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Blogtexte2021_1_12

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zu wahren, Ermittlungsdetails geheimzuhalten

und dennoch zu informieren, nicht

für deplatzierte Äusserungen belangt zu

werden. Die Flut von Wortmeldungen wird

unsere Sprache noch mehr ändern. Da

können Menschen, die im geschlechterneutralen

Sprechen schlicht Blödsinn erkennen,

keinesfalls gewinnen. Nächste Generationen

finden nichts falsch daran, alle mitzunehmen

und werden sich auch unter ihresgleichen

äußern wie gegenwärtig die Offiziellen.

Ich käme wohl kaum auf die Idee, privat

von den Mitseglern und Mitseglerinnen auf

meinem Boot zu reden. Auf die Frage nach

meinem „Vorschoter“ sage ich: „Sie (oder

nenne ihren Namen) ist mein Mitsegler“

und empfinde das als normal. So war es

üblich. Das wird sich ändern. Sprache ist

selbst zu einem Instrument geworden, weil

wir häufiger als je zuvor eine technische

Apparatur dafür benutzen? Wir schreiben

hin, was wir sagen, und es bleibt. „Fasse

dich kurz“, war früher ein Hinweis, wie

korrekt zu telefonieren sei. „Wir sehen uns

morgen Nachmittag um drei“, sagte man,

und bis zu diesem Moment fand keinerlei

Abstimmung mehr statt. Den verabredeten

Treffpunkt musste man finden, ohne den

gesamten Weg bis zum letzten Meter auf

das Smartphone zu schauen. Während zu

kommunizieren nur einen Teil des Lebens

ausmachte, ist das heute eine andauernde

Beschäftigung geworden. Es ist ein nicht

mehr wegzudenkender Bestandteil unseres

Daseins und existentiell.

Damit hat die Sozialisierung Ausmaße

erreicht, die Ältere erstaunt, wenn sie denn

fähig sind, die Veränderung bewusst zu

registrieren und ihr Verhalten anzupassen.

Nur zu oft werden Unbewegliche mitgenommen,

ohne zu begreifen, wie es ihnen

geschieht. Wenn nun alle öffentlichen

Äußerungen – und durch die Digitalisierung

ist vieles öffentlich, das früher privat still

vonstatten gegangen wäre – dem sozialen

Abgleich der Korrektheit unterworfen

sind, muss die gruppenweise Bindung

individueller Standpunkte zwangsläufig

über banale Einzelmeinungen siegen. Es

sei denn, diese wären tatsächlich originell,

wirklich neu und auf eine intelligente Weise

zielführend. Mehr denn je sollte

die verbale Klugheit den Sieg über

dumpfes Mitlaufen erringen können,

wenn zu kommunizieren ständigen

Angriffen ausgesetzt ist. Jede wirklich

selbstbewusst vertretene Ansage, die

einem logischen Konzept folgt, muss

zwingend Follower auf den Plan

rufen. Eine Gruppe, die böswillig zum

Ziel hat, Einzelne zu beschädigen,

dürfte nach anfänglichen Erfolgen

durch alltägliche Fehler Schwierigkeiten

bekommen, weil Fakes mühsamer

zu installieren sind, als den

Weg eines Menschen zu gehen, der

redlich seiner Motivation folgt. Der

Unterschied zu früher besteht darin,

dass es mehr Gruppen gibt, sie sich

leichter bilden, wenn ungewöhnliche

Formen des Verhaltens und neue

Ansichten bekannt werden und diese

nun gern torpedieren. Egal ob derjenige

welcher polarisiert, es offen mitbekommt

oder eine klebrige Melange der Gegner verdeckt

unterwegs ist – entscheidend bleibt

das Selbstbewusstsein des Individuums, in

verbaler Welt zu überleben oder sogar zum

meinungsbildenden Anführer zu werden.

Gerade deswegen sollten wir Stimmen

begrüßen, denen es gelingt, dem kollektiven

Druck, was dem Gesamten nütze, mit einer

originellen Idee Widerstand zu leisten. Es

ist üblich geworden, mit der sozialen Keule

zu drohen. Die wohlmeinende Forderung,

das große System zu stärken (und dass es

uns gut ginge, beteiligten wir uns daran)

ignoriert schon mal, dass der Einzelne selbst

ein empfindsam fühlendes System ist, das

mehr als abstrakte Worte bedeutet. Jeder

Mensch ist eine kleine Ordnung. Was jemand

sagt und denkt, entspricht bestenfalls Ideen,

die derjenige untrennbar von den Gliedmaßen,

seinem Rumpf, Schädel und typgemäßer

Kleidung im Ganzen darstellt und lebt.

Ein nicht unerheblicher Teil der Menschen

verhält sich aber so, als würde (bildlich gesprochen)

Deutschland tun, was Dänemark

(resp. Frankreich, die

Vereinigten Staaten)

befiehlt; also sinnbildlich

fremdmotiviert ist

das Verhalten Einzelner,

die doch über ihr eigenes

System verfügen

könnten.

