Blogtexte2021_1_12
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Blog 2021
Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 3. Januar bis 22. Dezember 2021
Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de
# Seite
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
30, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 3. Januar bis zum 22. Dezember 2021
2
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh
4
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England
7
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
21, 2021 - Du und ich
10
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2021 - Ein kalter Wind weht
12
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
13, 2021 - Weißer Winter, rosa Rauch
15
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte
16
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt
20
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2021 - Krieg zuhause ist nur doof
25
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
4, 2021 - Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten
26
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
4, 2021 - Selbstwirksamkeit
27
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2021 -„Mama, mir ist langweilig.“
29
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
14, 2021 - Die Firma
31
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2021 - Der harte Knochen
32
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
27, 2021 - Die neue Freiheit
35
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
28, 2021 - Für immer geimpft
36
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2021 - Einfach aufgehört
37
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2021 - Weil Hoffnung ändert
41
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
15, 2021 - Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick
48
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
9, 2021 - Girlande der Schande
49
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
28, 2021 - Meine kleine Freiheit
52
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
19, 2021 - Fertig.
57
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
26, 2021 -„Selfexecuties“
59
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh
63
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2021 - Man muss zurückschauen können
65
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich
67
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
17, 2021 - Wir sterben und wissen es
69
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert
71
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel
75
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
3, 2021 - Heilige Scheiße
80
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
6, 2021 - Das Wundermittel
82
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt?
84
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
26, 2021 - Kurze Arbeit
95
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
30, 2021 - Frisch gestrichen!
96
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2021 - Leben wie gemalt
97
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
16, 2021 - Zu spät für dich
100
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
19, 2021 - Unter- und oberflächlich
104
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
24, 2021 - Gegensätze
107
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
28, 2021 - Was einfach geht
110
Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf
111
Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 3 ]
Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de
# Seite
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2021 - Das ist nicht komisch
115
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
20, 2021 - Ganz einfach!
117
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
22, 2021 - Blankenese
119
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
25, 2021 - Gretabedingt
120
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
29, 2021 - Merkur
124
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2021 - I Cover the Waterfront
127
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
7, 2021 - Der Egoist
130
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2021 - Jungfrau
131
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
13, 2021 - Nur ein Traum
132
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2021 - Volkstrauertag
135
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch
138
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2021 - Musterklage
140
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
5, 2021 - Das Problem
144
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal
147
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend
149
Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 3 [Seite 2 bis 3 ]
Die Wellen vor Edinburgh
Jan 3, 2021
Sie segelten im Sturm nach Edinburgh, duzten
die Nordseewellen. Echte Männer wissen
Bescheid. Eine alte Geschichte, die es wert
ist, aufgeschrieben und erzählt zu werden.
Die grünen Nordseewellen trecken an den
Strand, und Guido Westerwelle, der ist schwul
– igitt?
# Ich bin der digitale Patient und ein Spinner!
Erfahrungen brennen sich ein. Kein Ratgeber
leistet so viel, wie eine eigene Situation im
Leben, in der wir etwas begreifen. Wer nackt
ist, dem kann niemand die Hose runterziehen.
Nach dieser Logik outen sich Menschen. Die
sexuelle Ausrichtung kann verborgen gelebt
werden, und manche ziehen es vor, auch weil
es möglich ist. Wer nicht der vermeintlichen
Normalität entspricht, kann angefeindet werden.
Wir haben zum einen Menschen, die alles
dafür tun, eine perfekte Darstellung von
sich in der Öffentlichkeit abzubilden und andere,
denen das nicht gelingt und welche die
es nicht möchten. Wem daran liegt ein Ego
auszubilden, Ängste zu beherrschen, anstelle
sich davon einengen zu lassen, wird den
letztgenannten Weg bevorzugen.
Wenn ich in Deutschland als erkennbarer
Ausländer eine Wohnung suche, mag das tatsächlich
schwerer sein. Wenn ich einen Hund
oder anderes Haustier besitze, eventuell Musiker
bin und den anderen stundenlanges Gedudel
in unmittelbarer Nachbarschaft droht,
ist es für den Vermieter ein Grund, diesen
Mieter abzulehnen. Unabhängig davon, ob es
als Begründung genannt wird oder nicht. Ein
Betrieb kann von seinem Hausrecht Gebrauch
machen. Aktuell wird diskutiert, ob eine Fluglinie
nur Corona-Geimpfte und Menschen mit
einem negativen Testergebnis befördern
darf? Das sei eine Impfpflicht durch die Hintertür.
An der Grenze zu Schweden wurden
mehrere hundert Deutsche abgewiesen, sie
waren über Dänemark unterwegs und hatten
probiert, das der Pandemie geschuldete
Einreiseverbot zu umgehen, mutmaßlich für
einen Urlaub? Die kleine Aufzählung mag
nützen, unsere menschliche Realität vom
Ausnutzen der Regeln, ihre Übertretung und
die Gegenbewegung der Abgrenzung zu illustrieren.
Ein Überblick, persönlichen Erfahrungen
zum Thema vorangestellt.
Warum outen sich Homosexuelle?
Warum überhaupt lieben Männer
nicht einfach Frauen, wie es sich
gehört, mag mancher denken,
auch heute noch. Wir arbeiten
daran, die bestmögliche und gerechteste
Welt überhaupt zu erschaffen
und sind damit bislang
nicht fertig geworden. Die Norm,
das was gewöhnlich ist, die größte
Menge die wir als Gruppe definieren
können, sie hat sich gerade
nicht eine individuelle Qualität
geschaffen, und nur zu oft bildet
sich ein normaler Mensch ein,
ein besserer zu sein, weil er wie
alle ist. Normalität ist nur dann
eine Leistung, wenn es schwierig
ist, hinzubekommen was normalerweise
alle können. Ein Amputierter
kann nicht normal laufen.
Ein psychisch Kranker kann nicht
normal handeln. Niemand ist absichtlich einbeinig
oder geistig bescheuert oder schwul.
Wo es nicht um Können oder Leistung geht,
muss der Mensch begreifen, wie vielschichtig
die Bedürfnisse sind, die unser Leben prägen
und nicht selten die Basis dessen werden,
was jemand bereit ist zu leisten oder gut
kann und schließlich zum Beruf wählt, sein
Ego darauf aufbaut. Wir Normalen sollten
zuallererst annehmen, das Homosexuelle
Bedürfnisse haben, genauso wie die breite
Masse, aber individuell anders ausgerichtet.
Ein Wunsch, ein Bedürfnis, eine Lust: Das sind
weder Krankheiten noch Leistungen oder
Regelbrüche, die unter Strafe stehen sollten.
Das scheint für die Gesellschaft ein nicht endendes
Lernfeld zu sein. Homosexualität war
verboten, sie galt als krank. Für diejenigen,
denen diese Liebesform eigen ist, ist der Weg
angefeindet zu werden und standzuhalten
auch heutzutage nicht zu Ende.
Homosexuelle können auf Unterstützung
hoffen. Auch andere Unterdrückte machen
mobil. Die Black Lives Matter Bewegung ist
eine Anstrengung, sich zu solidarisieren. Die
Sowjetunion hat ihr Ende gefunden wie Nazideutschland:
Ein sozialer Verbund wird sich
als Gegenbewegung jeder Unterdrückung
finden, wenn die ausgegrenzten Menschen
gemeinsame Ziele haben, die nachvollziehbar
menschlich sind.
# Was ist Menschlichkeit?
Das Maß geforderter Gnade, die Größe unseres
Verständnisses für andere, hat sich mit
den Jahren seit der Kreuzigung Jesu gewandelt.
Sich zur Wehr zu setzen, bedeutet, das
andere einen Angreifer erkennen können,
und wenn das der Fall ist, muss dieser sich
verantworten. Es kann keine Solidarität geben,
allenfalls Mitläufer, wenn Menschen andere
angreifen und die Motivation, sich breit
zu machen, Lustgewinn und Machtzuwachs
am Beginn einer Attacke stehen. So werden
Täter- und Opferrolle definiert. Aus diesem
Grund wird jede Unterdrückung nach einiger
Zeit zur Gegenbewegung führen, die dem
Unterdrücker zusetzt. Es sei denn, derjenige
bricht seinen Gefangenen emotional insgesamt.
Im Einzelfall gelingt es, und im Falle
des Holocaust im vielfachen Einzelfall mit
tödlichem Ausgang. So wird es in der Schule
gelehrt. Alle Juden, alle Homosexuellen,
alle Schwarzen, alle unterdrückten Frauen in
Beziehungen, wo sie der Gewalt ihrer Männer
ausgesetzt sind: Eine lange Liste kann
fortgeführt und verlängert werden, um die
bekannten Strukturen von Ausgrenzung und
entsprechender Gegenbewegung aufzuzählen.
Was müssen Menschen, die ausgegrenzt und
angegriffen werden, als Merkmal haben, damit
jemand Mittäter findet? Den Juden warf
man vor, unberechtigt zuviel Geld und Besitz
an sich gezogen zu haben, in einem Terrain
das nicht ihres sei. Den Schwarzen in den
USA, was wird denen vorgeworfen, die Hautfarbe?
Homosexualität gilt anderen als krank,
das mag davon herrühren, das Heteros sich’s
nicht vorstellen können, auf diese Weise zu
lieben, aber die Bedrohung, die von dieser
Krankheit ausgehen könne, lässt sich nicht
nachvollziehbar formulieren. Welche Bedrohung
für ihren Peiniger geht von einer misshandelten
Frau in der Ehe aus –
Wer ist Täter und wer Opfer? In einer eindeutig
übergriffigen Konstellation von Machtmissbrauch,
der viele direkt empört, werden
Bedrängte sich sozialisieren. Was, wenn es
weniger eindeutig ist? Das ist die Frage, in
welchem Zeitalter der Menschheit wir uns
befinden, welcher Umgebung wir ausgesetzt
sind. Im Mittelalter wurden Frauen, denen
man nachweisen konnte, eine Hexe zu sein,
verbrannt. Diesen Frauen konnte die ihnen
innewohnende Gefährlichkeit so überzeugend
vorgeworfen werden, wie heute etwa
einem fliehenden Attentäter nach seiner Tat.
Den darf die Polizei erschießen, obgleich wir
keine Todesstrafe im Gesetz kennen.
Unsere Zivilisation hat sich entwickelt. Eine
Nachbarin zur Hexe zu erklären, genügt heute
nicht, sie kollektiv zu verbrennen. Ein Irrer,
der wahllos Menschen angegriffen, bereits
getötet hat, da muss es erlaubt bleiben, ihn
auf seiner Flucht wegzuballern, meinen einige.
„Die Krim? Das war doch immer unser“,
antwortet mir eine liebe Bekannte auf die
Frage nach der Rechtmäßigkeit der Annexion
durch Putin. Fazit: Jede Zeit bringt Gewalt
hervor, die breite Unterstützung findet. Wir
können begrüßen, eine Verbesserung in Richtung
auf eine friedlichere Welt bemerken zu
können. Wir werden die Aggression an sich
nicht abschaffen, können sie unserer Zeit gemäß
lenken, mehr nicht.
Sogar Tiere mobben, wer im Rudel unerwünscht
ist, bekommt das zu spüren. Menschen,
die psychisch erkranken, scheinen
gerade unseren Schutz zu benötigen, und
da entsteht eine verzwickte Situation. Wird
ein Verrückter auch mal gefährlich, hat er
das Böse des Psychopathen in sich, gibt es
Anhaltspunkte dafür in seiner Vergangenheit,
können wir’s rausfinden? Könnte er eine
Gefahr für unsere Töchter sein …? Das treibt
die, die sich berufen fühlen, für Sicherheit
und Ordnung zu sorgen, um. Sie können auf
die Unterstützung einiger hoffen. Gesunde
fürchten sich vor psychisch Kranken, und sie
können nicht so unkompliziert ausgegrenzt
werden, wie etwa der dunkelhäutige Nachbar?
Einen „Spinner“ loszuwerden, das kann
das Ziel meiner Nachbarn sein, wenn ich ihnen
als solcher gelte.
# Ich habe es oft erzählt
Mir gefällt meine Vergangenheit, weil sie für
das Heute lehrreich ist. Meine eigenen Phasen
psychischer Ausfälle, heftige Schübe mit
komplettem Realitätsverlust und erzwungenen,
mehrwöchigen Aufenthalten in einer
Klinik, begannen, nachdem ich in den Neun-
Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 4 [Seite 4 bis 6 ]
zigern mein Grafik-Studium abgeschlossen
hatte. Ich schaffte keine zwei Jahre, gesund
zu bleiben und wurde etwa vier oder fünf
Mal schubweise so heftig krank, dass ich zu
einer Behandlung gezwungen war. Etwa ab
der Jahrtausendwende, nachdem meine Frau
und ich geheiratet haben, trat eine deutliche
Besserung ein. Im Gespann mit dem Arzt und
sozial integriert fand ich eine Normalität „neben“
den anderen.
Die Segelfreunde blieben mir von
Beginn. Ich fand es einfach, mich zu
erklären. Man kennt mich an der Elbe,
wo jeder jeden kennt, der Regatten
segelt oder sonstwie am Wochenende
nach Stade, Glückstadt oder einen der
anderen schönen Häfen aufbricht, oft
zusammen mit mehreren Booten. Was
von mir zu erwarten sei, wie ich mich
auf den Regatten verhalte, ob ich mit
dem Boot umgehen könne und ein
Guter wäre oder nicht, das hatte ich
bereits mehr als zehn Jahre unter
Beweis gestellt. Dass ich so bliebe,
wie sie mich kannten und mochten,
schien außer Frage, und soviel wissen
ja auch nicht immer alle gleich gut. Fazit,
ich behielt meine Freunde, blieb sozial integriert,
und das gelingt einigen, die mit dem
Psychiater Bekanntschaft machen, nicht. Das
war meine Vorstellung vom outen. Es gelang
ihnen wie nebenbei zu erzählen, wie’s mir ergangen
ist.
# Ich habe immer gern geredet, hatte kein
Problem damit
Die Probleme gab es nicht in Bahrenfeld,
wohin wir zogen, als Wedel oder Kiel nicht
in Frage kamen. Schwierig wurde es erst in
Schenefeld, wo ich seit knapp zwanzig Jahren
mit meiner Familie zu Hause bin. Mit dem
Beginn meiner Malerei kam es unweigerlich
zu Ausstellungen und einer bescheidenen
Bekanntheit, anders jedenfalls, als es die Illustration
gewesen war. Das ist nur ein Beruf.
Segeln ist kein Beruf, und „mit Johnny am
Wochenende unterwegs sein“, da hatte sich
für meine Freunde scheinbar nichts geändert.
Tatsächlich habe ich mich geändert, wie
mutmaßlich die anderen auch. Viele bemerken
ihre eigene Entwicklung nicht, so normal
kommt ihnen alles vor. Aber: „Ich bin so
geworden“, beschrieb mir einmal ein Freund
seinen eigenen Charakter heute und grenzte
sich damit klar ab von der Idee, man sei, wie
man eben ist. Ich jedenfalls war unzufrieden
mit mir und meiner Vergangenheit und habe
allen Grund dazu. Während die anderen in
guten Jahren bundesdeutschen Wohlstands
sich entwickelten, lahmte ich quasi auf einem
Bein hinter allen hintendran. Meine Freunde
fanden, während wir erwachsen wurden, zu
drei vier oder fünf kurzlebigen Beziehungen,
bis sie heirateten. Sie wählten ihre Partnerin
und trennten sich, wenn’s nicht lief.
Mir blieb diese Wahl nicht; ein Problem des
Bescheuerten ist ja, dass er es von sich nicht
annimmt, einer zu sein. Narren fühlen nicht,
und um selbstbewusst zu sein, müssen wir
etwas merken. Erst die Krankheit, dann die
Pillen, da merkst du nix. Und der Arzt findet
das auch ganz richtig, warum? Wer merkt,
dass er sich selbst verarscht, flippt gern mal
aus … aktuell der arme Michel Wendler, das
denke ich jedenfalls. Eine arme Sau, aber er
tut ja einiges, um sich weitere Spötter ranzuzüchten.
Ich war anders: brav.
Meine lieben Freunde, sie stiegen beruflich
auf, machten ein gutes Jahresgehalt
und zeigten vor, was ihnen gelungen ist. Ich
musste mir meine Vergangenheit, die zwar
zunehmend in den Hintergrund getreten ist,
je selbstverständlicher schließlich auch meine
Gegenwart wurde, schön reden. Worin besteht
der Unterschied? Das begann ich mich
dann doch zu fragen.
Das Normalgesunde bedeutet sich zu nehmen
was geht und andere verbal zu maßregeln
dafür, Regeln nicht einzuhalten. Man
nennt es fälschlich Selbstbewusstsein. Das
konnte ich nicht. Als Illustration ein kurzes
Zitat aus den Nachrichten (es ist nicht die
Politik, die etwa versagt in der Krise).
# „Es bricht alles zusammen – trotz Corona-
Lockdown: Ansturm auf verschneite Bergregionen.
Der Ansturm auf Harz, Sauerland und
Feldberg ist allen Corona-Einschränkungen
zum Trotz riesig. Die Massen tummeln sich
auf den Pisten. Teilweise herrscht Chaos. Alle
Bitten um Verzicht nützten wenig: Im Harz
und anderen verschneiten Berggebieten
waren die Parkplätze am Samstag vielerorts
schon am Morgen voll.“ (02.01.2021, 17:31
Uhr | dpa).
Im Versuch, mehr wie die anderen zu werden,
zu begreifen was der Grund dafür sei weshalb
mein Verstand erkrankte, musste ich dazulernen.
Ich musste lernen, was andere mit
dem Beginn ihres Lebens als Erwachsener
gelernt hatten oder direkt danach. Ich lernte
es später, und nicht einmal der Arzt, als ausgebildeter
Psycho-Fachmann, war dabei eine
nennenswerte Hilfe. Dem Psychiater genügt
zu plaudern, Medikamente zu verschreiben,
und mir genügte das nicht. Mein Selbstbewusstsein,
zunächst ein kleines Pflänzchen,
wurde zu einem Unkraut, das nicht zu kontrollieren
war. Ein neues Problem. Ein böses,
um sich greifendes Gewächs im Wald der
Schenefelder Eichen und Buchen, festverwurzelte
Stämme seit Jahrtausenden.
Zunächst war ich, was meine früheren Erkrankungen
betraf anonym, mit dem Recht
auf einen Schutz meiner Person ausgestattet,
meinte ich. Dass die Gesellschaft durch und
durch böse ist, wer denkt denn sowas? Jetzt
aktuell wird die Digitalisierung der Krankenakten
diskutiert, und bald wird das auf breiter
Ebene selbstverständlich sein, wie ja bereits,
trotz der Angreifbarkeit dieser Systeme, viele
Menschen online ihre Bankgeschäfte machen
oder trotz der Ungewissheit, was es eigentlich
ist, ihre Waren im Internet aussuchen
und bestellen. Auch die Partnersuche findet
online statt. Die Realität behält die Macht
dennoch.
So vor ungefähr fünfzehn Jahren ging ich
noch etwa monatlich zu meinem Arzt in Wedel,
nahm eine Minimaldosis der verschriebenen
Psychopharmaka ein, plauderte mehr,
als dass ich’s als Therapie empfand, mit dem
Psychiater. Bald ließ ich die letzte Nullkomma-Dosis
weg und riskierte, auf eigene Faust
zu leben. Das ging etwa zehn Jahre lang gut.
Als meine Mutter vor einigen Jahren verstarb,
hat’s mich derbe gerissen, und einige hier im
Dorf haben sich den Spaß erlaubt, nachzutreten,
als ich mir den Kopf gebrochen habe,
wie früher. Ich schien ihnen am Boden zu
liegen? Da musste es leicht sein, darauf hinzuweisen,
was für eine Gefahr ich sei, und
das mitten unter den oberen Zehntausend
vom (gallischen) Dorf? Ich war Asterix gewesen
und aus meinem Obelix wurde das
dümmste fette Wildschwein, das du dir denken
kannst.
Damals aber, als wir gerade neu unser kleines
Häuschen bezogen hatten, habe ich
mir den Fuß gebrochen, ganz normale Sache.
Das würde nicht so ohne weiteres von
selbst gerade zusammenwachsen, war sich
der Durchgangs- und Unfallarzt hier um die
Ecke im Dorf sicher, und das möge nicht er,
sondern einer, der es regelmäßig mache, im
„richtigen“ Krankenhaus operieren. Ich bekam
einen Termin, einige Tage noch humpeln, und
dann solle losgehen.
Meine Frau und ich wurden am Morgen des
für die Operation bestimmten Tages in der
Zentralen Notaufnahme des Hauses vorstellig.
Dort gingen wir in einen Flur, ich auf meinen
Krücken, sie mit einer Reisetasche, in der
ich ein wenig Klamotten und eine Waschtasche
hatte. Im Gang saßen, wie Hühner auf
der Stange, einige Patienten. Ihnen gegenüber
war eine Öffnung in der Wand, ähnlich
einer Art Essensluke in der Mensa einer Firma
oder der Uni. Dort saß jemand, die Daten vom
jeweiligen Neuankömmling aufzunehmen.
Meine Karte wurde eingelesen.
„Ist das ihr Hausarzt?“ fragte die Angestellte
des Krankenhauses so laut, dass jeder in der
Umgebung es mitbekam: „Dr. – sie nannte
den Namen – Arzt für Psychiatrie und Neurologie“,
dann die Anschrift. „Wie kommen Sie
denn darauf?“, fragte ich. Ich war perplex. „Das
steht hier.“ Ich widersprach: „Mein Hausarzt
ist, wenn überhaupt P. (das ist auch ein Segler
und Freund) – aber der macht, weil er in
Wedel wohnt, keine Hausbesuche in Schenefeld.“
Ich sei schon jahrelang nicht mehr beim
Arzt gewesen, einige Monate nicht bei dem
erwähnten Neurologen. Ich galt, was meine
Psyche betraf als grundsätzlich gesund und
empfand mich auch so. Wie sie darauf käme,
er sei mein Hausarzt wollte, ich wissen? „Das
kann ich lesen, wenn ich ihre Karte in den
Rechner stecke.“ Nun, ich selbst kann es wohl
nicht lesen, wenn ich mir diese Karte wo hinstecke?
Das dachte ich, und warum die vier
oder fünf Fremden es mitbekommen sollten,
was da steht? Mir war das weder geheuer
noch angenehm, mit dieser Situation konfrontiert
zu sein.
Ich hatte mir den Fuß gebrochen, kam auf
Krücken und wollte nicht grad in die Klappse.
Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 5 [Seite 4 bis 6 ]
Der Text beginnt mit Beschreibungen des Outens
und der Rolle von Randgruppen in einer
Gesellschaft. Was ist eine Gruppe? Sind Homosexuelle
eine Gruppe? Sie werden dazu.
Sie können sich solidarisieren, sozial zusammenfinden,
denn zunächst sind es einzelne
wie alle anderen auch. Die Normalität endet,
wenn die anderen sich für normal erklären
und die Gesellschaft wie ein Block gegen
Einzelne steht. Die Umgebung ist ein Feld, in
dem der Mensch sich den Weg sucht. Wo sich
Türen öffnen, kann ich voran gehen und mich
entwickeln. Wenn ein „Ausländer“ um Einlass
in die Gesellschaft der „Inländer“ bittet, verlangt
man ihm ab, sich „deutsch“ zu verhalten,
und so ist es auch mit anderem.
Nun wird dem syrischen Flüchtling ein Kurs
zum Lernen des Deutschseins empfohlen,
und er muss einen Test bestehen. Dem Homosexuellen
wurde empfohlen, seine sexuelle
Ausrichtung zu ändern, und das hat
nicht funktioniert. Dem psychisch Erkrankten
verordnet der Arzt eine Medizin, sie soll ihm
die Gesellschaft in einem rosaroten Licht erscheinen
lassen, damit „der Psycho“ nicht länger
von den anderen gestört und an den Widersprüchen
ihrer Wahrheiten irre wird. Es ist
nicht einfach, normal zu sein, wenn es wehtut
zu bemerken, wie abartig selbstverlogen ein
nicht kleiner Teil lebt.
Ich habe mich solange intensiv für Politik
interessiert, bis ich meine Naivität begriffen
habe. Einen Vorgeschmack auf die Entzauberung
der Demokratie, die meiner Bereitschaft
das System mitzutragen, grundsätzlich einen
Schlusspunkt setzte, möchte ich erzählen.
Das hier, erzähle ich nicht: Was ich erlebte, ist
ohne Beispiel in der ganzen Zeit meines Lebens
vorher. Es hat mich für immer verändert.
Mein Frust, der dazu führte, dass ich heutzutage
jede politische Wahl boykottiere wie
der armseligste, tumbe Nichtwähler, der aus
dumpfer Logik dem Staat trotzt. Ich benötige
dafür keine gleichgesinnten Reichsbürger
und dergleichen verschworene Gesellschaft,
keine sozialen Netzwerke oder Stammtisch.
Ich habe als verbliebene Möglichkeit auszustellen
und meine Meinung zu sagen diese
Webseite. Dies ist nicht China. Ich liebe den
deutschen Rechtsstaat, wirklich. Aber ich
baue ihn nicht mehr mit, ich bin der Anarchist
im Atelier und wüte im stillen Kämmerlein.
Das schaffte die (um bei den Galliern zu bleiben)
Kleopatra im Turm. Eine eitle, verblichene
Schönheit auf dem Thron
ganz oben über den Verleihnixen
und Nixalsverdrussen,
wie sie überall vorkommen.
Im wichtig aufragenden Hochhäuschen,
dessen ebenfalls
in die Jahre gekommene Architektur
daran erinnert, wie
provinziell es westlich von
Lurup ist, wo einige hingestreute
Häusergruppen nicht
aufgeben (noch) Widerstand
zu leisten und nach einem
Stadtkern fragen. Das erübrigt
sich mit dem baldigen totalen
Leerstand des „Einkaufstempels“, wie das
Tageblatt unser „Zentrum“ (noch) nennt. Und
die Tage des Tageblattes? Sie sind gezählt,
glaube ich. Bald haben wir noch eine „Nord-
Zeitung“, die erzählt dann unter „Vermischtes“
was von Lübeck über Bergedorf bis Husum
so los ist, und die sinnigen Döntjes des einen
oder anderen Glossisten werden uns erheitern.
Ist doch egal, wer regiert und was vor
der Tür passiert. Wir haben ja das Internet,
und da steht alles wichtige drin, von Q-Anon,
und dass Bill Gates an allem Schuld sei, genügt
doch. Dann, wenn die Provinz den Rest
eigener Identität schluckt, in sich selbst hineinmampft,
was sie längst ist, die Düpenaustadt
zu „Ostpinneberg“ wurde – dann wird es
keinen Sockel für eigene Politikklüngel hier
mehr geben.
Und das ist auch gut so.
Eigenes Schwimmbad, eigene Stadtwerke
und andere politisch hochtrabende Kerne
einer Stadt erübrigen sich, wenn wir zum
Vorort umdeklariert würden. Ich kann’s kaum
erwarten! Politik, nie wieder.
Erste Einblicke in die Struktur dynamischer
Bewegungen, andere zu mobben, bekam ich
bereits vor einigen Jahren, ohne zu begreifen.
Ein nebensächliches Erlebnis, das ich erst
heute in mein inzwischen gewonnenes Verständnis
von Menschen in der Politik und der
Unmöglichkeit, in diesem Umfeld Freundschaften
zu leben, einordnen kann. Das war
eine Feier, mutmaßlich ein Geburtstag. Sie
fand bei einer an der Unterelbe bekannten
Familie statt. Das ganze Haus erinnere ich
menschengefüllt mit Seglern aller Generationen,
kann nicht mehr sagen, ob einer meiner
Freunde gerade älter geworden war oder seine
Eltern eingeladen hatten.
Ich habe die Geschichte vor einigen Jahren
am Ehemann einer angesehenen Frontfrau
der entsprechenden Partei ausprobiert. Ich
kenne wahnsinnig viele Leute und komme
gern ins Gespräch. Meine Einschätzung, wie
es bei den oberen Zehntausend einer politischen
Partei zugeht, hat der liebe Mann voll
und ganz bestätigt. Ich jedenfalls habe eine
Träne verdrückt, anschließend – und mich
selbst wiedergefunden in einem Moment
vollkommener Verlorenheit.
Ich erinnere mich: Da war gerade die Regierung
gebildet worden mit Angela Merkel als
Kanzlerin und dem frischgebackenen Außenminister
Guido Westerwelle. Ich hatte noch
nicht mitbekommen, dass das nicht wenige
zu massiver Kritik anregte. Ich erinnerte noch
den Wahlabend. Nach Jahren der Dümpelei in
der Nähe der Fünf-Prozent-Marke, hatte die
FDP es geschaft, erkennbar zu punkten und
konnte mit der CDU eine stabile Koalition
bilden. Das war ganz bestimmt das Verdienst
des neuen Außenministers, der unermüdlich
mit dem „Guidomobil“ herumgefahren war
in jedes Dorf und Städtchen, um für sich und
seine Leute Werbung zu machen. Und so sehr
hat er gestrahlt und sich wie ein kleiner Junge
gefreut an diesem Abend, als die Stimmen
ausgezählt waren, dass ich sein fröhliches
Lachen, die echte Freude in seinem Gesicht
nie mehr vergessen werde. Ich habe das im
Fernsehen gesehen und gedacht, wie selten
es ist, dass jemand aus der Politik lachen
kann, ohne wie ein Plakat zu erscheinen. Die
Maske der Freundlichkeit, das ist es doch für
gewöhnlich.
Dazu kam, dass ich ein Interview mit Westerwelle
sah, und das war im Kinderkanal. Wir
Eltern kannten über das „Sandmännchen“ hinaus
alle Sendungen. Wurden groß mit Miley
Cyrus und Selena Gomez, als gehörten die zur
Familie. Die „Zauberer vom Waverly Place“
oder „Wissen macht Ah!“ mit Shary und Ralph
anzusehen, Standard. Guido Westerwelle wurde
von einer Schülerin gefragt, was er gern
gewesen wäre, wenn es ihn nicht in die Politik
gezogen hätte? „Ein Maler“, er wäre gern
Künstler, meinte er zu meiner Überraschung.
Er war mehr als sympathisch in dieser ungezwungenen
Umgebung mit den beiden
Kindern, die ihm schwierige Fragen gestellt
haben, und konnte authentisch antworten.
Das Qualitätsmerkmal seines Politikerseins
war für mich also die menschliche Seite,
Offenheit, Glaubwürdigkeit deswegen. Dazu
passte, dass es bekannt wurde, er sei mit einem
Mann zusammen. Für mich ein Vorbild,
nicht weil ich Männer liebe, sondern, weil er
seine Angst vor den anderen in den Griff bekommen
hatte. Ich bemerkte etwas, was ich
gar nicht verstand, und wollte es in meinen
Lebensweg einbauen, davon lernen. Inzwischen
war er Außenminister, und in diesem
Amt hat er eine unglückliche Figur gemacht.
Sein schlechtes Englisch, zum Spott der Nation
und zum Abschuss freigegeben, und
schwul ist er auch noch. So muss es gewesen
sein, aber das hatte ich nicht mitbekommen.
Für mich war das der nette Mann, der sich so
freuen konnte, weil er gewonnen hatte, wie
ein kleiner Junge in einem Wettbewerb.
Der gern Maler wäre.
Meine Naivität, nie hat mich jemand der alten
Elbsegler angefeindet, weil ich etwa in
der Klappse gewesen wäre – aber von einem
Moment zum anderen wurde ich selbst zu
„Westerwelle und schwul“, als ich auf dieser
erwähnten Feier wie nebenbei etwas positives
über den neuen Minister sagte.
„Den. Den magst du!?“
Etwa fünfzehn alte, verdiente, vornehmlich
aus der Generation meiner Eltern anwesende
Segler-Recken, die große Schiffe besaßen
und manche Langstrecke siegreich nach
Hause gebracht hatten, Pokale angehäuft,
rund Seeland regattiert hatten, regelmäßig
Edinburgh durch und über die kalte, stürmische
Nordsee ertrotzt hatten – verstummten
schlagartig. Das Gebrabbel einer ganzen Feier
kam für einen Moment zum Schweigen,
unglaublich. Die Gesichter drehten sich alle
mir zu, und so leise war das, und wie die mich
angesehen haben.
Das werde ich nie mehr vergessen.
:(
Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 6 [Seite 4 bis 6 ]
Die Vögel auf dem Markt und nicht in
England
Jan 8, 2021
Erdbeeren sind eigentlich Nüsse, wer hätte
das gedacht? Auch Pinguine wären tatsächlich
Vögel, könnten aber nicht fliegen. Das
erklärt der Wissenschaftler.
Wenn es einfach ist, können wir die Schrauben
von den Nägeln unterscheiden. Die
Wissenschaft muss darum kämpfen, exakte
Ergebnisse zu liefern, aber die Tiefe des Marianengrabens
ist bekannt. Der Mount Everest
ist offenbar noch ein wenig höher, als wir’s in
der Schule lernten? Spezialisten visierten
den Gipfel von den benachbarten Bergen
aus an, kontrollierten ihre Messungen exakt,
verglichen die Ergebnisse und korrigierten
die bekannten Fachbücher.
Wie tief schläft ein Mensch, und was ist
die Einheit mit der wir das messen? Wir
können einen Leistenbruch operieren, den
Darm in seiner ganzen Länge durchspiegeln,
aber nicht sagen, wie hoch der Pegel
beim Liebeskummer steigen kann. Die
höchste Flut tiefster Gefühle ist so unfassbar,
wie eine Ebbe der Empathie. Niemand
weiß, in wie viele Teile das Herz bricht,
wenn es passiert.
Hühner sind auch Vögel: „Der Hahn, der
Hahn und nicht die Henne“, sag das mal.
Genaues zuhören macht glücklich. Was für
ein Spaß für uns Kinder zu begreifen:
„Der Hahn, der Hahn.“
Schweigen.
„Du kennst das schon?“
Einmal war’s, da war die Welt noch jung!
„Herr Rossi sucht das Glück“, das lief, als Fernsehen
neu war. Ich habe es als Kind gesehen.
Zeichentrickfilme für Erwachsene, die auch
Kindern empfohlen sind; etwa ab den siebziger
Jahren wurde das Glück überall gesucht
und genauso oft nicht gefunden. Ratgeber,
ein neuer Literaturzweig füllte zunehmend
Regale im Buchladen. Geld mache nicht
glücklich, es macht glücklich, was denn nun?
# Geld kann gezählt werden
Etwas zu messen, das zunächst nur
ein Begriff ist und wofür es auch
keine Skala gibt, ist schwierig. Wir
akzeptieren, die Glücklichkeit nur
ungefähr zu kennen, das Nichtglück
„Schmerz“ wird schärfer abgebildet
und soll präzise vergleichbar sein,
warum? Mein Zahnarzt glaubt aus
Erfahrung (oder weil er es im Studium
gesagt bekam) Rothaarige
seien schmerzempfindlicher. Krankenschwestern
sehen das genauso.
Ein treffendes Bonmot in der allgemeinen
Medizin ist es allemal, und
stimmt das nun, oder ist es nur ein
Tipp, der von allen nachgeplappert
wird? In der Anästhesie lernen Menschen
einzuschätzen, wie hoch die
individuelle Dosis sein sollte, jemanden
erfolgreich wie gewünscht
zu sedieren. Hier muss das Maß in
Millilitern zum jeweiligen Patienten passen.
Wir müssen wissen, wie unglücklich jemand
ist, um angemessen helfen zu können. Der
Arzt fragt: „Auf einer Skala von eins bis zehn,
wie stark tut es Ihnen weh?“
Gefühle zu messen, ist nicht einfach. Wie
melancholisch muss einer sein, damit es als
ausgewachsene Depression anerkannt wird?
Wie verrückt musst du sein, um krank zu werden
oder wie ärgerlich wird ein Mensch (in
Zahlen dargestellt)? Ab wann bist du „Gefährder“,
verlierst Grundrechte, Kommissare und
Trittbrettfahrer*innen spionieren dir in der
Annahme nach, du wärest ja bescheuert genug
und merkst es deswegen nicht? Wer nun
nicht erst recht paranoid wird, kann Können:
Bumms, die Kunst! Leider daneben, mit einer
Kanone auf den Dorfspatz gefeuert und das
Rathaus demoliert? Womit hat derjenige, der
schießt, die Tiefe deines Hirns ausgelotet, die
Länge der Lunte berechnet? Der Zollstock,
das Unberechenbare einer Gefahr auszumessen,
wird nirgends angeboten.
# Unsere Zukunft ist gefährdet
Wir alle sind Gefährder. Grün ist Leben, steht
an der Baumschule. Ein alter Hut. Wir heben
unsere Erde aus den Angeln, verpesten die
Luft, zerstören die Lunge des Planeten. Wie
wird die Länge gemessen, die der Hebel haben
muss, um alles noch rechtzeitig zurechtzurücken?
Es wird gestritten bis zum letzten Tag.
Pompeji ist aktuell. Schon früh wurde gewarnt
„der Vulkan bräche aus“, habe ich in der
Schule gelernt. Aber die Menschen wollten
es nicht hören, mahnte die alte Grundschullehrerin.
Ein kleiner Weltuntergang wäre es
gewesen, und wir sollten daraus lernen, nie
einen großen voranzutreiben? Einen antiken
Imbiss haben sie dort gerade ausgegraben,
gut erhalten, wie grad gestern zurückgelassen
und vorgestern erbaut. Ein Gast bekritzelte
die hübsch gemalte Pizzawerbung
am Lokal von damals mit einem primitiven
Schmäh. Das Ganze ist zu unglaublich, um
wahr zu sein; und gibt’s schon wieder neue
Hitlertagebücher? Mir kommen Zweifel. Was
alles auftaucht: Kornkreise, Alien-Monolithen
in der Wüste? Ein „drive thru“ und „to go“ für
den Zenturio, dazu plastisch, farbig und wie
neuwertig mit Schüsseln im Tresen für die
Hähnchen „zum hier essen“ eingerichtet; das
ist doch nicht wahr!?
Habe ich gedacht.
# Und noch etwas erinnert an moderne Gaststätten:
Die Gäste verewigen sich in Graffiti.
Heute findet man von Kunden hinterlassene
derbe Sprüche zwar eher auf den Wänden und
Türen der Toiletten als auf dem Tresen. Und
von der Thematik passt das, was da vor 2000
Jahren jemand über einen gewissen Nicias
berichtet, auch besser in sanitäre Einrichtungen.
Aber davon abgesehen ist die Aussage,
die da jemand neben eines der Bilder am
Tresen geritzt hat, geradezu zeitlos: «Nicias
schamloser Scheisser», steht da in schönstem
Latein. Ob Nicias ein Bekannter des Kunden
war oder vielleicht der Ladenbesitzer – und
der Spruch die Rache für schlechtes
Essen oder zu hohe Preise? Wir
werden es nie erfahren. (Neue Züricher
Zeitung, 27.12.2020).
Dann kam die Lavawolke, und alle
waren tot.
Ein Graffito blieb: Es lebe die
Kunst!
Wir Menschen haben uns die Worte
zu eigen gemacht und das Leben
beschreibbar. Gleichwohl sind
damit neue Probleme entstanden.
So wie ein Mensch eine neue Sprache
erst lernen muss, sollten wir
lernen, unser Denken und Sprechen
daraufhin zu prüfen, was wir
meinen, wenn wir etwas sagen.
Wir können probieren, das Glück in
Geld oder Besitz zu messen. Je mehr davon,
desto glücklicher, aber es funktioniert offensichtlich
nicht. Nun gibt es eine überraschende
Studie, gemessen wird in Vögeln. Nicht „je
mehr du vögeln, desto glücklicher du sein“,
aber trotzdem logisch …
Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 7 [Seite 7 bis 9 ]
# Naturschutz macht glücklich. Zu diesem
Ergebnis kommen deutsche Forscher, die
erstmals den Zusammenhang von Artenvielfalt
und Lebenszufriedenheit in ganz Europa
untersucht haben. Nachgewiesen haben sie
das anhand der Vielfalt der Vogelarten im
Umfeld von Menschen. Schon eine Steigerung
der Vogelvielfalt um zehn Prozent würde
demnach die Zufriedenheit genauso stark
heben wie eine Einkommenssteigerung um
zehn Prozent: „Vierzehn Vogelarten mehr im
Umfeld machen mindestens genauso zufrieden
wie 124 Euro monatlich mehr auf dem
Haushaltskonto, wenn man von einem durchschnittlichen
Einkommen in Europa von 1237
Euro pro Monat ausgeht“. (…)
Warum ausgerechnet Vögel? Das erklären
die Forscher so: Die gefiederten Tiere seien
beispielsweise in Städten für Menschen eines
der wahrnehmbarsten Naturerlebnisse.
Selbst, wenn sie nicht zu sehen sind, kann
man sie hören und dann aufgrund der unterschiedlichen
Gesänge eben auch eine Vielfalt
wahrnehmen. Außerdem ist eine Artenvielfalt
bei Vögeln auch ein Zeichen für Biodiversität
in anderen Bereichen der Natur, da sie naturbelassene
und abwechslungsreiche Landschaften
bevorzugen. (Forscher: Vogelvielfalt
steigert Lebenszufriedenheit von Menschen,
Tech & Nature 3.1.2021)
# Gut, grün und gesund
Warum wird eine gesunde Lebensweise empfohlen,
um länger zu leben oder weil es sich
täglich besser anfühlt? Kann ich, wenn ich
länger lebe, öfter glücklich sein, summiert
sich dieses Gefühl dadurch, und deswegen
ist ein langes Leben besser, als gleich morgen
zu sterben? Ich denke manchmal darüber
nach. Wenn es nicht stimmt, man das
Glück nicht verdoppeln kann, ist es egal wie
lang ich lebe. Ich verpasse nichts. Ich kann
wohl nicht unglücklich drüber sein, auf das
zu verzichten was ich nicht erleben konnte,
weil ich starb? Nun weiß ich nicht, wie das
„im Himmel sein“ ist. Möglicherweise bin ich
handlungsunfähig bei vollem, ewiglichem
Bewusstsein, und jeden Tag kommt Gott oder
eine Mitarbeiter*in vorbei: „Wenn du vegan
gelebt hättest, dann!“
Vielleicht sollten wir umgekehrt fragen, was
nützt es dem, der gesund zu leben empfiehlt
(auf Erden), und was nützt es mir? Da kann
die Antwort nur sein, das Geld, das derjenige
mit dem Ratgeber verdient und sein Erkenntnisgewinn,
mögen ihm Grund genug sein, zu
schreiben. Aber fragen Sie einen zufriedenen
Alkoholiker oder ein glückliches Vielfraß im
Rausch seiner Genussphase
oder im Zustand vom Kater,
wenn ein Fettwanst mit den
Folgen konfrontiert ist, das
macht einen Unterschied.
Auf die glückliche Zukunft hin
zu leben, kann das Unglück
mit sich bringen, täglich zu
verzichten und schlussendlich
mit leeren Händen, ohne
das versprochene Glück zum
Mitnehmen im Jenseits anzukommen.
Sich durch ein
veganes Leben quälen, weil’s
geraten wird oder wirklich
gern eine Diät anzunehmen;
ich habe einen Beitrag gesehen,
da hat sich ein Übergewichtiger
zur Umstellung
seiner Ernährung entschlossen, weil er mehrmals
unglaubliche Schmerz-Attacken bekam,
aufgrund von erbsengroßen Nierensteinen.
Da fand ich’s glaubwürdig, dass es ihm gut
getan hat, auf seine gewohnten Schlachtplatten
zu verzichten.
Als Jazzliebhaber komme ich nicht umhin,
darüber nachzudenken, ob es eigentlich besser
gewesen wäre, wenn etwa Chet Baker ein
gesundes Leben geführt hätte? Als Maler und
kreativer Künstler muss man sich doch nach
Vorbildern umschauen. Nicht wenige glauben,
Kunst und eine ausufernde Lebensweise
seien untrennbar verbunden oder „das Genie
läge dicht beim Wahnsinn“ (und mehr davon
an Weisheiten sind bekannt).
Corona ist nicht alles. Es gibt wirkliches Leid,
auch auf andere Art, und dann verbietet sich
der Spott. Doku: Tuberkulose in Russland, der
Ukraine. Ein junger Mann war damit in ein
Berliner Krankenhaus verlegt worden, konnte
bereits einige deutsche Worte, und bei der
Besprechung klingt der Arzt sicher, dass es
nun gut ausgehen würde.
