Blogtexte2021_1_12
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
zu wahren, Ermittlungsdetails geheimzuhalten
und dennoch zu informieren, nicht
für deplatzierte Äusserungen belangt zu
werden. Die Flut von Wortmeldungen wird
unsere Sprache noch mehr ändern. Da
können Menschen, die im geschlechterneutralen
Sprechen schlicht Blödsinn erkennen,
keinesfalls gewinnen. Nächste Generationen
finden nichts falsch daran, alle mitzunehmen
und werden sich auch unter ihresgleichen
äußern wie gegenwärtig die Offiziellen.
Ich käme wohl kaum auf die Idee, privat
von den Mitseglern und Mitseglerinnen auf
meinem Boot zu reden. Auf die Frage nach
meinem „Vorschoter“ sage ich: „Sie (oder
nenne ihren Namen) ist mein Mitsegler“
und empfinde das als normal. So war es
üblich. Das wird sich ändern. Sprache ist
selbst zu einem Instrument geworden, weil
wir häufiger als je zuvor eine technische
Apparatur dafür benutzen? Wir schreiben
hin, was wir sagen, und es bleibt. „Fasse
dich kurz“, war früher ein Hinweis, wie
korrekt zu telefonieren sei. „Wir sehen uns
morgen Nachmittag um drei“, sagte man,
und bis zu diesem Moment fand keinerlei
Abstimmung mehr statt. Den verabredeten
Treffpunkt musste man finden, ohne den
gesamten Weg bis zum letzten Meter auf
das Smartphone zu schauen. Während zu
kommunizieren nur einen Teil des Lebens
ausmachte, ist das heute eine andauernde
Beschäftigung geworden. Es ist ein nicht
mehr wegzudenkender Bestandteil unseres
Daseins und existentiell.
Damit hat die Sozialisierung Ausmaße
erreicht, die Ältere erstaunt, wenn sie denn
fähig sind, die Veränderung bewusst zu
registrieren und ihr Verhalten anzupassen.
Nur zu oft werden Unbewegliche mitgenommen,
ohne zu begreifen, wie es ihnen
geschieht. Wenn nun alle öffentlichen
Äußerungen – und durch die Digitalisierung
ist vieles öffentlich, das früher privat still
vonstatten gegangen wäre – dem sozialen
Abgleich der Korrektheit unterworfen
sind, muss die gruppenweise Bindung
individueller Standpunkte zwangsläufig
über banale Einzelmeinungen siegen. Es
sei denn, diese wären tatsächlich originell,
wirklich neu und auf eine intelligente Weise
zielführend. Mehr denn je sollte
die verbale Klugheit den Sieg über
dumpfes Mitlaufen erringen können,
wenn zu kommunizieren ständigen
Angriffen ausgesetzt ist. Jede wirklich
selbstbewusst vertretene Ansage, die
einem logischen Konzept folgt, muss
zwingend Follower auf den Plan
rufen. Eine Gruppe, die böswillig zum
Ziel hat, Einzelne zu beschädigen,
dürfte nach anfänglichen Erfolgen
durch alltägliche Fehler Schwierigkeiten
bekommen, weil Fakes mühsamer
zu installieren sind, als den
Weg eines Menschen zu gehen, der
redlich seiner Motivation folgt. Der
Unterschied zu früher besteht darin,
dass es mehr Gruppen gibt, sie sich
leichter bilden, wenn ungewöhnliche
Formen des Verhaltens und neue
Ansichten bekannt werden und diese
nun gern torpedieren. Egal ob derjenige
welcher polarisiert, es offen mitbekommt
oder eine klebrige Melange der Gegner verdeckt
unterwegs ist – entscheidend bleibt
das Selbstbewusstsein des Individuums, in
verbaler Welt zu überleben oder sogar zum
meinungsbildenden Anführer zu werden.
Gerade deswegen sollten wir Stimmen
begrüßen, denen es gelingt, dem kollektiven
Druck, was dem Gesamten nütze, mit einer
originellen Idee Widerstand zu leisten. Es
ist üblich geworden, mit der sozialen Keule
zu drohen. Die wohlmeinende Forderung,
das große System zu stärken (und dass es
uns gut ginge, beteiligten wir uns daran)
ignoriert schon mal, dass der Einzelne selbst
ein empfindsam fühlendes System ist, das
mehr als abstrakte Worte bedeutet. Jeder
Mensch ist eine kleine Ordnung. Was jemand
sagt und denkt, entspricht bestenfalls Ideen,
die derjenige untrennbar von den Gliedmaßen,
seinem Rumpf, Schädel und typgemäßer
Kleidung im Ganzen darstellt und lebt.
Ein nicht unerheblicher Teil der Menschen
verhält sich aber so, als würde (bildlich gesprochen)
Deutschland tun, was Dänemark
(resp. Frankreich, die
Vereinigten Staaten)
befiehlt; also sinnbildlich
fremdmotiviert ist
das Verhalten Einzelner,
die doch über ihr eigenes
System verfügen
könnten.
