten
einen Umweg zu einem besonderen
Hof, den der Lehrer kannte.
Ein nebliger Tag. Wir standen nahe
einer Scheune oder anderen landwirtschaftlichen
Schuppen und wurden
angewiesen, dieses Ding zu bestaunen.
Es war sehr groß. Der Bauer hatte es
selbst aus Blech zusammengenagelt.
Man stand davor, und der Himmel war grau.
Es nieselte ein wenig. Das Windrad ragte vor
uns auf wie ein tumber Riese, der gerade
Pause macht. Da drehte nix. Ein graues,
silbernes Alublechgeschleuder, das nicht
schleuderte. Norbert erklärte, wie großartig
es wäre. (Unser Englischlehrer war auch
Klassenlehrer). Seine Augen leuchteten grün,
als er behauptete:
„Das ist die Zukunft.“
# Auch Politik war eine wichtige Sache für
uns
Die grüne Politik war noch neu, und die
heutige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
etwa drei Jahre alt. Die Demonstrationen
gegen Atomkraft waren kraftvoll und
unübersehbar, die Sonne des Logos reckt
kampflustig eine Faust nach oben! Wirkliche
Furcht vor dem Klimakollaps kannten wir
nicht. Das würde irgendwann später sein.
Niemand hätte sein Kind Greta genannt:
Meine Mutter hieß Greta. Politik hatte
einen hohen Stellenwert im Unterricht.
Wir schauten den ganzen Tag fernsehen in
dieser Schule an dem Tag, wo Schmidt im
Misstrauensvotum gestürzt und Helmut
Kohl zum Kanzler wurde. Dieser Lehrer war
wirklich engagiert: Mein Politiklehrer K.
hatte in Wedel eine Freundin und kaufte
gelegentlich Fisch bei uns. Ich traf ihn bis
vor kurzem in der Stadt. Zum Schluss schien
er mir dement zu sein. Er erzählte, er hätte
eine Zeitlang in Schenefeld gewohnt, am
Parkgrund. Ich sagte: „Da ist ein kleiner
See.“ Und er meinte: „Ja.“ Dann kam anderes,
worüber wir sprachen, aber nach einiger Zeit
fragte er (wie anfangs), wo ich heute lebe?
Und ich sagte ein weiteres Mal: „Schenefeld.“
Da hätte er auch mal gewohnt, erinnerte er
sich (wieder).
„Am Parkgrund.“
„Gibt es da nicht einen See?“, wollte ich
wissen. „Ja“, bekundete er. Bald darauf ging
ich; frustriert – und fuhr später mit dem Bus,
traf ihn noch einmal.
Vom Café lief ich zum Bahnhof, um einzusteigen,
aber man hätte auch in die andere
Richtung gehen können, und tatsächlich: Wo
„Salamander“ gewesen war, stieg K. ein. Er
erkannte mich nicht? Ich saß gleich vorn auf
dem einzelnen Platz links. Mein alter Lehrer
ging im Gang an mir vorbei, sah mich direkt
an und schaute wie durch mich hindurch.
Ich verzog keine Miene, weil das irgendwie
besser gewesen ist. Am Galgenberg stieg der
Verwirrte aus, als wenn alles ganz normal
wäre. Das ist das letzte Mal gewesen, dass
ich ihn sah.
Es war noch
vor Corona,
aber sehr lang
ist es nicht her.
K. hat schon
damals gern
erzählt. Er
wäre in der Armee
gewesen,
im Rheinland.
„Da hatten
wir weibliche
Offiziere.“
Aus Großbritannien:
„Tolle Frauen!“, so erinnerte er sich noch
im Café; damit hätte man den gar nicht
in Verbindung gebracht. Ein kleiner Mann
mit Schnauzbart. Der trug ein abgewetztes
Sakko und wirkte immer wie ein verplanter
Junggeselle, das Haar schon mal zu lang und
ungewaschen fettig. Es stieß am Kragen auf.
Anders als die Kollegen, lief er immer im
Anzug herum – der aber schlecht saß. Die
Sep 24, 2021 - Gegensätze 107 [Seite 107 bis 109 ]