Anschließend wurde eine Frau aus Kiew porträtiert,
sie war 32 Jahre alt, und es schien
absehbar, dass sie nun sterben muss aufgrund
der Verhältnisse dort. Sie erzählte,
hatte in einem Reisebüro gearbeitet, drehte
ihr Smartphone in die Kamera: Ganz normal
sah sie zu der Zeit aus, etwa dreißig Jahre und
hübsch. Sie wisse nicht, wo sie sich ansteckte,
sagte sie. Während des Interviews durch das
TV-Team, das möglicherweise aus Deutschland
gekommen war, für einen entsprechenden
Bericht, und weniger, um sie nun in einer
großangelegten Aktion zu retten, saß die abgemagerte
junge Frau auf der Pritsche eines
schäbigen Krankenhauszimmers.
Bleich. Sie behielt das Telefon die ganze Zeit
über in der Hand. Die sichtlich geschwächte
Erkrankte scrollte durch ihre Fotos und
zeigte immer wieder, wie alles gewesen war.
Das machte es für uns Zuschauer so berührend
und glaubwürdig. Sie illustrierte damit
im öden Flur eines schlecht beleuchteten
Hospitals ihre Vergangenheit, in der sie gesund
und normal Teil der Welt war, wie gefilmt,
als könnten wir sie noch begleiten. So
konnte man begreifen, wie es sich anfühlen
mag, sterben zu müssen und in diesem Alter.
Es traf, wenn sie sagte keinen Fehler oder
Schuld dafür zu bemerken, keinen Grund, warum
alle anderen, die sie kannte (und die sie
nicht besuchten) weiterleben würden.
In der Klinik, in der sie schon lange behandelt
wird, war es immer ein wenig schlechter
geworden. Zum Arzt war sie gegangen,
weil sie sich auf der Arbeit seit einiger Zeit
schlapp gefühlt hatte und sich das nicht erklären
konnte. Es begann unspektakulär. Im
Laufe der Behandlung hatte sie einen Mann
im Krankenhaus kennengelernt, das wurde
ihr Freund! Eventuell haben die beiden sogar
geheiratet, so genau habe ich nicht aufgepasst
beim Zuschauen. Sie zeigte uns weinend
Bilder, wie die beiden sich aneinander
drücken, Selfies mit dem Phone. Der war nun
vor kurzem an seiner TBC gestorben.
Dann gab es eine Besprechung mit dem Arzt.
Das neue Röntgenbild wurde in einen Leuchtkasten
an der Wand geklinkt. Als der Arzt erklärte,
dass ihre Erkrankung unaufhaltsam
voranschreite, bemerkte ich nebenbei (während
ich zufrieden Nüsse und weihnachtliche
Plätzchen knabberte), dass die Frau ja nur
noch eine Lunge hatte. Es war ein Röntgenbild,
bei dem das auch ein medizinischer Laie
gleich begreifen konnte. Und diese verbliebene
Hälfte ihres Atmungsapparates war nun
ebenfalls von der Krankheit befallen? Und
der Arzt erklärte, welche Bereiche jetzt auch
im Rest der Lunge zerstört waren – und dass
es keine Mittel gebe, das zu stoppen.
Da musste ich weinen und habe es weggezappt.
Einmal angenommen, wir sind bereits klug
geworden. Das meint, wir haben gelernt
unser Glück zu bemerken, wenn es uns geschieht,
sind nicht mehr darauf angewiesen
zu tun, was im Ratgeber empfohlen wird.
Dann können wir im nächsten Schritt nach
der Intensität des glücklichen Moments fragen,
nach der Dauer des Zustandes, nach der
Häufigkeit. Wir können unser spezielles Glück
in Relation zu dem begreifen, was wir an bisherigem
davon erlebten.
Alexandra: „In England war ich das erste Mal
glücklich.“
Das geht vermutlich allen gleich, dass sie so
etwas bemerken, aber nicht alle sind in England
glücklich. (Ich war gern mit ihr unterwegs
und glücklich hier). In einem nächsten
Schritt habe ich mich (wirklich) gefragt, ob
einige Male Glück zu einem entsprechend
größeren Glück zusammengezählt werden
können? Dreimal glücklich gewesen sein,
führt das beim vierten Mal zu einem intensiveren
Glück, und gibt es ein glücklicheres
Glück über dem glücklichsten Moment, und
wenn ja, lässt sich diese Skala durch wiederholte
Glücksmomente nach oben weiten?
Ich habe mich auch (wirklich) gefragt, wie es
eigentlich im Himmel ist, bin ich im Jenseits
der demente Alte, das kleine Kind, der Mann
mittleren Alters – wie empfinde ich mich,
wenn ich mal angekommen bin? Das Ergebnis:
Fatalismus befriedigt, und ein gegenwärtiges
Leben erfüllt mich mehr, als allzuviele
Gedanken der Absicherung zu pflegen und
mich eventuell unnütz zu plagen, für etwas
das vielleicht nie sein wird. Stattdessen überlege
ich morgens: Was kann, muss ich heute
tun und wie? Besser, als den Moment zu
erwarten, an dem ich endlich angekommen
sein werde, ist auf die Möglichkeiten des jeweiligen
Tages zu schauen und den Vögeln
ein Lied abzulauschen, um einen vielversprechenden
Weg durch das Meer der Zukunft zu
schippern.
Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 8 [Seite 7 bis 9 ]
# Tunnelblick ist die Regel
Statt beschwingt großzügig und mit Hoffnung
den Tag anzugehen: Konzentration
wird empfohlen, der Fehler wird isoliert. Ein
Mensch ist selbst ein Fehler, der nicht glücklich
tut? Wir dürfen nicht wüten
oder unsren Hass verbalisieren?
Fluchen ist fein. Ich „hasse“
gern, voller Glück darüber, dass
ich’s mir erlaube. In einem Büro
mit anderen? Da könnte ich
nicht arbeiten. In einer Partei?
Da könnte ich nicht dazugehören.
Mich kickten die Genossen
schneller raus als jeden Wendler
anderswo. Du bist schuld,
dass wir den Shitstorm kriegten?
Verpiss dich.
Das Ganze verliert derjenige, der gern beschuldigt,
leicht aus den Augen. Viele sind
sich sicher, dass Donald Trump schuld sei
am Chaos in den USA. Dabei zeigt der Präsident
nur die konzentrierte, hässliche Fratze
etwa der Hälfte einer Gesellschaft wie
eine Reflexion. Jetzt können sie es glücklich
rauslassen: „Der Präsident ist steinreich und
ein ungeliebter Prolet, er ist wie wir!“ Er ist
das Spiegelbild seiner Wähler.
Er spricht aus, was eine Hälfte
der Masse denkt und lebt
es vor. Es nützt kaum, ihn zu
beschuldigen. Das bedeutet
ganz viele zu ignorieren und
ist gefährlich kurzsichtig, zentrierte
Blindheit. Das korrekte
Deutschland, unsere alte SPD
will so gut steinmeiern: Es
ist typisch für die Reste einer
einstmals großen Volkspartei,
mit dem Finger auf den Schuldigen
zu zeigen.
Aber es ist gefährlich blind.
Isoliertes, zentriertes Denken kleiner Kerne
wird von der nach vorn trabenden Masse des
großen Ganzen überrannt. Jedem Dorf seine
eigene Verwaltung, Schwimmbad, Kino, Stadtwerke?
Die Entwicklung geht in eine andere
Richtung. Größere Strukturen sind nötig, um
weltweit im Konkurrenzkampf standzuhalten.
Wir sehen es am Tageblatt, das sich immer
mehr zur Nord-Gesamtzeitung hin verallgemeinert:
„Rohrbruch in der Hauptstraße“
wird unter Lokales
berichtet. Das war
einmal die Seite
„Schenefeld“ in der
Zeitung, die ihren
Titel „Schenefelder
Tageblatt“ noch trotzig
behalten hat, ein
Fake ist das. Das ist
nur noch das allgemeine
Blatt rundherum
um Pinneberg, Elmshorn und über
Wedel-Schulau bis hin nach Norderstedt, in
dem im großen und ganzen dasselbe berichtet
wird, und das ist doch schon dem Titel
nach eine „Lügenpresse“.
Drei Exemplare noch davon.
Sie liegen bei meinem Bäcker aus. Eines davon
kaufe ich an jedem Morgen. Ich muss
wirklich ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert
sein, dass ich das mache und noch
nicht begriffen habe was modern und richtig
ist. Wer wohl die anderen beiden Idioten sind,
die dieses Blatt (noch) lesen? Wenn die Medien
sich abschaffen und gleichermaßen darauf
pochen wie wichtig sie sind, muss es auch
Leser geben, die diese Informationen kaufen
möchten. Das scheint nicht der Fall zu sein.
Die Schuldfrage verläuft beim unbefriedigenden
Ergebnis im
Sande, dass es eine
beiderseitige Entwicklung
geistiger
Verarmung ist.
Nicht nur die Vogel-
und Tierarten
dünnen aus, unsere
Fähigkeit zu Empathie
und natürlich
motivierter Handlungsfähigkeit
sind
ernsthaft gefährdet,
jedenfalls was die breite, zivilisierte Masse
betrifft. Sie verliert ihre zivile, geschulte Qualität
zu leben und nähert sich dem Brei einer
Gesellschaft aus ständig kämpfenden Legionären
an, wie etwa der Islamische Staat das
Modell dafür hergibt. Es scheint, der christliche
Staat, in dem niemand noch in eine
Kirche geht, ist nicht besser. Wir sind die, die
um das goldene Kalb tanzen, während Moses
die Runen in den
Stein gräbt, die er
uns als Gottes Wort
glauben machen
möchte, wenn er vom
Berg zurück kommt.
Wir entlarven ihn so
schlau: „Das hast du
doch selbst geschrieben,
da ist kein Gott
auf dem Berg, Spinner!“
Und dann sitzen
wir alle ums Kalb
rum und jammern,
weil rundherum Wüste ist? Diese Vergangenheit
ist unsere Zukunft. In eine goldene Tasse
kann ich noch Wasser tun, wenn ich keinen
Palast habe, auf einem goldenen Kalb reitet
niemand in sein gelobtes Land.
# Der Rohrbruch war direkt vor unserer Haustür
Es stimmt wohl, wenn das Tageblatt schreibt:
„25 Minuten später war der Stördienst schon
vor Ort; Hamburg-Wasser (…).“ Es gab kein
Foto von unserer Straße hier im Dorf. Stattdessen
ein „Symbolbild: IMAGO“. Tageblatt-
Autorin Cindy Ahrens war jedenfalls nicht vor
Ort, um etwa mal ein Bild zu schießen. Die
mir aus Backnang vertrauten Straßen einer
Baden-Württemberg typischen Umgebung
illustrieren den Rohrbruch vor meiner Haustür?
Ich durfte sehen wie „irgendwo“ das Wasser
einen Kanaldeckel hob. Wieder gut informiert.
Sonst hätte ich mir das ja gar nicht
vorstellen können. Gut, dass ich nur wenige
Meter zu laufen hatte, um die Scheiße vor der
Tür „in echt“ zu erleben. Und aufs Klo für das
nötige Geschäft? Ging ich in die erwähnte
Bäckerei. Ich mag diese Leute, systemrelevant
sind sie. Fragen kostet
nix, und hundert Meter weiter
war das Rohr reibungslos abführfähig
bei voller Spülung. In der
Mühlenstraße stand alternativ der
Wasserwagen der Hamburger. Mit
einem Eimer ausgestattet, hätte
ich mir meine Spülung auch dort
abholen können. Die Hardware zuhause
war ja nicht betroffen.
Hamburg-Wasser schaffte es bis zum Mittag,
alles wieder in Ordnung zu bringen.
Danke dafür.
Ich bin Mathias Schmitz auf dem Wochenmarkt
begegnet: „Ich habe gegen deine
Stadtwerke gestimmt“, brüskierte ich ihn beherzt
mit einem Affront, während wir beim
Käse anstanden. Eine zunehmend lebhafte
Diskussion entspann sich. Er drehte auf: „Die
Wähler hätten die doppelte Verneinung nicht
begriffen, er sei das Opfer der Fragestellung
(oder wir zu dumm?) und alles würde
uns teuer zu stehen kommen.“ Schmitz wiederholte,
alle größeren Gemeinden hätten
Stadtwerke, warum wohl? Als er seinen Käse
bekam, musste ich wählen, diskutieren oder –
hinter mir warteten andere. Ich habe mich für
Gouda entschieden, mittelalt, eine gute Wahl.
Mein persischer Käsefreund und ich, wir können
noch lustig sein, albern. Nicht umhin kam
ich zu bemerken, wie unser Wortwechsel einige
in der Umgebung anregte, schmunzelnd
daran teilzunehmen, wie unser oberster, grünerster
Weltretter vom Dorf sich in Rage geredet
hat. Es sind eben nicht nur die Vögel,
die zwitschern, habe ich gedacht. Das ganze
Drumherum, wir nehmen es wahr, und es wird
unser Tun beeinflussen.
Meine Meinung, meine Wahl – oder ich enthalte
mich. Es lebe die Demokratie. Ein guter
Moment zu begreifen, wie das Glück in
erfolgreicher Abgrenzung vom Umfeld und
zielführender Auswahl möglicher Handlungen
besteht. Einer will es grün, der andere
schwarz, rot oder bürgernah eingefärbt.
Der Künstler malt.
Der Bäcker backt das Brot.
Der Käsemann verkauft den Käse.
Es ist beileibe nicht so, dass mein Wille
geschehe (oder seiner) und ich deswegen
glücklich bin, sondern dass ich den besten
Weg zwischen den ganzen Menschen (und
Vögeln und sonstigem Getier, Gesträuch und
Marktständen) finden kann im Moment. Oder
eben nicht. Bewusstheit ist allemal besser,
als ein starker Wille, mit dem man voll wie
gegen eine Mauer prallen kann.
Die Vögel zwitschern:
„Hast du’s (nicht) gesehen?“
:)
Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 9 [Seite 7 bis 9 ]
Du und ich
Jan 21, 2021
Ein Donnerstag im Januar, kurz vor
9 Uhr. Ich schiebe die Rippen im
Velux hoch, schaue aus dem Fenster
nach Westen. Mein Atelier ist
im Dachgeschoss. Das Westfenster
in der Schräge hat eine gute Jalousie.
Abends mache ich hier zu.
Die auf der gegenüberliegenden Seite, noch
mit Bändseln ausgerüstet, verkanntet immer,
stürzt regelmäßig aus der Spur. Wenn
es im Winter früh dunkel wird, reflektieren
die Lamellen das Licht im Atelier, wie es das
schwarze Viereck nach draußen hin nicht
könnte. Ich male ungern mit Lampenlicht.
Dieses Fenster kann ich auch senkrecht in
die Öffnung kippen (das andere klemmt),
und wenn ich mein schmales Telefonbuch
zwischen Rahmen und Begrenzung quetsche,
hält es tadellos zum Lüften.
An diesem Morgen, als es noch dunkel war,
habe ich letzte Sterne gesehen. Windstill
ist es gewesen, beinahe, und der Löwe (ein
Bote des Frühlings) hatte sich bereits weit in
den Südwesten begeben. Im Zenit der große
Wagen. Der Nordstern; wieder einmal kontrollierte
ich den Punkt darunter, ihn exakt zu
loten, die Flucht zum Pol genau zu bestimmen.
Vom Orion keine Spur mehr. Der Winter,
im Januar schon auf der Flucht. Auch was die
Temperatur betrifft, es ist knapp zweistellig
über null.
Später. Nun habe ich gefrühstückt, schiebe
den Rollladen auf, und da sehe ich diesen
wunderbaren Regenbogen!
Die Sonne mag um halb acht bereits gut
über dem Horizont sein, und auf dieser Seite
türmen sich nun dunkle Wolken, in der Mitte
noch warm angeleuchtet, in einem orangen
Ton, sind sie links und rechts dunkelgrau und
violett. Über allem, in einer gut überschaubaren
Größe, steht der wunderbare Bogen.
Er ist massiv in den Farben und ein nirgends
unterbrochener halber Bügel wie ein mächtiges
Tor. Links entspringt er in einer kleinen
Baumgruppe, mein Wald. In der Mitte wölbt
sich das farbige Band und bildet seine Brücke
noch locker über die Spitzen der großen Koniferen,
um dann rechts hinterm alten Backstein
des Hauses an der Straße gegenüber zu
enden.
Ein Abgasrohr fällt auf. Dort ist sicher der
Pott mit dem Gold? Das ist aber nur ein moderner
Schornstein, dessen Spitze in der Sonne
glänzt.
Kein Rauch, kein Feuer mehr, und Friede auf
Erden.
Ein toller Regenbogen!
Das habe ich genauso vor einigen Jahren auf
Fehmarn gesehen. Die Ereignisse, die mein
Leben so grundsätzlich verändert haben, waren
damals noch voll im Gange, keine leichte
Zeit. Auch dort habe ich in der Früh nach
Westen geschaut. Unser Balkon, wir wohnten
im ersten Stock. Der Bogen stand über dem
Giebel des benachbarten Ferienhauses.
Ein grell angestrahltes, gleichseitiges Dreieck,
darüber der bunte Halbkreis. Geometrie
wie in der Schule, Mathematik, eine penetrante
Symmetrie. Rötlich und ein wenig orange
(mit zwei kleinen Fensterchen wie eckig
schauende Augen) stand die Form unter dem
farbigen Band. Ein Pakt mit Gott habe ich gedacht,
das soll es sein, und heute für mich. Es
hat mich gestärkt, Mut gemacht! Ich dachte
an das Versprechen, das Gott Noah
gegeben hat und allen, die nach ihm
kommen. Vertrauen in die Welt um
mich herum. Sie hält was aus, ist stabil,
auch in bösen Zeiten, schlechten
Momenten, und wenn wir den Attacken
anderer ausgesetzt sind und unsere
Fehler nicht wahrnehmen, unsere
Schuld nicht erkennen, die sie uns
zuweisen. Der Regenbogen? Vertrauen
in das, was ich tu’ – ein Zeichen.
Heute Morgen habe ich wieder daran
gedacht: Wir erneuern unseren Bund.
Du bist noch da, und ich bin auch
noch hier auf Erden, so etwa.
Ich probiere, ein Foto zu machen.
Es ist zu groß, zu breit, geht nicht rauf. Nicht
das Ipad oder die kleine Digitalkamera genügen,
den weiten Farbenkranz einzufangen.
Ich hätte dafür ein Weitwinkelobjektiv benötigt.
Dann versuche ich’s nicht länger und
schaue nur noch kurz: Es ist beinahe windstill.
Leichter Niesel setzt wohl gerade ein?
Ich schließe das Fenster, mache die doofen
Lampen an. Nun wird es draußen finster.
Ich schaue auf das angefangene Bild. Das
nackte Mädchen, meine Europa auf ihrem
Stier Zeus. Es haut sie von den Socken, als der
Wal spritzt, das Rind bockt. Und sie ist verankert
in Bondage. Sie reitet auf hoher See.
Es scheint ein weiterer dunkler Regentag zu
werden, an dem die Lampen einzuschalten
nötig ist …
Ich setze mich auf den Bürostuhl, suche die
„Zweimeterbrille“, die ich immer nehme, um
meine großen Bilder als Ganzes anzuschauen.
Sie hat auf voller Glasbreite ein und dieselbe
Sehstärke für etwa diese Entfernung.
Mein Bild ist einszwanzig breit und einen
Meter hoch. Mit Gleitsicht kann ich arbeiten,
aber in aller Ruhe schauen wie früher? Dafür
nehme ich gern diese Spezialanfertigung. Ich
vergesse den Regenbogen, den Niesel, das
schlechte Licht. Ich trinke einen Kaffee und
schaue zu sehen, was ich nur morgens sehe,
wenn das unfertige Bild wieder neu ist. Am
Abend habe ich viele Stunden gemalt. Dann
bin ich betriebsblind.
Ich lehne mich im Stuhl zurück, und der knarrt
vertraut, der Kaffee schmeckt. Ich schaue auf
die grauen Wellen, die ich gestern malte und
das verlorene Mädel auf dem Bulln. Stürmisch
geht die See, aber nicht windig genug
scheint mir mein Meer. Ich denke: Ob ich das
noch hineinmalen kann?
Huuii!!
Da erzittert das Haus.
Mein Atelier erbebt, Regen knallt plötzlich
auf die Fenster – es brüllt das Wetter, der
Wind.
Eine schwere Bö zieht durch!
Jan 21, 2021 - Du und ich 10 [Seite 10 bis 14 ]
Ein neues Wetter zieht herauf.
Wolken ballen sich zu Hauf!
Donner grollt. Regen fällt ohn’ Unterlass,
Hund und Herde werden
nass.
Damit habe ich gar nicht gerechnet.
Eben noch ist es ganz flau gewesen. Der
schönste Regenbogen, der warm eingefärbte
Himmel, seine dunklen Seiten hatte ich gar
nicht recht bemerkt. Natürlich, der leichte
vorwegfliegende Regen, das hätte mich stutzig
machen müssen: „Kommt der Regen vor
dem Wind, Segler steck’ ein Reff geschwind!“
Klar, jetzt erinnere ich mich, gestern Abend:
„An der Nordsee stürmisch“, hatte Özden Terli
gemeint. „Gut, dass wir nicht los sind“, kommentiert
man solche Momente unter Freunden
an Bord: „Jetzt auf See und kein Boot,
in jeder Hand zwei schwere Koffer.“ Sprüche
dieser Art sollen dem Seemann den nötigen
Galgenhumor passend zu seiner Not geben.
So ist das auch mit Gott und dem Pakt, die
Beziehung zum Menschen, überhaupt: Beziehungen.
Der Regenbogen ist ein Versprechen
aber kein Freibrief, unbeschwert und
naiv loszusegeln, sondern eine gegenseitige
Verpflichtung steckt darin: Vertraust du mir,
befiehlst mich deiner Wege, so bleibe selbst
auch auf diesem Weg und tue deinen Teil.
Humor hilft. Das bekannte Endlosgedicht
kommt mir in den Sinn:
… wird das Wetter wieder schön!
Man sieht den Hund zur Herde gehen …
Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und
Herde zieh’n vorbei.
(Eine kleine Pause machen, andere anpusten,
Faxen einbauen, Schüttregen und Wettergeräusche
intonieren – dann weiter vortragen).
Nun wird das Wetter wieder schön!
Man sieht den Hund zur Herde gehen …
Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und
Herde zieh’n vorbei.
(Eine bedeutungsschwere Pause machen, das
entsprechende Gesicht).
Ein neues Wetter zieht herauf.
Wolken ballen sich zu Hauf!
Regen fällt … usw.
Etwa zwanzig Jahre habe ich gebraucht, die
Antwort auf eine Frage zu finden; und dann
habe ich darüber doch tatsächlich den Hochzeitstag
vergessen, peinlich, unverzeihlich, ja.
Nun wird das Wetter wieder schön!
Man sieht den Hund zur Herde gehen …
Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und
Herde zieh’n vorbei.
Ein neues Wetter zieht herauf.
Wolken ballen sich zu Hauf!
Rumms.
Regen fällt ohn’ Unterlass –
Hund und Herde …
:)
Jan 21, 2021 - Du und ich 11 [Seite 10 bis 14 ]
Ein kalter Wind weht
Feb 8, 2021
„Und nun die Vorhersage bis übermorgen
früh“, wenn wir das so im Wetterbericht hörten,
spottete mein Vater: „So ein Quatsch. Niemand
kann wissen, wie das Wetter übermorgen
wird.“ Schon sein Vater hätte sich darüber
aufgeregt. Der „Alte“ habe gemeint, länger als
zwei Stunden könne man nicht sicher voraussagen.
Erichs Vater war Kapitän gewesen, der
musste es wissen. Meine Mutter hatte Spaß
an den Wettervorhersagen. Sie interessierte
sich, schrieb „Norddeich“ mit und zeichnete
an Bord Wetterkarten. Ich malte die Isobaren
nach, und von Opa Heinz bekamen wir den
Barographen von Opa Bur geschenkt, meinem
Urgroßvater. Eine Zeitlang funktionierte
er ganz gut. Man musste sich kümmern,
sonst gab es verschmierte Bögen. Der Vater
meiner Mutter war auch Kapitän, und mein
Opa Heinz lebte ja noch, während Erichs Vater
Willi im Jahr meiner Geburt verstorben ist.
Heinz hatte A6, und wie das Wetter würde –
bei uns wurde gern gefachsimpelt.
Meine (verstorbene) Mutter hat
noch eine Schwester. Als die
Schneekatastrophe (damals) war,
hat es uns buchstäblich kalt erwischt,
aber meine Tante meinte:
„Elmar Gunsch, kennt ihr den?“
Wir wussten nicht wer das ist,
schauten zu der Zeit kaum Fernsehen.
Der sympathische Wetteronkel,
diese Sendung, auf die es
angekommen wäre, wir hatten
es nicht mitbekommen. „Elmar
Gunsch wusste als einziger, dass
es passiert“, meinte Tante Helga.
Sie berichtete: „Wir haben es
gesehen, nach den Nachrichten
kam Gunsch in das Studio. Und
dann machte der eine kleine
Show, anders als normal, war er
sich der Wichtigkeit seiner besonderen
Vorhersage wohl bewusst.
Er hatte eine blecherne
Milchkanne dabei.“ Meine Tante
erzählte. (Zu der Zeit war es bisher
recht warm gewesen, milde
Luft, Regen. Winter war nicht in
Sicht. Kurz vor dem Jahreswechsel hatten wir
in Hamburg zweistellige Plusgrade). Gunsch
habe ein wenig den Kasper gemacht:
„Wissen Sie, was das ist?“ gesagt – und
die Kanne über seinen Schreibtisch und
den Fußboden entleert.
„Schnee!“
Die Zuschauer hätten wohl nicht
schlecht gestaunt, im Fernsehen sei alles
möglich. „Davon werden Sie in den
nächsten Tagen eine ganze Menge zu
sehen bekommen“, habe der beliebte
Wettermann launig mit seinem Gag
aufgetrumpft, erzählte meine Tante und
lachte. Wir hatten keine Probleme. Anders
war es auf den Autobahnen und
dem flachen Land zwischen den Meeren.
Jeder kann davon erzählen: Das
Jahrhundertereignis, vergleichbar mit
der großen Sturmflut 1962.
Ich erinnere noch, dass es vorher nachmittags
und abends stundenlang regnete.
Morgens wurde ich vom Lärm des
Räumdienstes wach. Ich konnte kaum
die Bahnhofstraße erkennen, das Ostfenster
war zugeklebt mit Schnee! Unten hatte Körner
der Stadt seinen Radlader ausgeliehen.
Der rumorte gegenüber vor der Stadtbücherei.
Es schneite winzige Flocken, sie wirbelten
im Oststurm. Unter der Bris hatten sich meterhohe
Berge aufgeweht. Dabei war
es minus 15 Grad kalt, unglaublich.
Dann blieb es tagelang liegen, sehr
ungewöhnlich und eine tolle Sache.
1978 war ich 14 Jahre alt.
Vorhersagen heutzutage, modern sind
sie, ohne Milchkanne und exakt. Das
aktuelle, deutschlandweite Unwetter
wurde gut vorhergesagt.
Großartig.
Am Mittwoch sah Meno uns noch in
einem halben Meter Schnee versinken,
bald hieß es, unsicher wäre, ob
die Front von Süden kommend überhaupt
die Elbe erreichen würde. Heute
wird stets upgedatet. Jeder kann
es selbst online verfolgen. Sogar bei
der Deutschen Bahn weht ein frischer
Wind, statt einfach einen (oder alle) fahr’n zu
lassen, hat sie vorsorglich den Betrieb eingestellt.
Damals hatten die einen Slogan: „Alle
reden vom Wetter. Wir nicht: Die Bahn!“ Und
dann steckten die starken Diesellokomotiven
im weiten Schleswig-Holstein fest. Da bewies
die Deutsche Bahn Humor. Sie druckten
aktuelle Plakate mit dem geänderten Slogan:
„Alle reden vom Wetter. Wir auch …“, gaben sie
es kleinlaut zu.
# Flockdown
Winter, macht ja nix. Corona? Merke ich
nicht. Mir ist nicht langweilig, meine Existenz
scheint ungefährdet, auch wenn der Arzt
grad meint, ich müsse meinen Magen spiegeln
lassen. Nicht wegen Corona, schlimmer.
Er hat es angedeutet, und gerade war ja auch
Weltkrebstag. Oha! Aber solange ich zuwarte
und es einfach nicht mache, kann es ja alles
mögliche sein. Blähungen zum Beispiel.
Es ist schon so vertraut, dass es sich nicht
mehr normal anfühlt – Oktober. Und seit ich
nicht mehr täglich saufe und neuerdings gesund
esse, habe ich zwei Kilo abgenommen.
Fenchel und Haferbrei. Der morgendliche
Klimmzug im Treppenhaus fällt mir leicht.
Die Tabletten nehme ich auch nicht.
Ich warte einfach, bis ich gestorben bin und
nehme sie anschließend.
Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 12 [Seite 12 bis 14 ]
Das ewige Leben nach dem Tod. Nicht als
Ameise, aber „man könne nie wissen“, wir reden
am Radweg. Der Hausmeister vom Rathaus,
ist er das?
Eine Bekanntschaft,
immer
bereit, mir einige
Ratschläge
mit auf den Weg
zu geben.
Der Tod, was ist
das?
O. hat mich gewarnt:
„Damit
mache man keine
Witze.“ Ich solle an meine Frau denken.
Und außerdem gebe es nur Kummer von
Ewigkeit zu Ewigkeit, wenn man nicht gottgefällig
lebe, und eine Anordnung vom Arzt
sei mit gebührendem Ernst zu befolgen. Er
habe „das Buch“ gelesen. Das schien mir aber
nicht die Pschyrembel zu sein. Und von Jehovas
Zeugen hat er auch noch angefangen.
Mann-O-Mann. Er sei kein Prediger, meinte er.
Ach so, habe ich gedacht. Dann habe ich ihm
verraten, ich sei tatsächlich ehrenamtlicher
Mitarbeiter der Stephanskirche. Der O-Mann
wohnt in Halstenbek oder so, da kann er es
nicht wissen. Der städtische Postbote, mein
Freund im Rathaus oder die Neugier bloß?
James Ond. Meine Kunst ist auch mal weghören
können. In der Küche der Verwaltung
und am Thron bei Hof ist’s dem Narren John
zu doof. Oscar Wilde: „Zu Leuten, an denen einem
nichts liegt, kann man immer freundlich
sein.“
Das O(hr) am Bürger. Mit der Pastorin läuft’s
besser, und sie hat das rote Telefon nach noch
weiter oben. Ein schönes Feld ist dieses Dorf
gewesen? Unsere Häuseransammlung westlich
von Lurup, kernlos, gesichtslos, und die
letzten Läden im „Staddi“ machen gerade das
Licht für immer aus. Wir könnten Wohnungen
reinbauen, das wird billiger als der geplante
Stadtkern, der glaube ich nie kommt. „REWE“
und die Bank, ein Anwalt, zwei Ärzte, ein öffentliches
WC – das ist wichtig – und dann
ein paar schöne Appartements unter der
Glaskuppel.
Parkplätze ham’ wir ja schon reichlich.
In der Schule hat uns die Lehrerin erzählt,
wie Glückstadt entstanden ist. Die nette kleine
Stadt an der Unterelbe wurde am Reißbrett
entworfen und ins Nichts der weichen
Marsch gebaut. Ein dänischer König wollte
Hamburg wirtschaftlich in die Knie zwingen.
Der König hätte auf seinem Pferd gesessen,
im morastigen Marschland der Rhinmündung,
mit einigen Getreuen an seiner Seite.
Während das Pferd leicht unruhig tänzelte,
erklärte der große Däne seine Pläne: „Glückstadt!“
Der dänische Fürst und Staatenlenker
holte mit dem Arm weit aus. Seine edle Hand
beschrieb einen Bogen, und mit den Augen
visierte (und vor dem inneren Auge visionierte)
der Kong die träge dahingleitende Elbe
und das weite, baumlose Land bis zum Horizont.
Er sagte:
„Dat schall glücken
und dat
mutt glücken,
und denn schall
se ok Glückstadt
heten!“ (Wikipedia).
Die Vasallen
nickten ergriffen.
„Ja, du großer König
und Fürst von
Schleswig-Holstein,
eine tolle
Idee, hier den Stadtkern einer Metropole zu
planen“, mögen die Begleiter zugestimmt haben
– aber dann sackte der Gaul ihres Herrn
im Modder weg. Bis zum Bauch steckte das
Pferd fest, so weich war das Marschland.
Das hat uns Frau Herchenhan erzählt, in der
Grundschule. Kein glücklicher Anfang für eine
gewünschte, glückliche Weltstadt. Letztlich
war es die Rhinplatte,
die alle
Pläne von lebhaftem
Handel
mit reichlich
Schifffahrt, einem
Hafen, der
es mit Hamburg
aufnehmen kann,
zunichte machte.
Breit hingestreckt
liegt eine
flache Sandbank
vor dem Tor zur
Welt, die sich
(bis heute) immer neu aus dem Spülgut des
kleinen Flüsschens nährt. Ein kurzsichtiger
König, der das übersehen konnte.
Schenefeld könnte schöner sein? Christian
der Vierte und Christiane die Einzige folgen
schon dem Namen nach Christus dem
Alleinigen (aus dem Buch). Und so muss
die Geschichte zeigen, wie groß und
kernig sie sind. Glücklich geplant an der
Elbe: Sternförmig laufen alle Straßen
auf die Mitte der Stadt zu, das Zentrum.
Glückstadt hat einen unübersehbaren
Kern. Das ist rund um die Kirche der
Marktplatz. Wenn wir das
nachbauen wollten …
Das eine ist ein Wort, „Kern“
etwa, aber was steht dahinter?
Deutschland ist zusammengewachsen,
Menschen
fliehen aus dem Krieg und
Kinder werden geboren.
Bessere Planung in der
Pandemie wird gern angemahnt.
Scheint nicht alles zu klappen
beim Weltmeister (das beste
Deutschland aller Zeiten), der
Wettbewerb impft schneller? Ich
möchte nicht woanders leben.
Letztlich ist jede Planung nur
die Mühe derer, die etwas erreichen
wollen, und auf der ande-
ren Seite wuselt das Leben und geht seinen
Weg. Großes zu schaffen oder einige Berater,
Architekten und Baufirmen zu beschäftigen,
und nachher stehen da nur mehr Häuser anders
rum, wir dürfen gespannt sein.
Auf einem Bild mit Farbe fertig zu werden,
das ist meine Verantwortung und ein erreichbares
Ziel. Einmal mehr führt uns die
Pandemie vor Augen, wie schwer Ziele zu erreichen
sind, zumal, wenn sie erst
konkretisiert werden müssen. „Es
soll wieder alles ganz wie früher
werden!“ Es ist dagegen leicht,
Fehler zuzuweisen, wenn es viele
Beteiligte gibt und das Ergebnis
bei weitem nicht so exakt definiert
werden kann, wie etwa ein
Produkt im Laden, das wir gut bewerten
können. Wir wechseln den
Händler, wenn nicht taugt, was wir
kauften.
Ich glaube, ich male, weil es so
konkret ist das zu tun.
Malen geht immer. Und das Ergebnis kann
ein Künstler an sich selbst messen. Es ist
eine Einzelleistung. Nach vielen Jahren hast
du das gelernt: es gibt keine Bewertung von
wem auch immer, die das Werk selbst und das
erfüllende Bewusstsein ersetzen kann, das
dich begleitet, wenn du allein handelst und
es als richtig begreifst.
Den städtischen Mitarbeiter
mit seinem Lastrad,
ich treffe ihn immer
wieder mal gern am
Krälaweg, er radelt gemächlich
mit der Stadtpost
zum Timmse. Unser
Plausch in der alten
Landstraße, das ist noch
erlaubt, und ich bin gern
an der frischen Luft. Das
Buch! (Er hat es nur angedeutet).
Wie groß sind
wir denn? Richten und begnadigen. Ich glaube,
dass Gott sich auch um die kümmert, die
an Allah glauben, aber O. ist anderer Meinung.
Jedem seine Schuld … ob Gott sich auch um
Woelki kümmert? Schaun wir mal.
Bei den Katholischen wieder Stress.
Ich nutze die Zeit im Home Office, mein Atelier,
habe stürmische See ins Bild gemalt. Nun
werde ich beginnen, anderes auszuarbeiten.
Entsprechend meiner Lieblingsverkäuferin
auf dem Wochenmarkt habe ich eine „Shirley,
die Scholle“ hineinerfunden und das Gesicht
Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 13 [Seite 12 bis 14 ]
der „Europa“ ausgearbeitet. Ich habe begonnen,
den Stier „Zeus“ exakter zu gestalten.
Das finde ich leicht, nachdem ich mich mit
dem Meer so schwer getan habe. Seit Oktober
habe ich beinahe nur Wasser gemalt, und
vorher hat das Bild reichlich vier Wochen
rumgestanden. Im Mai habe ich begonnen,
und dann nur sporadisch dran gearbeitet.
Nach dem Urlaub im Sommer bin ich erst
gar nicht in Gang gekommen weiterzumalen.
Dann habe ich ein Modell gebaut mit kleinen
Figuren, für eine Bürogemeinschaft, ein
kleiner Auftrag, aber seit dem Herbst habe
ich fast täglich Wellen gemalt. Das hätte viel
schneller gehen können, wenn ich’s denn
gekonnt hätte. Das Wasser wollte
mir nicht gelingen. Jetzt finde ich es
ganz gut, doch.
:)
Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 14 [Seite 12 bis 14 ]
Weißer Winter, rosa Rauch
Feb 13, 2021
Aus unserem Küchenfenster: Rosa ist der
Rauch nur an wenigen Tagen im Jahr. Das
passiert im Winter, die Sonne muss morgens
eine bestimmte Position rechts vom Hochhaus
haben. Ein wenig später steht sie zu
hoch, scheint zu hell, und der Rauch aus dem
Schornstein leuchtet beinahe weiß.
Viele Menschen haben eine Lieblingsfarbe.
Aber noch nie habe ich einen getroffen, der
meint das „g“ (innerhalb der Notenlinien) sei
ihm der schönste Ton, allemal besser, als das
schnöde „f“ eben drunter. Einige streiten
sich gern: „Das ist orange, nicht rosa“,
sie kennen sich aus? Meine Mutter verwendete
den Ausdruck „petrol“ für ein
dunkles Türkis. Damit können manche
nichts anfangen, und sie diskutieren
gern, ob etwas grün oder blau sei, wenn
der Farbton dazwischen liegt. Dasselbe
machen sie bei violett. Sie können nicht
sagen, es sei gerade ein rötliches Blau.
Verbalisten wissen eventuell nicht, wie
man ein Blau mit ein wenig rot, das man
hineinmischt, zum Lila machen kann?
Damit ich einen Ton anpassen kann,
muss ich ein Gefühl dafür bekommen,
wie viel gelb einem Rot noch fehlt, und
dann kann ich sagen: „Das ist ein rotes Gelb
oder es ist ein grünes“, so steht es auch auf
der Tube. „Titangelb grünlich“ oder „Phthalogrün
gelblich“ im Unterschied zu „Phthalogrün
bläulich“, und das ist nicht wie beim
Autohändler (oder dem Sofa) in „Rio Verde“.
Auf dem Auto, am Vorhang, der Kleidung und
im Bild haben die Farbtöne eine Funktion
und lösen Gefühle aus. Farbe ist emotional,
streitbar. Im Künstlerbedarf ist sie ein Material
und so bezeichnet. Weshalb wir Maler
„Elfenbeinschwarz“ im Laden vorfinden, wo
die Stoßzähne der Elefanten doch weiß sind,
das verwundert? Der Farbname „Elfenbeinschwarz“
bezeichnet ein schwarzes Pigment,
das ursprünglich aus unter Luftabschluss
geglühtem Elfenbein gewonnen wurde. (Wikipedia).
# Einige wollen immer das Gegenteil sagen
Sie täuschen Selbstbewusstsein vor durch’s
grundsätzliche Widersprechen. Reizvoll, wenn
es gelingt, so eine penetrante Diskutante zu
manipulieren, dass die Person schließlich für
das Gegenteil plädiert, das ihr anfangs wichtig
war. Es gibt immer ein paar Gründe für die
eine wie die andere Position. Man kann für
besseren Schutz der Mieter eintreten und die
typischerweise gewinnorientierten Vermieter
anprangern oder darauf hinweisen, dass es
Mieter gibt, die kein Hauswirt leiden kann
mit den entsprechenden Details,
und die Position des Vermieters
stärken. Argumente lassen sich
für viele Ansichten finden. Eine
eigene Meinung zu haben, ist
mehr, als aus dem Vorrat gängiger
Thesen aufzutischen. Die
Meinung zu etwas wechseln zu
können, und nicht Ansichten wie
Unterhosen aus dem Schrank zu
nehmen, macht einen starken
Charakter aus.
# Deswegen bedeutet eigene
Gedanken denken zu können
Freiheit
Es ist die Freiheit von den Fesseln der Angst,
nicht viel mehr, als eine individuelle Angewohnheit
loszuwerden. Am Schlimmsten
dran ist der Mensch, der nicht einmal weiß,
dass er sich grad fürchtet, in unangenehmen
Situationen grundsätzlich streitet oder einfach
flüchtet.
Es passiert: Wie ein Geschenk kann der
zwanghafte Schub, eine deftige Aktion aggressiven
Verhaltens, die uns wie unabänderlich
geschieht, deutlich machen, wie sehr wir
gekränkt wurden. Wer nicht wählt, obwohl
Alternativen zur Verfügung standen, kann
sich dessen im Nachhinein bewusst werden.
Typischerweise angepasst wäre es gewesen,
wenn wir wie sonst alles hingenommen hätten?
Aber wie fremdmotiviert starten wir einen
„Befreiungsschlag“.
Danach wird ein Mensch sich erst bewusst,
wozu er in der Lage ist.
Als ich zu malen begann, fand ich
leicht ein Thema. Rosa leuchtet
der Rauch, wie schön. Ganz sicher
gäbe es die genialsten Bilder
mit diesem Motiv, aber ich fand
es genug, den Blick von dort zu
malen, wo ich’s gerade gesehen
habe. Ich war auf der Suche und
wusste es nicht. Hätte ich besser
gezielt gearbeitet, von Beginn
an ein Stilmittel perfektioniert?
Sonnenuntergänge gehen immer.
Einige malen die Brandung immer
wieder. Ich habe von einem
Bild zum nächsten gemalt, bis ich
wusste, was mir fehlt. Ein längerer
Weg, nicht nur in der Malerei.
Seitdem fühle ich mich frei zu
wählen, was ich male. Wie lange
das dauert, bis ein Bild fertig ist,
und ob es anderen gefällt, interessiert mich
heute überhaupt nicht mehr. Und zwar, weil
es immer so wichtig gewesen ist und mich
Zurückweisung oder ausgebliebene Anerkennung
geschmerzt hat.
Niemand ist davon frei, gern gelobt zu werden.
Wenn dies ein übermächtiges Problem
darstellt, sich stets in den Vordergrund
drängt, und bei mir ist das der Fall, ist es wohl
am Besten, entsprechende Situationen zu
provozieren, in denen man trotz aller Mühe
leer ausgeht. Es bedeutet, sich einen Spiegel
vorzuhalten mit Ansage. Das heißt, viel
zu leisten aber das Ergebnis so zu gestalten,
dass die Anerkennung ausbleiben muss.
Ich möchte keine Beziehungen, keine sozialen
Bindungen! Keine Freunde, keine Liebe
erleben und keine Träume haben, die sich
erfüllen mögen. Die bekannten Worthülsen
haben mich enttäuscht. Ein derber Spott
liegt mir auf der Zunge bei so vielem, was
immer wieder gesagt wird: Wir sind so gut.
Wir trennen Müll. Wir sind „Me-too und Black
Lives Matter“. Wir müssen Vegan sein und
setzen einen Helm auf beim Fahrradfahren,
weil es sicherer ist und sich „richtig“ anfühlt?
Wir gendern. Wir cremen die Haut. Wir kaufen
„Bio“ und fahren elektrisch, sind smart. Wir
sind auf „Insta“ oder sonst wo sozial „unterwegs“
im Netz. Der Mensch übertrumpft sich
im Teilen, spendet Knochenmark und noch im
Tode seine Organe, kämpft gegen den Krebs,
als wäre das kein individuelles Teil seiner
selbst, sondern die Geißel für Jedermann. Informiert
aus dem Baukasten. Das Leben: Die
Challenge. Corona, Jerusalema. Wir stehen
zusammen! Halten Abstand. Nur gemeinsam
kommen wir da durch. Und der Präsident
stellt eine Kerze in das Fenster. Endlich aus
der Kirche austreten und: Los geht’s Peloton!
# Wir sind soo modern
Nichts für mich. Ich möchte nicht moralisch
richtig leben, ich möchte mich ausleben und
entwickeln, nicht einen Menschen geben, der
in seiner Rolle gemocht wird.