Das Wort vom Querdenker

war anfangs

nicht negativ wie heute,

wo Verschworene

einen Block formen, der

auf diffuse Weise gegen die breite Meinung

einen unklaren Gegenpol bildet. Wir sollten

darüber froh sein! Vergleichbar mit einem

Biotop, werden hier die neuen Meinungen

wachsen, die später wirklich belastbar sind.

Quatsch kann sich nicht behaupten.

Es mag so sein, dass geborene Künstler auf

die Welt kommen oder Manager, aber wahrscheinlich

ist es nicht. Kommen Schwerstkriminelle

mit einem Gen dafür und einer dementsprechend

vorgezeichneten Laufbahn

als talentierte Mörder zur Welt oder ist es

von Beginn an klar, das Dasein als psychisch

kranker Zeitgenosse fristen zu müssen; ich

glaube nicht daran. Es heißt, Autismus sei

erblich? Das zweifle ich an. Einige Beschreibungen

mögen skizzieren, was ich denke.

Da ist die Mutter einer entsprechend

diagnostizierten Tochter, inzwischen ein

Teenager. Das Leben dieser Familie wird

durch die Erkrankung des Kindes bestimmt.

Die in einer Doku anstrengenderweise

nervende, von sich mehr als nur überzeugt

auftretende Frau beherrscht den Film. Das

mag mein subjektiver Eindruck sein. Sie

hätte „vom ersten Moment an, schon gleich

nach der Geburt am Ausdruck der Augen

ihres neugeborenen Mädchens erkannt“, dass

dieses krank sei. Die Penetranz mit der sie,

zur Dauerpflegerin mutiert, alles darstellt,

was rund um dieses Sonderkind getan wird,

weckt in mir die Lust, die Frau sofort aus

dem Verkehr zu ziehen. Jedenfalls weg vom

beinahe erwachsenen Kind, so angewidert

bin ich. Für mich ist das eine Zuweisung

des Fehlers, der Störung ausschließlich ans

Kind, um keinesfalls selbst angegriffen zu

werden. Dazu kommt spürbar der Wunsch,

als barmherzige Pflegemutter geadelt und

anerkannt zu sein.

Ein Erwachsener kann sich dem sozialen

Druck der Umgebung entziehen. So jemand

kann einschätzen, wofür er bestraft würde

und sich entsprechend risikobereit oder

defensiv in die Gesellschaft einfügen. Ein

heranwachsendes Kind kann sich dem

Drängen, täglichen Forderungen an das

gewünschte Verhalten und der Strafe, falls

es den Eltern nicht genügt, nur stellen,

wenn es im nachvollziehbaren Verhältnis

Freiheiten, Grenzen und Liebe erfährt. Viele

meinen, es sei wie es ist und ein Charakter

bestimme. Und wenn nicht dieser, dann lege

ein Gen uns sowieso fest. Das ist gemein

und dumm. Die aus dem Boden sprießenden

Hundeschulen könnten uns lehren, dass

die blödesten Köter stets an der Hand von

frigiden und frustrierten Ziegen laufen. Ein

Babyersatz beißt noch zu, eine Kinderseele

schreit, bis ihr auch das verboten wird.

Ich kenne drei Frauen, die ein vergleichbares

Schicksal teilen wie diese Mutter in der

Dokumentation. Ihren Kindern wurde die

Diagnose Asperger verschrieben, nachdem

die Entwicklung einen schwierigen Verlauf

genommen hat. Meiner Auffassung nach

ähneln sich die Frauen im vergleichsweise

plakativen Ausdruck. Eher arm an Mimik,

präsentieren sie anderen ihr Gesicht schön,

aber auf individuelle Weise immer gleich.

Das wirkt erwachsen und beherrscht, ist

aber möglicherweise schwierig für ein Kind

zu verstehen, darin begriffen zu lernen

welche Bedeutung dahinter steht. Ich könnte

mir vorstellen, dass nun andere Prioritäten

vorherrschen, das Gehirn selbst zu

verwenden: Kinder also Dinge lernen,

die sich gut anfühlen, intelligent sind

und erst Schwierigkeiten machen,

wenn sich die Bedingungen ändern,

vermehrt andere Menschen auftauchen.

Damit erfolgt eine Anpassung,

die so lange effizient ist, wie die

Familie unter sich ist und formt ein

kleines Gehirn, das nachweislich

untypisch geprägt ist. Ich mag hier

als vollkommener Laie weit über das

Ziel einer hilfreichen Einschätzung

pauschal hinausschießen.

Außer dieser massiven psychischen

Störung gibt es eine Reihe von anderen,

welche die Entwicklung junger

Menschen beeinträchtigen, und

neben oft früh diagnostizierten Depressionen

oder selbstverletztenden

Erkrankungen wie das Ritzen, ist besonders

die manische Phase einiger Depressionen

bzw. die schizophrene Psychose in ihren unterschiedlichen

Formen ein Schock für alle

Betroffenen und Angehörige. Auch weil die

jungen Menschen bereits am Anfang eines

selbstständigen Lebens nach Abschluss der

Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 101 [Seite 100 bis 103 ]

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