Das Wort vom Querdenker
war anfangs
nicht negativ wie heute,
wo Verschworene
einen Block formen, der
auf diffuse Weise gegen die breite Meinung
einen unklaren Gegenpol bildet. Wir sollten
darüber froh sein! Vergleichbar mit einem
Biotop, werden hier die neuen Meinungen
wachsen, die später wirklich belastbar sind.
Quatsch kann sich nicht behaupten.
Es mag so sein, dass geborene Künstler auf
die Welt kommen oder Manager, aber wahrscheinlich
ist es nicht. Kommen Schwerstkriminelle
mit einem Gen dafür und einer dementsprechend
vorgezeichneten Laufbahn
als talentierte Mörder zur Welt oder ist es
von Beginn an klar, das Dasein als psychisch
kranker Zeitgenosse fristen zu müssen; ich
glaube nicht daran. Es heißt, Autismus sei
erblich? Das zweifle ich an. Einige Beschreibungen
mögen skizzieren, was ich denke.
Da ist die Mutter einer entsprechend
diagnostizierten Tochter, inzwischen ein
Teenager. Das Leben dieser Familie wird
durch die Erkrankung des Kindes bestimmt.
Die in einer Doku anstrengenderweise
nervende, von sich mehr als nur überzeugt
auftretende Frau beherrscht den Film. Das
mag mein subjektiver Eindruck sein. Sie
hätte „vom ersten Moment an, schon gleich
nach der Geburt am Ausdruck der Augen
ihres neugeborenen Mädchens erkannt“, dass
dieses krank sei. Die Penetranz mit der sie,
zur Dauerpflegerin mutiert, alles darstellt,
was rund um dieses Sonderkind getan wird,
weckt in mir die Lust, die Frau sofort aus
dem Verkehr zu ziehen. Jedenfalls weg vom
beinahe erwachsenen Kind, so angewidert
bin ich. Für mich ist das eine Zuweisung
des Fehlers, der Störung ausschließlich ans
Kind, um keinesfalls selbst angegriffen zu
werden. Dazu kommt spürbar der Wunsch,
als barmherzige Pflegemutter geadelt und
anerkannt zu sein.
Ein Erwachsener kann sich dem sozialen
Druck der Umgebung entziehen. So jemand
kann einschätzen, wofür er bestraft würde
und sich entsprechend risikobereit oder
defensiv in die Gesellschaft einfügen. Ein
heranwachsendes Kind kann sich dem
Drängen, täglichen Forderungen an das
gewünschte Verhalten und der Strafe, falls
es den Eltern nicht genügt, nur stellen,
wenn es im nachvollziehbaren Verhältnis
Freiheiten, Grenzen und Liebe erfährt. Viele
meinen, es sei wie es ist und ein Charakter
bestimme. Und wenn nicht dieser, dann lege
ein Gen uns sowieso fest. Das ist gemein
und dumm. Die aus dem Boden sprießenden
Hundeschulen könnten uns lehren, dass
die blödesten Köter stets an der Hand von
frigiden und frustrierten Ziegen laufen. Ein
Babyersatz beißt noch zu, eine Kinderseele
schreit, bis ihr auch das verboten wird.
Ich kenne drei Frauen, die ein vergleichbares
Schicksal teilen wie diese Mutter in der
Dokumentation. Ihren Kindern wurde die
Diagnose Asperger verschrieben, nachdem
die Entwicklung einen schwierigen Verlauf
genommen hat. Meiner Auffassung nach
ähneln sich die Frauen im vergleichsweise
plakativen Ausdruck. Eher arm an Mimik,
präsentieren sie anderen ihr Gesicht schön,
aber auf individuelle Weise immer gleich.
Das wirkt erwachsen und beherrscht, ist
aber möglicherweise schwierig für ein Kind
zu verstehen, darin begriffen zu lernen
welche Bedeutung dahinter steht. Ich könnte
mir vorstellen, dass nun andere Prioritäten
vorherrschen, das Gehirn selbst zu
verwenden: Kinder also Dinge lernen,
die sich gut anfühlen, intelligent sind
und erst Schwierigkeiten machen,
wenn sich die Bedingungen ändern,
vermehrt andere Menschen auftauchen.
Damit erfolgt eine Anpassung,
die so lange effizient ist, wie die
Familie unter sich ist und formt ein
kleines Gehirn, das nachweislich
untypisch geprägt ist. Ich mag hier
als vollkommener Laie weit über das
Ziel einer hilfreichen Einschätzung
pauschal hinausschießen.
Außer dieser massiven psychischen
Störung gibt es eine Reihe von anderen,
welche die Entwicklung junger
Menschen beeinträchtigen, und
neben oft früh diagnostizierten Depressionen
oder selbstverletztenden
Erkrankungen wie das Ritzen, ist besonders
die manische Phase einiger Depressionen
bzw. die schizophrene Psychose in ihren unterschiedlichen
Formen ein Schock für alle
Betroffenen und Angehörige. Auch weil die
jungen Menschen bereits am Anfang eines
selbstständigen Lebens nach Abschluss der
Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 101 [Seite 100 bis 103 ]