Niemand ist frei davon, in Beziehungen zu
leben.
Aber ich möchte frei sein innerhalb der Bindungen.
Das macht es nicht leicht, nicht für
mich, meine Angehörigen, die Freunde, aber
es hält mich fit – und möglicherweise ist es
nun einfacher, freundlich zu sein.
:)
Feb 13, 2021 - Weißer Winter, rosa Rauch 15 [Seite 15 bis 15 ]
Europa, eine wahre Geschichte
Feb 18, 2021
„Europa ist von den Socken“, nun bin ich mit
dem Bild soweit, dass alles im Wesentlichen
festgelegt ist. Nach Monaten ist der Punkt
gekommen, zu verbessern, was bereits gut
dasteht. Ich bereite mich vor, probiere möglichst
geplant zu beginnen, mit dem Malen
erst anzufangen, wenn die kompositorischen
und inhaltlichen Fragen geklärt sind. Dann
passiert trotzdem jedes Mal das: Probleme
tauchen auf. Die lange, wahre Geschichte des
Bildes, hier kommt sie.
# Eine Chronologie, was alles misslang
Zunächst startete ich mit dem Mädchen auf
einer Kuh reitend. Das Erste war, daraus einen
Stier zu machen. Das ergab sich allein aus
dem Gedanken, die pornografischen Inhalte
noch aufzupeppen. Und erst als ich bereits
mit dem Malen angefangen hatte, begriff ich
das darin verborgene Thema.
Ich war unterwegs im Einkaufszentrum.
Es ergibt sich, ich komme mit einer attraktiven
Studentin ins Gespräch, kann es nicht
lassen von meiner Webseite zu erzählen,
und die junge Frau zieht schwupps ein Tablet
hervor, gibt meinen Namen ein. Das Bild
wird bereits im Blog erwähnt, so etwa im Mai
vergangenen Jahres. Wir reden und reden im
Geschäft (ohne Maske, glaube ich mich zu
erinnern, es ist gerade besser geworden mit
Covid), wo sie einen Nebenjob hat. Sie überfliegt
die Texte im Blog, und ich erzähle von
„Gurken und Rosen“, und warum ich das nicht
auf der Seite zeigen kann, jedenfalls nicht in
großer Auflösung. Ich sage, dass ich Bo Bartlett
bewundere und nun Themen aus meiner
selbst erlebten Erfahrung umsetzen möchte,
aber ohne den Stress, der einem widerfährt,
wenn die Menschen identifizierbar sind. Sie
erzählt, dass sie in Kiel einen Hund haben
kann, bei ihren Eltern in Hamburg wohnend
nicht, und dass sie möglicherweise dabei ist,
den Studiengang zu wechseln. Was könnte
besser zu ihr passen? Sie überlegt, und ich
denke, da ist es wieder mein Bild: Die junge
Erwachsene auf dem Weg ins Glück.
# Wo ist die Weide mit dem grüneren Gras?
Ich möchte realistisch malen, aber nicht reale
Situationen, und es soll mit dem Erwachsenwerden
zu tun haben und mit jungen Menschen.
Mein Leben, ich kann zurückschauen,
wenn ich der Gegenwart zuhöre. Ich denke an
den alten Hans-Jürgen, einen Freund. „Wenn
du früher die Jugendlichen
gefragt hast, sie wollten Lokomotivführer
werden, Kapitän
und Krankenschwester. Heute
sagt die Enkeltochter ,ich will
studieren’ und schaut dich
groß an“, meint er.
Er lässt das so im Raum stehen.
# Im Laden
Es ist viel Zeit vergangen, seitdem
wir im Geschäft geredet
haben, die Verkäuferin, Studentin
und ich – der Künstler, so
hat sie mich genannt. Ich gab
zu, Porno zu lieben, aber nicht
diesen Markt bedienen zu wollen, sondern
„Bilder“ zu machen. Zu dem Reitermädchen
meinte sie, das wäre ja wie bei „der Europa“,
und da habe ich so getan, als wüsste ich: „Ja“,
sagte ich nur. Ich hatte keine Ahnung, habe
zuhause gegoogelt. Tizian hat es gemalt, und
andere. Der Göttervater Zeus verwandelt sich
in einen freundlichen und wenig gehörnten,
attraktiven Stier, der auch nicht allzu gewaltig
groß ist. Er raubt die am Strand spielende
Göttin Europa, schwimmt mit ihr nach Kreta
und verwandelt sich zurück. Eigentlich hat
der Alte bereits eine Gattin, die soll es nicht
mitbekommen, deswegen die Entführung
in Tiergestalt. Aus der Liebelei entspringen
noch Kinder, das ist eine alte Sage.
Unser Kontinent hat seinen Namen davon.
Also überlegte ich, entschied mich, die Socken
auf „europäisch“ umzutrimmen. Mein
Bild trug den Arbeitstitel „Das grünere Gras“,
und nun konnte es auch „Europa ist von
den Socken“ heißen. Grünes Gras heißt jetzt
auch grüne Politik; wollte ich das sagen? Ein
chaotisches Parlament, der Brexit; mit einigen
wenigen Pinselstrichen kommen neue
Inhalte dazu, warum nicht? Big Brother, Sex
in Bondage, wer sieht was im Bild, interpretiert
hinein? Da waren sie wieder, die mehr
als tausend Worte im Gemälde. Es überrascht
zunächst den Künstler selbst, was gerade an
der Angel unserer Fantasie zappelt. Nur wer
seine Zukunft plant, habe eine, plakatiert die
Bank und empfiehlt eine Geldanlage. Wer
wisse wie viel er dem Zufall überlassen dürfe
habe das Glück auf seiner Seite, findet Lady
Barbara Wellington im Roman „Hornblower“,
und schon Edward Hopper beklagt, dass sich
die malerische Idee während der Arbeit noch
wandelt. Das müsse man hinnehmen, sagt
der Meister.
# Oder als Chance begreifen …
Mir war es darum gegangen, die Fantasie und
Erwartung junger Frauen „nichts zu verpassen,
jedem Ideal des perfekten Lebensentwurfs,
aber auch alles zu erleben und richtig
zu machen“ in ein Bild zu packen. Ein Studium
im Ausland, eine Lehre zuhause reicht schon
mal nicht. Ein toller Mann, aber nicht gleich
der Erste, der kommt usw. – die moderne plakative
Sexualität, über die man aber nicht
spricht, das sollte auch hinein. Zu meiner
Zeit waren Live-Cam-Porno und Internetsex
undenkbar, im Playboy alle Frauen untenrum
haarig und zudem im Intimsten retuschiert.
Noch mehr Haare drauf.
# Eine alte Geschichte, modern interpretiert
Ich wollte die Orvellsche Komponente im
Bild haben und fand die Drohne auch aus
kompositorischer Sicht prima. Eine böse
Spinne und schwarz. Das ganze Konstrukt
der formalen Beziehungen konnte an diesem
Punkt getrimmt werden, wie ein Segel durch
die dem Wetter entsprechende Spannung auf
dem Fall und den Streckern: Cunningham,
Unterliek, flexibel nachjustiert mit Traveller
und Großschot. Die formale und inhaltliche
Spannung einer Komposition entscheidet darüber,
wie interessant ein Thema präsentiert
wird. Wo die Dinge auf einem Bild ihren Platz
haben, wie intensiv ihre Farbe ist und welche
Richtung sie dem Auge geben, nicht zuletzt
die inhaltliche Bedeutung und damit ihre
Gewichtung, ob sie einen Schwerpunkt der
erzählten Geschichte darstellen oder eine
spielerische Ergänzung, bestimmt über seine
Qualität. Schief konnte mein Schiffchen
runterstürzen und doch würde der Betrachter
immer zurück in die Komposition finden.
Alles hängt an diesem schwarzen Stern im
Himmel. Dass mit dem Wal konnte die unappetitliche
Seite des Themas „Sex mit Tieren“
noch toppen, hatte zu diesem Spritzer geführt
und würde verklemmte
Trutschen zornig machen, gut
so. Die Möwe hat ihren Platz
bekommen, weil die obere
Socke beim Probieren so ähnlich
ausgesehen hat wie ein
Seevogel. Da habe ich lange in
Photoshop gebastelt, bis diese
rein formale Idee „der ähnlichen
Kontur“ erzählt werden
konnte.
Ich möchte eine schöne „Europa“
malen, hoffe es gelingt.
Manche dürften sie für naiv
halten. Ich sehe das anders.
In diesem Rind steckt nicht
allein der alte Zeus, sondern
auch ich, John der Maler. Unterwegs in dieser
Lage, ist er der Erschrockene auf dem Floß
und derjenige, der bei aller Lust gerade einmal
mehr begreift was hier geschieht. Ihm
wird die Schuld zugewiesen, verantwortlich
mit ihr in diesem Kuhsturm zu schippern.
Und das weiß der alte Esel, pardon Stier (und
Lustmolch) natürlich am Besten von allen
selbst. Er hat keinen Motor installiert, keinen
Mast mit einem Segel aufgestellt. Um die
Vorräte kümmerte er sich wenig, wer von den
Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 16 [Seite 16 bis 19 ]
Beiden hat den Futtertopf mitgenommen?
Was tut er denn für seine Freundin? Dass gerade
frischer Fisch an Deck landet, das reine
Glück. Unbedarft wie ein Sterntalermädchen
ist sie mitgegangen. Hier glaube ich, dass sie
sich ihrer Gemeinsamkeit mehr bewusst sind,
als der Betrachter ahnt, wenn er das Bild zum
ersten Mal sieht. Sie trägt die Ketten, ohne
sich daran zu stören, es kratzt sie als jungen
Menschen auch nicht, dass alles vielleicht
nur eine Inszenierung in einem möglicherweise
künstlichen Hexenkessel ist: Las Vegas
Bullenreiten, ein Meer wie in der „Truman-
Story“, eine Challenge. Wer weiß das schon?
Politik ist genauso dabei. Sie sind aneinander
gebunden, wie die Briten unweigerlich an
Europa. Eine Trennung ist möglicherweise
gefährlicher, als gemeinsam weiterzumachen.
Das sind so einige Gedanken, die mir
kommen. Eine Reise mit ungewöhnlichem
Ausgang. Wir dürfen annehmen, dass ihre
Fröhlichkeit einiges dazu tun kann, dass das
Ganze noch gut ausgeht.
# Jedes Bild ist zunächst eine Baustelle voller
Probleme
Als ich anfing zu malen, mussten gleich die
ersten Fehler, die ich übersehen hatte, korrigiert
werden. Meine Vorlage war ein Mädchen
(nackt) auf einem Pferd gewesen, und
für unten habe ich das Bild einer jungen
Frau (angezogen) auf ihrer Reitkuh genommen.
Die Frauen habe ich getauscht, mein
„Public-Porno“ für oben, und anstelle des
Pferdes kam die Kuh nach unten. Photoshop
macht es möglich, und ein Vergnügen ist es
ja bereits, den richtigen Teen zu finden. Es hat
mich von Beginn des Computer-Porno an geärgert:
Jeder kann über Google mit geringem
Aufwand sofort in die weltweit eingestellten
Bilder eintauchen, und eventuell kommen
auf die Vorschaubildchen ganz andere Nachfolgeseiten?
Und ggf. werde ich strafrechtlich
verfolgt, falls das Falsche dabei ist? Mit dem
heute etablierten Begriff „Darknet“ entsteht
der beruhigende Eindruck, dass kriminelle
Energie vonnöten ist, um abzudriften. Ich
surfe entspannt, sage mir, dass Hamster & Co
ein Interesse daran haben, sauber zu sein, genieße
die leichte Verfügbarkeit der schönen
Bilder und gebe das gern zu.
Als das Bild bereits im Werden war, änderte
ich bald den Busen hin zu kleinen, etwas in
den Brustwarzen aufgewölbten Glocken, die
mir besser zu passen schienen. Das habe ich
nach langer Suche im Fundus verschiedenster
Screenshots, die ich machte (es kommt
auf die korrekte Perspektive an) chirurgisch
umoperiert. Dann ausgedruckt, und zwar in
der Größe meines Bildes. Ich klebte die neue
Vorlage einfach neben die zu ändernde Stelle
auf die Leinwand und übermalte die Brust.
Es musste ein linkes Bein in das Bild, fand
ich und habe lang probiert, wo es hingehört.
Auf dem von mir als Vorlage verwendeten
Foto sitzt das Mädchen normal im Sattel, das
Bein gehalten mit dem Fuß im Steigbügel.
Vom Pferd verdeckt ist es nicht sichtbar. Ich
trennte verschiedene Beine aus
allerlei mit „Spreading“ bezeichneten
Posen, die ich versuchsweise
einkopierte. So kam die instabile
Position zustande. Schwierig ist
gewesen, den Ort am Hintern zu
definieren. Der Fotograf hat seine
(im Original verschämt blickende)
Freundin, (weil es draußen auf dem
Reiterhof ist, mutmaßlich, weiß ich
ja nicht) auf dem Familiengaul (?)
von unten abgelichtet. Da ihre linke
Schulter deswegen weit unten zu
sehen ist, musste das abgewandte
Bein unterhalb der Pobacke angebaut
werden. Das sieht noch nicht
überzeugend aus. Ich hoffe, dass
ich’s plastisch hinbekomme. Es
wird zum Schluss gemacht, nachdem
der Rest ziemlich fertig ist.
Die tief sichtbare Schulter gab die Höhe der
hinteren Brust vor. Jetzt zahlte es sich aus,
dass ich schon so unendlich viel Akt gezeichnet
habe und im Studium eine gute Ausbildung
erhielt, genau hinzusehen. Weil ich
den Ort dieser Schulter lokalisieren konnte,
ergab sich die Möglichkeit digital in meiner
Entwurfsdatei zu messen, wo der Arm mit
der linken Hand des Mädchens enden würde,
wenn ich ihn änderte. Das war nötig. Auf dem
Foto hält sie sich am Sattel fest, der einen
Knauf hat. Nachdem ich eine offene Hand mit
schönen Fingern am Mac in die Fotovorlage
einbaute und den Arm um den Drehpunkt
bewegte, wo ich die Schulter vermutete, bis
die Richtung stimmte, schien das ganz gut
auszusehen. Aber auf der Leinwand habe ich
die Hand, nachdem sie gepaust und ausgemalt
dastand, noch um einen knappen Zentimeter
versetzt. Der Arm kam mir nun zu lang
vor. Das bedeutete zu übermalen. Nun hatte
ich es nicht mit einer Ebene im
Programm zu tun, die man einfach
verschiebt. Dasselbe erlebte ich
beim neuen Bein. Den Fuß habe
ich genauso versetzt, neu gemalt.
Das Bein war zu lang, und das sah
man erst, als es auf der Leinwand
gezeichnet und mit hellrosa vorgemalt
war.
Das Gesicht habe ich durch das
einer anderen ersetzt, erst jetzt
im Januar nochmals umgestaltet,
da es witziger ist, wenn sie ihre
Floßfahrt genießt. Dafür bin ich
wieder pragmatisch vorgegangen.
Ich habe mir eine gesucht, die den
Kopf in passender Perspektive hält.
Das war zunächst eine junge Frau,
die während des World Naked Bike
Ride fotografiert wurde und etwas
auf dem Handy anschaut. Für meine
Absicht musste sie nicht nackt
sein, denn es ging nur um die Kopfhaltung.
Auf diesem Bild lernte ich,
wie etwa die Kontur der Wange
hinter der Nase sein muss, und wie
der Mund mit einigen Zähnen unter
der Nase gemalt werden kann.
Dann habe ich weitere junge Frauen in ähnlicher
Perspektive gefunden, angezogen, aber
mit schönen Köpfen, probierte daraus eine
individuelle Person zu malen. Das dauerte einige
Tage. Der Kopf auf der Leinwand hat die
Größe eines Teebeutels, das Gesicht ist etwa
ein gutes Viertel davon, vergleichbar der
Zwei-Euromünze. Ich verwende Aquarellpinsel
der kleinsten Sorte 10/0 in bester Qualität
zum Stückpreis von acht Euro. Die reinige
ich immer wieder mit speziellem Pinselreiniger,
der Acrylfarbe anlöst, und ich verbrauche
nicht wenige davon, weil sie trotzdem ihre
feinste Spitze nach einiger Zeit verlieren.
Es mutet seltsam an, auf einem großen Bild
mit kleinen Pinseln zu arbeiten? Ich fange
zunächst mit breitem Borstenpinsel an, aber
es stimmt, ich bin Zeichner, Illustrator. Malerei
kann auch anders aufgefasst werden.
Erlaubt ist, was gefällt. Es muss mir liegen,
auf eine bestimmte Weise zu arbeiten. Das ist
doch wichtig. Es ist ja auch eine Frage des
Könnens. Wem es leicht fällt, mit schnellem
Strich einen sicheren Fleck zu setzen, kann
es tun. Ich arbeite, wie es mir gelingt. Darum
stehen mir Thema und Komposition über der
Virtuosität mancher Kollegen. Wer ein Modell
hat und in eine Position bitten kann oder in
die Natur geht und sich eine Landschaft vornimmt,
muss das Gesehene nur übertragen,
und auch diejenigen, die ein Foto wie es ist
kopieren, werden es leichter finden stumpf
abzumalen.
Die alten Meister mit ihren durchkomponierten
Figurengruppen mussten exakt arbeiten.
Vorbilder – da schmerzt mich irgendwie, dass
ihre Werke viel gründlicher und perfekter
sind und auf der anderen Seite meine Bilder
nicht so großzügig gemalt sind, wie die
anderer der Moderne (Edward Hopper). Das
Meerwasser von Anton Otto Fischer ist breit
mit sicherem Pinsel hingesetzt, davon kann
ich mit meinem Gestrichel nur träumen.
Und die Wellen von Jochen Sachse in ihrer
Perfektion haben eine sichere persönliche
Handschrift, dass man ihn sofort daran erkennt.
Fischer war Seemann gewesen, bevor
er malte. Sachse war Konstrukteur und hat
seine Schiffszeichnungen perspektivisch auf
Schoellerhammer übertragen. Er ist nur als
Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 17 [Seite 16 bis 19 ]
Marinemaler hervorgetreten, AOF konnte
auch wunderbare Szenen mit ausdrucksstarken
Figuren kreieren. Es gibt stimmungsvolle
Landschaften von ihm. Edward Hopper fand
einen Stil, Wasser zu malen, das ganz real
wirkt, aber in vieler Hinsicht nicht korrekt
dargestellt ist, sondern seine jeweilige Intention
im Bild stützt, und das ist keine Marineoder
Szenemalerei. Darauf hat er Wert gelegt,
und deswegen ist namentlich er der Erfinder
einer eigenständigen amerikanischen Kunst.
Landschaftsmaler gibt es überall. Wer nur
Wasser malt, wird es schließlich können.
Ich bin unendlich zufrieden damit, dass ich
mich immer wieder neu motivieren kann, ein
eigenes Thema anzufangen, schließlich ein
persönliches Bild auf meine Weise fertig zu
bekommen.
# Wir fallen nicht fertig vom Himmel
Zweifel und unendliche Selbstkritik sind ein
unabdingbarer Teil jeder kreativen Persönlichkeit.
Auch das ist etwas, was junge Menschen
nicht kennen: Den totalen Absturz in
Fehler, Peinlichkeiten und absolutes Versagen,
danach gestärkt loslegen. Nicht nur mit
dem Malen, auch sonst. Da sind sogenannte
Erwachsene, die verpassen beinahe alles,
sind in überheblicher Weise eingebildet.
Das ist zeitgemäße Dekadenz und nur möglich,
weil so vieles mit Geld gekauft werden
kann als Ersatz für echte Erfahrungen. Der im
„Job“ arbeitende Mensch gibt sein Geld „in
der Freizeit“ für zeitgemäßen Tand aus. Ich
selbst habe keinen Platz in der Gesellschaft,
so kommt es mir vor, schon gar nicht einen
„Arbeitsplatz“, ein absurdes Wort finde ich –
und muss dabei an Chaplin denken, wie er
in „Moderne Zeiten“ die Bewegung mit den
Schraubenschlüsseln noch macht, als er die
Firma abends verlässt.
# Gefesselt und gemeinschaftlich verbunden,
selbst schuld?
Corona: Die verschworenen Querdenker sind
nichts weniger als das, querköpfig sperren
sie sich gegen die neuen Einschränkungen,
aber denken können diese Menschen nicht.
Der breiten Masse fällt es leicht, sie als Idioten
zu erkennen. Im Mainstream vergessen
aber viele, wie angepasst sie die Generalmeinung
übernehmen. Ideologisch ist heute
alles. Medien, auch die aufgeklärten Demokraten
aus der politischen Mitte, müssen ihre
Nachrichten bzw. Thesen prüfen, unter dem
wirtschaftlichen Aspekt und dem daran hängenden
existentiellen Überleben des Kommunikators,
ob sie Bestand haben werden
oder verbal niedergerungen. Alles wird auf
eine breite, glatte Oberfläche hin nivelliert.
Übersehen wird gern, dass es immer mehr
einzelne Menschen gibt, die ihre individuelle
Persönlichkeit einer These unterwerfen: Vegan,
Fitness-orientiert oder Junk-Food bevorzugende
Dumpfbacken, es kommt nur darauf
an, was der jeweiligen Umgebung als richtig
gilt. Ein Denkbaukasten ersetzt die Fähigkeit
intelligenter Analyse, entsprechend individueller
Problemstellung, der sich der Einzelne
nach wie vor gegenübersieht. Kommerziell
ist auch das Denken und damit unser Gehirn
vermarktet worden. Hersteller und Lieferanten
dazugehörender Produkte verdienen
am jeweiligen Lifestyle. Der Allrounder
hat im Beruf von heute keine Chance, da die
Leistung der Firma Spezialisten erfordert,
und dieses Erfolgsmodell wirkt auch im sozialen
Verbund der Kollegen und Freunde.
Schon immer haben Gruppen gemobbt. In
der schriftlich fixierten Kommunikation der
sozialen Netzwerke, in denen die einzelne
E-Mail kaum mehr eine Rolle spielt, suggeriert
der Verbund mit Gleichgesinnten Stärke.
Eine „Einzelmeinung“ gilt schon deswegen,
weil sie keine Likes vorweisen kann, als
isolierte Dummheit und kann mit diesem
Begriff sofort abgestraft werden. Wir sollten
das kritisch sehen.
Als ein Spiegelbild der digitalen Welt ist der
Einzelne zum „Gruppenmensch“ mutiert. Der
vernetzte Automat agiert nach Programm, den
Maßstäben seines Umfeldes entsprechend.
Solange seine Realität dem beschränkten
Empfinden des umgebenden Systems entspricht,
das einen eigenen Kosmos generiert,
funktioniert er wie eine Zelle dieses speziellen
Ganzen, das genau genommen nur einem
Teil der Gesellschaft als richtig gilt. Dieses
nicht individualisierte Wesen scheitert, wenn
die Logik der Gruppe auf die größere Realität
nicht anwendbar ist. Eine Pseudo-
Persönlichkeit kann nicht flexibel
handeln, wenn die Umstände in
die sie gerät nach dem Programm
ihrer Umgebung unlösbar sind.
Das Scheitern eines Teammitgliedes
wird nicht notwendigerweise
zu angemessener Unterstützung
durch die Partner führen, sondern
wiederum programmierte Lösungen
anbieten. Damit scheitert
dann auch ein Teil der Gruppe.
Für junge Menschen, die in dieser
vorgekastelten Umgebung
aufwachsen, fatal. Der modern
vernetzte Mensch ist in Vollzeit
seines Daseins eingebunden in die
Kollegen, Freunde und weitere ihm
relevante Partner. Weil er auf die
intellektuelle Stütze von Ärzten,
dem Steuerberater und der emotionalen
Nähe von Freunden und
Nachbarn angewiesen ist, grenzt
sich ein unreifer Mensch weniger
von ihnen ab, als es nötig wäre.
Ein unsrem System gerade deswegen
besonders nützliches Mitglied
und zunächst einmal leistungsoptimiert,
weil es nach einem Schema denkt.
Leistung als Lebensmotto und gruppenweises
Anprangern sind weniger als die menschliche
Natürlichkeit und intelligente Kritik.
Ohne eine Lobby geht nichts, aber damit wird
jeder Protest zum gebündelten Rammbock
und das ist nicht dasselbe wie eine humorvolle
Umgebung mit vielen auch kritischen
Einzelstimmen.
Das war einmal der Siegeszug der amerikanischen
Demokratie über den Kommunismus,
Chancen für jedermann. Ein Auslaufmodell,
wenn es zum Trumpismus verblödet. Daran
ändert auch die Wahl anderer, neuer Politiker
zunächst nichts. Die konsumorientierte Welt
hat sich leistungsoptimiert, konzentriert und
verbessert bis an diesen Punkt: Im Falle von
Problemen können die uns umgebenden
Spezialisten nur im Rahmen ihrer eigenen
Beschränktheit reagieren. Damit muss in
unserer Gesellschaft zwangsläufig der Anteil
psychisch Kranker (nicht länger funktionierender
Einzelteile eines Systems, das auf
funktionelle Leistung setzt), die in Dauerbehandlung
mitgeschleppt werden, zunehmen.
Als Kreativer kann ich mich außen vom Netz
bewegen. Ich bin die Spinne. Für die innen
bin ich nur der Spinner. Mein Netz bildet sich
aus denen, die gleich mir individuell sind.
Wir sollen eingefangen werden von denen,
die an uns, aber nicht mit uns verdienen
wollen, aber wir treffen von außen auf das
Netz vom Tor, wie der verschossene Ball, der
zur Überraschung des Zuschauers gar nicht
im Kasten ist. Es sieht nur so aus, eine optische
Täuschung, gilt schließlich nicht, und
dann beginnt unser Spiel neu. Ich bin sehr
dankbar dafür, dass es mir an nichts mangelt.
Ein Frust und mein durch Mark und Bein gehender
Hass auf einige macht möglich, dass
ich malend vollkommen abschalten kann
und mir selbst sogar im Zorn und Versagen
gefalle, weil ich weiß, wie primitiv mich Leute
schon angegriffen haben. Ein ehrenvolles
Amt oder der Platz an einer dörflichen Karrierespitze
sind kein Ersatz für echtes Leben,
das beruhigt.
Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 18 [Seite 16 bis 19 ]
# Ich habe einen „Spielplatz“, und den habe
ich mir selbst ausgedacht
Mit der Idee, die junge Frau müsste sich
über das spritzige Wasser freuen, kam auch
die Scholle in die Fontäne, und das muss
ich noch ausarbeiten. Die Rose war von Anfang
an dabei. Ich habe sie bereits in andere
Bilder einkomponiert, die nach „Malen hilft“
(und den beiden dazugehörenden anderen)
gemalt wurden. Farbe bekennen: Das sind
Bilder, mit denen ich den nötigen Ärger provozierte,
Menschen aus ihrer komfortablen
Deckung zu zwingen. Ich schweife nicht ab:
Die Idee ist nach „Mal kurz für immer“ die
Themen mit „Schauspielern“ zu besetzen und
sei es, dass sich die Protagonisten verkleiden
wie in „Gurken und Rosen“. Ich habe meinen
Stil gefunden, kann eigene Erfahrungen auf
eine fantastische und symbolisch verwandelte
Wirklichkeit projizieren.
# Versuch einer Erklärung, skizziert
Malen hilft. Es scheint hinter allem noch
durch, das eklige Bild: „Verkackt hast du’s
allein“, wollte Christiane (die aus dem Turm)
mir singulär den schwarzen Peter einer gemeinschaftlich
produzierten Fäkalie zuschieben
und sich gemäß dem Amt, in das wir sie
wählten, über mich und die Situation überheben.
Dumm, naiv und machtbesessen, manipulativ
sind ihre Vasallen losgetrabt. Einen
Ochsen wollten sie schlachten. Dass ich ein
Bulle bin? Ich kann schwimmen. Übertragen
auf das aktuelle Gemälde, haben ihre Retter
die Europa wohl einfach so, mitsamt der
Ketten und dem Anker vom Floß gestoßen.
Armes Mädchen.
# Schaumiges Schlachtfeld Schenefeld!
Nun musste überall mehr Wind sein: Jetzt
fliegt der Bullenschwanz vernünftigerweise
nach hinten weg. Die untere Socke ist,
zu einem Kniestrumpf verlängert, ebenfalls
„nach dem Winde“ gebogen. Das mit dem
Kniestrumpf kam, weil ich zu spät bemerkt
habe, dass die obere Socke (in der Form der
Möwe) viel länger dargestellt war als die
untere, wenn man sie entfalten würde. Und
diese Falten kamen ja unabänderlich in den
Strumpf, damit das Ding diese spezielle Form
hat. Da blieb es nur, unten dazuzuhäkeln.
Ein Perspektiv-Fehler war im Anker. Ein kleiner
Draggen. Den hatte ich einkopiert, genau
wie er in der Vorlage abgebildet ist. Diesen
Anker hatte der Ebay-Verkäufer aber aus der
Nähe fotografiert. Mir war noch gar nicht
aufgefallen, dass die beiden oberen Flunken
dadurch falsch platziert gewesen sind. Bei
mir ist der Anker nur ein kleines Element in
einem großen Bild. Die oberen beiden Spitzen
musste beinahe gleich der unteren ihre
perspektivische Flucht haben, da alle vier
Flunken nah beieinander sind. Nun sollte
aber die oberste Spitze boshaft nah am dicken
Hodenbeutelsack enden. Nah, aber nicht
hineinpieksen … das waren Probleme! Das
Gras habe ich windig umgebogen. Den Stiefeln
habe ich kariertes Futter
gemalt, damit bin ich allerdings
noch nicht fertig. Mit dem Gras
auch nicht: Nun muss alles,
auch die Drohne und der Himmel
konkretisiert werden, ich
freue mich darauf. Besonders
meine Europa, diese Landschaften,
Hügel und Ebenen in allen
fleischlichen Schattierungen
und Rötungen –
:)
Das Bild: Vor kurzem erst habe ich alles
auf „Wind“ getrimmt. Die Haare geben es ja
schon vor. Ich bemerkte spät, dass das Gemälde
auch im Rest „Bris“ haben musste.
Schaum in das Wasser zu machen, war nicht
so schwer. Ich habe immer wieder Filme im
Netz geschaut von der See. Ich kenne mich
aus? Ich bin wohl auf dem Wasser unterwegs
seit (nein: schon kurz vorher) ich geboren
bin. Diese Stürme! Die Leute filmen auf den
Kreuzfahrten und die Seeleute filmen von der
Brücke – ich weiß nun ganz sicher, dass ich
niemals Seemann sein möchte oder tun, was
Boris Herrman macht. Darum besonders bewundere
ich Greta Thunberg: Niemals hätte
ich mich getraut auf dieser Rakete mitzusegeln,
wie sie es tat. Sie schaffte, dass Donald
Trump sie bemerkte.
Sie ist unglaublich.
Ich habe regelmäßig die Webseite mit den
Bildern von Jochen Sachse aufgerufen. Ich
habe alles was ich von Anton Otto Fischer,
Schnars-Alquist und Johannes Holst und
anderen bekommen konnte angeschaut. Allmählich
wurde mein Wasser besser, und der
Schaum ist das einfachste daran. Den Himmel
muss ich noch ausgestalten, habe mir
angesehen, wie diese Windwolken gemalt
werden. Rechts vom Kopf des Stiers sind sie
schon ein wenig konkret. Ich hab einige Tage
am Kopf gearbeitet! Er sollte als das zweite
Gesicht im Bild genügend menschliche Züge
bekommen, nicht nur irgendwie schauen.
Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 19 [Seite 16 bis 19 ]
Hell, dunkel und farbverrückt
Feb 27, 2021
„Ganz dahinten, wo der Leuchtturm steht“,
singt Hans Albers in einem vergessenen Melodram,
und: „Wär’ ich doch ein Junge noch!“,
resümiert der blonde Hans (ergriffen von
sich selbst) zurückschauend. Seine Stimme
schnarrt ein wenig. Das Ende kommt in
Häppchen: „Dort blieb ein ... Stück . von . meinem
... Glück . zu . rück“, wer hier keine Träne
verdrückt …
Ein Licht dahinten, ganz weit weg, ist es dort
besser? Ich lese: „Ein Licht war in der Finsternis,
und die Dunkelheit hat es nicht auslöschen
können.“ Ein kleines Blatt mit einer
Buntstiftzeichnung, Kerze und Gedöns wie
man’s kennt, Kinderschrift darauf. Es hängt
im Schaukasten der Dorfkirche. Ich gehe oft
vorbei und denke darüber nach. Wenn ich im
Fernsehen vor acht eine Doku: „Dunkle Materie“
sehe und auch sonst mal.
Physiker haben ein Problem, man kann es
googeln.
# Dunkle Materie ist eine postulierte Form
von Materie, die nicht direkt sichtbar ist,
aber über die Gravitation wechselwirkt. Ihre
Existenz wird postuliert, weil im Standardmodell
der Kosmologie nur so die Bewegung
der sichtbaren Materie erklärt werden kann,
insbesondere die Geschwindigkeit, mit der
sichtbare Sterne das Zentrum ihrer Galaxie
umkreisen. In den Außenbereichen ist diese
Geschwindigkeit deutlich höher, als man es
allein auf Grund der Gravitation der Sterne,
Gas- und Staubwolken erwarten würde. (Wikipedia).
In der Doku sagt ein Wissenschaftler: „Es
schmerzt schon, dass wir’s nicht erklären
können. Es muss da etwas sein, überall, auch
hier gerade um uns herum …“, er macht eine
hilflose Rührbewegung mit seinen Armen, es
zu greifen, „dass Einfluss nimmt, auf die Gravitation,
das Funktionieren unserer Welt.“
Der Bundespräsident zündet eine Kerze an,
wir gedenken den Toten der Pandemie, im
Schloss Bellevue funzelt es im Fenster. Es
gibt Hoffnung und verdeutlicht die
beschränkten Möglichkeiten des ersten
Mannes im Staate, selbst politisch
einzugreifen. Zwölf Jahre sind vergangen,
Frank-Walter Steinmeier fand sich
kräftig genug, wollte ein Bundeskanzler
werden. Die Deutschen entschieden anders.
Licht, das uns führt, scheint dahinten
im Fenster. Kraft, die alle bindet, gibt
uns persönliches Gewicht. Was können
wir Menschen erreichen, wo steht unser
Leuchtturm? Auch die Kanzlerin erinnert
an Grenzen, entwickelt Perspektiven
angesichts des Unfassbaren, setzt
den Rahmen. Merkel erklärt ihre Politik
der Einschränkungen weltumspannend:
„Die Schwerkraft können wir nicht abschalten
…“, beginnt sie einleitend einer
langen Rede zu mahnen. Was auch nicht
wünschenswert wäre, finde ich. Die
Macht des Staates ist begrenzt. Wir alle
können hier nicht weg.
Das halten einige kaum aus.
# Justizopfer Gustl Mollath will weg aus
Deutschland. „Ich würde am liebsten
das Land verlassen“, sagte der 64-Jährige der
Deutschen Presse-Agentur in München zum
Erscheinen eines neuen Buches mit dem Titel
„Staatsverbrechen – Der Fall Mollath“.
„Auf dieses Land ist überhaupt kein Verlass.“
Das Buch wurde von dem Juristen Wilhelm
Schlötterer verfasst. Derzeit lebt Mollath in
Norddeutschland, wo er nach eigenen Angaben
versucht, Fuß zu fassen. Langfristig
wäre er aber „froh, wenn ich irgendein Plätzle
auf der Welt finden würde. Ich möchte
in Deutschland, vor allem in Bayern, nicht
bleiben müssen.“ Mit Blick auf die Bundestagswahl
im September sagte er: „Ich werde
dieses Mal erstmals wieder wählen können
dürfen und muss damit rechnen, dass (Bayerns
CSU-Ministerpräsident Markus) Söder
der nächste Kanzler ist. Das beschleunigt
meinen Wunsch, das Land zu verlassen.“
Mehr als sieben Jahre lang war Gustl Mollath
wegen angeblicher Gewalt gegen seine Ehefrau
in einer Psychiatrie eingesperrt, bevor er
als Opfer der bayerischen Justiz rehabilitiert
wurde. (Gekürzt übernommen von t-online,
22.02.2021, Verwendete Quellen: Nachrichtenagentur
dpa).
Kein Verlass auf ein (noch) dunkles Deutschland?
Das Gute hat so scheint es noch nicht
ganz gewonnen. Auch in den „Star-Wars-
Filmen“ ist die „dunkle Seite der Macht“ Gegenspieler
der Protagonisten. Eine zentrale
Angst machende Frage des Menschseins; das
Dunkle, das Böse. Bibel und Kunst greifen das
Thema auf, die Physik gibt zu, dass da offene
Fragen sind. „Die im Dunklen sieht man
nicht“, weiß schon Brecht, (Mackie Messer).
Auch Maler fasziniert das Licht und die dramatische
Dunkelheit. Der Meister des Helldunkel
sei Rembrandt gewesen, meinte mein
Vater gern und holte zum Beweis unser schmales
„Knaurs Lexikon“ aus dem Regal. Das
hatten alle zuhause stehen, bevor die zwanzigbändigigen
üblich wurden, bis sie unbändig
digital besiegt wurden. „Mann mit Goldhelm“,
jeder kenne dieses Bild sagte er.
Bis 1986 galt es als „echter“ Rembrandt.
# Seit dem Erwerb und der öffentlichen Ausstellung
in Berlin war das Bild äußerst populär.
Kunstdrucke und mehr oder weniger
geschmackvolle Umsetzungen in andere Medien
(z.B. als Stickerei) waren weit verbreitet
und schmückten viele Wohnungen. Seit es
nicht mehr als Werk Rembrandts gilt, hat die
Bekanntheit des Bildes nachgelassen, obwohl
es sich dabei durchaus um ein qualitätvolles
Werk handelt, wie Martin Warnke feststellte.
(Wikipedia).
Kunst ist Fake.
Durchaus Qualität habe das Bild, sagt man,
immerhin. Und bis 1986 war es ein Meisterwerk,
das deswegen bewundert und immer
wieder kopiert wurde? Es zeigt, dass die Bilder
selbst nur flüchtig angesehen werden,
aber gelesen wird, was über den Maler gesagt
wird. Dunkeldoof finde ich das.
„Am Anfang war das Wort“, heißt es. Da beginnen
unsere Probleme, fängt es an mit
den Behauptungen. Schweigen sei Gold, wer
wüsste diesen und andere Ratschläge nicht
wiederzugeben. Wer schreibt oder malt, der
bleibt. Das verdunkelte Hirn des Menschen
ist in Kunst und Kunstkritik nicht unbekannt,
Van Gogh, aber auch Edvard Munch und andere
werden gern ausgeleuchtet.
# „Kann nur von einem Verrückten gemalt
worden sein“, besagt eine kaum lesbare Notiz
auf Edvard Munchs „Der Schrei“. War es ein
Akt des Vandalismus – oder eine Nachricht
des Künstlers? Norwegische Wissenschaftler
haben Edvard Munchs Gemälde mit einem Infrarotscanner
untersucht und sind nun sicher:
Die mysteriöse Inschrift in der linken oberen
Ecke des Gemäldes stammt vom Künstler
selbst. (…). Lange war angenommen worden,
ein verärgerter Museumsbesucher könnte
das Werk von 1893 beschädigt haben. (…)
nachdem Fachleute vom Nationalmuseum in
Oslo ihren Infrarotscan von der Inschrift mit
handschriftlichen Aufzeichnungen Munchs
verglichen haben, scheint die Sache klar. „Die
Handschrift auf dem Gemälde gehört zweifellos
Munch“, so die Museumskuratorin Mai
Britt Guleng zur BBC. Die Inschrift selbst, aber
auch die Ereignisse von 1895, als Munch das
Gemälde erstmals öffentlich zeigte, deuten
alle in diese Richtung.
Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 20 [Seite 20 bis 24 ]
„Der Schrei“ kam in Norwegen
nicht gut an.
Munch musste sich harsche
Kritik anhören, seine
seelische Gesundheit
wurde zum öffentlichen
Thema. Aus seinem Tagebuch
geht hervor, dass Munch tief von den
Reaktionen auf seine Kunst getroffen war.
Tatsächlich litt der 1863 geborene Künstler
anscheinend an Depressionen und Angstzuständen,
wie auch sein Vater und seine
Schwester. Die nachträgliche Inschrift auf
dem Gemälde war demnach wohl Edvard
Munchs Beitrag zur Debatte seiner Kritiker.
(Verwendete Quellen: BBC, Edvard Munch
wrote „madman“ graffiti on Scream painting,
scans show. Mysteriöse Inschrift, Forscher
lösen Rätsel um Edvard Munchs „Der Schrei“
22.02.2021, t-online).
Diese Geschichten, die wir (ich bin auch so
einer) machen, verrückt! Ich habe eine Freundin
(wäre es bei uns üblich, hätte ich gern einen
Harem), und dass, obwohl Nachbar Irakli
meint: „Zu dir setzt sich keine Frau mehr an
den Tisch.“ Er kennt mich? Der Künstler, das
bin ich. Bekannt im Dorf, nicht nur wegen der
„unmöglichen“ Bilder. Einmal mehr habe ich
„Scheiße gebaut“, und wir reden. „John!“, sagt
Melli, reißt die Augen auf, beschwörend packt
sie meinen Arm: „Das macht man im Dunklen,
wenn einen keiner sieht“, meine allerliebste
kleine Mellimaus ist entsetzt. Aber ich denke
anders als Gustl, mir gefällt es, im Rechtsstaat
zu leben. Ich habe einen besseren Eindruck
davon. Natürlich, auch ich möchte nur zu oft
„ganz weit weg“ – weiter als Edinburgh (wie
die Zweitliebste). Ich weiß aber, dass es nicht
geht. Da kommt schließlich (ewiglich und untrennbar)
die Haupt- und beste Ehefrau, unverzichtbar
vor allen anderen dran, und wir
bleiben natürlich hier. Nicht nur die Schwerkraft
gibt Halt, bindet. Ein anderes Mal, Melli
geht es gerade beschissen, als nun ich ihr mit
einem kleinen Hüpfer an der Bushaltestelle
zeige: „Du kannst hier nicht weg.“ Lieb hab’
ich sie. Alle.
Heute ein „Greta-Gedanke“, es gäbe keinen
Planet „B“ für uns, und man kann es größer
interpretieren: „Da sei nur eine Welt oder keine“,
erkennt Trompeter Dizzy bereits 1990 in
Prag, die Leute klatschen minutenlang. Wenn
das stimmt, nur eine Welt existiert, können
wir sie nicht verlassen, nicht einmal im Tod.
Eine Kunst, effektvoll zu malen wie Rembrandt.
Wir können mit dem Helldunkel umgehen
oder werden zwischen den Fronten zu
Staub zerrieben. Die Existenz kennt das Ende
Tod, kann aber nicht sagen, was genau nicht
existent zu sein für diejenigen bedeutet, deren
Leben beendet ist. Staub denkt nicht, ist
sichtbarer Dreck, immerhin. Die letzte Möglichkeit,
noch Putzfrau*in zu ärgern. „Dunkle
Materie“ ist unsichtbar und möglicherweise
mehr. Der Mensch muss lernen, mit etwas
zu navigieren, das niemand fassen kann. Die
Wirklichkeit von gestern ist die Karte, mit der
wir ins Morgen schippern. Weil wir so beschränkt
informiert darüber sind, wie etwas
war, wenn es vergangen ist. Wir haben hinten
keine Augen, und kriegen vieles nie mit. Das
ist nur eine der Gemeinheiten dieser auch bösen
Welt. Deswegen hat sich der Rechtsstaat
entwickelt. Das ist unser Fortschritt, seitdem
„Herr Jesus“ angenagelt wurde, weil er einige
zu sehr nervte. In dieser Tradition stehen, vom
heiligen Stephanus, nach dem unsere kleine
Kirche hier im Schenefelder Dorf benannt ist,
über viele andere, bis zum „Nawalny“ einige,
die so unbequem sind, dass eine Macht ihnen
das Maul verbieten will.
# „Wir“ machen Fehler
Natürlich ist Mollath nicht nur Opfer. Einzelne
brechen das Gesetz, aber auch Menschen
im Staat tun das, und dann greift dieses System,
das uns alle bindet. Je nach Land eine
gnadenlose Maschinerie bei den einen, bürokratisches
Unwesen bei anderen. Zu Unrecht
eingesperrt vom Staat: Wie es Gustl Mollath
ergangen ist in der Bundesrepublik Deutschland,
hat manche entsetzt, andere kaum interessiert.
Er ist ja wieder „draußen“, werden sie
meinen. Viele kommen nie mit dem Gesetz in
Konflikt. Sie finden es leicht, gut zu sein und
selbstverständlich. Immer sind sie die Äpfel,
die anderen Birnen, halten sich für gute
Menschen, begreifen nicht, dass ihnen nur
was gut gelingt. Scheuklappen ersetzen die
Bewusstheit genauso wenig, wie ein Medikament
den Psychopathen normalisiert. Auch
Normale können überraschend „geisteskrank“
werden – ein doofes Wort, „depressiv“ (immer
traurig), elegant trendy ist auch: „Burnout“ –
müssen sich neu definieren.
# Großartig!
„Sie hielte es mit Anne Frank“, meinte unsere
Bürgermeisterin über ihr Wirken an verantwortlicher
Position, als wir uns noch lange
Mails schrieben und mochten. Das sollte
wohl heißen, sie als Vertreter des Staates
lebe nach den Gesetzen des Widerstands von
damals, ließe sich leiten von idealen Werten,
könne deswegen nicht fehlgehen durch den
inneren Kompass. Heute „sind wir der Staat
die Guten“ und einen Antidemokraten Trump
halten wir aus, bis er wieder gehen muss
prophezeite sie. Sie hatte recht, was Trump
betrifft. Toll, Christiane: Ich ertrage dich, bis
du gehst. Schweigen ist erst möglich, nachdem
man alles andere probierte. Zum Letzten
bleibt das einseitige, unregelmäßige offene
Tagebuch, ein fiktives Meinungsbild und nur
eine alternative Wahrheit. Ein Blog ist nicht
sein Mittagessen zu posten und andere Banalitäten,
die dann sehnsüchtig kommentiert
zu sehen. Das ist Quatsch.
Ich wollte wissen, warum mein Freund und
Segelkamerad tot ist. Ich wollte wissen, ob es
mir selbst passieren kann, so massiv in emotionale
Not zu geraten, warum? Warum, das
habe ich mich gefragt, immer wieder. Keiner
konnte es erklären. Ausflüchte und mehr davon.
Lang ist’s her, und heute weiß ich es besser.
Schön zu leben, aber wie lange noch, ist
nicht mehr wichtig. Was soll mir die Zukunft,
wenn ich heute glücklich bin? Das Alter wird
nicht leicht sein, so viel ist gewiss. Ich erinnere
mich, und das hilft mir zu denken.
Wie etwa zu planen, was ich gleich nach der
Luvtonne machen will, beim Segeln, wenn
ich zuvor gut kreuzte und vorn vor dem Feld
liege. Die nahe Zukunft kann durch die gegenwärtige
Entscheidung ganz gut vorbereitet
werden, nur Automaten handeln nach
Programm unter Zwang. Die eigene Entscheidung
zu treffen, bedeutet wählen zu können,
wohin es gehen soll. Einen Luvkampf mit Piet
beginnen oder besser tief fahren, wie läuft
der Strom? Freiheit, Fairness und Fehler machen;
das Modell geschickt zu leben, ist im
Sport zu finden.
Und überall dort, wo wir sonst aufmerken, beginnen
plötzlich nachzudenken.
„Fruchtwasseruntersuchung? Wenn Sie die
machen, müssen Sie abtreiben, wenn das
Ergebnis eine grundsätzliche Missbildung
wie etwa das Down-Syndrom zeigt. Wenn Sie
nicht abtreiben wollen, brauchen Sie diese
Untersuchung nicht zu machen.“ Erst denken,
dann tun was alle machen oder eben nicht.
Manches müssen wir ganz allein herausfinden:
Ein ekliges, verlogenes Pack scheint die
Gesellschaft zu sein? Man muss ja nur die
Zeitung aufschlagen. Ganz weit weg, wohin
denn?
# Maria 2.0
Und doch ist Licht in der Finsternis und
verlöscht nicht. So steht es geschrieben,
was heißt das? Ein veraltetes Buch, das immer
wieder umformuliert wird, in aktuelle
Sprache. Meine Prophezeiung: Bald wird es
durchgendert werden. Warum gibt es keinen
zweiten Band? Die Bibel zwei, und jetzt auch
verfilmt von Disney.
Ich werde nicht müde, mir alltäglich neue Geschichten
irgendwo abzuschauen und stutzig
zu werden, neu zu interpretieren. Noch eine
Facette desselben: Da wird eine junge Frau
im Tageblatt porträtiert, zwanzig Jahre alt
etwa, im Bikini. Strahlt glücklich in die Kamera,
lange blonde Haare und schön zum gleich
Vernaschen für den Mann.
Unten sichtbar ist ein beuteliges Pflaster und
eine Narbe quer über den Bauch.
Sie ist hübsch, und ein Arzt hat ihr einen
künstlichen Darmausgang in den Unterleib
operiert, das müsste sein. Weil sie eine Soundso-Krankheit
habe mit Durchfall, Verstopfung,
was weiß ich was dazu und Problemen
noch und nöcher, und das sei auch gefährlich,
mache man jetzt nichts. Tatsächlich?
Das würde ich nicht glauben, wenn ein Arzt
das sagt. Verstopft, verkackt und geschickt
verpfuscht ist dieses Leben. Böse bin ich und
asozial verstockt. Voller Zorn! Kein Vertrauen
in andere: „Trau, schau wem“, die Verantwortung
liegt bei dir selbst zu entscheiden, was
gemacht wird. Wer will denn leben? Wir atmen,
das Herz schlägt, es geschieht.
Mit der Diagnose „Krebs“ konfrontiert, muss
ein Mensch die gewöhnliche Haltung: „Ich
krieg’s nicht“ (nur die anderen) aufgeben.
Wer meint, grad jung zu sein und deswegen
interessiere das Siechen alter Menschen im
Pflegeheim nicht, denkt wohl, man selbst sei
ja erst später betroffen. Dann könne man sich
damit beschäftigen, alt und krank zu sein. Ich
musste schon Hilfe annehmen. Ich habe um
vieles bitten müssen. Ich fürchte die mir aufgezwungene
Hilfe, der ich mich verbal nicht
entziehen kann, wenn ich schwach bin, in die
Enge getrieben. Den Tod fürchte ich nicht.
Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 21 [Seite 20 bis 24 ]
# Episoden des Alltags formen das Bild, unser
Helldunkel
Vor dem Bäcker klären ein Bekannter und ich:
„Sie stehen hier auch an?“ Mit der Maske vorbereitend
in der Hand warten wir gemeinsam
darauf, dass Kunden das Geschäft verlassen.
Zwei Personen sind aktuell erlaubt, ein Schild
weist darauf hin. Wir reden. „Manche fragen
gar nicht, sie übersehen dich, wenn du hier
stehst und gehen direkt rein, ganz egal wie
viele wo sind. Sie tun so, als hätten sie nichts
bemerkt.“ Wir scherzen. Er ist schon alt, knapp
auf die Achtzig zu, vermute ich. Auf meine
Frage zu Corona-Risiko und Gesundheit eröffnet
der Mann mir, er habe seit kurzer Zeit
„hier so einen Beutel“, zeigt auf den Unterleib,
ihm wäre „die Blase entfernt worden.“ Mit der
Diagnose „Krebs“ ist das bekannte Leben der
Verdrängung möglicher Gefahren unmöglich.
Muss man tun, was geraten wird? Der Arzt
wird sich geben, als mache er nur Vorschläge,
wenn er Operationen empfiehlt oder eine
Chemotherapie.
„Der Krebs ist wiedergekommen“, wie oft ich
das schon gehört habe. Immer reden die Leute
so, als wäre „der Krebs“ ein Fremder. Wie
die Jacke, die man trägt, ein Auto, dass alle
kaufen könnten, der Stuhl vom Nachbarn, jedenfalls
ein Ding, das bekämpft werden kann,
aber nicht ein Teil von ihnen selbst ist. Der
Feind, und dann kämpfen diese Leute dagegen.
Der Krebs wird betrachtet, als wäre mit
dem Begriff der operable Tumor, ein Objekt
gemeint, das autark existiert, wächst, sich
aus mir dem Kranken nährt. Und rausoperiert
entspricht „der Krebs“ dem von jedem anderen.
Nach demselben Verständnis werden Organe
gespendet und woanders eingepflanzt.
Was ist so toll daran, das Leben durch eine
derartige Operation oder Therapie länger zu
machen? Die guten Jahre, was die Vitalität
betrifft, sind bei vielen die Jugend gewesen.
Im fortgeschrittenen Alter kann eine Verlängerung
des Lebens kaum zu einer Steigerung
des Wohlfühlens führen, da weitere Einbußen
der Möglichkeiten unausweichlich sind.
Es sei denn, erst die schockierende Diagnose
lässt denjenigen erkennen, wie kostbar
geschenkte Zeit wäre, etwas noch tun zu
können. Manche spüren zum ersten Mal das
Glück, am Leben zu sein. Höchste Zeit! Unterschiede
wahrnehmen, fluchen, weinen, treten
und hier „nur noch weg“ zu wollen, ist ganz
bestimmt der erste Schritt, klug zu werden
statt durchzuhalten wie angesagt.
Politik und Freundschaft: Jemanden zu wählen,
eine Bürgermeisterin etwa, birgt das Risiko,
enttäuscht zu werden. Aber deswegen
ist es der Wähler selbst, der die Entscheidung
getroffen hat, sein Vertrauen auszusprechen,
einen Vorschuss davon zu gewähren. Ich
muss die Verantwortung für den Missbrauch
meines Vertrauens zunächst selbst übernehmen.
Ob ich sie vom Gegenüber einfordern
kann, zeigt sich im Prozess des Lebens und
gelegentlich vor Gericht.
Der Rechtsstaat begrenzt die Macht eines
jeden, auch die im Staat beschäftigten MeisterInnen
(und Pfuscher). Und das ist auch gut
so. Wenn im Herbst gewählt wird, wird man
mir (und Gustl) die Unterlagen zuschicken,
wie allen, die bei Verstand sind und erwachsen.
Seitdem ich achtzehn Jahre alt bin, habe
ich begeistert von unserer Demokratie (und
wie man es mir in der Schule beigebracht
hat) gewählt. Ich habe nie auch nur einen
Moment gezögert, meine
politische Einflussnahme
einzubringen.
Ich wollte immer die
Gesellschaft mitgestalten
und habe es getan.
Ich gehe nicht weg
aus Schenefeld, warum
auch? Sogar hier
kann ich mich wohl
fühlen, obwohl es das
Deutschland ist, das
Gustl Mollath hinter
sich lassen möchte.
Aber ich gehe nicht zur
Wahl im Herbst. Wählt
ohne mich. Ich gehe
nicht weg und nicht
hin.
Einige zweifeln und
verschwören sich. Das
bringt die, die für uns
alle arbeiten an den
Rand ihres Verständnisses,
wem sie da eigentlich
die Dienstleistung
erbringen. Ärzte, Polizisten,
Krankenwagenfahrer,
Feuerwehrleute
werden beleidigt. Zugpersonal,
Briefträger,
sie werden angegriffen.
Wir sehen, wie der Polizist
zuschlägt, und es
geht viral. Wie der verdeckte
Kommissar lügt,
um sein Ziel zu erreichen, sehen wir nicht.
Wir nehmen es an? Ein einzelner Ermittler
baut nur Scheiße, bis die Kollegen ihn zurechtstutzen,
weil sie selbst Ärger bekämen.
Wir müssen keine Angst haben, uns wehren,
wenn wir am System zweifeln. Verschworen
zu posten, ist Unsinn.
Das habe ich gefunden: Hier lässt ein Rechtsmediziner
Dampf ab, Gegendampf.
# „Solch eine Obduktion macht man nicht
allein im stillen Kämmerlein. Nach Strafprozessordnung
sind immer zwei Obduzenten
vorgeschrieben, es ist ein Sektionsassistent
dabei, in diesem Fall war auch noch eine
Vertreterin des Berliner Landeskriminalamtes
bei der Obduktion im Obduktionssaal
anwesend und auch diverse Mitarbeiter der
Berliner Rechtsmedizin.“ (Obduktion abgeschlossen,
zuständiger Arzt spricht über Tod
von Kasia Lenhardt, 24.02.2021, t-online).
Es gibt schlimmere Länder, und Gustl sollte
sich das mit der Auswanderung noch einmal
überlegen. Wir haben viele Freiheiten. Mit
Geduld und Einsicht in unsere Fehler geht
hier mehr als je zuvor in Deutschland. Wir
müssen nicht Reichsbürger, Querdenker oder
sonstwie blöd sein.
Alle Europäischen Staaten haben eine national-konservative
Partei. Wir werden uns
daran gewöhnen müssen, dass es auch bei
uns Wähler für ausschließlich diese Denkweise
gibt. Die demokratische Mitte wird
nicht müde, die vermeintliche „Alternative“
als finstere Schmuddelpartei anzuprangern,
wenn Mitglieder unsere Werte besudeln.
Die AfD in Hamburg wird abgestraft für ihre
Haltung, im Hanau-Attentat einen psychisch
kranken Einzeltäter zu erkennen. So steht es
im Schenefelder Tageblatt. „Damit erkläre
er (AfD-Fraktionschef Alexander Wolf) den
Familien der Opfer, dass ihre
Angehörigen quasi zufällig ums
Leben gekommen sind“, wird
Innensenator Andy Grote (SPD)
zitiert.
# Beim Anschlag in Hanau
am 19. Februar 2020 erschoss
der 43-jährige Hanauer Tobias
Rathjen (…) in und vor einer
Shisha-Bar, einem Kiosk
und einer Bar neun Hanauer
Bürger mit Migrationshintergrund.
Danach erschoss er in
der elterlichen Wohnung seine
Mutter und sich selbst. Die Tat
wird vom Bundeskriminalamt
als rechtsextremer Terrorakt
mit rassistischen Motiven eingestuft.
(…) arbeitslos und den
Behörden seit Jahren mit paranoiden
Wahnvorstellungen aufgefallen.
Es ist ungeklärt, warum
es dem Täter möglich war,
trotz seiner psychischen Auffälligkeiten,
ab 2002 legal Waffen
zu besitzen. (Wikipedia).
Balla-Balla, das muss ein Nazi
sein. Nach dem Motto: „Adolf
war gesund, und Millionen
Deutsche irrten nicht?“ Die
sind ja so normal, diese Attentäter.
Wer sich umbringt, ist
nicht bei Verstand, von Sinnen,
kann nicht mehr. Ein Detail, ob
rechts- oder linksextrem verstört,
religiös oder von allein radikalisiert.
Dass Gesellschaft verrückt macht, einen Teil
der Verantwortung übernehmen müsste, könne,
dürfe nicht sein?
# Verbale Besserstellung und „eingestuft“ unterwegs
Ein Kommissar ist deswegen, weil er ein Polizist
ist, noch kein guter Mensch. Staatsschützer
machen Fehler wie alle. Sie erliegen dem
grundsätzlichen Denkfehler, durchs Verbergen
ihrer Identität mit einer Lüge beginnend,
dem Guten, dem Gemeinwohl nützen zu können.
Auf der Lauer liegend, Fallen zu stellen,
ist aktiv sein. Heißt, der Ersttäter ist unser
Staat. Der Schutz unseres Gemeinwohls beginnt
vor dem Attentat, meinen wir, aber andere
als Gefährder einzustufen, ist die erste
Verschubladung. Simples Denken hilft dabei,
eine grobe Arbeit zu tun. Da verwundert es
nicht, dass nicht wenige nationalkonservative
Wähler Angehörige der Polizei, Bundeswehr
und des Nachrichtendienstes sind. Es ist
doch die Basis, dass ein Staat im Besitz des
Gewaltmonopols an dieser Position bildlich
gesprochen keine kleinen Dackel verwendet,
sondern Kampfhunde, die entsprechend geführt
werden müssen. Blöde Köter kann aber
niemand brauchen.
Von Beginn an die Bösartigkeit der Extremen
zu postulieren, vergisst, dass diese sich radikalisieren,
also schlimmer werden. Sie als
Menschen wahrzunehmen, bevor das passiert,
ist ein Ansatz, der einem dumpfen Legionär
nie in den Sinn käme. Der möchte ballern
und kann es dort tun, wo der Staat ihm
die Möglichkeit dazu gibt. Wollen wir das?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten manche
geschockte Deutsche den Verstand, das
neue Grundgesetz zu begrüßen. Ein Rahmen,
der uns binden sollte und Krieg unmöglich.
Stück für Stück ist unser Land wehrhafter
Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 22 [Seite 20 bis 24 ]
geworden, auch nach innen, weil neue Gefahren
neue Perspektiven benötigen. Deswegen
muss nichtsdestotrotz Automatismus
jeglicher Aufrüstung nach innen und außen
kritisch gesehen werden, was auch geschieht.
Zu glauben, die Beobachtung Extremer mache
Sinn, bedeutet auszublenden und das
Risiko einzuschließen, dass diese davon noch
neurotischer werden. Die Auffälligen müssen
das nicht einmal bemerken. Es genügt, dass
ein labiler Mensch die berechtigte Vermutung
hegen darf, man würde genau hinschauen
und allein deswegen seiner Paranoia
folgt, zunehmend aggressiv denkt. Der Staat
schafft sich sein Übel an dieser Stelle selbst.
Ein Trugschluss der Mitläufer und naiv ist,
blind den Institutionen zu vertrauen. Ein
Kirchenmitglied ist kein guter Mensch deswegen,
weil er Katholik ist oder anderweitig
moralisch geleitet, sondern der Versuchung
ausgesetzt wie alle. Das lehrt uns bereits das
Vaterunser, das wir täglich beten. Die gerade
fleißig aus der Kirche austretenden Gläubigen
in Köln wollen weg, wohin denn? Ein Politiker
befreit sich durch Amt oder Ehrenamt
nicht vom allgemeinen Recht, indem er sich
platziert, als könne er sagen, „mich betrifft es
nicht, ihr seht ja, ich bin bei den Guten und
wir sind sozial für alle unterwegs.“ Das fängt
schon damit an, dass jede Agenda Widerspruch
provoziert.
Es ist zu jedem Thema schwierig, ein Gesetz
zu kreieren, das gut angenommen wird. Wenn
die SPD die Partei der Guten wäre, weil sie
sozial ist und deswegen alle mitnimmt, gäbe
es die anderen Parteien nicht. Wenn die CDU
unser aller Wohl am Besten vertreten würde,
bräuchten wir diese Politiker ausschließlich,
weil sie so richtig wären, wie sie es von
sich selbst behaupten. Das gilt für die Herrn
Bartsch, Hofreiter, Lindner und den angefassten
Genossen Lauterbach, die sich gelegentlich
wundern, nicht von allen verstanden
zu werden, obschon sie das „Richtige“ tun
(wollen). Was wir am wenigsten brauchen,
sind eitle Politiker und frustrierte Wähler wie
mich, die nicht mehr zur Wahl gehen. Hilflos
bleiben wir dem anonymen Hass ausgeliefert,
wenn wir eigene Ansichten öffentlich
machen. Es zeigt doch nur, wie eingebildet
die Menschen vor der Erfindung der digitalen
Textkommunikation lebten. Wer Transparenz
fordert, wird selbst nackt sein, und was das
bedeutet, hat schon der bekannte Kaiser im
Märchen nicht begriffen. Doof waren die,
die meinen dafür geliebt zu werden, andere
zu führen und anzuführen schon immer. Nur
die Arbeit selbst befriedigt, nicht ihre Bewertung.
# Direkte Demokratie
Wir Schenefelder (ich war gerade zugezogen
aus Hamburg) konnten 2006 unsere
Bürgermeisterin direkt wählen, bevorzugten
(damals) die optisch ansprechendere auf
den Plakaten. Es darf vermutet werden, dass
schlecht informierte Wähler (wie ich) stets so
handeln. Ich jedenfalls hatte Besseres zu tun,
als genauer zu prüfen wie’s kommen wird,
fand ich. Als Quiddje bin ich bestimmt nicht in
der Lage gewesen, zu beurteilen, was genau
„es“ (m/w/d) tut und nicht entscheidet, und
wie die Qualität der zu Wählenden Einfluss
auf mein Leben nimmt. Das Peter-Prinzip, die
Frauenquote u.v.m. – heute bin ich informiert,
mir war das wichtig.
Bei der Wiederwahl, als sich kein Gegenkandidat
fand, organisierten verschworene Gegner,
denen es nicht gelang einen geeigneten Bewerber
zu finden, die Möglichkeit, mit „Nein“
zu stimmen, für diejenigen, die Christiane
nicht leiden können. Eine nicht unbedeutende
Anzahl von Dumpfbacken verpasste der
geschockten Galionsfigur unseres Städtchens
diesen Denkzettel. Sie hat daraus gelernt. Aus
einer empathischen Frau von Nebenan ist
eine glatte Politikerin geworden.
Bei der folgenden Wahl stellte sich ein
Rechtsanwalt der FDP-Fraktion gegen die
amtierende Küchenhof, der nach verlorener
Wahl hier im Dorf nicht mehr in Erscheinung
tritt. Ich vermute, die interessierten Bürger
und Bürgerinnen haben den Mann nicht
ernst genommen.
Ich habe drei Landräte im Kreis Pinneberg
bewusst mitbekommen: Dr. Wolfgang Grimme,
Landrat 2003 – 2010. Oliver Stolz, Landrat
2010 – 2020. Elfi Heesch, gerade gewählt
vom Kreistag, nicht direkt von mir nach Inaugenscheinnahme
auf einem Plakat. Das polarisierende
Gebaren des Landrates Grimme,
dem einzigen von uns direkt gewählten, ist
mir gut in Erinnerung. Der kritisierte Abgang
vom Nachfolger Stolz gleichwohl. Diesmal
fanden sich Stimmen gegen die finanzielle
Absicherung des scheidenden Politikers,
der während seiner Amtszeit im
Vergleich zum Vorgänger elegant
manövriert hatte und kaum einmal
angefeindet wurde.
Die frisch ins Amt gewählte Elfi
Heesch ist von Beginn an mehrmals
in der Woche im Tageblatt
erwähnt und abgebildet worden,
zu Fragen der Pandemie. Das lässt
vermuten, dass sie gern deutlich
machen wird, was sie genau bestimmen,
kommentieren darf und
umsetzen kann in diesem Amt.
Wenn ich eine neue Leinwand
jungfräulich hell auf die Staffelei
stelle, weiß ich nach Monaten,
wenn das Bild fertig ist, genau was
ich geleistet habe. In Deutschland dürfte es
einen Teil von Menschen geben, die von den
Leistungsträgern nur mitgenommen werden,
aus verschiedenen Gründen. Nicht nur Kranke,
Alte, Kinder und unglücklicherweise Arbeitslose,
auch welche, die sich unberechtigt
an das fahrende Schiff anhängen. In jeder
Struktur, den Unternehmen und in unseren
Behörden, leisten einzelne Menschen verschieden
intensiv ihren Teil. Die Firmen des
Mittelstands können es sich nicht erlauben,
im Wettbewerb zu schwächeln. Unternehmen
kontrollieren exakt, wo eingespart werden
kann. Während ein kleines Geschäft sich direkt
vom Mitarbeiter trennt, wenn der Umsatz
einbricht, streiten Gewerkschaften mit
den Großen ausgiebig um Arbeitsplätze. Jedes
Unternehmen kämpft im Wettbewerb.
In der Corona-Pandemie stehen zum ersten
Mal deutlich wie nie unsere Politiker im
Wettbewerb wie Unternehmer. Seit einem
Jahr greift der Staat massiv in unser Funktionieren
ein, steht im weltweiten Vergleich, ob
die Politik es gut oder ineffizient tut. Der direkte
Bezug zu einer Ware die ich kaufte, und
ob sie mir anschließend gefällt, dieses Prinzip
stand Modell bei der modernen, demokratischen
Wahl unserer Staatsverwaltung.
Überspitzt: Wir kaufen eine Bürgermeisterin,
und dann bewerten wir den Erwerb. Konsumgesellschaft
ist so. Die Frage, was genau ein
erworbenes Produkt für uns leistet, müssen
wir selbst stellen. Jetzt beginnen wir alle
mitzureden, jeder begreift Sinn und Unsinn
des Föderalismus. Die Pandemie hat die Welt
verändert und wird es weiter tun. Das bislang
verbreitete Desinteresse an der amtierenden
Politiklandschaft und die daraus resultierenden,
profillosen Akteure werden von allen in
die Pflicht genommen, wie wir’s nicht kannten.
Das wird neues Denken hervorbringen!
Wir dürfen gespannt sein.
Ein älterer Mensch kann mit der Erfahrung
resümieren, resignieren, sich trotzdem engagieren
oder enthalten, bemerken, dass die
Welt ohne ihn läuft. Die Freiheit zu wählen:
Das hätte ich nie verstanden, wenn ich nur
erlebt, aber nicht erfahren hätte zu leben.
Scheitern führt idealerweise dazu, nach
Gründen dafür zu suchen, Fehler zu bemerken
und daraus zu lernen. Meine Erfahrung:
Malen hilft dabei, persönlich und individuell
zu denken. Dafür bin ich dankbar, bei allem
Frust und vergnügt am Bild beschäftigt. Ich
weiß nun, was ich kann und was nicht. Dieses
Geschenk wird dem Menschen nur zuteil, der
sein Leben nicht vermeidet und anstelle dessen
auf die Bewertung anderer angewiesen
ist, Glück zu spüren.
# Sie wissen nicht, was sie tun
Ein Arzt ist nicht zum Wohle des Patienten
tätig, weil er einen hippokratischen Eid auf
seinen Beruf geschworen hat. Wir sollten den
Berufstand wegen seiner prinzipiellen Macht
über Patienten fürchten, könnten darüber hinaus
eine allgemeine Liste der Berufe insgesamt
anfertigen, deren Tätigkeit die Beschäftigung
mit dem Wohl anderer ist. Das würde
helfen, den Zorn einiger besser zu verstehen,
die heute freier motzen dürfen als je zuvor.
Ein Polizist oder Staatsanwalt ist für den
Staat tätig, muss Gewalt ausüben im Sinne
des Systems: Das wird sich immer gegen
Einzelne richten. Niemand kann vollkommen
das System in seiner Gänze verkörpern. Dein
Freund und Helfer wird zum Gegner werden,
wenn du ein Verdachtsfall bist. Wenn wir
Älteren eine Pflicht haben, dann diese: Das
unabhängige Denken und freie Selbst einzufordern,
für uns, dazu den anderen „Geisteskranken“
Training und Verstand anzubieten.
Und der Jugend dürfen wir nicht vormachen,
besser zu sein, dass sie uns deswegen folge.
Der Staat wird Kranke und Straftäter wegdrücken
und einsperren. Menschen fürchten sich
vor ihnen und haben den Apparat gewählt,
dass er sie schütze.
Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 23 [Seite 20 bis 24 ]
Es ist also am Einzelnen, seine Gesundheit
zu beweisen. Im Rechtsstaat werden sich
genügend Unterstützer finden, wenn wir beschuldigt
werden, woanders nicht. Andern zu
vertrauen, ist nicht ratsam, sich selbst durchaus,
und dass die Sonne aufgeht und morgen
wieder Licht ist? Nicht unwahrscheinlich. Sogar
das Dasein in der Psychiatrie findet nicht
in vollkommener Finsternis statt.
Es ist klar, dass, wenn in einer (katholischen)
Kirche Missbrauch vorkommt wie in jedem
Sportverein und Kindergarten, auch manche
Verantwortliche in psychiatrischen Einrichtungen
ihre Macht über die Patienten missbrauchen.
Das wird es immer geben, wo entsprechende
Verhältnisse gegeben sind. Und
natürlich kann ein verschworener Klüngel in
einer Institution Einzelne zugrunde richten.
Deswegen ist die Welt als Ganzes nicht verschworen
böse.
Ich spende meine Hilfe ausschließlich direkt,
gebe Unterstützung, wenn es mir persönlich
als richtig erscheint, nicht „dem Verein“. Ich
bleibe für mich, bin oberflächlich, wenn mir
jemand gleichgültig ist und behaupte nicht,
was ich nicht halten kann.
# Es sind einige frustriert vom Staat?
Sie vergessen, dass wir im besten Deutschland
aller Zeiten leben. Ich empfinde das
so, mache vom Recht, mich zu enthalten
Gebrauch wie von der Meinungsfreiheit. Ich
sage was mir passt, male was ich will, trage
die Konsequenzen. Wen ich nicht mag, unterstütze
und respektiere ich nicht. Ich höre
nicht hin, quatsche denjenigen zu oder ignoriere
solche Menschen gar nicht. Ein Dorf hat
mich gemacht: Kauft „dieser fette Typ“ seine
Brötchen neben mir, schau’ ich ihm am Arsch
vorbei. Die mit der schwarzen Maske fragt
mich gelegentlich wieder: Spieglein an der
Wand? Die rote Krabbe frisst das Glas auf.
Personen, die ich kannte. Bittet mich zukünftig
jemals ein Staat, fordert Unterstützung
etwa: „Herr Bassiner, haben Sie was bemerkt,
heute nacht nebenan?“ Ich übe diesen Satz
täglich: „Tut mir leid. Da habe ich geschlafen,
in die andere Richtung geschaut, war nicht
da.“
Schönen Tag auch!
:)
Ich muss nicht steinmeiern: Nie zuvor hatten
wir einen Bundespräsidenten, der sich
so vollumfänglich nicht in die aktive Politik
einmischt, obwohl er stets präsent ist und
fleißig niemals stört. Er ist nie peinlich, wie
etwa manche Christian Wulff nicht mochten,
sondern wird vom Bürger und den Kollegen
mit Verantwortung einfach überhört, wie das
Rauschen des Autoverkehrs vom Anrainer einer
Bundesstraße. Das konnten die anderen
bisher nicht.
Knartsch provozierte der schließlich beleidigt
abgetretene Köhler. Andere Präsidenten
mahnten, bis es nicht wenigen reichte, wie
etwa der „Ruck-Herzog“. Sogar der nette Kirchenonkel
Gauck konnte mit seiner authentischen
Persönlichkeit punkten. Der erste
„erste Mann“ im Staat „Papa“ Theodor Heuss
zeigte Deutschland, wie das Amt zu machen
sei, finden welche, und Frau Gesine Marianne
S. blieb uns erspart. Das ist ja nur meine Einzelmeinung
und nicht etwa anonym.
Und die SPD, die wähle ich nie wieder. Die
hier vor Ort, die ich persönlich nah kennen
gelernt habe, schon gar nicht. Es hat mich
getroffen: eingestuft, anvisiert. Beschossen
aus der Höhe vom Turm. Das würde genügen,
lebenslang verstockt zu maulen. Diese
Partei wähle ich nicht wegen Olaf Scholz,
der von Hamburg wegging, nachdem er
(mir) nicht überzeugend und verantwortlich
zugeben konnte, wie scheiße der Gipfel lief.
Ein Schönwetterkapitän, der Bundeskanzler
würde, sollte er in einer Koalition von Wahlverlierern
aus Rot-Rot-Grün in Frage kommen?
Armes Deutschland. Ich habe Schmidt
bewundert, Brandt. Ich habe Gerd Schröder
gewählt, weil ich Kohl nicht leiden konnte.
Aber Kohl war ein Mann – und heute muss
man nach Persönlichkeiten suchen. Farblose
Figuren ohne Helldunkel.
Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 24 [Seite 20 bis 24 ]
Krieg zuhause ist nur doof
Mrz 2, 2021
Die offene Gesellschaft wird von innen aufgefressen.
Trump hat vorgemacht, wie das
geht. Selbst Chaos anzetteln und sich als
Aufräumer geben, den Brand zu löschen.
Wir sind entsetzt, auch sonst: Deutschland
empört sich gern über Russland vs. Nawalny,
Spanien, den inhaftierten Carlos Hasél,
die abgesetzte de Facto Regierungschefin in
Myanmar. Unsere eigenen Staatsverbrechen
sind ganz unscheinbar dagegen, noch. Sie
finden unterhalb der sichtbaren Ebene der
Behörden statt.
Jeder wird zum Polizist und Aufräumer hier im
Land der Denunzianten, möchte Erfolge als
erster Löscher am Brandort. Dafür stecken die
Nächsten deine Bude an, bildlich gesprochen,
bis die Hütte brennt, du wie ein Wahnsinniger
verteidigen musst, sie sagen: „Seht, er ist
verrückt.“ Das Prädikat „gefährlich“ drücken
sie dem labilen Menschen auf, der vielversprechend
formbar erscheint, deswegen beharrlich
immer wieder provoziert wird. Dass
mit Mollath hat Methode, nicht nur in Bayern,
überall. Ein Buch erscheint: „Staatsverbrechen“.
Kein Hahn kräht danach, aber es ist nur
eine Frage der Zeit, dass auch bei uns eine
diffuse Gegenbewegung Straßenschlachten
inszeniert. Gut möglich, dass interessantere
Typen als dieser irritierte Nürnberger, wirklich
Kreative auftauchen, weniger neurotisch
und begründet sauer, die deutlich machen
können, wie die sauberen Gruppen nach dem
amerikanischen Vorbild vorgehen.
Der Rechtsstaat ist prima, das ist es gar nicht.
Wir sind rechts und ordentlich, deutsch und
gründlich genug. Schmutzig sind die Saubersten
hier, die frechen Kotzbrocken hinterm
Lenkrad, die diese Welt gemacht haben so
scheint es. Sie fahren nicht zufällig so scharf
und fordernd auf, hupen dich mit ihrem „ich
kann nur diesen einen Ton“ weg, ballern
rechts kurvend über die Bushaltestelle
an dir vorbei. Schneiden mit quietschenden
Reifen vor der Reihe Parkender zurück
in die Spur, „so geht man mit Bremsern
wie dir“ um, heißt das. Am Rand der
Nebenstraße abgeklemmt, zum Stehen
gebracht (ich gebe es zu), zur Rede gestellt,
weisen sie dir den Schaden im
Hirn zu.
Ich erzwinge den Showdown, er ist der
Sieger von Beginn. Wortwechsel, ich
will wissen, mit wem ich es zu tun habe:
Mann, dunkelhaarig, sportlich 1.90 Meter
groß und großartig, sicher auftretend.
Ein Leichtes für ihn, abfällig von oben
auf mich zu sehen. Ein klein wenig fett,
kopiert er nicht einmal unsympathisch
eine feiste Söderschnauze, souverän.
Mann, „du bist der verrückte Doofmann“,
soviel steht für ihn fest, als er loslegt.
„Bist du irre!? Das hätte schief gehen können.
Wenn ich gebremst hätte, bist du immer so
bescheuert? Mann! Grüner Pfeil!! Und du? Im
Schneckentempo!!!!“ Geschwellte Brust, geschwollenes
Hirn. Ich sage: „Und wenn eine
Oma vor dir fährt?“ Er wusste es schon vorher:
„Du bist keine Oma“, kontert er mir, ich gebe
zu, dass ich’s nicht blickte mit dem grünen
Pfeil. „Wir“ werden ruhiger. Unsere Argumente
wiederholen sich. Ein BMW mit entgeisterten
Frauen (die gelten als klüger) wartet, wir nerven
gemeinsam, meine Schuld auch das. Der
Abschied lässt aufhorchen: „Beim nächsten
Mal!“ droht er, als er in seine Blechrüstung
zurück stolpert.
Das nächste Mal wird bereits
geplant.
Im Westen nichts Neues. Die
Sonne sinkt, eine Mundharmonika
erklingt und „The
End“ erscheint klobig in den
Wolken, während Staubwolken
abziehen. Unklar bleibt,
wer sich hier den Blechstern
verdient hat. Duell fertig, aufsatteln,
abfahren: Mit dem
Fuß im Türrahmen des vertrauten
Boliden verhakt, hoppelt
er zurück ans Steuer, der
Cowboy, es entgeht mir nicht.
Getroffene Idioten sind wir. Ich gebe noch einen
schwachen Schuss ab: „Du kennst deine
Abmessungen nicht …“, meine Stimme überzeugt
bestimmt niemanden.
Nur ein Hirngespinst? Unauffällige Zeugen,
arme bedrohte Zeitgenossen sind das mitnichten.
Nicht nur in Uniform, einige bereits
verrentet, noch gut vernetzt mit den Aktiven,
sind sie privat auf der Jagd und anerkannt
privat-detektivisch unterwegs: Wir schleppen
dieses Pack mit, das den guten Sicherheitsdienst
gibt, den Staatsschutz, aber diese Elemente
unterwandern die eigentlichen Aufgaben
der Institutionen. Falls ich mir alles
nur einbilde, wird es garantiert noch heute
erfunden: Sie bilden abgeschlossene, private
Gruppen und haben Spaß dran, ganz individuell
persönliche Erfolge zu provozieren.
Ausgerastet.
„Das wird wieder passieren“, gibt einer die
Richtung vor. Während das Team die aussichtsreichsten
Kandidaten von nebenan
als „krank“ einstuft, wie ein Pflänzchen, vom
harmlosen Spinner bis zum ausgewachsenen
Psychopathen heranzüchtet, passiert es wieder.
Im Nachbardorf hat’s funktioniert, warum
nicht auch bei uns. Der laufende Tod, runterladen,
und wer will darf gern mitspielen.
Es spricht sich rum, sogar bis zu mir. Nur ein
Tag ist vergangen. Plappern ist so erhebend.
Begrüßung am Morgen: „Na, wieder abgenagelt?“,
eine Bekanntschaft nur, dieser Typ,
der gern quatscht. Ich verstehe nicht sofort.
Wir reden nun über die wieder geöffneten
Naa-gelstudios ah! … wie interessant. Auch
die Frisöre dürfen arbeiten, unser Gespräch,
unverfänglich. Letzte Woche hatte ich den
Wagen in der Werkstatt, das sage ich nicht,
denke es nur. Wir reden über Corona, aber
meine Gedanken schweifen ab. Nageln ist
rasen? Was die Paranoia hergibt: abgenagelt
ist gleich angepinnt. Ich erinnere die kleine
Schraube: Wie ein „Reißnagel“ sah die aus,
eingebohrt ins Hinterrad. Wir fanden das
Ding sofort, als das Auto aufgebockt stand.
Nachdem der Wagen auf einem Rad immer
ein ganz klein wenig Druckverlust hatte, war
die Warnlampe angegangen. Eine schnelle
Reparatur, danke.
Es kann schon sein: Die rote Lampe leuchtet,
statt im Armaturenbrett bei mir, nun bei
den anderen. Sie fährt in einer digitalen Karte
ihre Spur, und die Schmeißfliegen fragen
wieder: Wer will mal mitfahren?
# Gefährlich
Sie erkennen dein Potential. Sie finden Wege,
dich zu tracken. Sie lassen dich wie eine Bombe
platzen. Und weiden sich daran, wie du
dich selbst zerlegst.
Und dann kommen
naive Rechtsschützer.
Die bekannten,
ehrenamtlichen Gutmenschen
aus der
Dorfpolitik traben
bereitwillig los, folgen
ihrer Eitelkeit, als
Retter der Ordnung
glänzen zu können
und machen gern
den Rest. Betreuung,
Klappse, Knast. Das
ist der Plan. Nimmt
das deutschlandweit
noch zu, sind Prominente betroffen, die „wirklich
wichtig“ sind in den sozialen Netzwerken,
Suizid – kommt als Nächstes so etwas
wie bei den Katalanen, den Briten: Herdenbewegungen
der dekadenten Masse, Chaos
– und ein markiger Typ mit blöder Frisur der
Marke Trump, Johnson (oder mit Rechtsscheitel)
wird sich anbieten.
So doof ist Deutschland.
:(
Mrz 2, 2021 - Krieg zuhause ist nur doof 25 [Seite 25 bis 25 ]
Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten
Mrz 4, 2021
Du musst jetzt
stark sein, das alles
zu lesen. Weil
es lang ist. Du hast
gefragt, und ich
hoffe, dich damit zu
erheitern, wie ich
es dir erkläre, wie
das mit Mast und
Baum gewesen ist.
Also: Ich habe die
Jolle 1986 von
Worms gekauft.
Den Worms-Baum habe ich durch den ersetzt,
der mit auf dem Bild ist. Der Grund war, dass
Bernd etwa zeitgleich die „White Shadow“
bekam und einen Unterliekstrecker anbaute.
So etwas hatte es noch nicht gegeben (in der
Elb-H-Jolle). Der Worms-Baum war nach Ideen
von Erich, so ein Baum müsste sich biegen,
wenn man die Großschot dicht nimmt,
um den Bauch nach unten wegzuziehen,
gebaut worden. Dieter wollte umsetzen, was
sein Vorbesitzer ihm geraten hat. Das ist also
ein leichter, weicher Baum. Als nun Bernd mit
dem neuen Boot anfing, diskutierte er gern
mit allen und jedem, wie gut das sei, wenn
der Baum sich nicht verformte und man stattdessen
mit dem modernen Strecker trimmen
würde. Das wollte ich auch, und so bekam
ich diesen Baum von Peter neu. Das ist der
Baum, den ich all die Jahre gefahren habe,
den du kennst. Der biegt nicht und wiegt beinahe
so viel, wie die ganze H-Jolle und noch
ein wenig mehr, so kommt es mir vor. Er ist
wirklich schwer. Das sollte man im Internet
nicht schreiben. Dann will ihn niemand. Keine
Ahnung, warum mich das jahrelang nicht
gestört hat. Vor nicht so langer Zeit hatte ich
genug davon. Es hieß, der Baum dürfe hohl
sein, das hatte ich bisher noch nicht in der
Vorschrift bemerkt. Ein gewisser Hauschildt
war es glaube ich, dessen Baum ich zufällig
mal in der Hand hielt, und das Ding schien
mir irgendwie leichter zu sein. Nun habe ich
also einen harten, geraden Baum, der nicht
biegt und nichts wiegt, das reicht.
Ich mache einen Absatz. Das verbessert die
Lesbarkeit längerer Texte, sagt man.
Der Mast: Das ist der Mast, den Peter baute,
nachdem Kocki und ich den Mast absegelten,
den Peter baute, nachdem Schenk und
ich 1986 auf dem Sand (schon in der ersten
Saison) den Mast absegelten, den Erich an
Worms verkauft hatte. Das war der, den Erich
bauen ließ, nachdem er gleich zu Anfang
1956 oder so seinen ersten Mast abbrach.
Feltz hatte die Püttinge parallel neben den
Mast gesetzt, nicht dahinter. Erich versetzte
die Püttings um vielleicht zwei Zentimeter
nach achtern und bekam den Mast, den ich
abbrach – das habe ich oben geschrieben.
Zum Vergleich, die Püttinge die Knief setzt,
liegen rund zehn Zentimeter weiter achtern
als meine. Nachdem ich nun den Mast abbrach,
den Peter gebaut hatte, weil das Pütting,
das Erich eingebaut hatte, nachdem er
1956 den Mast abgebrochen hat, aus dem
Rumpf riss, vor Strande (diese Geschichte ist
dir bekannt, und ich kann sie an dieser Stelle
der Einfachheit halber weglassen), bekam
ich den Mast, der auf dem Foto von heute
Nachmittag ist. Von Peter in Harburg. Weil er
uns aus Strande holte, hat er sich’s wirklich
verdient. Es hat so geregnet. Ich weiß noch,
wie Kocki und ich in Othmarschen oben auf
die S-Bahn warteten, mit den ganzen Säcken,
Urlaubsgepäck, es schüttete und Peter unten
allein (das sahen wir vom Bahnsteig
aus) mit dem Boot in Richtung
Elbtunnel weiter gefahren ist. Der
neue Mast, den der Meister lieferte,
war mir oben zu dünn. Unter dem
Schock von vor Strande stehend,
hatte ich jedesmal Schiss vor dem
Wind mit diesem Mast. Er hat sich
wie doof nach vorn verbogen. Einmal,
als du im Dwarsloch neben mir
segeltest, und ich schreibe es, weil
du dich möglicherweise daran erinnerst.
Vielleicht ja auch nicht, und
dann ist es auch gut, es festzuhalten
finde ich. So gehen wichtige Momente
nicht verloren. Darum bekam ich den Mast,
den ich jetzt fahre. Der biegt sich genauso,
aber wenigstens hatte ich etwas
unternommen. Ich hätte
auch die Püttinge versetzen
können, das wollte ich nicht,
weil das Boot vor dem Wind
rast. Glaube ich jedenfalls,
und das ist auch sehr wichtig,
zu glauben, und wenn ich die
Püttinge versetzt hätte, könnte
ich das nicht mehr glauben,
dass das Boot rast. Das ist wie
mit dem Schleim am Schwert,
aber das gehört nicht hier her.
Frag einfach Eike, der hat das
gesagt. Oder Kocki, die hörte,
wie Eike es meinte. Das war
mal an der Alster. Die Gaffel
bekam ich, weil man halt gern
auch mal ’ne neue möchte,
nur so. Aber danach hast du
nicht gefragt, und ich kann
die näheren Umstände dazu
weglassen. Ansonsten: Frag mich gern, wie
alles mit dieser Gaffel war. Es ist die, die Erich
nicht mehr verwendete – aber das weißt du
bereits.
Eben kam noch eine Mail von
dir.
Wenn ich die gleich gelesen
haben werde, kann ich dir gern
noch ausführlich etwas dazu
antworten. Vorher muss ich
das aber noch lesen, das kann
ich jetzt nicht, weil ich dazu
diese Mail in „Entwürfe“ legen
müsste, und das muss ja nicht
sein.
Einen schönen Abend!
John
Was sagst du nun?
Am 03.03.2021 um 18:45
schrieb (Name):
Hallo John,
Wieso hast du denn eigentlich mal Mast und
Baum neu gemacht?
Die sehen doch ganz gut aus?
:)
Mrz 4, 2021 - Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten 26 [Seite 26 bis 26 ]
Selbstwirksamkeit
Mrz 4, 2021
Als ich Kind und später Jugendlicher war, in
Wedel bin ich aufgewachsen an der Elbe, in
den Siebzigern ging ich zur Schule, machte
Realschulabschluss 1981, waren viele der
heute üblichen Redewendungen unbekannt.
Sensible Daten, Transparenz im Sinne offener
Vorgänge im System, alltägliche Floskeln:
„Das passt schon, alles gut, einen schönen
Tag noch!“, niemand redete so. Unwörter des
Jahres kamen allmählich auf, einige störten
sich an Anglizismen. Verfechter theoretischer
Sprache, Puristen sagten Leitscheit (anstelle
Lineal) und wiesen darauf hin, dass ein Pullover
dem Wort nach ein Überzieher wäre.
# Wie sprechen Menschen?
Damals, wir lernten im Englischunterricht als
Bezeichnung für Radiergummi „rubber“ zu sagen,
aber ein Freund klärte uns auf, nach dem
er zwei Wochen in den USA gewesen war: racer
(von eraser). „Ein rubber ist ein Gummi. Ein
Gummi ist ein Präser, ein Präservativ.“ Kondom
sagte niemand. Dazu mein Vater, die Freunde
seiner Generation fragten einander: „Hast du
Tüten dabei?“ Und als Segler horchte jemand
auf: „Brugt Gummi!“, hätte ein Däne nebenan
gemeint, als ein entsprechendes Ding im
Hafenwasser trieb. So nennt man das? Hafengespräche
vereinter Nationen. „Sind Sie gut
geschlafen, und wie geht Ihre Frau?
Wir spitzten die Ohren, und bis heute sind
ganz viele neue Worte gebräuchlich. Das
Gendern, eine Rechtschreibreform wurde
durchgekämpft. Mir brachte man noch bei,
wie albern es aussehen würde, wenn drei
„f“ aufeinanderträfen, da das menschliche
Gehirn ein Wort wie beispielsweise Schiffahrt
ohne Mühe begreifen könne, ohne in
seiner Mitte ein Monstrum verkrampfter Ligaturen
zu benötigen. Lehrer Kröger ahnte
nicht, dass natürliches Denken den Erfolg in
der Konsumgesellschaft stört, wer braucht
denn so was? Den Siegeszug des programmierten
Gehirns erlebte er nicht mehr. Wir
verwendeten Telefone mit Wählscheibe, und
sie standen auf einem Tischchen im Flur.
„Fasse dich kurz!“ meinte meine Mutter. Natürlich
waren die Schiffe im rau-hen Wetter
unterwegs, da spürten wir diesen Hauch von
einem Buchstaben, der von den modernen
Schlaumicheln gern entfernt wird, die es auf
der anderen Seite forcieren, im Wort- wie
im Flussstrudel mit der Schifffahrt
dreifach korrekt abzusaufen. Streit
war auch früher möglich: Brachte
uns ein Lehrer bei, in typischen
Worten wie Ritter, Butter oder Watte,
die beiden „t“ eleganter mit einem
einzigen waagerechten Strich
kombiniert zu schreiben, gab es in
der nächsten Stunde von der Kollegin
in Vertretung einen üblen Anraunzer
dafür. Lehrer waren schon
immer eingebildet und soo doof,
bis auf die wenigen Ausnahmen, die
man sein Leben lang nicht vergisst,
liebgewonnen, respektiert hat, weil
sie klug waren.
Wie sagt man Donald Duck oder spricht man
das englisch aus, darüber konnten wir damals
streiten. Bis heute habe ich ein Problem mit
englischen Kombiwörtern im heimischen
Umfeld. Fährt der Linienbus vorüber und „Talkline“
steht fett auf seiner Seite, dann lese ich
im Geiste mitsprechend „Talk“, entsprechend
dem Klang von „Kalk“, und ende aber auf „lein“,
denke englisch im zweiten Teil des Wortes.
Wäre ich im Urlaub, und in einer englisch
sprechenden Umgebung, passierte das sicher
nicht, dann liefen mir ohnehin englische Gedanken
durch den Kopf. Ich spreche englisch
nicht besonders gut. Es fällt mir aber leicht im
Ausland, damit umzugehen. Wenn auf einem
dicken Lastwagen „Fahrschultrucks“ prangt,
denke ich das „u“ in „schul“ wie das in „trucks“,
und es klingt einfach nur albern nach. Eingebildet
ist dieses Wort und neudeutschdoof.
„Fahrschullastwagen“ wäre noch blöder; wir
haben uns daran gewöhnt. Im Rahmen von
Pandemie und Brexit hören wir seit einiger
Zeit vermehrt Engländer im Fernsehen, werden
daran erinnert, dass sie anders reden als
Amerikaner, denen wir nacheiferten. Da ist
ein lustig angezogener Bobby im Original zu
hören, und der sagt ganz selbstverständlich:
„Lorry“ und „Lorrydriver“, als im Hintergrund
lange Schlangen vor dem Eurotunnel stehen.
Wer in den Achtzigern dieses Wort nahm,
wurde von den Mitschülern belächelt, denn
so wurde uns „Lastwagen“ ja in der Schule
beigebracht, wie albern. Es heißt: Truck.
# Unterwegs im Convoy mit den anderen
Kris Kristofferson ist Martin „Rubber Duck“
Pennwald, und wir können jetzt auch englisch,
„Donäld Dack“ – geil. So war es richtig,
damals, als meine Eltern veralteten und wir
das allmählich bemerkten. Jetzt sind sie tot.
Gerade war der erste März, da hätte meine
Mutter Geburtstag gehabt, und wir sind im
fünften Jahr, nachdem sie starb. Es tut weh,
dass da niemand ist, Standardwitze und familiäre
Geschichten zu wiederholen. Die sind
mit den Alten verstorben.
In der Zeitung habe ich doch ein Wort gefunden,
das scheint mir neu, aber es gefällt mir:
„Selbstwirksamkeit“ heißt es. Da sind zwei
„Psychotanten“ (mein Wort dafür) in einem
Bericht vorgestellt, die etwas mit Kindern
kranker Eltern machen, und dergleichen überfliege
ich normalerweise. Ich denke, Frauen!
Und dann noch Psychologinnen, bescheuert.
Ich kann meine Abneigung gegen Menschen,
die sich selbsterklärt und etwa von Beruf gewollt
in das Leben anderer einbringen, um
zu helfen, nie mehr unterdrücken. Aber hier
kommt das neue Wort, und ein guter Absatz
sticht ins Auge.
# Die Kinder und Jugendlichen lernen Selbstwirksamkeit,
also daran zu glauben, dass sie
Dinge lernen, Einfluss nehmen und Herausforderungen
bewältigen können. „Und sie schaffen
es, eine neue Beziehung zu ihren kranken
Eltern aufzubauen, ohne sich verantwortlich
für sie zu fühlen“, sagt Peres. (Schenefelder
Tageblatt, AWO Schenefeld betreut Kinder
psychisch kranker Eltern, 03.03.2021).
Das gefällt mir!
Ich mag sehr dieses: „Selbstwirksamkeit“, wie
auf der anderen Seite „kranke Eltern“ verdächtig
ungenau ist. Viele Kinder möchten
die Probleme der (gesunden) Eltern lösen. Ihnen
ist daran gelegen, belastende Zustände
ihrer Umgebung zu glätten. Sie haben einen
anderen Blickwinkel. Ein Kind möchte die
Welt ändern. Es soll so sein, wie es sein muss,
damit die Gemeinheiten aufhören. Eine große
Aufgabe. Nur Greta Thunberg ist eventuell
so stark wie Pippi Langstrumpf! Viele kennen
das, Dinge ärgern uns scheinbar. Es sind die
Personen dahinter. Sie drängen, schneller als
notwendig, eine komplizierte Tätigkeit auszuführen.
Dazu müssen wir nicht wissen, wer
uns gerade ärgert. Eine Erfahrung von früher
hat sich längst verselbstständigt. Dann steckt
„der Teufel im Detail“, meint man. Was ist denn
„krank“ und neurotisch, und was geht gerade
noch durch? Natürlich sind in Behandlung
befindliche Menschen und Eltern mit einer
Diagnose klassifiziert, eventuell medikamentös
eingestellt, vom Arzt als Patient bezeichnet
im Sprachgebrauch „krank“. Das möchte
ich nicht bestreiten. Wer allein nicht mehr
klar kommt, und dann sind noch Kinder betroffen,
das ist schlimm. Ärzte benötigen spezielle
Kenntnisse, um helfen zu können. Es
gibt psychische Not, die einige sich nicht vorstellen
können. Trotzdem, mit diesem Wort
„krank“ kann so viel „Schindluder“ (ein Begriff
aus dem vergangenen Jahrhundert) getrieben
werden, dass Menschen abgestempelt
ein Leben lang ausblenden, wie absurd das
Verhalten anderer ist, die sich nicht in diese
Schublade stecken lassen. Dann wird nie
heil und gesund, was nicht kaputt oder krank
ist, weil das nur Definitionen sind. Mit Grippe
bist du krank, ein Auto geht kaputt, und ein
Mensch erlebt sein Dasein, verändert sich,
wenn – wir es uns erlauben. Es gibt keinen
Seelenklempner, das ist auch so ein altmodisches
Wort, wenn Seele die grauen Zellen
meint. Wer den Kopf reparieren will, soll den
Menschen nicht vergessen. Für die Seele ist
Gott zuständig, und der klempnert nicht. Davon,
dass der Psychiater mit einer Medizin
das Gehirn der Eltern zusifft, wird der Haussegen
nicht gerade gerückt, das stimmt. Da
ist es fein, wenn mehr geschieht.
Die Kinder bei der AWO sind in der glücklichen
Situation, dass sich Helfer ihrer annehmen.
Unzählige Kinder wachsen in Elternhäusern
auf, die für sie eine nicht minder absurde
Umgebung bedeuten, ohne dass die mit der
Erziehung überforderten Papa und Mama als
krank gelten. Selbstwirksamkeit zu lehren,
ist viel positiver als „bist selbst dran schuld“
Mrz 4, 2021 - Selbstwirksamkeit 27 [Seite 27 bis 28 ]
zu sagen, nachdem was daneben ging, der
kleine Wurm mit erhöhter Gefühlsspannung
Brötchen schmierte, es runtergefallen ist. Für
den späteren Erwachsenen wäre es genauso
eine gute Übung, darüber nachzusinnen,
inwieweit die Mama immer noch de Facto
Schuld ist, wenn der Sohnemann von heute
bei sich bemerkt, dass es ohne Fluchen nicht
zu gehen scheint. „Entschleunigung“ ist bereits
abgenutzt, aber „Selbstwirksamkeit“, das
ist gut. Die innere Verantwortung, und vor allem
die unglaubliche Chance darin, besser zu
werden! In einem einzigen Wort findet sich
dies wieder:
# Gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut,
Dinge zu ändern, die ich zu ändern vermag,
und gib mir die Weisheit, das eine vom andern
zu unterscheiden. (Friedrich Oetinger
(1702-82), dt. luth. Theologe).
Während es üblich ist, von Verantwortung
und Schuld zu sprechen und diese anderen
zuzuweisen, die sich schließlich rechtfertigen
müssen, bedeutet „Selbstwirksamkeit“
die Chance, zu begreifen wie das Denken und
die innere Verantwortung geändert werden
können. Die Psychiater sind auf die absurde
Idee verfallen, unter anderem, eine Krankheit
der „Multiplen Persönlichkeit“ als eigenständig
diagnostizierbar zu kreieren und damit
zu fordern, was ansonsten abgelehnt wird:
den immer gleichen Menschen. Unser Wahn,
alles in Schubladen zu stecken und Worte
für Verhaltensformen zu finden, scheint
keine Grenzen zu kennen. Während die so
eingeordneten von einer Persönlichkeit in
die andere „switchen“, und die mit extremen
Gefühlsschwankungen wahlweise als psychotisch
oder manisch-depressiv bewertet
werden, kann der normale Spinner einfach so
Theater spielen, gilt nicht als krank, weil ihm
ein Rest an kontrollierter Steuerung genügt.
Es gelingt ihm, bei sich selbst verschiedene
Gefühle und auch eine wechselnde Tagesform
zu akzeptieren, der Welt einen Spiegel
entgegenzuhalten.
# Das ist die Kunst
Ich kann mich gut erinnern, weil „Maggi“
das immer wieder erzählt hat, eine Freundin
meiner Eltern, und wenigstens die lebt noch:
Wie ich eine Bastelarbeit aus Legosteinen
im größtmöglichen Zorn gegen die glänzend
weiß lackierten Doppeltüren zwischen Kinder-
und Wohnzimmer schleuderte, als ich
noch ganz klein war. Hott’l und Maggi waren
zu Besuch gewesen und sind kinderlos geblieben.
Vielleicht deshalb hat „Tante“ Maggi
alles fasziniert beobachtet: so „gritzig“ wäre
ich gewesen!
Es war so: Ein Riesenrad, wie auf dem Jahrmarkt,
das ich gebaut hatte, war beinahe
fertig. Es war die Lego-Zeit die wir kannten,
bevor Bausätze verkauft wurden. Wir hatten
eine große Kiste von dem Zeug wie alle und
bauten frei nach Schnauze drauflos.
Das Riesenrad hatte kleine Gondeln,
im Durchmesser war die Konstruktion
etwa wie eine 78er-Schellackplatte.
Damit es sich wie ferngesteuert drehen
sollte, hatte ich die Idee, den Drehpunkt
oben in der Mitte vom Rund per
Gummiband mit einem kleinen Rad
unten am Fuß vom Standturm zu verbinden.
Das sollte eine Art Treibriemen
sein. Ich wünschte mir unten eine
kleine Kurbel zu montieren, die zu drehen,
und damit das große Rad oben in
Fahrt zu versetzen. Ich war noch ganz
klein, und das ist möglicherweise ein
zu großartiges Bauvorhaben gewesen.
Ich kann mich detailliert erinnern. Mehrfach
war alles unter dem zu kräftigen kleinen,
roten Haushaltsgummi zusammengekracht.
Da es zu kurz war, übte es zu viel Zug aus.
Mit einer Engelsgeduld habe ich alles zweioder
dreimal neu aufgebaut, denn es steckte
bereits sehr viel Zeit drin und Kreativität in
der bisherigen Arbeit, den runden Träger der
Gondeln und diese kleinen Kabinen daran
korrekt anzubringen.
Muss ich noch weitererzählen?
:(
Was ist ein Charakter? Bevor mein Vater sich
selbstständig machte, war er oft unzufrieden.
Als meine Mutter bereits todkrank war
und ihr nur noch wenige Monate Lebenszeit
prognostiziert wurde, sprachen wir oft darüber,
wie es früher gewesen war. Sie erzählte,
wie sie einmal sah, dass Erich (meine Eltern
nannte ich beim Vornamen) sein Fahrrad
hoch in die Luft hob, es mehrmals voller Wut
immer wieder gegen die weißgekalkte Wand
vom (alten) Haus geworfen hatte, weil er sich
bei Kühl (eine Schlosserei) über Omi geärgert
hatte. Omi war seinerzeit Abteilungsleiter,
ein Vorgesetzter meines Vaters und doch
schon ein vertrauter Freund unserer Familie.
„Omi“ – noch so ein Ausdruck, ein vertrauter
Spitzname, den ich mit niemanden mehr teilen
kann, fürchte ich. Meine Geschichte!
Mrz 4, 2021 - Selbstwirksamkeit 28 [Seite 27 bis 28 ]
„Mama, mir ist langweilig.“
Mit achtzehn Jahren wohnte ich noch bei
meinen Eltern. Kurz nach meinem Geburtstag
hatten wir eine Playboy-Ausgabe im
Briefkasten. Ein Werbegeschenk auf meinen
Namen persönlich zugestellt. Ich sei nun
erwachsen, und hier stünde alles, was Männern
Spaß macht, so ungefähr. Tatsächlich
erfolgreich beworben, kaufte ich von da an
gelegentlich das Heft. Als wir den Haushalt
meiner verstorbenen Eltern auflösten, fand
ich einen Stapel alter Ausgaben. Nicht nur
diese Magazine haben wir weggeworfen.
Vieles mehr, das einen vertrauten Platz im
Keller hatte, ist weg. Manches ist so fest mit
Erinnerungen verbunden. Es fühlt sich an und
kommt mir vor, wie noch immer dorthin zu
gehen, wenn ich nur dran denke.
Es war die Ausgabe vom Juli 1994 mit einem
Interview von Bill Gates, die mich motivierte,
meinem Leben eine bessere Richtung zu
geben, ohne dass ich’s gleich begriff. Gates
war für mich zu der Zeit nur irgendein ein
Typ. Microsoft spielte keine Rolle für Grafiker,
fand ich. Das waren die Computer der anderen,
der Masse. Es hat mich nicht interessiert.
Ein graues Porträt, und lang war der Text. Ich
habe es überblättert, die Hochglanzbilder
sind mir wichtiger gewesen. Während die
kleinen Buchstaben meine innere Festplatte
nie erreichten, hat sich eine Überschrift eingebrannt.
Ich meine mich zu erinnern, was da
stand.
„Bill Gates: Angst ist der Schlüssel.“
# Fear should guide you, but it should be latent.
I have some latent fear. I consider failure
on a regular basis. (Bill Gates im Playboy
Interview 1994, gefunden im Original auf
englisch im „Internet Archive’s Wayback Machine“).
Jeder sei seines Glückes Schmied, heißt es.
Dafür muss man das Richtige tun, aber was?
Wer sich unwohl fühlt, das jedoch nicht konkret
spürt, an etwas festmachen kann, bleibt
auf die Gunst des Schicksals angewiesen.
Eine nur dir bewusste Angst sollte dich leiten,
nicht ein ungebändigtes, nach außen zur
Schau gestelltes Drängen. Er rechne stets
mit dem Misserfolg, meint Gates. Ausblenden
und Verdrängung sind keine Lösung. Den
Weg zum Guten können wir nur einschlagen,
wenn wir wissen, wie es uns geht. Wäre das
selbstverständlich, fügte sich niemand den
Schaden zu, in die gegenteilige Richtung zu
laufen.
Wir erinnern uns, handeln in der Gegenwart,
und unser Leben kann als ein Baum dargestellt
werden, der in vielen Ästen vorankommt.
Welchem Zweig wir gerade neuen Saft verleihen,
hängt davon ab, was uns in den
Sinn kommt, woran wir zurückdenken
und wie es zur realen Gegenwart
passt. Eine bessere Zukunft
können wir nur erreichen, wenn uns
klar ist, wer wir sind und wo wir herkommen.
Entwurzelte Bäume haben
es schwer, wieder irgendwo Fuß zu
fassen, und sich erinnern können
bedeutet gelegentlich Mut. Furcht
als leitender Antrieb und dem gegenüber
Mut und Erfolg, schließlich
ausruhen können, dazwischen die
ganze Bandbreite der Emotionen.
Gäbe es nur zwei Gefühle, schlecht bzw. gut,
könnten wir uns leicht auf einer Skala platzieren,
bezogen auf die Nähe zum jeweiligen
Pol. Die Navigationsleiste für eine praktische
Umsetzung, Krisen zu überwinden. Sie könnte
offene Türen sichtbarer machen, die Fähigkeit
ausbilden, selbst welche zu öffnen. Was wie
die pauschale Vereinfachung eines komplexen
Inhaltes scheint, meint das Gegenteil, die
individuelle Basis für ein Problem, genaue
Fokussierung auf einer eindeutigen Linie.
Statt mit mehr Bällen zu jonglieren als möglich,
die persönliche Bestleistung zu steigern,
indem die eigene Sicht auf Schwierigkeiten
der Maßstab ist. Herauszufinden, was man
wirklich will und was dran hindert, macht es
möglich zu malen, singen und jede Menge
nutzlosen Kram zu tun.
# Angst kann als die Basis unseres Tuns begriffen
werden
Keine Szene, deren Helldunkel nicht maßgeblich
für die Komposition ist bei aller
Farbe. Das Salz in der Suppe, die Grammatik
der Sprache, die Perspektive einer Zeichnung,
wir benötigen einen roten Faden, um eine
komplexe Thematik mit wenigen Elementen
zu strukturieren. Wie viel Angst ein Mensch
momentan hat, das ist ein guter Gradmesser
seines Wohlbefindens.
Manche Dinge bleiben im Gedächtnis, scheinen
Jahre später ein bedeutsames Puzzleteil
für eine grundsätzliche Frage zu sein. Bill Gates
gibt ein Interview im Playboy, das noch
heute für profilierte Artikel herangezogen
wird. Es zeige den Visionär, der schon in den
Neunzigern das Streaming und die sozialen
Netze vorausgesehen hat, finden Kenner. Ich
aber merke mir diesen banalen Satz, ohne
überhaupt ein Wort vom Text gelesen zu haben?
Bis heute mache ich einen Bogen um
alles Soziale, pflege wenige alte Freundschaften
analog. Meine Erinnerung gilt nicht
dem lange Zeit reichsten Mann der Welt. Ein
elementarer Satz, immer wieder kolportiert,
sonst wem zugeschrieben und neu in den
Mund gelegt, der den Menschen seit aller
Zeit leitet, blieb hängen. Hätte ich gleich verstanden
worum es geht und als Binsenweisheit
abgehakt, wüsste ich heute nichts mehr
vom alten Magazin.
Die Frage ist nicht, dass Angst uns leitet, der
Schlüssel zum Leben zu sein scheint. Die
Frage ist, was Angst mit uns macht. Das ist
eine persönliche, individuelle Fragestellung.
Dafür müssten wir nicht schreiben können
wie die anderen Tiere, würden trotzdem forschen,
wenn uns das Leben lieb ist. Zu reden
und schreiben, etwas zu lesen, was jemand
schrieb, ist umwegig und kann zu der Verwechslung
von Kommunikation mit eigenem
Denken führen, wenn wir nur plappern. Ein
gelesenes Wort muss in unser Denken einhaken.
Es darf nicht mitgetragen werden, wie
die Ballaststoffe in der Nahrung dem Darm
helfen. Wir müssen den fremden Gedanken
selbst verdauen, damit eine Idee zu unserer
eigenen werden kann. Natürlich erkennt der
Mensch, dass ihm manches besser schmeckt
als anderes und so bleiben einige intellektuelle
Brocken auf dem Silbertablett liegen.
Dass hier eine Delikatesse serviert wird, erkennen
wir durchaus, weil die anderen so ein
Geschieß drum machen.
# Angst kann blind davor machen, sie bei sich
zu bemerken
Eine zweideutige Sache wurde abgespeichert,
weil uns nur eine Seite der Medaille klar war.
Obschon nicht offensichtlich, muss etwas dahinter
stehen. Als junger Mensch ahnten wir,
Wichtiges weglegen zu müssen, das verborgene
Problem erst später lösen zu können.
Die individuelle Frage was genau hemmt,
verbirgt sich oft, wie etwas, das am Rücken
klebt. Wäre es nicht so, kämen wir umweglos
voran. Das Leben besteht aus dem Bemerken
der Probleme und ihrer Lösung. Weiß man,
ob’s einem gut geht? Man muss sich nur an
einer belebten Kreuzung mit vorbei eilenden
Fahrzeugen, Radfahrern und Fußgängern gestresste
Menschen ansehen, um zu begreifen,
dass diese Frage nicht so unsinnig ist wie’s
scheint.
Eine Geschichte fällt mir ein, noch eine. Nachdem
ich achtzehn Jahre alt wurde, kam gleich
der Staat, mich für den Wehrdienst zu mustern.
Für fünfzehn Monate war ich in Seeth.
Ich begann wie alle als Schütze, wurde befördert:
Gefreiter, Obergefreiter und regulär entlassen.
Nur ein dicker Sack mit persönlicher
Ausrüstung stand einige auf den Wehrdienst
folgende Jahre bereit im Keller und erinnerte
an die fortbestehende Pflicht. Mit einem geheimen
Kennwort gerufen sollten wir ggf. antreten.
Das passierte tatsächlich. Einige Male
verlangte man mich als Reservist. Es war üblich,
für eine Zeit wieder Soldat „zu spielen“,
schließlich mussten andere ran.
Meine jungen Jahre: In emotionaler Hinsicht
bin ich vollkommen unreif gewesen. Der
fachliche Ausdruck „leptosomer Spätentwickler“
trifft zu. Ich war nicht nur dünn und
unsportlich, in mancherlei einfach doof. Nicht
wenige junge Menschen sind so, und einige
kultivieren ihre Beschränktheit bis ins Alter.
„So bin ich eben“, meinen sie.
Am Wochenende fuhren wir Soldaten typischerweise
mit der Bahn nach Hause. Über
Glückstadt führte die Bahnlinie. Wir füllten
die Silberlinge und stiegen in Hamburg in
die S-Bahn um. Viele von uns sind aus dem
Ruhrpott gekommen, hatten es weit. Einmal
nahm R. (aus Pinneberg, glaube ich) welche
von uns im eigenen Wagen mit. Zu viert und
anfangs sogar fünft zusammengequetscht im
Fahrzeug fuhren wir gern zusammen in Richtung
Heimat. Ich erinnere mich: Der Kamerad
Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 29 [Seite 29 bis 30 ]
und Obergefreite R. fuhr wie der leibhaftige
Teufel, uns alle in den Tod mitzunehmen. Wir
bretterten über die Dörfer. Unser Fahrer gab
Gas, dass der Motor brüllte, fuhr immer zu
schnell. Ein fröhlicher Rennpilot, der dabei
noch erzählte und scherzte, während er genüsslich
bewies, was er drauf hatte. Sein Auto
knallte über die kleinen, oft unbeschrankten
Bahnübergänge Schleswig-Holsteins.
Mit quietschenden Reifen schleuderten wir
durch die Kurven schmaler Landstraßen. Er
überholte, wo immer es möglich war. Wir
fanden das großartig, so schien es, denn alle
unterstützen sein Fahren verbal. Wir lachten,
grölten derbe Sprüche und feuerten ihn noch
an, wollten Männer sein.
Wir Helden!
Mit einer Ausnahme. Einen Feigling hatten
wir. Der saß hinten und stöhnte schweißgebadet
bei jeder haarsträubenden Aktion
auf. Nach seinem Bekunden war er kurz davor,
sich zu übergeben. Das ignorierten wir
anderen geflissentlich. Er saß mittig, sein
Oberschenkel berührte meinen, und mit
dem schlanken Oberkörper schwankte er
vor und zurück wie in Trance. Oft schloss er
die Augen. Während mir einige Namen und
dazugehörige Geschichten noch heute präsent
sind, erinnere ich nur, dass dieser Soldat
auch sonst als zartbesaitet galt. Nach Kräften
probierte ich, wie ein Mann zu wirken. Das
hat wenig Eindruck gemacht, ein unnötiger
Selbstbetrug. Heute finde ich, das war dummes
Hinterherlaufen und sich wer weiß was
vorzumachen.
Im Auto hatte ich eine Hand im Türgriff verankert.
Ich klemmte zwischen den Kameraden
in die Seite gekeilt, während wir gestoßen
wurden wie im Scooter. Wir machten uns
über ihn lustig. Wir piesackten ihn unablässig
damit, was für ein Schisser er wäre. Der Arme!
Ha-ha. Er wurde beinahe ohnmächtig vor
Angst. Und das zeigte er auch noch: „Kannst
du bitte ein wenig langsamer fahren“, meinte
er immer wieder mit zaghafter Stimme. Wir
begriffen nicht: Das war bestimmt der mutigste
von uns. Er sagte was, traute sich. Das
spornte den Fahrer nur noch an. Wir anderen
lärmten, lachten, schnauften! Ich glaube, er
fand einen Ort abzukürzen. Er bat um Halt,
stieg allein aus, nahm früher als beabsichtigt
für den Rest seiner Heimfahrt den Zug. Ein
unscharfes Bild schwimmt in meinem Kopf.
Es dämmert und ein leichter Nieselregen
trübt die Sicht, ein Bahnhof wartet im Hintergrund
auf den Fahnenflüchtigen. Mir ist,
als erinnere ich ihn von hinten gesehen in
Uniform, gebeugte Schultern, die Sporttasche
mit schmutziger Wochenendwäsche in der
Hand. Das rote Barett schief über’s Ohr gezogen,
trottet der schlappe Kamerad davon.
Wir alberten aus dem offenen Seitenfenster,
spotteten ihm blöde hinterher, donnerten
weiter. Gut möglich, dass wir dazu unablässig
Bier (aus Dosen) konsumierten. „Wochenende!
Weg mit den Rotärschen, den Bremsern,
ööääh!“ Heute denke ich anders über diese
Fahrt.
nen, was immer zusammen unterwegs ist.
Angst ist keine Kopfsache. Sie betrifft den
ganzen Menschen, wie die Steigerung Wut
deutlich macht. Ob ich in lähmender Katatonie
verharre, weglaufe oder zuschlage, dass
ist alles dieselbe Basis. Wenn die Angst dazu
führt, unser Auto schneller zu fahren als gut
ist, dann benötigen wir Muskulatur,
das Gaspedal durchzutreten.
Dass Angst sich auch anders manifestiert,
wie Mut daherkommt?
Größere „Geister“ als ich haben
bereits Bücher zu diesem Thema
verfasst. „Das Körperschema der
Angst“ ist eine Kapitelüberschrift
bei Moshe Feldenkrais (Body and
Mature Behavior, 1949) und „Langeweile
sei die ausgedünnteste
Form der Angst“, schreibt Paul
Watzlawick an einer Stelle. (Vom
Unsinn des Sinns oder vom Sinn
des Unsinns, Piper 1995). Das erste
zeigt auf, wie untrennbar vom
Denken der Mensch ein inneres
System nutzt, auf komplexe Situationen zu
reagieren, sich das in der Muskulatur zeigt,
und das zweite (im Kapitel „Sinn oder Un-
Sinn unserer Wirklichkeitsvorstellung“ des
genannten Buches gefundene) Zitat macht
deutlich, dass die Langeweile nur ein Wort ist,
welches neu interpretiert das immer gleiche
Problem des Menschen beim Namen nennt.
Als Kreativer ist es unabdingbar, seine Gliedmaßen,
die Atmung und den Willen auf das
Ziel hin zu bündeln wie das ein guter Sportler
macht. Mit „Mama, mir ist langweilig“ kann
ich kein Bild fertig bekommen.
:(
# Nur einer hat was gemerkt, und wir lachten
ihn aus
Der Trainer beschreit es, der Arzt ermahnt:
„Das ist eine Kopfsache!“, aber es nützt oft
nichts. Wie reißt man sich zusammen? Mental
sei das Problem, die wenigsten wollen es
wahrhaben, dass Körper und Geist nur zwei
Worte sind, ein intellektueller Trick zu tren-
Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 30 [Seite 29 bis 30 ]
Die Firma
Mrz 14, 2021
Erna kommt. Und wenn sie sagt, dass
sie kommt, kommt sie prompt. Heut’
ist der Tag, an dem Erna kommt. Die in
der Firma wissen Bescheid: Universal,
Im- und Export, Moneypenny macht
Home-Office. Die englische Mutante.
Oh mein Gott, ich schäm mich, gestern
war ich zu lustig. Dass ich heute down bin,
schrecklich anzuschaun bin, wusst ich. Ab
und zu passiert das, aber mich geniert das
mächtig. Nie mehr so’n Idiot sein, dann schon
lieber tot sein möcht’ ich. Am Besten, ich bleibe
diese Woche komplett im Atelier und gehe
nicht ein Mal vor die Tür. Schreibtischkram
will erledigt sein.
:
Mrz 14, 2021 - Die Firma 31 [Seite 31 bis 31 ]
Der harte Knochen
Mrz 18, 2021
Ein Baby hat Hunger, schreit: Mama kommt.
Weißt du es noch? Etwas juckt, du brüllst, und
Mama ist da. Sie bietet dir die Brust, Nahrung
und Liebe, singt versuchsweise ein Lied, was
weiß ich. Bis sie begreift, was los ist. Dann
bekommst du einen neuen Strampler angezogen
und wirst weich gebettet. Das ist
gefühlte Allmacht. Der Wichtigste kommandiert,
und es geschieht sofort.
Die Gute Nachricht, Matthäus schrieb auf,
wie ein Soldat spricht. „Sag ich einem Mann:
„Komm!“, dann kommt er. Sag ich: „Geh!“, geht
er. So redet ein Hauptmann, der zu befehlen
gewohnt ist. Und der Rekrut rennt los. Wenn
ein Baby älter und zum Kind wird, tritt das
„Nein!“ der Mutter mehr in den Vordergrund.
Die größere Wirklichkeit setzt die Grenzen
enger. Wir müssen einsehen, dass es nichts
ist mit unserer Allmächtigkeit auf Erden.
Theorien legen nahe, dass die Wirklichkeit
vom Menschen selten genau erfasst, sondern
um Ordnung bemüht und intellektuell konstruiert,
mit begrenzter Sinneswahrnehmung
nur ausschnitthaft verstanden werden kann.
In einer Mischung aus dem, was man uns sagt
und unserer Neugier, die Dinge zu prüfen, entsteht
eine Orientierungshilfe. Mehr nicht. Die
Information über die Umgebung kann nicht
vollständig sein. Unsere Vergangenheit muss
die Erfahrung hergeben und ein belastbares
Foto der Welt abbilden, möglichst farbig
und inhaltsreich; wenn wir es selbst malen,
beginnen wir als Anfänger. Wir müssen mit
unvollständiger Karte ausgestattet, unseren
Fehlern und denen anderer, auch bewusster
Lügen, in die Zukunft navigieren. Kontrollverlust
ist für einige das Schlimmste? Wären
sie sich ihrer Mängel bewusster, könnten sie
diese stets bemerken. Da ist nicht eine Bewegung,
keine Aktion, die ein Mensch perfekt im
Sinne seiner Intention ausführt.
# Den Dingen die Schuld geben
„Das war ich nicht“ nach einem Missgeschick
zu sagen, ist weniger absurd, als viele meinen.
Das kann ausdrücken „ich wollte“ es ja nicht
und kann gar nicht begreifen, wie das kommt,
weil ich doch nach meinem Dafürhalten alles
tat, damit es gelingt (Mama, schimpf’ bitte
nicht). Wie exakt motivieren wir uns, etwas zu
tun, ein Brötchen mit Käse zu belegen? Wie
wichtig nehmen wir die aktuelle Tätigkeit,
und wie stark lenkt uns ab, was parallel nötig
sein könnte? Mit vielem überfordert,
geben einige der Umgebung gern eine
Mitschuld, wenn sie was nicht hinbekommen.
Ein Mensch, der entspannt
eine Fahrbahn betritt, um die Straße zu
überqueren, wird hektisch, wenn er bemerkt,
dass ein Fahrzeug schneller als
erwartet näher kommt. Auch allein mit
Alltäglichem beschäftigt, müssen wir
tolerieren, dass uns scheinbar Rat gebende
Stimmen in Gedanken ablenken,
wenn wir eine Bohrmaschine ansetzen,
den Schrank (noch schnell) reparieren.
Neurotisches Verhalten ist zunächst
die gewohnte Reaktion auf die Umgebung
und ihre vielen Probleme, denen wir
uns ausgesetzt sehen. Wem es nicht gelingt,
sich dauerhaft zusammenzureißen, kultiviert
persönliches Unvermögen zum typischen
Charakter. Hektik, Angst und Zorn, zu fluchen
und Dinge übertrieben anzugehen, der Situation
die Schuld zuzuweisen, wenn etwas
misslingt, ist nicht selten. Da ist niemand, der
immer perfekt durch das Leben geht, aber
einigen gelingt es besser, es so aussehen zu
lassen. Was käme wohl dabei heraus, wenn
wir bei ihnen Mäuschen spielten?
Nichts ist heute einfacher als das. Und natürlich
kommt eine Menge Mist zutage, wenn
Menschen mitlauschen, wie es bei den Meyers
privat läuft. Spion zu sein, ist heute einfacher,
als je zuvor. Mit dem Auto im Stau stehend,
lese ich eine Werbetafel „Aufspüren versteckter
Wanzen, Telefonabhöranlagen, Detektei“
und denke: toll! Die kommen ins Haus, haben
schon vorher drei Microwanzen in der Hosentasche
dabei, präsentieren dir eine davon. Sie
sagen: „Das haben wir gefunden“, installieren
heimlich die anderen für eigene Geschäfte.
Informationen sind nützlich, wenn sie als
Ware gehandelt werden können.
# Paranoia und andere Wahrheiten
Da ist eine Frau, der ich gelegentlich begegne.
Sie wohnt um die Ecke. Wir reden beim Busfahren
und auch sonst mal. Ohne auf Details
einzugehen, kann ich zugeben, dass es mir
wenig bedeutet. Ankündigungen, sie möchte
eine bestimmte Malerei in Auftrag geben,
entpuppen sich schnell als reine Absichtserklärung.
Ihr geht es um anderes, wenn wir
uns über den Weg laufen? Die Themen, die
sie anschneidet, lassen mich das vermuten.
Sie wechselt die Arbeit, alle paar Monate ist
sie woanders beschäftigt, und auch darüber
sprechen wir. Schließlich verliert sie das Interesse
dran, lang mit mir zu quatschen. Während
sich unsere Wege anfangs ständig kreuzen,
ergeben sich diese Gelegenheiten nun
beinahe gar nicht mehr. Gut so. Nach einem
Jahr oder zweien begegne ich ihr nur noch
selten. Als es doch geschieht, rutscht ihr, mich
begrüßend, raus: „Schön, wenn man sich auch
einmal zufällig trifft.“ Dann entgleist ihr wie
nach einem verbalen Patzer das Gesicht. Sie
feuert schnell einen Redeschwall ab, wie’s
mir ginge und lässt plakative Freundlichkeiten
folgen.
So doof.
Mit A. (ein schwedischer Name) ist es ähnlich,
aber das habe ich glaube ich bereits
geschrieben. Sie hatte dasselbe Geschick,
immer ganz zufällig aufzutauchen. Die behauptet,
in Glückstadt gelebt zu haben. A.
ist nicht doof – sie ist blöd, aber das nur
nebenbei. Unsere Begegnungen finden ein
schlagartige Ende, als ich sie (fröhlich) mit
ihrem vollständigem Namen, Straße und der
korrekten Hausnummer begrüße; sie reagiert
vollkommen panisch. Ich, zu der Zeit Zusteller
verschiedener Werbesendungen; es ist mir
nebenbei aufgefallen, leicht zu kombinieren.
Sie, unangemessen entgeistert: „Habe ich dir
das mal gesagt?“ Seitdem kein einziges Mal
mehr gesehen und vorher so oft getroffen!
Eine eingebildete junge Frau, die was – ja,
was wollte die denn?
Doofe Frauen sind reichlich unterwegs. Als
ich noch mit Kalle (Klarname) befreundet
bin, zeigt er mir die ganz speziellen aus der
Deckung einer Kaffee-Plantage: „Kennst du
die? Die trifft man auch überall.“ (Ich kenne
die). Sie: „Ich arbeite in Wedel bei (ein bekanntes
Geschäft). In Bremen hätte sie es
bis zum „Inspektor“ gebracht. Ich treffe diese
Ziege – aber nie im Laden, fahre oft in meine
alte Heimat. „Meistens bin ich ja hinten“, sagt
sie, damit konfrontiert. Ich frage im Geschäft
nach: „Ist sie hinten?“, die anderen drucksen
immer rum. Ich bin in Wedel aufgewachsen
und mit etlichen vertraut, die im Verkauf tätig
sind. Schließlich gibt es eine Antwort: „Frau
(…) meinen Sie? Das ist unsere … Putzfrau.“
Eine harmlose Erklärung für eine peinliche
Alltagslüge, möglicherweise.
# Vor dem Blumenladen von Sarah
Guddi dackelt los, Primeln aussuchen. Kalli
zieht mich (verschworen) ins Auto: „Wenn
mal was mit ,der Stasi‘ ist, lass die Finger
davon“, wir sprechen über die dünne Russin.
So nennt er sie. Meine Freundin? Was soll ich
da lassen: Meine Finger sind freundlich. Und
ich habe die nie angefasst. Es geht nicht. Man
spürt, sie möchte das nicht. Einer russischen
Frau gibt man nicht die Hand. Das hat Kalli
nicht gesagt, und der muss es eigentlich wissen.
Dass mit der Stasi ohnehin. Es liegt bei
denen in der Familie. Doofe Agenten gibt es
also auch.
Mir fällt noch reichlich ein, eine kleine Auswahl
genügt zum Thema. Es ist die Vor-Corona-Zeit,
Begegnung in Wedel bei „Junge“.
Ein Mann, nicht sehr groß, schlank, drahtig,
durchschnittliche Kleidung, Ende fünfzig,
hat neben mir Platz genommen, weil alles
andere besetzt ist. Wir schweigen satte zehn
Minuten und beobachten die Vorübergehenden.
Jeder andere hätte längst sein Telefon
gezückt, der Fremde nicht. Ich habe keines,
und damit bin ich für gewöhnlich der Einzige
in Gesellschaft. „Warum gehen die Menschen
alle verschieden?“, probiere ich ein Gespräch
zu beginnen, und dann wird es interessant
mit dieser Bekanntschaft. Wir reden über
Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 32 [Seite 32 bis 34 ]
menschliches Verhalten, Angewohnheiten
und schließlich über China. Er wüsste nicht,
weshalb wir gerade die Asiaten thematisieren,
meint er. Jahrelang hätte er nicht mehr
daran gedacht, komisch, dass er’s grad nun
erinnere, aber dort ließe man verlorenes Geld
auf dem Gehweg besser liegen. Es gelte als
verpönt, einen Cent aufzusammeln, da das
Unglück bringe.
Das ist ja interessant, denke ich und sage
nicht, wie sich einige ganz offensichtlich darüber
amüsiert haben, Geld wie verloren extra
auszulegen, wo ich gleich auftauchen würde.
Was für ein Spaß! Wie der Bassiner sich freut,
wenn er wieder Geld findet. Ich erinnere das
süffisante Grinsen. Theresa (beim Bäcker), die
spanische Nase, schiebt neun einzelne Cent
auf den Wechselgeldteller: „Mach nicht zu
doll damit.“ Inzwischen entdecke ich so gut
wie nie mehr was, es macht ihnen keinen
Spaß mehr? Ich lasse das heute liegen, für
die Armen.
# Danke für diesen Hinweis
Ich greife mir an den Fuß, denke und überlege.
Auf meine Frage erklärt der Mann, er
sei Rentner und wäre beim Theater gewesen,
„seine Leute“ seien auf dem Markt. Eine
seltsame Art zu sprechen für einen jungen
Rentner. „An welchem Theater waren Sie
denn?“, frage ich. „An verschiedenen.“ Er hätte
das Publikum bespaßt und zentnerschwere
Frauen gestemmt, Ha-ha. Ein Zentner, das
wären ja nur fünfzig Kilo. Viele wüssten es
nicht. Man hat schon von verdeckten Ermittlern
gehört. Ich überlege, ihm zu sagen, mir
ginge durch den Kopf alle meine Bilder, das
Boot und die Bürgermeisterin zu zersägen, an
nur einem Tag. Ich behalte das aber lieber
für mich. Nachher glaubt er es, und ich bekomme
„die offizielle“ Gefährderanzeige. Die
einfache (verdeckt getragene) GKR-Epaulette
genügt mir. Vorhin hat er noch intensiv mit
den Eltern von L. seitlich der Fensterfront gequatscht,
ist aufgestanden und los spaziert,
bevor er (zielstrebig) zu mir kommt: „Ist hier
noch frei?“ Diese „Leute“ kenne ich einigermaßen,
und der Markt ist ganz dahinten woanders.
Das ist mir aufgefallen.
Er wäre sonst mehr in Blankenese zu Hause
und verkehre gern in der Kneipe bei den Dockenhudener
Arkaden.
„Die Linde“, sage ich.
Und rege an: „Mich kennen einige“, aber das
misslingt vollständig. Er kennt meine Freunde
nicht, und seine Namen klingen wie schnell
erfunden. Auf meinerseits „Toddel, Schampus
oder Telle“, präsentiert er: „Schnuddel, Duddel,
Kuddl“, das sind bemühte Wortschöpfungen.
Ich könnte mit „Pietn, Piwi, Ewu, Schnalle
oder Treets, Petrus und Himbeertoni“ nachlegen,
ohne üben zu müssen.
Uwe.
Wir haben einander geduzt. Schließlich geht
er mit der Bemerkung, wir würden uns „sicher
nie wieder“ begegnen. Er setzt sich um die
Ecke an den anderen Tisch erneut zu dieser
Familie mit ihrem erwachsenen, aber psychisch
kranken Kind; Menschen, die mir aus
direkter Nachbarschaft bekannt sind?
Ein verkorkstes Händeschütteln, bei dem sich
unsere Hände verfehlen und in die nötige
Position mühsam hinwurschteln, ist noch zu
spüren: „Danke für das doch ganz nette Gespräch“,
hat er gesagt.
Ich bin höflich verstört. „Einen schönen Tag
noch …“
# Deine Leute auf dem Markt sind meine im
Café
Dr. John, Norbert, Susanne und Tom: Agenten
klopfen einander ab. Ich habe alle Ian Fleming
Romane gelesen. „Du lebst nur zweimal“
mehrmals. Unvergessen, wie Bond den
Hals des Mannes zudrückt, der ihm die Liebste
genommen hat: „Stirb Blofeld, stirb!“ Die
Lizenz zu töten. Blofeld stirbt, endlich. Der
Vulkan fetzt ihm den Arsch weg. Und James
bei den Fischern vergisst, wer er ist. M. muss
ohne ihn weitermachen.
Sir Miles. So nennt man mich beim Italiener.
Ich trinke dort den Wutmacher wie der Admiral.
Rekrut im Gelände? Unvergesslich bleibt
auch diese andere Geschichte: Ich bin mit
einem Segelmacher verabredet. Da meine
Frau unser Auto hat, fahre ich mit der S-Bahn
nach Wedel. Der Weg führt geradeaus die
Bahnhofstraße entlang, in Richtung meines
Elternhauses, wie schon unzählige Male in
meinem Leben. Gerade wird das Gebäude der
Volksbank abgerissen. Die Bank will ihr in die
Jahre gekommenes Eigentum aufwerten und
eine kombinierte Wohn- und Geschäftsimmobilie
bauen. Das hat mir eine Mitarbeiterin
erzählt. Eine Baugrube gähnt dort. Verschiedene
Fahrzeuge, Bagger, Arbeiter mit Maschinen
und ein großer Kran produzieren jede
Menge Staub und Lärm. Um die Passanten
vor Dreck und Gefahren zu bewahren, haben
die Verantwortlichen vorn zwei Container
aufgestellt, wo für gewöhnlich der Gehweg
verläuft. Die stehen der Länge nach mit geöffneten
Stirnseiten zum Tunnel aneinander
montiert und bilden eine schützende Röhre
für Fußgänger. Die Radfahrer, deren Fahrspur
hier unterbrochen ist, sind gebeten das Rad
zu schieben.
So ein Mann mit Fahrrad kommt mir genau
hier im provisorischen Tunnel wie zufällig
entgegen. Wir treffen in der Mitte der Blechkammer
aufeinander. Der hat eine derbe
Stoffjacke an, große rotbraune Karos. Vielleicht
noch eine Kappe aus Cord auf dem
Kopf, das weiß ich nicht mehr. Kräftig. Er gibt
sich wie ein kanadischer Holzfäller. In dem
Moment (so scheint es mir), wo er mich sieht,
fährt ein: „Da ist er ja!“ durch seine Züge.
Und dieser Mann kehrt nun um.
Noch im Tunnel, genau neben mir, wo es eng
ist. Wie auf Befehl. „Meine Aufgabe beginnt
jetzt“, scheint er zu denken. So würde ich es
im Nachhinein beschreiben. Das ist seine
Körpersprache, wie in einem Buch für andere
mitzulesen. Ein laienhaftes Theater verstärkt
das noch: Er tut gestisch, als hätte er etwas
vergessen und trabt mit seinem Rad, die
Hand am Lenker, ab sofort in meine Richtung
mit.
Mein Schatten?
Kann ja mal sein, dass einer zurück muss, weil
ihm was einfällt. Wir kennen einander nicht,
sind uns fremd. Warum habe ich das registriert?
Soweit hätte ich’s gar nicht wichtig genommen.
Irgendein Typ, und der dreht wieder
um. Ich kümmere mich nicht um den Mann
und hätte ihn vergessen, wenn das Ganze an
dieser Stelle zu Ende gewesen wäre.
Zeit vergeht.
Ich erreiche mein Elternhaus. Ich denke nicht
weiter an diesen Holzfäller. Das wäre vollkommen
unbewusst geblieben, ein Zusammentreffen
im Bautunnel vor der Volksbank.
Ich hätte gar nichts daran festgemacht und
habe ja eigene Ziele im Sinn. Das Wetter ist
gut, sonnig mit leicht dunstigem Himmel
und windstill. Ich bin unterwegs auf dem Hof,
schließe die Pforte auf, hole Erich’s Fahrrad,
um damit zum Hafen zu fahren, wo mein Boot
liegt, ich mit Hauke verabredet bin. Das haben
wir einander gestern per Mail bestätigt. Mein
Vater ist gestorben, und viele Erinnerungen
sind in meinem Kopf, wenn ich mit seinem
Hercules unterwegs bin.
Gemütlich radele ich die Bekstraße durch ihre
Kurven den Geesthang hinab. Ich fahre einige
hundert Meter über die Schulauer Straße
und um die Ecke bei der Sonne vom Planetenlehrpfad
in die Deichstraße, schließlich
die Anhöhe rauf, wo Jan und „Hochwürden
der Pabst“ ihren Laden haben. Rechts führt
der kreuzende Weg für Radfahrer und Spaziergänger
über die Kuppe, die unser großer
Seedeich bildet, der wohl Ende der Siebziger
nötig wurde: Ich erinnere mich, sehe wieder
die Bagger und Planierraupen in der schweren
Kleie unterwegs, wie damals, als ich noch
ein Kind war. Meine Augen sind die aufmerksamen
eines Indianers im Gelände.
Unten auf der Deichverteidigungsstraße ist
wieder der rotbejackte Mann unterwegs!
Unverkennbar, das ist der Typ aus der Bahnhofstraße,
der in dem Moment umdrehte, als
er mich sah. Jetzt ist es mehr als eine nebensächliche
Erinnerung. Nicht zum ersten Mal
passiert so etwas, und meine Sinne sind hellwach.
Viele Male ist es vorgekommen, dass
Bekannte scheinbar ganze Sätze zitieren, die
Teil meiner E-Mail-Kommunikation mit anderen
sind. Was wir im Fernsehen schauen,
wie ich mit Migräne leide und wer gestern
zu Besuch ist, wohlmeinend wird’s angedeutet,
eben nicht ganz konkret und mit einem
feinem Humor weitergezinkt. Woher wissen
(so viele) Fremde, was bei mir passiert? So
etwas macht neurotisch und paranoid. In der
Summe wird einfach zu oft und viel zu exakt
nachgesprochen, was bei uns privat gerade
ansteht. Ich spinne vernünftigerweise, und
das seit mehreren Jahren. Freunde sagen mir
schon wie wissend, ohne sich anschließend
(auf Nachfrage) genauer zu erklären: „Du bist
nicht krank.“
Das macht krank.
Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 33 [Seite 32 bis 34 ]
Ich habe noch ein wenig Zeit bis zum Termin
auf dem Schlengel. Und während der Mann
hinter dem Deich wie unbeteiligt treppelnd
das Radfahren in der Marsch genießt, bin ich
oben vor dem Tonnenhafen angekommen.
Ich stoppe, setze einen Fuß auf den Boden,
schaue mich um: Dieser Typ, er hat wieder
die Richtung gewechselt. Während
er, als ich ihn bemerkte, noch in Richtung
der gelben Sonne aus Beton zur Schulauer-Straße
zurückgefahren ist, folgt er
mir nun ein weiteres Mal. Er arbeitet
sich gerade den Deich hoch. Als er oben
ankommt, haben wir Blickkontakt. Er ist
nur knapp hundert Meter hinter mir und
biegt, wie als wäre das ein neues Ziel,
über den Parkplatz vor dem Bootsausrüster
links ab, auf den vorgelagerten
Deich rauf. Da wird er mal so locker
hinüber zum Segelverein dödeln und
die Elbe anschauen. Er ist der megaentspannte
Trödelmors, der gerade nichts
Besseres zu tun hat, als in der Woche ein
wenig an der Elbe rumzufahren?
Mich sticht der Hafer, ich probiere etwas.
Ich bin auch nur so mal am Radfahren,
warum nicht? Was du kannst, das kann
ich auch, denke ich. Ich drehe ebenfalls
um, und rollere leicht wie der unbeteiligte
Hans-Guckindiluft dem Mann mit
der roten Karojacke nach.
Er ist langsam. Dort, wo nur eine kleine matschige
Fahrradspur anschließend der Sackgasse
vorm Laden auf das Deichgras führt,
bin ich dicht herangekommen. Er fährt auf
den Deich.
Ich folge ihm im Abstand von nur einer Fahrradlänge.
Wortlos und im Schneckentempo.
Ich verziehe keine Miene, als wäre alles so
normal wie die laue Luft, ein Kümo in der
Süd, die dunstige, windstille Natur und die
vereinzelten Senioren hier und da.
Kaum, dass überhaupt ein Auto fährt. Ein
schöner Tag. Träge zieht die Ebbe das glatte
Wasser aus dem Fluss. Ich kann dem Mann
nur wenige fünfzig Meter auf diese Weise folgen:
Er setzt einen Fuß an’ Grund, ankert.
Er stoppt, dreht sich um und winkt mich vorbei.
Ich halte ebenso an, aber er macht schon
deutlich, dass ihm das nicht gefällt. Er winkt
noch einmal mit großer Fällerhand: „Fahr
vorbei“, grummelt der Fremde mürrisch. Er
sieht gerade eine Niederlage ein? Ich trete
locker in die Pedale. Er schaut mir nach, während
ich mit dem undurchdringlichsten Gesicht
das ich zustande bringe passiere.
„So ein harter Knochen“, sagt der Mann noch.
:)
Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 34 [Seite 32 bis 34 ]
Die neue Freiheit
Mrz 27, 2021
Ein bisschen Frieden, etwas Adolf und einige
im Clan, etwas Bullenscheiße in und ohne
Uniform, andere querdagegen, ein paar Putins
und immer wieder Virus im Maskenland.
Die neue Freiheit ist ego und egal.
Menschen klumpen sich, stehen zusammen,
halten Abstand und schweigen eine Minute
am Weltfrauentag, Weltgebetstag, Weltfukuschimatag,
Weltklimatag, dem Weltleifmettertag
und dem Ich-Auch-Tag. Weiße Weste
durch die freie Wahl der Moral: Weltwaschtag
oder Hashtag-MeToo, was willst du?
Für alle was dabei.
Die Bundestagswahl bringt jeder Partei etwa
zwölf, dreizehn Prozent (Nichtwähler und
Sonstige inclusive), und dann dauert es ein
Jahr, bis Christian Lamentierer aus den Koalitionsverhandlungen
aussteigt und irgendetwas
Kanzlers wird. Gelenkte Anarchie, das
ist die Zukunft. Ein wenig Malle, etwas mehr
Föderalismus wagen und wieder ein neuer
Impfstoff auf dem Markt. Gute Geschäfte,
Kriegsgewinnler hier und da: zerstörte Träume
der Studenten, Gastwirte im Konkurs.
# Olaf „schlaffe“ Scholle schafft die rote Null
Manche werden verrückt vor Angst. Dieter
kickt den Michel weg und versaut damit
schließlich die Quote. Titanendämmerung
selbstgemacht. Ein Schalk, der Böses dabei
denkt: Mein Gott. Lockdown und Bim-Bam.
Gläubige läuten ihre Glocken, müssen singen,
um gehört zu werden. Maria 2.1 – wir wollen
auch mal. Durchficken der Ministrant*innen
zwischen brasilianischen Mutant*innen. Ostern
in Ruhe genießen, Angrillen mit Günther
und Niesen, anschließend Testen.
Gefährlich. Bis endlich genug krepieren und
Freiräume spürbar größer werden. Abstand
durch Auslese. Kollaps überall. „Bild“ gibt den
Opfern eine Stimme, klagt an, titelt: „Neue
Variante infizierte meine Tante!“
Schlimm. Aus dem Schatten
der Virologen treten, dabei sein.
Ein Krebsdoktor warnt: „Es wird
Tote geben, wenn die Menschen
nicht zum Arzt gehen und ihre
Tumore zu spät entdeckt werden!“
Ein Medizin-Markt ist in
Gefahr. „Wir müssen operieren,
sonst …!“ Die Drohung verpufft,
wenn der Standard in der Medizin
sich wandelt. Statt strukturierter
Fließbandarbeit im OP
gibt es täglich echte Not. Ständig
sterben unsere Covidkeucher.
Das ist unerträglich. Dazu diese Menschen,
die merken, dass sie nach einiger Zeit von
selbst wieder gesund werden, ohne Rezept.
Sie sind quasi wirtschaftsflüchtig und deswegen
nicht akzeptabel. Blöde Maskenpflicht:
Es gibt keine Grippesaison, da fehlt uns das
Gewohnte. Schlimm genug, dass die Lufthansa
nicht fliegt und die Leute sauber zu Hause
arbeiten. Präsenz in den Medien ist so wichtig.
Klimaretter wollen weiter warnen: „Die
Klimakrise ist noch da!“ Das erledigt sich. (Es
gibt aktuell zu viele Menschen auf diesem
Planeten). Denn nicht nur das Virus killt: „Suizide
werden zunehmen, psychische Probleme
durch Corona.“ Warnungen werden wahr, endlich
Recht zu haben, ist doch fein.
Gut so!
Platz für einen Neuanfang. Die Aliens wollen
landen, und keiner wartet noch darauf. Und
wir? Wozu zum Mars fliegen, wenn wir uns
zuhause eine tote Welt gleich selbst erschaffen
können: Das spart Flugzeit. Die letzte
Generation ist schon geboren. Und der letzte
Mensch ist ein Prepper, der seine letzte Dose
Ravioli heute bunkert.
:)
Mrz 27, 2021 - Die neue Freiheit 35 [Seite 35 bis 35 ]
Für immer geimpft
Mrz 28, 2021
Frau Lot schaute zurück und wurde zur Salzsäule.
„Ein Tod wie gewünscht“, beginnt Max
Frisch ein Buch. Wer will denn leben? Mein
Dasein ist zu einer Abrechnung mit früher
verkommen. Eine Existenz ohne Zukunft.
Mich interessiert nicht, etwas daraus zu
machen. Ich schlachte (lustlos) die Vergangenheit
aus. Ich beschäftige mich. Das kann
man nicht gerade als Antrieb bezeichnen. Der
Motor läuft, aber im Stand, und ich rolle zum
Ende einer Startbahn. Dort geht es nicht in
den Himmel. Kein Abgrund droht, in den ich
stürzen werde.
Irgendwann bleibt meine Kiste einfach stehen.
Eine Karton mit Spielzeug, das ist meine Erinnerung.
Die Zukunft werfe ich täglich weg.
Es gibt keine Liebe, hat niemals eine gegeben
und es wird auch keine geben: Weil ich nicht
weiß, was das sein soll und keine Möglichkeit
habe, es noch herauszufinden. Das ist vom
großen Versuchsleiter der du bist im Himmel
ausgeschlossen worden. Jedenfalls was mich
betrifft. Ihr anderen, da mag es funktionieren,
aber das ist mir inzwischen egal. Mein Professor
im Studium und schließlich Freund (Jahrgang
1923), passionierter Pfeifenraucher, hatte
im Alter seinen Geruchssinn verloren. Ich
habe die Empathie verloren. Nur noch Spott
befriedigt mich. Ein kurzes Glück, wenn man
glaubt, den Doofen überlegen zu sein.
Viele hier nehmen teil am offenen Geheimnis,
einige auch im Süden, nicht wenige am Meer.
So kommt es mir vor. Das Netz reicht weiter
als die Nachbarschaft. Aber es ist Ruhe eingekehrt,
es gibt bessere Themen, und schon
bald gerate ich in vollkommene Vergessenheit.
Verbittert habe ich mich abgewandt: von
der Politik, der Demokratie, Gesellschaft. Ich
veralbere die Mitmenschen, und niemand bemerkt
es noch. Mein Theater findet in einem
Saal statt, der nicht öffentlich ist und dessen
digitale Präsentation keinen Spaß macht,
weil die Grundregel, dass der Clown nicht im
Bilde ist einer zu sein, gebrochen wurde. Ein
bisschen Spaß muss sein, aber wir sind alle
zu weit gegangen.
Unser Dorf, wie im Groschenroman von G.F.
Unger. Der Cowboy, ein Peter Kraus der nicht
aufhören möchte, er kann mir nicht in die
Augen schauen. Unnötige Eskalation: Ein
Pfosten wurde unangespitzt eingeschlagen.
Staub hat sich gelegt, die Frontlinie ist ruhig.
Einige grüßen vorsichtshalber, andere offensiv.
Wir bleiben im Sattel, tippen uns den
Colt an die Krempe, Respekt. Das sind mir die
Liebsten. Sie spielen unser neues, fröhliches
Spiel, winken oder zeigen ihr „Victory“.
# Indianerspiele, Pädophile und Gendarm
Der alte Rote macht es als „Peace“ (mit geschlossenen
Fingern). Er streckt seine Hand
wie eine Friedenspfeife aus. „Tu’ mir nix!“,
heißt es wohl, während er anderen (falls
welche auftauchen) skandiert: „Das ist unser
Künstler!“ So sichert man sich in jede erdenkliche
Richtung ab. Ein gewiefter Fouché,
der als einfacher Maurer angefangen hat. Er
passiert gemächlich, aber ohne wie früher
für einen Schwatz anzuhalten. Besser ist das,
mag er denken. Als Grüßonkel
der Arbeiterklasse reitet
er den einfachen Esel, ein
drahtiger Kamerad für einen
gewichtigen Kicker. Immer
unterwegs ist der dicke
Mann. Er gleitet früh in den
Wald, macht Rast im Schnaakenmoor
oder dreht die kleine
Runde im Dorf, beginnend
von seinen Weiden über die
alte Landstraße, am Horst
der Krähen und den Tauben
vom von Appen vorbei wie
gewohnt. Der an dieser Stelle
sonst unbändig belfernde
Hund macht ausnahmsweise
keinen Lärm.
Manchmal ist zu schweigen einfach klüger.
Traurig. Das Problemwildschwein ist plattgemacht,
und wieder andere schämen sich
scheinbar. A. rennt weg und kommt besser gar
nicht erst. Ich gebe zu, es tut weh. Das kann
niemand weniger ändern oder rückgängig
machen als ich. Es hilft nicht, eigene Fehler
einzusehen, unmöglich nachzugeben, wohin
denn und wem? Das ist paradox und stabil
wie die Zwickmühle, die zum Ende des Spiels
und neuem Beginn in eine neue Mühle auf
einem frischem Brett zwingt. Nicht einen Millimeter
kann ich in die alte Richtung gehen.
„Haben wir es nicht gewusst!“, geiferten die
Schergen, falls ich es probierte und fänden
eitle Freude dran, über mich herzufallen, ihre
Steine auf mich zu schmettern. Das Dreckspack.
Stephans steh’ mir bei. Ein Füllhorn der
Kunst ist das Geschenk der Götter zu meinem
Trost.
Danke.
Müßig, eine alte Hexe ganz oben im Rat dafür
zu beschuldigen, ein Mädchen zur Marionette
zu gängeln, die Unbedarfte was weiß ich
glauben zu machen, ihr Gehirn zu waschen,
über die armseligste Ziege von allen droben
im Turm noch zu schreiben? Home-Office
ist ein willkommener Panzerwagen für eine
Trumpete der Moral, die, von Haus aus feige,
nur zu gern eine maskierte Schildbürgerin
ist und mit vorgehaltener Pappe strahlt. Sie
ist ihr eigenes Deepfake, renommiert wie
gedruckt, ist online noch besser als live. Sie
wird kaum ernst genommen, ist nur eine Frau
und vergleichsweise naiv emporgekommen.
Chaplin ist ihr zu hoch, Burt Lancaster zu breit
(das ist ja auch ein Mann), aber sie bekommt
es besser hin als ein Haloween-Kürbis. Smile.
Die Sicherheit und die Pflicht zu leiten und
lächeln gebietet es.
Unser gallisches Dorf. Der letzte, der noch
mitspielt, ist O. (ein alter Römer). Wahrscheinlich
ist er zu dumm, zu begreifen, dass unser
Theater ein Fake ist. Ein Mahner, er gibt den
ernsthaften Großonkel, erinnert an den Wert
des Lebens, der Familie, erklärt mir die Ehe;
so belehrt er mich ein jedes Mal. Seine Tochter
möchte ich nicht sein. Die kann nicht weg,
und zwar lebenslang. Diagnose: Golfplatz
Elternhaus. Was nimmt sich dieser Typ raus.
Ich bin nicht frech. Ich habe fertig mit der
Scheinheiligkeit selbst ernannter Prediger:
„das Buch gelesen“, mein Gott – hilf.
Ich spiele nun offen ohne Handicap. Nachdem
ich genug probierte, weiß ich Besseres
zu tun, selbst wenn die Normalität der anderen
unerreichbar bleibt. Die ist auch nicht
anzustreben, das
denke ich. Bleibt
nur zu malen. Eine
Arbeit für die Tonne.
Covid ist meine
letzte Freude und
eine Hoffnung gleichermaßen.
Eine
Freude, weil sie
die Pathologie der
Masse wieder als
eine Theorie, die
ernsthaft zu diskutieren
ist, in den
Fokus rückt. „Was
einmal gedacht
wurde, kann nicht
zurückgenommen
werden“, wusste
schon Dürrenmatt. Corona: Außerdem kann
man tatsächlich daran sterben, und das wäre
immerhin eine Abkürzung eines ansonsten
öden Lebensabschnitts.
„The whole man must move at once.“
Gesundes System oder infizierte Idioten? Es
ist jetzt an der freien offenen Gesellschaft,
ihre Werte zu verteidigen und Leistungsfähigkeit
im besten Sinne unter Beweis zu
stellen. Die letzte Chance für das Ganze, zu
zeigen, dass eine gemeinsame Bedrohung zu
einer geschlossenen Reaktion führt und das
System bindet, ohne die Einzelnen zu erdrücken.
Die Diktatur haben wir abgewählt.
Dorthin kommen wir nicht zurück: wo die
sind, die nicht begriffen, was unsere Eltern
lernten. Wenn doch, dann über den Umweg
Chaos. Unsere Zukunft ist besser oder ein infizierter
Scherbenhaufen. Anführer und Follower
– wenige stehen rum und sehen bloß zu.
Sie traben für ihren Traum, sie rennen für den
Chef, kämpfen um ihre kleine Welt. Seitdem
mir die eigene Existenz doch recht egal ist,
denke ich emotionslos.
„Schaun’ wir mal.“
Als stünde ich ungeschützt auf dem atomaren
(oder viralen) Versuchsgelände.
Und es ist mir egal.
:
Mrz 28, 2021 - Für immer geimpft 36 [Seite 36 bis 36 ]
Einfach aufgehört
Apr 2, 2021
„Ein Mensch aus dem vorigen
Jahrhundert“, wer das in meiner Kindheit
über jemanden sagte, wertete ihn ab.
Eine gängige Floskel, andere als altmodisch
abzustrafen. „Mercedesfahrer mit Hut“ oder
„lebt hinter dem Mond“ ging in dieselbe
Richtung. Kurz nach der Jahrtausendwende
trumpfte ein Bekannter mit dieser Neuinterpretation
auf: „Ich bin ein Mensch aus dem
vorigen Jahrhundert“, meinte er, verzweifelt
über seine digitale Unfähigkeit. Ich konnte
darüber lachen. Ein Humor, der nur bei denen
verfängt, die als Kind mit Menschen konfrontiert
waren, die vor 1900 geboren sind und
erschrecken, dass sie inzwischen selbst abgestraft
werden können.
Die Pandemie trifft gerade gut entwickelte
Staaten. Wir haben ein hohes Durchschnittsalter.
Ein Beleg dafür, wie verlässlich Medizin
und Versorgung der Mitglieder unserer Gesellschaft
sind. Wir können einen großen Teil
der nicht Arbeitenden mitnehmen, stoßen an
eine Grenze, die durch stetige Verbesserung
des Lebensstandards entstanden ist. Vor den
ersten Impfungen traf die Corona-Erkrankung
besonders die ältere Generation. Das sind
Menschen, die in früheren Jahrhunderten niemals
in solcher Breite dieses Alter erreichten.
„Wir haben unser Mindesthaltbarkeitsdatum
längst überschritten“, mit diesem Witz probierte
ein Freund zu punkten.
Das kam gut an.
„Soylent Green“ aus dem Jahr 1973 nimmt
diese Zukunft auf erschreckende Weise vorweg:
die Überbevölkerung des Planeten. Zu
dieser Zeit schien ein Flug zum Mars, und
dass wir ihn in nächster Zeit besiedeln würden,
realistisch. Heute, wo tatsächlich daran
gearbeitet wird, sind Zweifel angebracht; ob
wir das rechtzeitig schaffen, unseren Fortbestand
sichern können, die Erde bewohnbar
bleibt. Außerdem kommt es einigen, die
Raumfahrt als Kind fasziniert hat, heute nicht
mehr in den Sinn, sich für ein Leben im All zu
begeistern.
Mich irritiert, dass stetige Verbesserung und
Fortschritt ein Problem geschaffen haben.
Die frühzeitlichen Menschen wurden nicht
alt. In einer Kurzgeschichte von Jack London
beschreibt der Schriftsteller, wie die indigenen
Menschen in Stammesstärke weiterziehen
und ein Greis zurückgelassen wird. Der
Alte ist erblindet, zu schwach, um die Reise
in eine wärmere und fruchtbare Region ein
weiteres Mal schaffen zu können und weiß
das auch.
Ein Feuer brennt. Die anderen
brechen auf, er realisiert es an
Hand der Geräuschkulisse. Ich
erinnere nicht, ob und wie sich
jemand von ihm verabschiedet,
glaube aber, dass es Teil der Erzählung
ist. Das ist die einzige
Möglichkeit die sie kennen und
akzeptierter Brauch. Der Alte
legt gelegentlich Holz aus einem
kleiner werdenden Stapel nach,
damit das Feuer nicht verlöscht.
Er prüft, wie viele Zweige noch
in Reichweite sind. Er kann nicht
aufstehen, nichts sehen, und
es beginnt zu schneien. Lange
schon ist nichts mehr von der Sippe zu hören.
Erinnerungen kommen ihm, während es kälter
wird, der Holzvorrat kleiner. So ungefähr.
Das habe ich als Jugendlicher verschlungen,
dann ging das Buch verloren. Als ich’s später
in einem Geschäft entdeckte, habe ich es
wieder gekauft, noch einmal gelesen. Es steht
im Regal. (Jack London, Alaska-Erzählungen,
Das Gesetz des Lebens, Fischer 1992).
Einiges passierte seit der Steinzeit. Die Zivilisation
erfand den Fortschritt, der Mensch
zivilisierte sich fort. Zurück zur Natur? Immer
galt anderes als richtig. Vor wenigen Tagen
zappte ich in eine archäologische Sendung.
Gezeigt wurde im zufällig erwischten Moment
der Schädel einer Frau. Die lebte bei
Rom zur Zeit Cäsars, starb früh. Die Spezialisten
für die Epoche stellten Hypothesen
auf. Eigentlich ein Mädchen, etwa zehn Jahre
alt, könnte sie die Frau eines Soundso gewesen
sein oder eine Sklavin. Das wäre üblich
gewesen, und heute würden wir sagen, es
ist ein Kind. Das erklärte der Sprecher ganz
nebenbei. Keineswegs wurde eine Parallele
in die Neuzeit gezogen und unsere Sexualpraktiken
oder der Sinn von Ehe, Schutz der
Kinder und dergleichen diskutiert. Wie lange
dauert Kindheit? Wer bestimmt darüber:
Gott, die Natur, der Staat oder die Nachbarn?
Ist’s richtig wie es jeweils üblich ist; das wäre
eine andere Doku mit entsprechendem Thema.
Ich habe mich nicht mit der Sendung
aufgehalten, ein prägnanter Schnipsel blieb
hängen, mehr nicht. Diese Forscher bewerten
im Rahmen der jeweiligen Schublade, in der
sie tätig sind.
Schon immer wurde über junge Menschen
entschieden, wie es richtig sei, sich gehöre.
Die Macht der sogenannten Erwachsenen
bestimmt ihr Leben. Wer glaubt, heute sei
die Welt besser und er selbst menschlicher
im Sinne von gütiger, fairer und gerecht,
muss berücksichtigen, Teil der Gegenwart
zu sein und diese nur mitzugestalten, aber
nicht grundsätzlich erschaffen zu haben. Es
ist leicht aufzuzeigen, wie widersprüchlich
unsere Umgebung auch heutzutage kommuniziert,
und immer noch werden besonders
junge Menschen massiv getäuscht.
Als Kind wurde ich nach Marktschellenberg
„verschickt“, im Berchtesgadener Land, und
zwar 1976, wohl noch vor dem zwölften
Geburtstag im August. Mit dem für mich inzwischen
befremdlich anmutenden Begriff
bezeichnete man ganz offiziell eine Sozialleistung
der Krankenkasse. Das geschah für
sechs Wochen in den großen Ferien im Sommer.
Ich vermute diesen Grund: Meine Eltern
planten einen Neubau. In einer (besonders
für meine Mutter) typischen Weise wurde mir
nur angedeutet, was im Gange war. Nach einem
Gespräch mit Dr. Hofeld entschied der
Kinderarzt, ich sei zu leicht für mein Alter, zu
dünn. Die Barmer-Ersatzkasse hätte in den
Bergen ein (schönes) Kinderheim, dort müsste
ich hin, und dann würde das besser.
Als ich zurück kam, war unser Haus bereits
abgerissen, ein Schock für mich. Ich solle
mich freuen über das großartige Projekt, ein
Geschäftshaus zu bauen, das spürte ich, und
dann freute ich mich nach Kräften. Tatsächlich
hatte ich nicht zugenommen, aber das
interessierte niemanden. Ich fühlte mich die
meiste Zeit vollkommen einsam und verlassen
in Berchtesgaden.
Dort sah ich zum ersten Mal Filme der populären
Serie „Don Camillo und Peppone“ im
Fernsehen. Später habe ich mehrere originale
Bücher dieser Geschichten für die Zeitung
von Guareschi gelesen. Neben Steinbecks
„Von Mäusen und Menschen“ mit John Malkovich,
empfinde ich die Bassa-Verfilmungen
als nah am Text gelungene Adaptionen. Mit
den beliebten Karl-May-Filmen konnte ich
weniger anfangen. Andere haben auch Probleme:
Spencer Tracy könne nicht der alte
Mann sein, den Hemingway gemeint habe,
fand Otto Ruths, mein alter Professor. Mit
Fernandel, der ja tatsächlich Franzose war,
J. Tati in „Mon Oncle“ oder „Ferien am Meer“,
und natürlich Chaplin in vielen Filmen, ist
meine Erinnerung an früher untrennbar verwoben.
Den „kleinen Prinzen“ von Saint Ex’
habe ich natürlich gelesen und weitere Bücher
des Fliegers und wunderbaren Autors.
Mich hat der Wunsch umgetrieben, wie die
zu werden, die ihre Kindheit nicht vergessen
haben. Warum? Das könnte ich erst heute sagen:
Das Beste am Älterwerden ist wohl die
zunehmende Freiheit der Bewertung, also
frei zu werden vom Zeitgeist und die Mode
wahlweise ins persönliche Dasein zu integrieren
oder abzulehnen. Das konnte ich nicht
begreifen. Aber es würde sich mal später lohnen,
das war schon klar.
Guareschi beschreibt das Fahrrad in der Bassa.
# Man kann nicht verstehen, dass es auf dem
Erdenfleck zwischen dem großen Fluss und
der großen Straße eine Zeit gegeben haben
sollte, in der das Fahrrad unbekannt war. Tatsächlich
fahren in der Bassa alle Rad, von den
Achtzigjährigen bis zu den Fünfjährigen. (…).
Man muss wirklich lachen, wenn man die
Fahrräder der Städter sieht, diese funkelnden
Dinger aus besonderen Metallen, mit
elektrischer Beleuchtung, Gangschaltungen,
patentierten Werkzeugtaschen, Kettenschutzdeckeln,
Kilometerzählern und anderen
derartigen Dummheiten. Das sind keine
Fahrräder, sondern Spielzeuge zur Unterhaltung
der Beine. Das wirkliche Fahrrad muss
wenigstens dreißig Kilo wiegen. Der Lack
muss bis auf kleine Spuren abgekratzt sein.
Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 37 [Seite 37 bis 40 ]
Ein richtiges Fahrrad hat unbedingt nur ein
einziges Pedal. Vom anderen Pedal darf nur
die Achse übrig sein, die von den Schuhsohlen
so abgeschliffen wird, dass sie fantastisch
glänzt, und die das einzige glänzende Ding
am ganzen Apparat sein darf.
Die Lenkstange, natürlich ohne Handgriffe,
darf nicht idiotisch rechtwinklig zur idealen
Radfläche stehen, sondern muss um wenigstens
zwölf Grad nach links oder rechts verstellt
sein. Das wirkliche Fahrrad hat keinen
hinteren Kotflügel; es hat nur den vorderen,
an dessen unterem Ende ein gehöriges Stück
von einem Autoreifen pendeln soll, womöglich
aus rotem Gummi, um das Anspritzen zu
verhindern.
Es kann auch den hinteren Kotflügel haben,
wenn dem Radfahrer der Kotstreifen lästig
fällt, der sich sonst bei Regen auf seinem
Rücken bildet. In diesem Fall muss aber der
Kotflügel seitwärts teilweise so verbogen
sein, dass er dem Radfahrer das amerikanische
Bremsen erlaubt, das darin besteht, dass
man mit dem Hosenboden das Hinterrad blockiert.
Das richtige Fahrrad, das die Straßen der
Bassa bevölkert, hat nämlich keine Bremsen,
und seine Reifen müssen so abgenützt sein,
dass man ihre Löcher mit Manschetten aus
alten Pneus schließen muss, wodurch jeder
Reifen jene Verdickungen erhält, die dann
dem Rad eine geistvoll aufrüttelnde Bewegung
anzunehmen erlauben. Dann erst wird
das Fahrrad ein wesentlicher Bestandteil der
Landschaft. (Giovannino Guareschi, Don Camillo
und seine Herde, Rowohlt 1957).
Was würde der Autor zu den heute anzutreffenden,
elektrisch verstärkten Rentnerbomben
mit Helm und gelber Tüte darauf sagen?
Sie donnern mit Warnweste um ihren Leib
gewurstet durch. Sie haben einem Spiegel
am Lenker, können den Hals nicht frei drehen.
Daran ändert ihr Fitness-Training in einem
Studio nichts. Für alles gerüstet, vom
„Trekking“ über „Spinning“ bis ins komplette
Beknackting. Dicke Taschen am Hinterrad.
Sie kommen auf gepolstertem Sattel daher,
der eine Sitzfläche der Größe hat, jeden Elefanten
zu transportieren und benötigen entsprechende
Federung. Wenn möglich, fahren
sie Tiefeinsteiger. Eingebildet fordernd, ihrer
vermeintlichen Wichtigkeit bewusst aus der
Wäsche schauend, klingeln sie sich den Weg
frei. Erkennbar sich nicht wahrnehmend, sitzen
diese unnötigerweise dummen Menschen
in schlapper Körperhaltung auf dem Bike und
glauben sie seien normal und deswegen ist
es in Ordnung. In Anbetracht der Masse ihres
Vorhandenseins und dem Wirtschaftszweig,
den sie gleichermaßen geschaffen haben,
wie Tand produzierende Firmen nutzbare
Konsumenten erst formten, immer neue Accessoires
erzwangen, ohne die so einer nicht
aufsteigt, sind sie tatsächlich normal. Zu Fuß
nur schnaufend unterwegs oder mit nachgeschleppten
Walking-Stöcken rumhetzend,
weil ihnen wer sagte, das sei gut für sie – das
ist, was ich sehe.
Der verblödete Mensch ist alltäglich geworden.
Er nimmt mindestens fünf verschiedene Pillen
am Tag ein, die ihm drei verschiedene
Ärzte verschreiben. Dazu noch einige Präparate
aus der Werbung. Die zurzeit vorgeschriebene
Maske hängt ihm vollgesabbert
unter dem Kinn. Wenn irgendwo eine Warteschlange
pandemiebedingt anzutreffen ist,
tut er so, als bemerke er’s nicht und mogelt
sich direkt in das Geschäft, die Bankfiliale.
Der sich selbst, was Psyche und Physis betrifft,
unbewusste aber zwanghaft drängelnde
Idiot ist Alltag.
# Der „Marlboro-Man“ ist an Lungenkrebs gestorben
Früher haben die Menschen geraucht und
getrunken, auch bei der Arbeit. Heute wird
nicht gesünder gelebt, aber mehr verboten
und geregelt. Auf Youtube sind zahlreiche
Zusammenschnitte mit Werbung des HB-
Männchens eingestellt. Vermutlich aus Gründen
des Urheberrechts sind viele Filme um
die Schlussphrase der Szenen gekürzt, in denen
eine freundliche Stimme sagt: „Wer wird
denn gleich in die Luft gehen?“ und das Produkt
empfiehlt.
Eine der Episoden zeigt
den Mann, der das Baby
zum Hüten an der Wohnungstür
übernimmt. Natürlich
brüllt das Kind im
Kinderwagen am Stück,
und Bruno gibt alles, das
Balg zu bespaßen mit den
bekannten Katastrophen
und dem unverwechselbaren
Gezeter. Dann geht
er wie gewohnt durch die
Decke. Anschließend, in
der ungekürzten Fassung,
zündet sich das HB-Männchen eine Zigarette
an. Genüsslich und entspannt qualmend
schaukelt er den Kinderwagen, und das Baby
gibt humorige Gluckslaute von sich.
Man stelle sich die Empörung heute vor.
Die täglich präsentierten Spots für Abführoder
Schlafmittel, Entspannungsprodukte
und Präparate zur Pflasterung des gereizten
Darms wie auch die vermeintlich nötigen B-
Sprintvitale sind akzeptiert.
Hyaloron-Produkte mit pharmazeutischen Inhaltsstoffen
haben Frühstückscerealien und
linksdrehende probiotische Kulturjoghurts
abgelöst. Diese Filme stören offenbar nicht
so, wie armselige Reste der Tabakwerbung
(mit Warnhinweis absurd doppeldeutig), gegen
die verbittert gekämpft wird. Auf Schritt
und Tritt farbenfreudige Großreklame, die
meine Jugend begleitet hat, bis die Zensur sie
zurückstutzte. Man kommt nicht umhin, die
Verbesserung, den Fortschritt zu bemerken.
Die Leute werden älter. Das beweist, dass die
Medizin das Leben verlängern kann. Nie wurde
der Krebs so bekämpft wie heute.
Großartig.
Ich habe schon gelebt und fuhr Auto, als
zwingend der Gurt vorgeschrieben wurde.
Bald darauf bekamen die Fahrzeuge auch
hinten welche. Eine schrittweise voranschreitende
Entwicklung, Menschen in Fahrzeugen
besser zu schützen. Es dauerte, bis Gurte im
Reisebus verpflichtend wurden. Die bösen
Fahrzeughersteller und die dummen Bürgerinnen
und Bürger leisten noch Widerstand
wie die Gallier bei Asterix. Die größtmögliche
Sicherheit für den Menschen wäre, das Haus
gar nicht erst zu verlassen und Fahrzeuge zu
meiden, und vielleicht könnte man Warnhinweise
an die Bushaltestellen schreiben: „Busfahren
kann tödlich sein!“ Die inzwischen mit
Plexiglas vor dem Corona-Virus geschützten
Fahrer der städtischen Linienbusse sind nicht
angeschnallt, die Fahrgäste stehen rum. Ich
habe einmal eine Vollbremsung aus gutem
Tempo auf Null runter mit einem Gelenkbus
erlebt, Luruper Chaussee: „Tut mir leid Leute,
ein Hund“, meinte der Busfahrer lapidar. Das
bleibt mir unvergesslich.
# Au-a!
Eine Helmpflicht für Fahrgäste, und der Helm
muss bereits vorher an der Haltestelle aufgesetzt
werden, das wird kommen. Dann
die allgemeine Helmpflicht für Fußgänger,
anschließend die in öffentlichen Gebäuden.
Später im privaten Bereich, Schlafzimmer
ausgenommen, noch. Realität heute: In
den Wartehäuschen tragen die Reisenden,
schon bevor der Bus kommt, nach Vorschrift
eine medizinische Maske. Die
Krankheit ist präzise unter dem
drei Quadratmeter umschließenden
Dachüberstand identifiziert,
von der HVV nach Hausrecht
juristisch unangreifbar
konzipiert, aber auf dem Gehweg
daneben ist kein Corona
und du kannst gern mit Meyer
quatschen.
Die Bank im Staddi-Schenefeld
schreibt ungefähr dies am Eingang:
„Hier tragen alle Maske. Wenn
Sie in die Filiale kommen, tragen Sie bitte
eine medizinische Maske. Wenn Sie aus welchem
Grund auch immer keine Maske möchten
oder mit medizinischem Attest davon
befreit sind, sehen Sie zu, Ihr Anliegen anders
zu erledigen. Hier dürfen Sie nur mit Maske
rein.“
# Keine Diskussion
Das Schild an der Filiale bremst Querdenker
und medizinisch wehleidige Egospinner von
Beginn an aus. Fein. Das Hausrecht und der
Föderalismus zeigen die Macht einer Gruppe
auf, die ihre Grenze zu ziehen weiß. Unsere
individuelle Freiheit. Wir diskutieren auf dem
Rettungsboot mit dem Kapitän über den zu
steuernden Kurs, bis wir endlich zusammen
versaufen und verhungern auf dem Meer.
Mein Dorf.
Der Schlachter im (unweit der Bank) selben
Einkaufzentrum (in dem konsequent Maskenpflicht
herrscht) beheimateten Supermarkt
hinter seiner Fleischtheke ist ein fröhlicher
Mensch. Das ist kein Spinner. Der trägt keine.
Er hat ein feistes, gelbes Schild auf der Brust,
darauf steht in etwa: „Fragen und belehren
Sie mich bitte nicht. Ich bin aus medizinischen
Gründen von der Maske befreit.“
Mir gefällt das. Ich finde es nicht schlimm,
diese Maske zu tragen. Schlimm finde ich
diejenigen, die herumstreiten. Statt darauf zu
achten, Abstand zu halten, schnauzen sie dich
lieber aus fünfzig Zentimeter Entfernung an,
wenn du probierst, den Aushang an der Bushaltestelle
zu lesen.
Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 38 [Seite 37 bis 40 ]
Ich kann kontern. „Gehen Sie doch dahinten
hin“, preie ich die Alte an, ohne sie zu respektieren,
setzte böse nach: „Ich kenne Sie. Sie
dackeln hier regelmäßig rum. Wenn Sie mich
ein weiteres Mal als ,Idioten‘ bezeichnen, zeige
ich Sie an!“ Daraufhin bekommt die Olsch
es mit der Angst zu tun, dreht sich um.
Die Doofe bleibt aber, mich nahezu anrempelnd,
nach dem Motto „mein Platz!“ auf
Tuchfühlung stehen. Sie könnte locker einige
Meter unterhalb des Regendachs beiseite
treten, wenn sie sich um unsere Gesundheit
Sorgen machte. Ich lese endlich den Aushang,
weil mein 285er nicht wie gewohnt fährt, so
gut es geht in dieser Position, diszipliniere
mich, die Klappe zu halten.
Dann steigt Nancy zufällig am Rathaus ein,
und das entschädigt nun wirklich.
Vor wenigen Tagen bin ich auf dem Gelände
des Hamburger Yachthafens unterwegs. Das
ist vergleichbar mit einem großen privaten
Parkplatz. Es gibt mehrere Bootshallen, dazwischen
sind Verbindungswege und aus
Gründen des Flutschutzes erhöhte Plateaus
mit dort abgestellten Schiffen. Eine Anlage,
die von Fahrzeugen nur in Schrittgeschwindigkeit
genutzt wird. Es beginnt zu regnen,
als der Hafenmeister (mit seinem kleinen
Fahrrad unterwegs) meint, mir eine andere
Halle am hinteren Ende des Geländes zu
empfehlen für mein Anliegen. Ich beschließe,
ihm mit dem Wagen zu folgen, statt das Auto
stehen zu lassen, wo es geparkt ist, und zu
Fuß mitzugehen. Es hört gerade auf, „langsam“
zu regnen.
# Natürlich schnalle ich mich nicht an
Schon weil die ersten Meter ausbiegend rückwärts
zu fahren sind, die nützliche Rückfahrkamera
in diesem Fall schlechter informiert
als eine beherzte Rumpfdrehung, der erweiterte
Schulterblick, den ich in der Fahrschule
lernte und in meinem Alter noch mühelos
zustande bringe. So weit so gut.
Kaum, dass ich ins Vorwärts umgeschaltet
habe, beginnt überraschend ein Warnton.
Wir haben das Fahrzeug neu. Ich kann fahren,
aber ich interessiere mich nicht für Autos,
denke naiv: „Ach so, das ist, weil ich den
Gurt nicht anlegte“, und ignoriere das Signal.
Vielleicht kann man es abstellen? Ich bin
ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert.
Ich folge dem Bootswart auf dem Klapprad.
Man glaubt es nicht: Nach wenigen fünfzig
Metern steigert sich das mahnende Piepen in
ein infernalisches Pfeifen, so was von penetrant
(!) – und sicher nicht abstellbar. Das wird
mir schon klar.
# Schöne neue Welt, ich will hier weg
Keinen Krankenwagen kann man sich als
Fußgänger noch gefahrlos anhören, wenn es
ihm gefällt, direkt neben dem Gehweg, auf
dem man läuft, sein blödes Tatü loszulassen!
Das ist lauter geworden. Eine alberne Welt,
finde ich. Wir werden älter, ja, manches ist sicherer,
natürlich. Es gibt die tollsten Produkte,
das stimmt. Nichtsdestotrotz sind viele „Zivilisationskranke“
unter uns, die an den Widersprüchen
aus Erwartungen, Absicherungen
und erhofften Lustbefriedigungen unserer
Zeit scheitern, wie immer schon Menschen in
jeder Epoche nicht klar gekommen sind. Das
stellt sich nur anders dar.
Als ich klein war, erzählte mein Vater gern
von früher. Möglicherweise ist das ein erblicher
Charakterzug. Unsere Familie käme aus
dem Mecklenburgischen hieß es, und die Vorfahren
wären als Hugenotten aus Frankreich
ausgewandert. Tatsächlich machten meine
Eltern einen Ort aus: Dingelstädt, wälzten
alte Kirchenbücher.
Vorfahre Emil-Hermann hätte „seine Geige
auf einem Zaunpfahl zerschlagen“, der junge
Mann wäre es leid gewesen, das „Gefiedel“
erlernen zu müssen. Es hieß, er hätte sich zu
Fuß auf den Weg nach Hamburg gemacht,
wurde Seemann. Mit seiner holländischen
Frau begründete der Seefahrer eine Familie
mit zahlreichen Kindern in Finkenwerder.
Willy, der verstorbene Vater von meinem
„Erich“ (den ich ganz selbstverständlich beim
Vornamen nannte, was irgendwie richtiger
war, als z.B. „Vati“ zu sagen), wurde von ihm
als „der Alte“ bezeichnet.
Wohl auch, weil er „Schipper“ im Hafen war,
ein Kapitän.
Der Alte. Dessen Bruder Johnny wurde vom
Vater zur Seefahrt gezwungen. Auf dem
Schiff vom Emil-Hermann, der dort als Steuermann
(oder Kapitän) in der Weizenfahrt
nach Australien segelte, musste der Junge
an Bord mitfahren. In einem fernöstlichen
Hafen trickste der Vater seinen Sohn aus und
ließ ihn nach einem Landgang fassungslos
allein am Ufer zurück. Der Junge sah gerade
noch, wie die Bark nah der Kimm mit dem
Schlepper in See ging. Das war tatsächlich
als Erziehungsmaßnahme gedacht, um einen
„Mann“ aus ihm zu machen. Es wurde erzählt,
Johnny hätte daraufhin nie wieder ein Wort
mit seinem Vater gesprochen, nachdem es
ihm gelang, ein Schiff und eine Heuer nach
Hamburg zu bekommen. Er war mit vielleicht
vierzehn Jahren ein Kind (und ohne Englisch
zu können) in der Fremde allein zurück gelassen
worden.
Später: Johnny trank.
Der verkaufte Fisch und anderes in einem Geschäft
am Hafen, als Adolf Hitler an die Macht
kam. „Dat gift Kriech!“, waren sich Willy und
sein Bruder sicher. „Un’ dat, wo ick grood up
de tweete Flasche an’ Doog trainier“, befand
Johnny – und meinte Hochprozentiges.
Trinken war nicht ungewöhnlich.
Mein Vater ist zunächst Maschinenschlosser
in Wedel gewesen. In der Schlosserei war es
ganz selbstverständlich, Bier im Rahmen der
Beschäftigung (mindestens in der Pause) zu
trinken. Und es gab diejenigen, die „Holsten“
bevorzugten und die anderen, die nur „Astra“
tranken.
Fett zu essen, das Trinken und zu rauchen waren
gesellschaftlich akzeptiert.
Erich las gern Simenon, bei mir stehen einige
Maigrets im Schrank. Im Internet habe ich
das erste Kapitel eines bekannten Romans
gefunden, an den ich mich gern erinnere. Ich
probiere es hier (stark) gekürzt und auf die
Bier- und Sandwichbestellungen verdichtet
zu zitieren.
# Aufregung am Quai des Orfèvres
Ab halb vier hob Maigret von Zeit zu Zeit den
Kopf, um auf die Uhr zu sehen. Um zehn vor
vier unterschrieb er das letzte Schriftstück,
das er soeben durchgesehen hatte, schob
seinen Lehnstuhl zurück, wischte sich den
Schweiß von der Stirn und betrachtete unschlüssig
die fünf Pfeifen im Aschenbecher,
die er geraucht hatte, ohne sie hinterher
auszuklopfen. (...). Es war der 4. August. Aber
obwohl die Fenster weit offen standen, hatte
es sich kein bisschen abgekühlt; heiße Luft
drang herein, die von dem geschmolzenen
Asphalt und dem glühenden Pflaster aufstieg.
Man wartete fast darauf, dass auch die Seine
anfing zu dampfen wie kochendes Wasser auf
einem Herd.
Die Taxis und Busse auf dem Pont Saint-Michel
fuhren langsamer als sonst, schleppten
sich dahin, und nicht nur bei der Kriminalpolizei
waren alle Leute in Hemdsärmeln. Auch
auf den Gehsteigen trugen die Männer ihre
Jacketts unter dem Arm, und vorhin hatte
Maigret sogar Leute in Shorts gesehen, wie
am Strand. (...).
Maigret erhob sich mühsam, nahm eine der
Pfeifen, klopfte sie aus, zündete sie an und
ging dann zu einem der Fenster, an dem er
stehen blieb, um das Restaurant am Quai
des Grands-Augustins zu beobachten. Es hatte
eine gelb gestrichene Fassade, und man
musste zwei Stufen hinuntersteigen, um in
den Gastraum zu gelangen, der gewiss fast so
kühl war wie ein Keller. Die Theke war eine
richtig altmodische Zinktheke, an der Wand
hing eine Schiefertafel, auf der mit Kreide
geschrieben stand, was es zu essen gab, und
es roch immer nach Calvados.
Bis zu den Buden der Bouquinisten am Seine-
Ufer roch es nach Calvados.
Reglos blieb er vier oder fünf Minuten stehen,
zog an seiner Pfeife, sah, wie ein Taxi unweit
des kleinen Restaurants hielt und drei Männer
ausstiegen und die Stufen hinuntergingen.
Die ihm vertrauteste der drei Gestalten
war Lognon, der Inspektor aus dem 18. Arrondissement,
der von fern noch kleiner und
dünner wirkte. Maigret sah ihn zum ersten
Mal mit einem Strohhut.
Was würden die drei trinken? Bier zweifellos.
(...).
Alles verlief wie geplant. Maigret ging, ein
wenig schwerfällig und ein wenig unruhig,
zurück in sein Büro (...).
Um sechs Uhr brachte der Kellner der Brasserie
Dauphine ein Tablett mit Biergläsern.
(...). Wenn Bier gebracht wurde, war das ein
Zeichen, dass Maigret sich auf ein langes Verhör
einstellte. (...). Um halb acht hatten sich
bereits fünf Presseleute im Flur versammelt,
und sie sahen den Kellner von der Brasserie
Dauphine mit neuem Bier und Sandwiches
heraufkommen. (...). Nacheinander verschwanden
die Reporter in einem kleinen
Büro am Ende des Flurs, um ihre Zeitung anzurufen.
(...).
„Sollen wir uns auch Sandwiches kommen
lassen?“
„Ach was!“
„Und Bier?“
Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 39 [Seite 37 bis 40 ]
Die Sonne verschwand hinter den Dächern,
aber es war noch hell. Zwar flimmerte die
Luft nicht mehr, die Hitze aber war noch immer
drückend.
Um halb neun öffnete Maigret seine Tür. (...).
„Gehen Sie jetzt nach Hause?“
„Wie spät ist es?“
„Halb zwölf.“
„Nun, dann ist die Brasserie Dauphine ja noch
offen, und ich werde dort eine Kleinigkeit essen.“
Maigret, Janvier und Lapointe brachen gemeinsam
auf. Zwei, drei Journalisten folgten
ihnen bis in die Brasserie, wo sie an der Theke
einen Schnaps tranken, während die drei
Männer sich in den zweiten Raum setzten
und mit müden, sorgenvollen Mienen etwas
bestellten. (Georges Simenon, Maigret stellt
eine Falle, zuerst erschienen 1955).
Die Menschen einer Generation wachsen
in der für die Zeit typischen Umgebung auf.
Vor einigen Jahren war ich mit der S-Bahn
unterwegs. Lange vor der Pandemie. Aber
noch nicht so lang her. Auf einem Sitzplatz
am Fenster fuhr ich rückwärts und konnte in
die Auwiesen schauen. Mir direkt gegenüber,
dass sich beinahe unsere Knie berührten, saß
eine junge Frau im Alter einer Studentin, Anfang
zwanzig, hübsch, dünn, schwarzes Haar.
Wir schauten aus dem Fenster, einander auch
einige Male kurz an, sie zog das Smartphone
hervor, steckte es wieder weg, wie man es
eben so macht.
Als wir an den Hochhäusern vom Autal und
dem Bahnübergang anlangten, begann eine
kleine Zeitreise scheinbar.
Das Mädchen, im Emo-Style, zieht wie selbstverständlich
eine Packung Tabak aus der
Jacke und rollt mit flinken Fingern eine Zigarette.
Sie leckt den Papierrand an, klebt
routiniert ein perfektes, schneeweißes Röhrchen
zusammen, steckt es, als der Zug den
Bahnsteig erreicht, in den Mund und steht
auf, ohne mich noch einmal anzusehen. Sie
geht durch die erste offene Tür, und während
ihr Fuß die Schwelle überschreitet, brennt
schon ihre Zigarette.
Als wäre es früher.
„Kleine Freunde“, fand einmal jemand, so wie
Kaffee, das seien Zigaretten. Aber das hörte
ich 1985 oder so. Als mich damals ein Amerikaner
besuchte, meinte der über seine Heimat:
„The land where no one smokes.“ Bei uns
aber war zu rauchen selbstverständlich.
Ich habe in Stade angefangen. Bis dahin
hatte ich nur gelegentlich geschnorrt. Wir
lagen mit den Jollen im Päckchen, ein schöner
Sommertag. Statt Segelfreundin Kocki
wie gewohnt zu fragen, ging ich ohne mich
zu erklären an Land zum Kiosk um die Ecke.
Ich kaufte eine Schachtel „Prince“ (weil Telle
die rauchte), und das wollte ich auch. Kocki
war entsetzt:
„John! Du hast eigene!?“
Meine Mitseglerin war es gewohnt, mir ihre
anzubieten und fand es gar nicht gut, dass
ich mir gerade eine erste eigene Schachtel
kaufte.
Sie sei um meine Gesundheit besorgt.
Ich habe geraucht bis etwa kurz vor der Jahrtausendwende,
nur gut zehn Jahre.
Dann habe ich wieder aufgehört.
Ich benötigte eine Schachtel am Tag und
eine zweite mindestens, wenn ich abends irgendwo
mit Leuten unterwegs war. Die Wände
meiner Wohnung waren gelb davon. Ich
arbeitete zu Hause am Rechner und rauchte
währenddessen. Mein Mitsegler Jan, mit dem
ich die Regatten fuhr, ermahnte mich oft. Man
könne nicht Sport machen und rauchen. Ich
war ganz dünn und hatte viel Ausdauer bei
schlechtem Wetter, konnte gut hängen und
mühelos in den Mast der Jolle klettern, um
etwas zu klarieren. Ich ging jeden Dienstag
zum Zirkel-Training bei Norbert. Ich machte
dreizehn gute Klimmzüge mit der korrekten
Handhaltung. Ich war bestimmt nicht kräftig,
aber ausdauernd und hatte bei der Bundeswehr
Gefallen daran gefunden, „Fünftausend“
zu laufen. Einige Jahre, und das waren die, in
denen ich Raucher war, bin ich durchaus fit
gewesen. Bei unserer Hochzeit hatte ich nach
einer Zeit, in der ich auch Pfeife rauchte, bereits
aufgehört.
Das gehört auch dazu: Ich wurde recht fett,
trainierte kaum, gab meine ambitionierte
Einstellung auf, obschon ich noch viele Jahre
in der Bezirksmeisterschaft mit guten Platzierungen
gesegelt bin. Als Sportler sehe ich
mich gar nicht. Genauso wenig als „Skipper“
im Sinne der Zeitschriften:
auf einen „Törn“ gehen, Modejacke
tragen, Seglermütze
– nein. Ich bin mit dem
Segeln und an der Elbe
groß geworden. Niemand
kann mir das nehmen, eine
Liebe zur Jolle und unsere
familiäre Vergangenheit.
Hamburger und Schulauer
Geschichte, über Hottl’, die
Nabers und Horst „Kohlensack“
Körner zurückerinnert,
bis zu den Urgesteinen Adje,
„Waldi“ Sellschopp, Karl
Rehder (Kuddl Dutt) oder Theo Tetzen mit
„Moi Bris“. Manche haben mit den Jahren immer
neue Schiffe gekauft, die entsprechend
ihrem beruflichen und familiären Status angepasst
mitgewachsen sind. Aber ein großes
Boot zu besitzen, mit dem entsprechenden
Komfort, kommt mir nicht in den Sinn. In die
vielen Preise, die ich gewonnen habe, stellte
ich normalerweise Pinsel, bewahrte Kram
drin auf, und bis heute liegen die Pötte rum.
Ich mache mir nichts daraus.
Was man tut oder lässt ist kaum entscheidend,
in Bezug auf die Befriedigung, damit
richtig zu liegen, sondern wie es individuell
Sinn macht. Das Rauchen an sich zu verdammen
ist vollkommener Quatsch. Sich beim
Rauchen im Zwiespalt zu befinden, zwischen
dem Genuss und der Gefahr, krank zu werden,
zermürbt die Psyche und bedeutet ein handfestes
Problem. Die gut gemeinte Idee eines
allgemein gesunden Lebens für jeden der nur
wolle maskiert das leider.
Ich rauchte auch Zigarillos.
Regelmäßig fuhr ich nach Kiel, der Grund:
unsere Fernbeziehung, die über ein Jahr lang
andauerte. Einmal war ich zu früh in Altona.
In Bahnhofsnähe ist das „Mercado“. Es kann
dort gewesen sein oder im Presse-Shop direkt
an den Gleisen. Ich lief hinein, um zu
bummeln, nach einer Zeitschrift für die Fahrt
zu suchen. In der Mitte einer größeren Verkaufsfläche
lag rund um eine Säule ein unordentlicher
Haufen von beträchtlicher Höhe,
wie hingeschüttet, mit Exemplaren vom
„Endlich Nichtraucher!“, Allen Carr. Ein blaues,
schmales Taschenbuch. Oben die Headline,
drunter eine Hand, die zur Faust geschlossen
eine Packung mit Zigaretten zerknüllt.
Das habe ich mir gekauft.
Ich habe es im Zug gelesen.
Rauchend in einem Zug durchgelesen?
Nicht ganz: Ich benötigte die Rückfahrt nach
dem Wochenende, um es zu schaffen, alles zu
lesen und zu verinnerlichen, rauchte dabei
die ganze Zeit, wie vom Autor geraten. Gehirnwäsche,
beschwörend logisch, eingängig
und zupackend geschrieben. Ein Bestseller.
Wie spannend kommt der populäre Text daher!
Carr schlägt vor, sich nicht selbst unter
Druck zu setzen. Es ginge darum, einen exakten
Zeitpunkt mit dem Rauchen insgesamt
aufzuhören, in der nahen Zukunft bewusst zu
planen. Also nicht die Sache auszudünnen
und etwa Nikotinpflaster draufzupappen oder
Kaugummi zu kauen. Ganz oder gar nicht. Das
Problem sei nicht das Aufhören.
Es käme darauf an, nicht wieder anzufangen.
Mit jeder zu Ende gerauchten
Zigarette höre man auf. Das
Problem sei, dass darauf die
nächste angesteckt würde:
Rauchen sei eine Sucht, keine
Gewohnheit.
„Ich mag Hummer“, schreibt
Carr.
„Deswegen esse ich nicht fünfundzwanzig
Stück davon am
Tag und morgen wieder und
so fort.“
Es schien ganz einfach, mit seiner Methode
aufzuhören. Ich las das, verschlang dieses
Buch wie einen Krimi. Es ist scheinbar ganz
schnell und plakativ, billig (wie die Bild-Zeitung)
an nur einem Tag herunter geschrieben.
Ein Groschenroman.
Mitte der folgenden Woche hörte ich dann
auf und rauche bis heute und in alle Zukunft
nie wieder eine.
:)
Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 40 [Seite 37 bis 40 ]
Weil Hoffnung ändert
Apr 10, 2021
Weltbester von irgendetwas zu sein, ist nicht
nötig. Weiter zu lernen, herauszufinden, was
wichtig ist und vor allem dort zu suchen, wo
es lohnt, schon. Im Jahr 2016 schien meine
kleine Welt doch ganz in Ordnung zu sein.
Das würde nicht so bleiben, so viel war uns
schon klar. Nach seinem Schlaganfall war
mein alter Vater Erich auf Hilfe angewiesen
und wurde zu Hause von meiner Mutter gepflegt.
Depressiv hoffte er auf gar nichts, sah
keinerlei Zukunft für sich und lebte wie zur
Strafe, nicht gehen zu können. Dass er dem
traurigen Ende näher kam, konnten wir nicht
ausblenden. Im Frühjahr wurde zudem eine
ärztliche Untersuchung meiner Mutter notwendig;
und scheinbar aus heiterem Himmel
endete jede vertraute Vorstellung gemeinsamer
Zukunft. Mit der feststehenden Diagnose
ihres baldigen Todes konfrontiert, strukturierten
wir die verbleibende Zeit, in der noch
so viel geregelt werden musste. Es blieben
wenige Monate dafür.
Kurze Pause: Im Sommer waren wir wie gewohnt
für zwei Wochen auf Fehmarn, während
meine Eltern zu Hause begannen, sich
dem Unvermeidbaren zu stellen. Der Herbst
bedeutete für alle eine nicht gekannte Extreme.
Meine Mutter starb dann wie vorausgesagt
noch innerhalb des Jahres im Dezember.
Auch in jenem Sommer, dem letzten mit Eltern,
voll mit düsterer Vorahnung, zeichnete
ich. Im Kaufhaus Stolz kaufte ich mir ein kleines
Notizheft. Mit Bleistift machte ich meine
Skizzen wie gewohnt. Einmal habe ich mir
bei Rüders eine Pferdedecke geborgt, und
dort am Boden sitzend, wo die Skulptur mit
den Badenixen und ihren wehenden Handtüchern
das Auge erfreut, die Leute gezeichnet.
Ich erinnere, eine Mutter mit Tochter kommt
vorbei, meint: „Sieh mal, der Mann zeichnet
auch.“ Schnell betont sie: „Aber nicht so schön
wie du!“ Bekräftigend stellt sie’s nochmal fest.
Ohne überhaupt stehenzubleiben, zieht sie
ihre Tochter, die gern noch schauen möchte,
mit der Hand weiter. Die Mama macht Tempo,
ist die Wichtigste unbestritten.
Sie wiederholt es extra aufgesetzt:
„Du malst viel schöner!“
„Nein“, widerspricht ihr das Mädchen
ganz leise (und vermutlich
ungehört).
Ich war schon als Kind herausragend
im Zeichnen. Es tut weh,
dummen Eltern zuzuhören. Ich
war gut, wurde gelobt, aber ein
Wunderkind bin ich nicht gewesen.
Ich muss daran denken, weil
ich durch Zufall auf „Cole Trumpet“
gestoßen bin, sie ist eines.
Wie soll ich’s erklären? Ich male einfach. Ich
kann das, es beschäftigt mich. Ich bin kein
Sammler von Kunst, ich stelle meine nicht
aus. Ich fülle meine Wände mit Bildern. Wenn
ich sparsam lebe, reicht was ich habe, wenn
nicht, nehme ich einen Job an oder gehe betteln,
verblöde freiwillig gern. Ich habe fertig.
Ich suche nichts nur so. Seit dem Erlebten in
den vergangenen Jahren (mit der Politik hier
im Dorf), dem brutalen Ende, und damit meine
ich nicht das Sterben meiner Eltern: nie
wieder Kunst. Interessiert mich nicht. Kaum
einmal begeistere ich mich für die kreativen
Kollegen, folge nicht, häufe nichts an von anderen
und bin nicht informiert; aber ich höre
Musik. Was ich suchte, habe ich gefunden. Ich
warte darauf, was eventuell kommt, rechne
mit Ärger, Schmerzen. Ich hoffe auf gar nichts
und suche nie blind, wo ich gerade bin und
weil es möglicherweise leicht ist.
Ich empfinde mich als grundsätzlich frei.
Musik unterhält mich bloß. Youtube bietet
Galerien nach dem Motto „könnte interessieren“
an.
Trompete.
Ich beschreibe. Es hilft mir zu denken, kann
anderen nützen. Niccole Ramos ist mit elf
Jahren beeindruckend, auch Alba Armengou
kann spielen, etwa siebzehn, singt wunderbar.
Cole in Venezuela, Alba in Spanien,
Katalonien – Barcelona, und natürlich nicht
allein, musizieren diese faszinierenden Trompeterinnen
mit anderen jungen Menschen in
verschiedenen Formationen. Skandinavien,
Schweden: Idun, etwa siebzehn, an der Seite
ihrer Mutter Gunhild Carling, eher kein
Wunderkind der Posaune, aber bereits eine
feste Größe im Dixieland, auch das gibt es.
Joan Chamorro in Barcelona ist unermüdlich
im Zusammenstellen hochklassigen Jugendorchester:
Alba, Elsa Armengou und Andrea
Motis sind Stars.
Zumindest online.
Alte Videos zeigen, wie Hans Cooling Carling
seine Kinder zum Jazz brachte, wir sehen
Gunhild und ihre Geschwister als Kinder (in
den Achtzigern) mit dem Papa auf der Bühne.
Kein Wunder, dass Idun singt, Posaune spielt.
Auf Videos (von vor wenigen Jahren) wird
klar, dass ihr Talent anfangs kein Feuerwerk
der Jazzimprovisation gewesen ist.
Cole Trumpet Prodigy ist eine Rakete.
Das Wunderkind. Videos mit Cole, die einen
eigenen Kanal hat, machen Spaß. Sie ist unglaublich,
und sie genießt zu spielen. Man
muss sich kaum Sorgen machen, weil sie so
jung ist. Sie ist wirklich selbstbewusst, strahlt
ihre Zuhörer an. Sie ist stolz, aber fröhlich wie
ein Kind, im besten Sinne. Beruhigend. Wer
hat einen Nutzen davon, wenn ein Kind besonders
ist?
# Und was ist das überhaupt, ein Talent?
Mir sind Textstellen verschiedener Autoren in
den Sinn gekommen, etwas zu beschreiben,
das mit einem Begriff wie Talent kaum genügend
definiert ist, gerade die Umrisse erkennbar
macht vom Problem. Es ist nämlich
eines. Das normale Kind wird beschrieben
mit „kleine Kinder, kleine Probleme, große
Kinder große“, und wer sich so austauscht
findet andere, die ähnliche Geschichten parat
haben.
Aber mit einem Wunderkind fallen auch die
Eltern aus dem Rahmen.
Ein Kind kommt auf die Welt, hat Bedürfnisse,
Hunger, schreit. Es lernt sich zurechtzufinden.
Je nach Umgebung, in der ein Organismus
startet zu leben, muss das kleine System
lernen, Anforderungen an Sicherheit, Fortbestand
der Existenz und Schwierigkeiten
seiner Funktion im Detail zu befriedigen. Der
Erwachsene hat Methoden gefunden, sein
Verhalten zu rechtfertigen. Wir müssen nicht
nur wegen unserer Motive agieren, werden
bewertet, stehen unter dem Druck von Kritik.
Verantwortung ist eine intellektuelle Rahmung
unseres Seins und ergänzt die Tat. Die
Handlung wird im Dialog mit anderen hinsichtlich
ihrer logischen Qualität bewertet.
Ein Mensch muss lernen, in dieser Welt seinen
Platz zu finden. Was geschieht im Gehirn,
mit dem ganzen Menschen?
Das Ergebnis nennen wir Verstand.
Die Bewertung der Umgebung ist dahingehend
falsch, dass andere nie objektiv sind.
Kritiker bleiben subjektive Bewerter, nehmen
die ihnen fremden Motive nur ausschnitthaft
wahr; einen Anderen kennen, hieße sich
selbst kennen. So genau will man’s in der
Regel nicht wissen. Umgekehrt sind manche
gezwungen, sich selbst genau kennenzulernen.
Zum einen wegen der Faszination, eine
persönliche Lust wie etwa zu zeichnen immer
besser zu erlernen, und das heißt sich
selbst und die Welt kennenlernen wollen.
Zum anderen, um Probleme in den Griff zu
bekommen, weil es nicht geht, zu leben wie
die anderen und glücklich zu sein. Es soll einander
nicht ausschließen.
Das Ergebnis nennen wir angekommen sein.
Wenn es schwierig wird, womit auch immer
klarzukommen, gibt es Menschen, die souverän
wirken möchten. Jemand gibt sich selbstbewusst:
„Damit habe ich kein Problem.“ Konfrontiert
mit einer unerquicklichen Situation
wird Gelassenheit vorgetäuscht. Der verstorbene
Philosoph und großartige Denker Karl
Popper sah das anders? Sein Buchtitel lässt
ahnen, dass einige nur Ausflüchte zum Besten
geben. „Alles Leben ist Problemlösen“ –
müssen wir vermuten, dass diejenigen, die
kein Problem haben, schon gestorben sind?
Typen, die meinen, so zu tun als ob, werden
selbst zum Problem. Ich empfinde den Alltag
als kompliziert. Meine emotionale Freiheit
muss ich immer neu erkämpfen. Das lernte
ich so spät. Es zu können, ist meine Kunst
heute. Sie schafft mir die Luft zu atmen. Dem
Gebot „Du sollst nicht fluchen“ trotze ich mit
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 41 [Seite 41 bis 47 ]
„Du kannst nicht fluchen“. Das lässt mir die
Wahl, schlechte Tage zu ertragen. Morgen, da
kann ich es vielleicht.
Die Welt ist voller Widersprüche, dass die
grünen Parteien die Umwelt nicht retten, ist
einer. Wunderkind Greta Thunberg rastet aus
deswegen. Sie wird immer angelogen wie wir
alle, aber sie stört sich daran.
Das macht den Unterschied.
Popper stellt die Theorie richtig, er räumt auf
mit dem falschen Denken, wir sähen etwas
und reagierten darauf. Der kluge Autor macht
deutlich, dass der Normale den Wald vor lauter
Bäumen gar nicht bemerkt. „Oh wie schön
die Tanne“, sagt der Spaziergänger, aber der
Förster sieht etwas anderes.
# Dass die Wissenschaften, wie schon die
griechischen Philosophen sahen, vom Problem,
von der Verwunderung über etwas ausgehen,
das an sich etwas Alltägliches sein
kann, aber für den wissenschaftlichen Denker
eben zur Verwunderung, zum Problem wird,
das habe ich schon am Anfang angedeutet.
Meine These ist, dass jede wissenschaftliche
Entwicklung nur so zu verstehen ist, dass ihr
Ausgangspunkt ein Problem ist oder eine
Problemsituation, das heißt, das Auftauchen
eines Problems in einer bestimmten Situation
unseres Gesamtwissens.
Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die
ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie
lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt
der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung
oder die sinnliche Beobachtung ist.
Das klingt zunächst durchaus vernünftig und
überzeugend, ist aber grundfalsch. Man kann
das leicht durch die folgende These zeigen:
ohne Problem keine Beobachtung. Wenn ich
Sie auffordere: „Bitte, beobachten Sie!“, so
sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch gemäß,
fragen: „Ja, aber was? Was soll ich beobachten?“
Mit anderen Worten, Sie bitten mich,
Ihnen ein Problem anzugeben, das durch Ihre
Beobachtung gelöst werden kann; und wenn
ich Ihnen kein Problem angebe, sondern nur
ein Objekt, so ist das zwar schon etwas besser,
aber keinesfalls befriedigend. Wenn ich
Ihnen zum Beispiel sage: „Bitte, beobachten
Sie Ihre Uhr“, so werden Sie noch immer nicht
wissen, was ich eigentlich beobachtet haben
will. Wenn ich Ihnen aber ein ganz triviales
Problem stelle, dann wird die Sache anders.
Sie werden sich vielleicht für das Problem
nicht interessieren, aber Sie werden wenigstens
wissen, was Sie durch Ihre Wahrnehmung
oder Beobachtung feststellen sollen.
Als Beispiel könnten Sie das Problem nehmen,
ob der Mond im Zunehmen oder Abnehmen
ist; oder in welcher Stadt das Buch, das
sie gegenwärtig lesen, gedruckt wurde. (Karl
R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen, Piper
1996).
Die von Popper korrigierte Einordnung unseres
Vorgehens, die Welt zu erforschen, ist für
das Begreifen der talentierten, besonderen
wie auffälligen Kinder von Bedeutung. Hier
wird die individuelle Person deutlich, die
ansetzen wird, wo andere sich nicht motivieren,
Interessantes zu bemerken. Eine gute
Beschreibung findet sich bei Feldenkrais, der
als Assistent des Physikers Joliot-Curie zugegen
war, als dieser die künstliche Radioaktivität
entdeckte. Wenn man googelt, erscheint
zuoberst dies:
# Am 15. Januar 1934 legten Irène und Frederic
Joliot-Curie der Schwedischen Akademie
der Wissenschaften ein sensationelles Forschungsergebnis
vor: Es war ihnen gelungen,
künstliche Radioaktivität herzustellen. Dafür
gab es postwendend den Nobelpreis, womit
Irène in die Fußstapfen ihrer berühmten
Mutter Marie Curie trat.
Der Assistent seinerzeit, M. Feldenkrais,
schreibt detailliert, wie das auf den Weg gekommen
ist.
# Ich habe das Glück gehabt, Zeuge eines Beispiels
von Bewusstheit des Gehörten zu sein.
In unserem Laboratorium in Paris war eine
Waage, die einige Jahrzehnte lang gedient
hatte, demontiert und eine neu entworfene
Curie-Waage installiert worden, und ich war
im Begriff nach Hause zu gehen. Frédéric
Joliot-Curie bat mich, das neue Instrument
noch anzuschaun, auf das er sehr stolz war.
Zwischen seiner zentralen Aufhängung und
seinem Gehäuse, das geerdet war, hatte das
Instrument eine Spannung von fünfzehnhundert
Volt. Es war schon spät und niemand
mehr im Labor außer uns. Joliot sah sich noch
einmal um, dann zog er seinen Mantel aus
und begann das Instrument auszuprobieren.
Er nahm einen Metallstreifen, der in der Nähe
des Instruments liegen geblieben war, legte
ihn in die Kammer und schaltete den Zähler
ein, woraufhin aus dem Lautsprecher ein Hagel
von knackenden Geräuschen kam. Joliot
machte seinem Ärger darüber Luft, dass der
Anschlag, den er aufgehängt hatte und auf
dem wer immer als letzter das Labor verließ,
gebeten wurde, das Instrument abzustellen,
nicht beachtet oder jedenfalls die Bitte nicht
befolgt worden war. Er zog den Mantel wieder
an, wir waren schon im Weggehen, als er,
die Hand nach dem Schalter ausgestreckt,
erstarrte als hätte ihn der Blitz getroffen. Er
zog den Mantel wieder aus; für alles andere
blind und taub, stand er bei der Waage und
horchte auf das Knacken. Immer noch horchend,
wandte er sich um und sagte: „Hörst
du, wie das Knacken immer schwächer wird?
Hier ist kein radioaktives Material, das eine
solche halbe Lebensdauer hat.“ Nachdem er
den Apparat seiner eigenen Vorschrift gemäß
abgeschaltet hatte, gingen wir nach Hause.
Anderntags erfuhren wir, dass die induzierte
Radioaktivität entdeckt worden war. Wäre er
jener Geräusche nicht bewusst gewahr geworden,
so hätten sie wahrscheinlich nur zu
einem Rüffel geführt für den, der es unterlassen
hatte, die Maschine abzustellen. Fast
eine Woche lang vergewisserte sich Joliot,
bevor er sich und dann die Welt überzeugen
konnte, dass die künstliche oder induzierte
Radioaktivität eine experimentell erhärtete
Tatsache ist. Er ist dann mit dem Nobelpreis
belohnt worden. Ich glaube, nur wenige Physiker
verfügen über einen solchen Grad von
Bewusstheit wie Joliot-Curie; mancher hätte
wahrscheinlich nur gemeint, es sei an dem
neuen Apparat etwas nicht in Ordnung.
Vorfälle wie dieser werden oft als „intuitiv“
wegerklärt. Meines Erachtens ist das eine
Frage der Semantik. Intuition kommt vor auf
einem Gebiet, von dem einer schon große
Erfahrung hat und das für ihn von entscheidendem
persönlichen Interesse ist. (Moshe
Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen,
1981).
# Als talentiert zu gelten, heißt nicht normal
zu sein
Nicht normal sein und doch bei Verstand?
Mit einer besonderen Bewusstheit wie Joliot
gesegnet zu sein, einen Nobelpreis zu
bekommen, weil man im Knacken einer elektronischen
Waage mehr hört, als nur den
Rhythmus einiger Geräusche, ist außergewöhnlich.
Ein Musikinstrument zum Klingen
bringen oder zeichnen zu können, sensibel
die Umgebung wahrzunehmen, ist nicht normal.
Der Besondere ist nicht normal, aber das
bedeutet latent auch die Gefahr, deswegen
psychisch labil zu sein, isoliert von den anderen
ins Abseits zu geraten. Ein Grenzgänger
ist derjenige, der seine spezielle Leidenschaft
erkennt und sich auf den Weg macht, seine
Hoffnung daran hängt, ein besonderes Leben
meistern zu können.
Für ein talentiertes Kind stellt sich die Welt
mit zwei Polen dar. Da fasziniert zu lernen als
eine rasante Entwicklung, die deswegen befriedigt.
Das Andere ist der Applaus durch die
Umgebung. Das Leben des Wunderkindes ist
also eine Medaille mit zwei Seiten. Vermutlich
wird so ein Kind selbst zu einem Wesen
mit zwei Innenwelten, wie jeder weiß, was es
bedeutet gelobt zu werden und arbeiten zu
müssen auf der anderen Seite, aber die Gefahr,
emotional Probleme zu bekommen, ist
bei extremen Lebenswegen eher gegeben.
Bei Siegfried Oelke finde ich einen guten
Text zum Thema.
# Alle Menschen haben Empfindungen und
Gefühle. Der künstlerische Mensch ist sicherlich
ein besonders empfindsamer Mensch. Es
kann sein, dass er einen so hohen Grad von
Sensibilität hat, dass seine Verletzlichkeit
den Druck, den das Leben für ihn verursacht,
nur erträgt, wenn er eine Form findet, mit der
er sich von dem Druck befreien kann. (…). Seine
Empfindsamkeit wird bewirken, dass seine
Augen immer und immer wieder wieder fasziniert
sind von Dingen und Erscheinungen
dieser Welt und eben so sehr davon, wie man
sie darstellen könnte. (…). Die oft gestellte
Frage: Kann man illustrieren lernen? Eine
theoretische Frage hat bestenfalls Anspruch
auf eine theoretische Antwort. Was kann die
nützen? Die Lust dessen, der das lernen will,
was bisher beschrieben ist, muss groß sein;
sie muss so groß sein, dass sie die jeweiligen
Schwächen (jeder hat irgendwelche Schwächen)
überwinden hilft. Seitdem der Ausdruck
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 42 [Seite 41 bis 47 ]
„Motivation“ im Schwange ist, verleitet er zur
Illusion, als ließe sich auch Lust lehren. Man
kann nur infizieren. Wenn einer aber gegen
diese Ansteckung immun ist, dann sollte er
sich unbedingt woanders seine „Ansteckung“
holen. (Prof. Siegfried Oelke, Über Illustration,
Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung,
März 1983).
Zum Begriff der Verletzlichkeit aus Sicht der
Psychiatrie schreibt Bäuml:
# Was versteht man unter dem „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“?
Die Theorie wurde 1973
erstmals formuliert. Ganz allgemein besagt
sie, dass die Außenhaut der Seele, das sogenannte
Nervenkostüm nicht bei allen Menschen
gleich stabil ist, dass es wohl einige
Menschen gibt, die eine besonders dünne Außenhaut
haben. (Josef Bäuml, Psychosen aus
dem schizophrenen Formenkreis, Springer-
Verlag 1994).
Der Volksmund spricht vom zweigeteilten
Menschen im Zusammenhang mit dem Begriff
Schizophrenie, aber das ist genauso nur
ein Begriff wie viele andere theoretische
Ideen und genügt kaum, die unterschiedlichen
Verläufe psychischer Erkrankungen
und zahlreichen Diagnosen seriös fassbar
zu machen. Tatsächlich kennen wir alle den
Wunsch nach Bestätigung. Zu unterscheiden
ist, ob ich zwanzig Jahre bei einem Autobauer
tätig bin und deswegen sagen wir „Opel“ ein
Stück von mir ist oder ich mein Leben damit
zubrachte zu musizieren, zu zeichnen oder
anderweitig aus mir selbst einen Künstler
formte, der scheinbar untrennbar mit dem
Werk verschmilzt.
Wenn ein Mensch Kritik erfährt, muss er es
intellektuell hinbekommen, Geschaffenes
und Person zu trennen. Das „Ich“ sei eine
Leistung, heißt es. Genau das steht hier zur
Debatte. Kann ein Kreativer auseinanderhalten,
was mit ihm passiert, er fühlt? Bleibt der
Schaffende, wenn etwas nicht gelingt, seine
Tätigkeit misslang oder ein von ihm gemachtes
Produkt fehlerhaft wurde, emotional unversehrt?
Darin steckt der Spruch, die Kunst
käme vom Können genauso wie in gekonnter
Arbeit aus handwerklicher Sicht. Jemand
schrieb, Kunst käme vom nicht mehr anders
können. Das drückt den Zwang aus, der damit
verbunden ist. Zum einen die Faszination in
der Sache, eine angenehme Erfahrung, bestimmte
Dinge zu bemerken in der Art wie
Popper es beschreibt: Forschung. Auf der
anderen Seite Reflexion, zusammen unsere
individuelle Existenz.
An anderer Stelle wird bereits erwähnt, dass
ich als Kind einige Wochen in Marktschellenberg
in Verschickung war. Schon dieser
1976 übliche Begriff lässt ahnen, wie Kinder
gesehen wurden. Man kann mit ihnen machen,
was man will? Es sind Kinder, und wir
Erwachsenen wissen, was gut für sie ist: Wie
eine Sache verschickt. Es muss über Frühjahr
und Sommer stattgefunden haben, kollidierte
vermutlich mit dem Schuljahr. Ich kann mich
nicht hinreichend erinnern.
Wann immer es möglich war, probierte ich
mit meiner Zeichnerei anzugeben. Das war
bereits im Kindergarten methodisch, die Leitungskräfte
wohlwollend zu stimmen. Nach
diesem Grundsatz ging ich jede Gruppensituation
mit übergeordnetem Lehrer oder einer
Aufsicht an. Das hatte bei meinen Eltern
gewirkt, Aufmerksamkeit zu bekommen, im
Kindergarten und in den jeweiligen Schulklassen.
Das habe ich im Studium gemacht.
Es funktionierte nicht mehr nach dem Studium
in der freien Wirtschaft, denn mit meiner
Zielvorgabe „Illustrator“ war ich selbstständig.
Nun gab es keinen Kursleiter, der mit mir
als bestem Schüler punkten konnte, und die
Auftraggeber, meine Kunden, waren nicht daran
interessiert, mich zu loben.
Ich erinnere, dass ich in Marktschellenberg
nur eine einzige Zeichnung anfertigte. Das
ist ein wenig seltsam. Vielleicht liegt es daran,
dass meine Art mich beliebt machen zu
wollen, von den Frauen, die uns betreuten, in
keiner Weise gestützt wurde. Das mag dazu
beigetragen haben, dass ich dort unglücklich
war. Im Prinzip wäre es als therapeutischer
Ansatz denkbar, aber ich glaube, dass ich das
Konzept überbewerte, würde ich das so interpretieren,
und dann hätte diese Pädagogik
zudem versagt. Eine unangenehme Zeit.
Meine Eltern? Es hat nie an Geld gefehlt, aber
etwas zu leisten wurde bei uns zu wichtig
genommen. Ich war überfordert ein ums andere
Mal. Die Verschickung ist im Nachhinein
(gutgemeinte) Trickserei gewesen, mir den
Anblick der Zerstörung meiner gewohnten
Umgebung zu ersparen. Abriss des (geerbten)
Altbaus für ein großes Geschäftshaus.
Unter dem Vorwand, eine Art Kur würde mir
zum Start auf der Realschule gut tun, waren
wir beim Kinderarzt Dr. Hofeld vorstellig, er
schlug es vor. Der kleine Doktor war bereits
konsultiert worden, als mir die Tischplatte
mit den Heften der Hausaufgaben im Blick
unterm geneigten Kopf davon zu gleiten
schien. Nach vorn und in einem Bogen hoch
sauste sie scheinbar, dass mir schwindelte,
ich Stunden brauchte, aber nicht fertig
wurde. Meine Mutter schlug mich mit ihrem
Rechenschieber – warum?
Sie wollte jede Sache forcieren und hatte
doch selbst keine Zeit, die Arbeit zwang sie;
noch im Sterben war sie der Auffassung,
neu zu bauen wäre ohne Alternative notwendig
gewesen. Sie beschrieb mir, während
wir im Wohnzimmer sitzend auf ihren
Tod warteten, die Beerdigung planten und
weinten, wie es früher in der Bahnhofstraße
gewesen war. Ich erinnerte mich, stimmte
schließlich zu. Das ist mein Vermögen, von
dem ich heute lebe. Wir haben es auf Kosten
der Gesundheit erkämpft. Alternativlos
zur Dankbarkeit verpflichtet. Ich wurde
nicht besser darin, alles richtig zu machen.
Ich habe mir Mühe gegeben.
Meine Mutter wollte mir ein Abitur möglich
machen.
Sie war selbst nach der Elften abgegangen.
Mir wurde, als zu früh eingeschultem Kind
mit schwachen Noten in den Hauptfächern,
die Realschule empfohlen. Ein Abitur? Ich
könnte schaffen, fand meine Mutter, was ihr
misslungen war. Eine Ahnenreihe: Der „einfache“
Volksschullehrer „Uropa Bur“ hatte den
Vater meiner Mutter, Heinz, zum Oberstudienrat
zwingen wollen – der war als Matrose in
die Seefahrt abgebogen. Erst als Kapitän (auf
großer Fahrt) rehabilitiert vom Vater. Ich bin
auf dem Gymnasium, dem elitären „Rist“ in
Wedel, krachend gescheitert. Nach nur einem
Jahr, ging ich mit gleich drei fünfen ab. Ich
musste schräg versetzt diese Klassenstufe
ein zweites Mal machen.
Und zu dieser Zeit ist die Verschickung mit
der Barmer gewesen.
Wir sind in Altona mit dem Schlafwagen abgefahren,
das war mit das Aufregendste. Ich
erinnere, wie ich morgens aus dem rasenden
Zug den Kopf aus dem heruntergeschobenen
Fenster halte, um als Erster die Alpen zu sehen.
Die Berge fand ich toll. Ich probierte mich bei
der Leitung beliebt zu machen. Wir nannten
die ältere Dame beim Vornamen: Charlotte.
Tatsächlich war sie in Hamburg gewesen.
Sogar Wedel kannte sie: die Schiffsbegrüßungsanlage;
das gefiel mir, und sie mochte
mich. Die Mädchen, die uns für gewöhnlich
betreuten waren nicht empfänglich für so
etwas. Sie erkannten in den normaleren Kindern
das Potential, diese in Spiele und Aufgaben
zu integrieren. Immer wieder fand ich
Zeit, ganz allein auf einer Wiese unweit der
Gebäude zu sitzen und mich mit dieser einzigen
Zeichnung zu beschäftigen, die ich dort
machte. Das war so in Zeichenblockgröße
eine Bleistiftskizze. Leider unauffindbar heute,
kann ich mich ganz genau an das Problem
erinnern, das ich damit hatte.
Eines Tages zu Beginn startete ich mit dem
Bild. Das fand auch wie erwartet großes Interesse.
Manche schauten gern, wie sich die Szene
entwickelte. Obgleich ich immer schnell
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 43 [Seite 41 bis 47 ]
gezeichnet habe, ging es dieses Mal weniger
gut voran, und es mag Regen aufgezogen
sein – wir mussten zum Essen ins Haus, jedenfalls
wurde ich nicht gleich fertig am Tag,
als ich diese Skizze begann. Einige Male später
habe ich diesen Zeichenblock wieder mit
raus auf den Rasen genommen. Im April 1976
bin ich elf Jahre alt gewesen. In diesem Alter
hatte sich meine Kreativität schon eindeutig
als individuelle Ausdrucksform manifestiert.
Im Unterschied zur Flexibilität als auch der
Beliebigkeit der anderen, die sich gern mitnehmen
ließen, eingeteilt in Gruppen, von
Betreuern motiviert, ein Programm nach Plan
zu bespielen, folgte ich meiner eigenen Idee.
Ich wollte mein Bild vollenden. Das wurde
auch einigermaßen gelungen fertig, das erinnere
ich genau. Es gab hier ein ganz vertracktes
Problem mit der Perspektive. Deswegen,
und weil es eine ganz andere Umgebung für
mich war, hat die Sache so lang gedauert?
Das weiß ich nicht mehr. Es ist untypisch gewesen,
dass ich nicht mehr machte oder wir
angeleitet wurden gemeinsam zu malen, wie
sonst in der Schule.
Ohne noch lang auf diese Verschickung einzugehen,
möchte ich an dieser Stelle das Perspektivische
der Situation anschaulich machen.
Die Wiese vor dem Gebäude, das als ein
Teil eines Komplexes typischer Häuser dieser
Region, die Schlafräume, den Saal, in dem wir
aßen und anderer Räume der Einrichtung zu
denken ist, war abschüssig. Ich schaute also
ein wenig aufwärts, und das Haus stand breit
im Bereich der Kuppe darauf, ein Berg im
Hintergrund mag noch aufgeragt haben. Es
gab auch eine Stelle, von der man bis zum
Watzmann schauen konnte. Soweit ich mich
erinnere, war etwa links dieses Haus, in der
Mitte die Richtung auf den Watzmann zu und
rechts von allem war zunächst das Tal unter
uns, darüber stand in großer Länge der Untersberg.
Die Dächer der Häuser dort sind anders als
unsere in Schleswig-Holstein, weniger spitz,
die Dachflächen sind nicht so steil, das mag
mit dem Schnee zu tun haben, der darauf satt
liegen bleibt. So war es möglich, das Gebäude
in seiner Längsausdehnung auf diese Weise
zu sehen, dass ich nicht aufs Dach und nicht
unter den Überstand blickte. Also befand sich
der Platz im Gras, von dem aus ich das sah
und zeichnete, ungefähr in der Verlängerung
einer gedachten Linie unterhalb des Hauses,
die dem Winkel entspricht, den das Dach zur
Senkrechten hat. Wer die flachen Winkel dieser
Dächer kennt, kann sich leicht vorstellen,
dass ich nicht allzu viel tiefer als das Gebäude
saß und doch nicht nah davor; eine Untersicht,
die zunächst wenig als solche bewusst
wird.
Nun entstand das Problem dort, wo die Stirnseite
des Hauses begann. In einer normalen
Perspektive hätte das Dach hier einen sichtbaren
Knick gehabt. Es knickte, wie ein jedes
Rechteck an der Kante, um neunzig Grad ab.
Von dieser Ecke aus verlief die kürzere Seite
bis zur Spitze im Giebel. Dort bog es, wie jedes
Dach, wiederum um neunzig Grad rechtwinklig
nach links um. Hier war der First. Das
wusste ich, aber ich hatte keine optische Bestätigung;
wie sollten das die Leute begreifen,
die später meine Zeichnung anschauen
würden? Eine Kante, parallel zur Regenrinne
und genauso lang wie unten. Ich sah sie
nicht, das war das Problem.
Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke,
aber von meiner Position aus konnte ich
nichts davon sehen. Für mich gab es die untere
Kante mit der langen Regenrinne. Dann
rechts die Stelle, wo die kürzere Dachseite
aufwärts zum Giebel verlief. Vom Platz aus,
an dem ich zufällig saß, nahe der Schaukel
wo die anderen spielten, konnte ich nur eine
fortlaufende Gerade erkennen. Ich sah nichts
vom Dach. Aber ich schaute nicht drunter;
dann hätte ich einen Knick leicht abwärts sehen
müssen, obwohl das Dach aufsteigt?
Ich war nicht in der Lage, das zu begreifen.
Machte ich einen Rundrücken, sackte ich
tatsächlich mit den Augen in diese Position.
Aber das Dach konnte, ja durfte doch nicht
runter, nach unten gezeichnet werden! Das
ging genau an dieser Ecke hoch, nach oben
zum First. Ich glaube, dass viele spätberufene
Erwachsene, die in einem Kurs das Zeichnen
lernen, an solchen Problemen scheitern:
Etwas geht baulich gesehen aufwärts, sie
haben es technisch verinnerlicht, schauen
quasi nicht mit den Augen darauf, sondern
mit ihrem Wissen. Die besondere Perspektive
macht daraus eine Linie, die relativ zur Waagerechten,
nach unten hin abknickt; das darf
nicht sein. Als Lehrer dieser bedauernswert
untalentierten, aber hoffnungsfrohen Dussel,
verzweifelt man als Künstler (wie jeder Berufsmusiker,
der auch lieber ein schnell lernendes
Wunderkind unterrichtet).
# Blockiert
Es schien immer wieder anders auszusehen,
warum? Machte ich mich kerzengerade,
richtete mich auf, wurde einige Zentimeter
größer, genügte es nicht wirklich, um auf
die Fläche der Schindeln zu schauen. Ich
habe sogar probiert, es mit einer der Frauen
zu diskutieren. Sie verstand mich nicht.
Es war wie bei Popper, der in seinem Buch
dazu auffordert: „Beobachten Sie!“ Die junge
Erzieherin antwortete mir hilflos: „Ich verstehe
nicht, was du meinst.“ Sie hatte nicht den
Zugang wie ich zum Malen und Zeichnen. „Du
schaffst das schon, das sieht doch schon toll
aus, ich wünschte, ich könnte das“, so tröstete
sie mich wohl. Möglicherweise stand diese
Frau und konnte aus ihrer Sicht ganz gut auf
das Dach schauen? Ein Haus auf dem Hügel
sehen, ein Bild davon machen; das waren offenbar
zweierlei Dinge, lernte ich damals im
Kinderheim.
Ich habe es schließlich begriffen, zeichnete
mein Bild dort irgendwann zu Ende. Das erinnere
ich noch ganz genau. Sehr schade, dass
ich dieses Blatt nicht wiederfinden kann.
Ich bin immer gut darin gewesen, Perspektive
zu begreifen, war vielleicht kein Wunderkind
und habe trotzdem einige Nachteile davon
gehabt, bewundert zu werden. Das ist seltsam,
man sollte meinen, wer tolle Sachen
kann, dem ginge es gut deswegen, das ist aber
nur teilweise richtig. Wie in der Forschung,
der Wissenschaft befriedigt es sehr, etwas zu
lernen. Sozial im Abseits bleiben dabei diejenigen,
denen es nicht gelingt, mit dem Bewundertwerden
die zu erreichen, von denen
man es sich wünscht, dass sie einen mögen.
Ich bin vermutlich nicht allein mit dieser Erfahrung.
Malen kann einsam machen.
Musik ist viel mehr, die Kreativität tatsächlich
mit anderen zu teilen, sie mit etwas Gelungenem
im Inneren zu erreichen. Natürlich
bewegt ästhetische Grafik tief, große Malerei
ist zum Weinen schön; aber bei hässlichen
Tönen gehe ich fort, bei Gekritzel stehe ich
davon unberührt in der Vernissage und trinke
gern Prosecco: „Wie mutig Sie das umsetzten“,
sage ich lächelnd, „Sie sind ein Künstler.“
Das Instrument in der Musik musst du spielen
können, das ist dasselbe in der Kunst auf
einer Leinwand, beim Zeichnen auf Papier
oder wenn man schreibt. Es scheint jedoch
einfacher zu sein, Konsumenten mit ungekonnter
Grafik zu blenden. „Musik wird als
störend oft empfunden, weil sie mit Geräusch
verbunden“, Wilhelm Busch war Maler, Humorist
– und kannte die Musiker. Die sind erst an
zweiter Stelle mit dem Zuhörer konfrontiert,
müssen zunächst selbst aufeinander hören.
Sie befinden sich in zeitlicher Bindung durch
den Rhythmus, sind durch die Tonart vereint.
Ihre Harmonien gefallen nur, wenn ihr Spiel
gekonnt gemeinsam intoniert wird. Wie im
guten Sport, kontrolliert sich ihr kreatives
Team darauf, ob die Sache läuft.
Während ein Maler mit breitem Ego sonst
was behaupten kann oder noch dreister die
Installationen einiger Kollegen für was weiß
ich herhalten müssen, und es Menschen gibt,
die bereit sind, das zu glauben, ertragen deine
Bandmitglieder keine schiefen Töne, schmeißen
dich aus dem Ensemble. Das unweigerliche
Fremdschämen untereinander, während
eines misslungenen Auftritts, zwingt die Musiker,
ihre Kunst zu können. Die Spinner, die
sich selbst und die Leute mit baladischem
Gedödel betrügen, können niemals in derselben
Breite auftreten, wie bei uns, die wir
leise die Augen bedienen. Lärm stört wirklich,
Schmierkram kann neu definiert werden.
Die Bewertung wird gern wichtiger, als beim
Essen, bei der Musik. Dort zählt die Realität,
dass die Speisekarte zu vertilgen und einer
Baumaschine zu lauschen nicht zum Sternemenü
mit Violinenkonzert umdeklariert werden
kann.
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 44 [Seite 41 bis 47 ]
Der Mensch benötigt seine Hände, um die
Ohren zu verschließen, das ist nicht zu übersehen.
In eine andere Richtung zu schauen,
die Augen zu verdrehen oder gähnend die
Lieder zu senken, eine coole Sonnenbrille; es
gibt viele Möglichkeiten, Kunst zu übersehen,
die schlecht ist, und dabei so zu tun, als ob
es was sei. Musik machen zu können, ist in
der gegenseitigen Anforderung der Kollegen
auf dem Bandstand ungleich härter für den,
der’s probiert und zugleich ein fließendes
Spiel. Künstler zeigen „Arbeiten“, wollen ernst
genommen werden wie die Manager in der
Wirtschaft und die Macker, die im Tiefbau
eine Straße aufreißen? Sie konzentrieren
sich. Verschrobene Tanten besuchen deine
Vernissage und geschwollene Reden verwursten
den Intellekt.
# Kunst!
Maler können verkrampft drauflos schrammen.
Musiker müssen ihren Körper beherrschen.
Wie Tänzer ist es ihnen nötig, gekonnt
und fließend zu atmen. Ganz sicher ist es das
auch in der bildenden Kunst. Aber hier fällt
es leichter, sich und dem Betrachter blauen
Dunst vorzumachen. Das bewundere ich an
Joseph Beuys. Er hat die Leute wirklich vorführen
können, auf einen Blick hinter die
Fassade zurückgeworfen und tatsächlich zum
Denken angeregt: Seine Kunst war neu. Eine
echte Alternative zur gekonnten Abbildung
in der Malerei und erfrischender als die Bildhauer
anderswo. Das kann man nicht immer
wiederholen wie einen alten Witz oder den
bekannten Zaubertrick, dessen Geheimnis
keines mehr ist.
Wie faszinierend es sein kann, Dinge zu begreifen,
die man nur versteht, nachdem man
bereits einige Kenntnisse in seiner Beschäftigung
hat, und wie unbegreiflich verschieden
die Kollegen dasselbe tun, macht eine Textstelle
deutlich. Dizzy Gillespie spricht hier
über Monk. Das sind Giganten des Jazz, das
muss ich nicht erklären.
# Ich habe Monk schon 1937 oder 38 kennengelernt.
Damals spielte er mit Cootie
Williams im Savoy, und dann, 1939, bekam
er den Gig im Minton’s. Ich habe eine Menge
von Monk gelernt. Es ist sehr eigenartig mit
ihm. Unser gegenseitiger Einfluss auf einander
war musikalisch so stark, dass er gar nicht
mehr weiß, was ich ihm gezeigt habe. Aber
ich weiß noch einiges, was er mir gezeigt hat,
zum Beispiel den Moll-Sext-Akkord mit einer
Sexte im Bass. Das habe ich zuerst von ihm
gehört. (…).
Ich sagte einmal zu Monk: „Zeig’ mir irgendetwas,
das du von mir gelernt hast, und das du
oft verwendest.“ (…). Dann zeigte ich ihm, was
ich von ihm gelernt hatte, damals, diese eine
besondere Sache, die mir neue Möglichkeiten
eröffnet hatte. Aber ihm fiel nichts ein, was
er von mir gelernt hatte. Dabei weiß ich genau,
dass es hunderte von Sachen gibt, denn
wir waren oft zusammen und ich spielte auf
dem Klavier herum und wenn ich etwas entdeckt
hatte, zeigte ich es den anderen, auch
ihm. Aber Monk ist ein Unikum, mehr als alle
anderen aus unserer damaligen Clique. (Dizzy
Gillespie, to Be, or not … to BOP, Minton’s
Playhouse, Doubleday New York 1979).
Zum anderen Thema, der psychischen Gesundheit
von Wunderkindern finde ich dies
bei Chaplin.
# Während „The Kid“ geschnitten wurde, besuchte
der siebenjährige Samuel Reschewsky,
der Kinderschachweltmeister, das Atelier. Er
sollte im Athletic Club seine Künste zeigen
und eine Simultanpartie gegen zwanzig Erwachsene
spielen, darunter Dr. Griffiths, den
Schachmeister von Kalifornien. Er hatte ein
dünnes, blasses, eindringliches kleines Gesicht
und starrte die Menschen, denen er
begegnete, aus großen Augen streitsüchtig
an. (…).
„Können Sie Schach spielen?“ fragte er. Ich
musste zugeben, dass ich es nicht konnte.
„Ich zeige es Ihnen, kommen Sie doch heute
Abend und sehen Sie mir zu. Ich werde
gleichzeitig mit zwanzig Männern spielen“,
sagte er prahlerisch. (…). Man muss nicht unbedingt
Schachspieler sein, um das Drama
dieses Abends wahrzunehmen: Zwanzig Männer
mittleren Alters über ihrem Schachbrett
brüten zu sehen, in Ratlosigkeit gestürzt von
einem Siebenjährigen, der noch dazu jünger
aussah als er war, und ihn zu beobachten, wie
er an dem U-förmig angeordneten Tisch von
einem Brett zum anderen ging, war allein
schon dramatisch genug.
Die dreihundert oder mehr Zuschauer, die
schweigend auf den Bankreihen an den
Längswänden der Halle saßen und ein Kind
beobachteten, das seine Geisteskraft mit der
erfahrener Männer maß, wirkten surrealistisch.
Einige von ihnen schauten herablassend
lächelnd zu. Der Junge war verblüffend,
doch beunruhigte er mich, denn als ich das
konzentrierte kleine Gesicht betrachtete,
einmal stark gerötet und dann wieder kreidebleich,
wusste ich, dass der Junge mit seiner
Gesundheit bezahlte.
„Hier!“ pflegte einer der Spieler zu rufen, und
das Kind ging hin, betrachtete das Brett einige
Sekunden lang, machte dann einen Zug
oder rief „Matt!“ Dann lachten die Zuschauer
gedämpft. Ich sah, wie er schnell hintereinander
acht Spieler matt setzte, was Gelächter
und Applaus hervorrief. (Charles Chaplin, Die
Geschichte meines Lebens, Fischer 1977).
Chaplin ist selbst ein Wunder der Kreativität
und zugleich kommerziell unglaublich erfolgreich
gewesen. Ein sicherer Beobachter
und einer der großartigsten Künstler überhaupt.
Dazu kommt, dass er in der McCarthy-
Ära in unglaublicher Weise erfahren hat,
angefeindet zu werden. Psychiater wie der
oben zitierte Josef Bäuml zeigen sich von
einer naiven wie gleichermaßen doofen, ja
bösartigen Seite, wenn sie nivellieren wollen,
wie fies Menschen anderen gegenüber
sein können. Das als Ursache psychischer
Erkrankungen in seiner traumatisierenden
Weise ausblenden zu wollen zeigt zweierlei.
Zum Einen ist der Arzt nicht der Freund des
Patienten. Er ist der Fachmann. Als solcher
ist er nicht ehrlich (wie ja auch ein Polizist
beruflich bedingt nicht offen auf die Bürger
zu geht, deren Freund und Helfer er vorgibt
zu sein. Er ermittelt unter falscher Identität).
Ein Freund wiederum kann dem psychisch
Kranken kaum helfen, denn er wiederum ist
kein Fachmann.
Das andere, was ich probiere zu sagen ist, der
Psychiater möchte den Kranken nicht damit
belasten, etwa die Schuld der Probleme bei
den Eltern oder den Kollegen in der Firma zu
suchen. Der gute Grund ist die latente Angst
und damit die verborgene Aggression, die
in jeder Form psychischer Krankheit unterschwellig
darauf wartet, erkannt zu werden.
Wenn mir mein Leben nicht gelingt, ist nichts
naheliegender, als die böse Welt um mich herum
dafür zu beschuldigen. Das kann und will
kein Arzt forcieren. Lieber kreiert man eine
Theorie der Verletzlichkeit, kann aber keine
genetische Komponente dafür finden.
Keine einzunehmende Medizin wird je eine
Lösung für die wortreich erfundene „Dünnhäutigkeit“
sein. Was ist eine Seele, ein Nervenkostüm?
Mauern im Gehirn, wie sie vom
Haldol und den eleganteren Nachfolgern
erdacht wurden, die Rezeptoren zu schützen,
sind so einfallsreich und primitiv wie die
Grenze zwischen Nord- und Südkorea, die
Mauer in Berlin, die Zonengrenze zwischen
den deutschen Bundesländern nach dem
Krieg. Die Chemie des Gehirns, die Funken
der Nerven, die unsere Gliedmaßen mit den
Muskeln steuern, sie sind in einem Geflecht
aus Wahrnehmungen und Erfahrungen, wie
in einer Situation zu reagieren sei, derartig
kompliziert verwoben, dass „das Dopamin zu
binden“, wie es mir ein Arzt schmackhaft als
eine gute Idee zu erläutern probierte, allenfalls
moderne Quacksalberei ist. Das kann im
Notfall der Eskalation auf einer geschlossenen
Station die Lage beruhigen. Eine Verbesserung
des Lebens in schwierigen Zeiten
ist gut. Aber deswegen anzunehmen, mit ein
paar Pillen und Therapie wird das schon, ist
vermessen und unfair gegenüber den Kranken
und ihren Familien. Ungebildete Menschen
stehen vor Problemen, und die bitter
notwendigen Fachleute sind verschrobene
Medizinmänner, kaum fachlicher als ein pink
bekappter Pfarrer, der die Seele mit dem Räucheröfchen
ausschaukelt.
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 45 [Seite 41 bis 47 ]
Niemand staut seine Aggression auf, bis es
knallt. Diese Begriffe verleiten dazu, sich
körperhafte Dinge vorzustellen, wo in Wirklichkeit
Abläufe des Verhaltens, Prozesse in
Beziehungen geschehen. Da ist keine Mauer
im Kopf, die das Böse zurückhält, ein Fach dafür
oder ein Tank mit hundert Milligramm Aggression
gespeichert, der schließlich zu klein
wird, wenn der entscheidende letzte Tropfen
das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn es das
gäbe, könnte man operieren! Wie die Mägen
der Fettleibigen verkleinert werden, könnten
wir umgekehrt moderne Zombies schaffen,
die ihren Aggressionstank im Hirn ausgeweitet
bekommen; entsprechend des künstlichen
Darmausgangs, wird ein extra Beutel
angetüddelt, weil sie als Gefährder eingestuft
das Potential dafür haben.
Wenn es so einfach wäre.
Statt von Gefühlen wie Dunstwolken zu reden
oder zu sagen etwas sei „Kopfsache“, und den
Intellekt zu beschwören, wäre es ganz konkret
möglich, den Körper effizient miteinzubeziehen.
Ein handfester Trainer könnte Menschen
helfen, ihre Gefühle besser wahrzunehmen.
Ein verkastelter Doktor ist nichts weniger.
Warum wird die Rolle des Psychiaters im Plot
mit einem Spinner besetzt, der seine Pillen
selbst schluckt? Ich glaube: Die Verantwortung
für die Aktionen eines Patienten draußen
im Alltag möchte kein Außenstehender
übernehmen. Das wäre aber unweigerlich
der Fall, dass psychisch kranke Menschen,
denen wir zutrauten ihre Erfahrungen mit
der Durchsetzungsfähigkeit nachzuholen, die
dem Normalen mit den Jahren gewachsen ist,
im Alltag ausrasten. Sie scheitern beim Versuch,
sich zu nehmen, was andere scheinbar
leicht bekommen. Darum versteckt sich der
Arzt hinter Kittel und Medizin. Zu scheitern
muss aber gespürt und ausgehalten werden,
wenn wir etwas Besonderes erreichen wollen.
Ein auf traurige Weise psychisch erkrankter
Freund hatte dieses Ziel: „Ein Wahnsinnstyp
von einem genialgeilen Saxophonisten“,
wolle er werden, meinte er.
Andernfalls ein sauguter Tischler.
Angst manifestiert sich in der Muskulatur auf
eine persönliche Weise in einem individuellen
Muster, das doch bei allen ähnlich in der
Verklemmung der Beugemuskulatur relativ
zu den Streckern geschieht. Diese längst bekannten
Veränderungen des Gangbildes und
der Haltung, die im Groben sogar dem fachlichen
Laien ins Auge springen, werden vom
Dorfpsychiater um die Ecke keinesfalls effizient
zum Bessren korrigiert, wenn ein neuer
Patient die Praxis betritt: Weil der Arzt das
nicht kann. Stattdessen unterstützt der Psychiater
den erkennbaren Haltungsschaden
des Gestörten, der mitnichten so vergnüglich
herumspaziert wie sagen wir Barack
Obama, noch, indem er eine Dosis seiner
betäubenden Pharmazieprodukte
verabreicht. Im entscheidenden Fall
aber versagt diese Fessel, die den Armen
lahmen lässt, dann aber doch, und
das Fass mit dem Wahnsinnsbotenstoff
läuft über, obwohl alle Rezeptoren ihre
Pelzmäntel angezogen haben. Bildlich
gesprochen: Im Blizzard benötigen wir
einen guten Iglu, einen Bunker, um zu
überleben. Solange wir das Wetter im
Kopf nicht beherrschen, gibt es kein
Gebäude, das für jede Lage das richtige
ist. Eine Erhaltungsdosis des Medikaments,
auf das der Arzt vertraut,
kann mit ihrer statisch festgelegten Menge
kaum flexibel das Gehirn schützen, das nicht
im Reagenzglas liegt. Kein Mensch ist ohne
seine Probleme und die wechselnden Umstände
zu denken. Und die finden nun mal
nicht im Sprechzimmer des Arztes statt, sondern
im Alltag.
Die Kombination aus Therapie und Medikament
ist angesichts der Vielzahl von Diagnosen
bei unterschiedlichste Lebensläufen
und Lebenssituationen ungefähr so fachlich,
als wolle man mit einem vom Pferd gezogenen
Karren den Mond erreichen. Wenn schon
der Patient und seine arme Familie das nicht
übersehen, so müsste der Arzt sich eingestehen,
wie rudimentär seine Hilfeversuche
sind.
Es sind nicht unbedingt die Wunderkinder,
die pauschal gefährdet sind, denn einige dieser
kleinen Genies schaffen es tatsächlich,
die Sterne zu erreichen – auf dem Hals einer
Gans fliegen sie, wie Nils Holgerson. Aber
schon Ikarus stürzte ab, und insofern ist das
Problem beim besonderen Menschen ausgeprägter.
Dem, der zu viel will, droht die Ohrfeige
des Allmächtigen.
# Der böse liebe Gott
Große Erwartungen, irrationale Hoffnung auf
ein Wunder, ersetzen nicht die pragmatische
Herangehensweise an die Realität.
Es gibt keinen Zeitverlust, wenn wir im Stau
stehen. Das ist unser Leben, auch wenn wir
warten. Da ist keine Seele wie der Kern im
Obst, den wir aus der Frucht pulen und anfassen
können. Unser Gehirn ist so ein Ding,
aber es hat keine Staudämme, deren Deich
uns gegen das Hochwasser überschwappender
Gefühle zurückhalten könnte. Das ist keine
Wortklauberei. Statische Denkbilder nützen
wenig, im Fluss progressiven Handelns.
Hart wie eine Mauer, können wir unsere
Muskulatur anspannen. Daran wird weniger
gedacht, wenn die bekannten Worthülsen
bildhaft festhalten sollen, was eigentlich
ein Film ist, der nie stoppt. Aber es ist
möglich, Blockaden im Rumpf zu lösen,
die Atmung fließender zu gestalten, den
Unterleib zu lockern. Das wäre die körperlich
spürbare Umsetzung, wie Gefühle
fleischlich sind. Wut, die uns angespannt
und hart werden lässt im Leib, wird eben
nicht freigelassen, mit der Entspannung.
Sie verfliegt, und wir kommen auf andere
Gedanken. Ein das Dopamin im Gehirn
bindendes Medikament verändert unsere
Leitzentrale ähnlich den Menschen, die
an Parkinson erkranken. Eine bedenkliche
Versteifung. Gefühle werden, damit
sie bloß nicht unkontrolliert überborden,
wie in Beton gegossen.
Was ist Zeit ohne ein Ding, dass sich bewegt?
Die Seele, das ist ein Begriff; und dem ziehe
ich ein Kostüm drüber, woraus denn: aus
Sternenstaub verwobene Seidenfäden häkelten
mir den feinen Stoff? Glaube, Liebe,
Hoffnung – das sind zunächst Imaginationen.
Wer stellt sich denn was vor, hofft, liebt usw.
betet, bittet den Fachmann um Hilfe, ist das
ein Mann, eine Frau, ein Kind, und was hat
dieser Mensch schon erlebt? Es gibt ein individuelles
Gehirn, und das könnte ich, wenn
ich ein Chirurg wäre, als Organ operieren. Der
Schneider, der ein Nervenkostüm nähen kann,
um die Seele von Frau Meyer darin zu kleiden,
müsste die Dame wirklich gut vermessen
können. Das wäre der Anfang. Und nicht
einmal das kann der Arzt.
Das dicke Fell: Im Gehirn ändern zu können,
was sich dort im Verhalten vieler Jahre eingeprägt
hat, scheint operativ oder medikamentös
nicht wirklich erreichbar. Solange diese
Vision von echter Heilung durch Reparatur
nur finsterste Ideen der perfekten Gehirnwäsche
hervorbringen, sollte der Psychiater sich
zumindest selbst eingestehen, wie wenig er
nachweisbar an einer verbesserten Lebenssituation
seines Patienten ursächlich ist, wenn
das denn gelingt.
Dass Menschen durch Überforderung oder
traumatisierende Ereignisse übermäßig sensibel
dafür werden können, was um sie herum
los ist, und es auch gute Gründe dafür gibt,
sagt der Psychiater nicht gern. Wenn es darum
geht, ein psychisch auffälliges Kind besser
zu integrieren, ist der Fachmann darauf
angewiesen, dass alle zusammen arbeiten,
Lehrer, Verwandte, die Eltern und er, der Arzt.
So zusammen mit dem Kranken in einem gemeinsamen
Boot unterwegs fährt man besser,
als dem Kind zu sagen: „Deine Eltern sind
blöd und schuld an deinem Problem.“ Das
wäre kaum zielführend. Ein psychisch krankes,
ein hyperaktives, ein hochintelligentes
Kind und ein kreatives Wunderkind stellen
für die Normalen ein Problem da. Das heißt
aber nicht, dass normal zu sein gut und etwa
bewundernswert ist (und leicht nachzuahmen
wäre). Es ist vielmehr so, dass in den
meisten Fällen die Normalen einfältig mitlaufen,
nicht hinterfragen, beobachten und
prüfen wollen, wie die oben zitierten besonderen
Kinder.
Sport: Wir lernten zu segeln von unseren
Eltern. Ein persönliches Beispiel. Mein Vater
war recht gut im Regattasegeln. Sogar auf
dem schwierigen Revier der Hamburger Alster
konnte er gewinnen, besonders mit einem
guten Mitsegler war er dort stark. Der Vater
von meinem Freund Piet ist auf diesem Bin-
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 46 [Seite 41 bis 47 ]
nenrevier vergleichsweise unschlagbar berühmt
und gut gesegelt. Interessanterweise
ist es ihm auch möglich gewesen, Peter exakt
in die unzähligen Besonderheiten der Alster
bei den verschiedenen Windrichtungen und
alle Kniffe, die er kannte, zu unterweisen. Ungefähr
wie der oben zitierte Jazztrompeter
Gillespie exakt sagen kann, was er wo im Akkord
tut. Unterstützung (im Schachspiel des
Segelns) auf dem vertrackten Binnenrevier?
Meinen Vater erinnere ich, wie man etwa
„Holzdamm“ erfolgreich anzukreuzen habe,
als wenig konkret.
Es läge in der Familie, sagt man.
Die Ahnenreihe des Talents, etwas Besonderes
zu können; sie kann auch ins Stocken
geraten. Segeln, malen, Musik machen, das
findet statt zwischen dem Spannungsbogen
aus gewinnen und verlieren, bewundert zu
werden und der Freude daran, etwas zu lernen.
Manche tun es einfach, und andere wissen,
wie sie es tun.
# Hoffen, suchen, ankommen!
Gerade habe ich die beiden Zeichnungen gefunden,
die ich an der Este machte. Das war
während eines Ausfluges mit der Schulklasse.
Gerd Kröger zeichnete auch, und die anderen
lagen im Gras vom Fluss und machten was
andere immer machen. Mein Klassenlehrer
hat mich fotografiert. Fast schon als ein
Wunder empfinde ich, dass ich schließlich
einen Einfall hatte, wo dieses Bild zu finden
sei, wenn es überhaupt noch dort wäre, wo
es möglicherweise sein könnte. Einmal mehr
zeigt sich, dass es nichts bringt zu suchen,
wenn man keine gute Idee davon hat, wo etwas
ist. Das ist eine Binsenweisheit? Nicht jedem
ist das klar. Natürlich lachen alle, wenn
Paul Watzlawick (Die Anleitung zum Unglücklichsein,
Piper) seinen Witz erzählt: Der
Betrunkene, der seinen Schlüssel im Licht der
Straßenlampe sucht, obwohl er ihn woanders
verloren hat. Dort sei es aber zum Suchen zu
finster.
Die Leute behaupten immer, sie seien frei zu
tun was ihnen gefällt, könnten erreichen, was
sie nur wollten. Jeder Ratgeber sagt ihnen
das. Viele plappern es nach. In der Realität
zeigt sich’s anders. Da sind diejenigen, die
kein Gefühl für den Rhythmus haben, Töne
nicht treffen, sich schwer tun mit jeder
Musik. Es gibt die, die zum x-ten
Mal die Perspektive nicht verstehen.
Beobachten Sie! ruft der neckische
Philosoph – ja, aber was denn? fragen
sie, während andere begreifen.
Natürlich ist es möglich, eine
Fahrkarte nach Mailand zu kaufen
und hinzufahren. Aber warum? Es
braucht wohl einen Grund, etwas
zu tun.
Ich fahre nur dann hin, wenn ich
dort zu finden glaube, was ganz genau
ich suche.
„Weil Hoffnung alles verändert“, steht an vielen
Kirchen auf einem weißem Banner. Hoffnung,
worauf denn? Das ist nur ein Wort. Ein
Begriff wie Veränderung. Wer ändert etwas
(was ist das genau), und wie viel gibt es her,
worauf hofft derjenige, schließlich anzukommen?
Wer es so genau wissen will, ist nicht mehr
normal!
:)
Ha ha.
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 47 [Seite 41 bis 47 ]
Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick
Apr 15, 2021
# Gebrauchsanweisung für heute
Eine Liste brauchen wir, einen verbalen Verhaltenskodex
für die Gegenwart. Sag’ nur
gute Sachen. Aktuelle Wörter*innen; sonst!
Mach’ den Abflug. Wir sind die Mikroplastik
und übernehmen. Die Endzeit macht sich
breit. Definieren schafft Sicherheit: Biodiversität
ist kein grünes Gesät, es ist der Rest, der
lebt. Abgenabelt? Die Welt von gestern und
die korrekte von heute, wir haben uns einvernehmlich
getrennt. Klarnamen und verpixelte
Visagen, Onlinevernissagen, kannst du
diese Wörter sagen?
Dann bist du engagiert.
Sei ganz du selbst, und sag nicht was du
denkst, dann bist du authentisch. Sag das,
was wir sagen. Wir wissen, was gut für uns
ist und für dich. Wir schützen dich im öffentlichen
Medium, verwischen dein Nummernschild,
deine Firma an der Fassade, deine
Visage, machen dich weg. Es lebe der Fleck.
Malerisch künstlerisch, wir sind: Künstliche
Intelligenz, Inzidenz, Vakzin und Impfmedizin.
Jede Woche bewegt uns was neu. Mäh,
wir folgen der Herde. Du willst nicht? Dann
bilde eine Gruppe quer. (Du bist nicht allein).
Black Lives Matter, Fridays for Future, Metoo
u.v.m. – wer das nicht kann, der hat’s schwer.
Leugne nicht, was wir dir sagen! In unsrem
Land hat sich’s so böse zugetragen. Schäm’
dich lieber, sei selbstbewusst spontan. Grüße
nicht, auch nicht zum Spaß, mit dem ausgestreckten
Arm. Die Diktatoren der Kunst müssen
wir kulturell entkanzeln. Respektiere die
Migranten und deine Tante. Rede nicht die
klare Kante; sonst!
Wir distanzieren uns.
Vorsicht, bei Strafe verboten: Sei nicht
homophob. Du weißt nicht, was das heißen
soll? Wo lebst du denn, das weiß
heut’ jedes. Sprichst du über mich was
öffentlich, oder im Kommerz, so gendre
mich m/w/d. Bist du nicht konform, folgst
nicht unsrer neuen Norm, oh weh, da bespitzelt
dich der BND, das M.o.n.d (die du bist am
Himmel). Weiß ist mein Schimmel. Der Trojaner
kommt! Sensible Daten werden transparent
maskiert. Sei nett zu den Frauen,
sei kein Sexist. Du weißt nicht, was
das ist: Mann! Du bist von gestern.
Bestell dir keine Zigeunersoße, das
sagt man nicht. Gib deiner Straße
einen neuen Namen. Küchenhofgasse
oder Anne Schmidt Straße;
entscheidend ist, du weißt schon.
Nicht? Wo kommst du her, weißt du
nicht, wie’s sich gehört? Setz auf
den Helm, bevor du radelst, mach
eine Mammographie, rauche nie.
Bio ist ein Muss. Hörtest du nicht
den Schuss? Leb vegan, vergiss die
Kuh, das Schwein, das Lamm. Sonst!
Mäh zwei, kleiner Prinz. Von gestern ist Saint
Exitus: Mal mal selbst dein Schaf. Lebe deinen
Traum! Glück besteht darin, den Menschen
zu finden, der an dir schätzt, was für andere
wertlos ist; da kannst du lange suchen. Keine
Langeweile und nie angekommen sein. Die
andern werden’s dir schon kaputtmachen,
dein Glück. Selbstbeschiss ist möglich, geh’ in
die Politik. Da werden Frauen gebraucht, die
in der Küche stören. Grill den Bruzzler, selbst
ist der Mann. Hast du keinen negativen Test?
(Mal dir einen). Geht doch.
Gute Menschen halten zusammen und tun
gemeinsam das Richtige, was wir jetzt brauchen.
Wir stehen zusammen. Denkt an den
Abstand! Tritt aus, ist grad Mode. Geh deinen
Weg. Aber geh ihn wie wir. Sonst? Geh. (Hau
ab: Putz den Herd, verpiss’ dich in den Hinterhof).
Lauf weg. Ich zünde eine eine Kerze an
und bete für dich …
:)
Apr 15, 2021 - Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick 48 [Seite 48 bis 48 ]
Girlande der Schande
Mai 9, 2021
Öffentlichkeit ist ein Teil der Kunst, das andere
ist die Beschäftigung mit den Mitteln, sich
auszudrücken. Nicht nur Künstler, viele Menschen
leben öffentlich sichtbar. Das ist eine
Erfahrung, die diejenigen, die kaum jemand
kennt, eher nicht nachfühlen können. Für die
Masse bleibt das auf der Plattform stehen
nur eine vage Idee. Aber beinahe jeder teilt
seine Ansichten in einer Gruppe. Heute haben
wir im Alltag Möglichkeiten, uns selbst
darzustellen, die Menschen in den Siebzigern
als ich selbst Jugendlicher war nicht kannten.
Warum gibt es das? Vermutlich ist die Selbstdarstellung
und der Wunsch nach Reflexion
menschlich.
# Hass ist die Antwort?
Jeder ist heute Künstler,
allen stehen grafische
Mittel zur Verfügung. Seit
der Erfindung der Kamera,
sieht sich der Maler
vom Laien in der Einzigartigkeit
seiner Fähigkeit
bedroht. Nicht nur
zu fotografieren, auch zu
filmen und eine breite
Form von ästhetischen
Gestaltungsmöglichkeiten der Profis stehen
allen zur Verfügung. Seitdem Menschen sich
kleiden, ist zum rein zweckmäßigem Schutz
gegen die Witterung vielerlei dazugekommen,
womit jemand ausdrückt, wer er ist und
wie das wirken soll. Das schafft Beziehungen
zu Gleichgesinnten. Es bedeutet genauso,
dass unabdingbar Gegner eine Angriffsfläche
bekommen, die die Welt anders interpretieren.
Schon immer mussten sich Künstler einer
kritischen Öffentlichkeit stellen. Wenn
alle die Umgebung abbilden, sich als Model
oder zumindest Typ präsentieren, trifft das
auf jeden zu.
Aus einer feindseligen, aber natürlichen Umwelt
ist eine kritische geworden, die heute
künstlich ist, weil Menschen sie durchgängig
gestalten. Der moderne Mensch wirkt konstruiert
wie etwa seine Architektur und der
ganze Tand drumherum. Unter und hinter den
Masken ist er noch nackt und natürlich, versteht
sich oft nicht. Immer bunter, vielseitiger
und einfallsreicher sind die Influencer, denen
viele folgen, die einfachen Mitläufer sagten
wir früher, die Masse. Die graue Maus ist ein
Auslaufmodell, sie gibt sich bunt, kopiert
den Style. Neid wird maskiert, Schwäche und
Angst überspielt, und es gibt effektive Mittel,
das zu tun. Diejenigen, die etwas an den
anderen finden, dass sie dafür nutzen, sich
selbst aufzuwerten sind raffinierter geworden.
Die „asozialen“ Medien
werden die Netze genannt,
wenn eine böse Community
unterwegs ist.
Ich finde es realitätsnäher,
genau wie beim Mobbing
überhaupt, nicht nur die Opfer
zu beklagen, sondern die
Gesellschaft insofern richtig
einzuschätzen, dass jede
Besonderheit zu Neugierde
führt, eingeordnet wird und
zur Reflexion anregt. Damit
ist das Opfer von Anfeindungen
auch ein Objekt,
welches durch seine exponierte
Stellung aufgefallen
ist und das möglicherweise
selbst gar nicht nachvollziehen
kann. Nur Kurzsichtige
empören sich: „Ach, nun ist
,sie’ noch selbst schuld dran!?“, um ihrerseits
die willkommene Angriffsfläche zu haben,
sich zum Retter zu erheben, ohne anschließend
effektiv zu helfen.
Das Wort „Schuld“ ist nur ein Erklärungsprinzip.
Und damit eine Reduktion der größeren
Wirklichkeit zum Instrument derjenigen, dessen
Handwerksgerät es ist. Diese Definitionen
müssen sich, seitdem Menschen sprechen,
immer neuen Realitäten anpassen. Wir wollen
mehr. Es genügt uns nicht das mittelalterliche
Treiben. Mit dem Atlas
von Kopernikus kann
heute niemand den Mond
erreichen; soll heißen,
je besser wir menschliches
Verhalten verstehen,
desto effektiver können
Hilfen gegeben werden.
Nicht zuletzt wird Selbsthilfe
eher möglich, wenn
Ausgegrenzte lernen, ihre
Individualität stärker auszuleben
statt aufzugeben
und davonzulaufen. Dann
werden immer wieder
neue Böse ihnen schaden. Mit der Akzeptanz
einer nicht zu ändernden Umgebung kann
Angefeindeten eher geholfen werden, Wege
besserer Abgrenzung bei weiterhin individueller
Präsentation zu finden, als sich mahnend
und anklagend zu geben. Die Mode, unbequeme
Beziehungen sofort aufzukündigen, stärkt
nur diejenigen, die von außerhalb jeglicher
Verbindlichkeiten anonym schießen.
Eine grüne Kanzlerkandidatin Baerbock wird
per E-Mail diffus angefeindet wie viele andere
Politiker, fragt sich womöglich, wie das
sein kann, weil sie das Beste und Grünste
für uns will? Sie ist sich in eigener Sache
andererseits sicher, ihren Tübinger Oberbürgermeister
Palmer aus der Partei ausschließen
zu wollen, weil dessen Provokationen
den Rahmen der gutgrünen Partei wiederholt
gesprengt haben. Insgesamt bedeutet
andere abzumahnen, Druck in deren Richtung
hin auszuüben. Wie stilsicher, fair und
gesellschaftskonform wir dabei sind oder
eben nicht; was nun richtig ist, Meinung oder
Persönlichkeitsverletzung, entscheidet nicht
selten ein Gericht. Und auch dieses kommt
erst zur abschließenden Bewertung, weil unsere
Gesellschaft eine Kette von Instanzen
festlegte, die im Streitfall bis zu einem Ende
durchlaufen wird. Das wird aber nie verhindern
können, dass Menschen diesen Rahmen
umgehen. Auch Kinder widersetzen sich,
wenn die Umgebung (für
sie) nicht nachvollziehbare
Grenzen setzt. „Systemsprenger“
ist der Titel eines
Films, den man kaum gesehen
haben muss, um nicht
schon bei dieser Überschrift
und den wenigen Bildern
der Vorschau einen guten
Eindruck davon zu bekommen,
worum es geht.
Wir stehen dem anonymen
und überbordenden Hass
besonders im Internet einigermaßen
hilflos gegenüber.
Meiner Auffassung
nach stellt sich weniger
die Frage danach, warum
es Hass im Internet gibt,
sondern zunächst sollte
darüber nachgedacht werden,
was der Antrieb ist, sich zum Speaker
auf einen Stuhl zu erheben, statt einfach zu
arbeiten oder sein Bier zu trinken und die
eigenen Ansichten nur nebenbei und diskret
zu vertreten. Im Einsehen, dass nur reflektiert
und daraufhin weiter reagiert wird, und
schließlich die Form, in der das geschieht,
explodiert, liegt eine Chance. Ich kann mich
fragen: Wer braucht die Themen, die jemand
öffentlich herausstellt, wer braucht z.B. Kunst,
und wem bedeutet meine politische und gesellschaftsrelevante
Äußerung etwas; das bin
wohl zunächst ich selbst, der sich Gehör verschafft
und deswegen als Verursacher einer
Reaktion zu gelten habe.
Ich habe in einem TV-Beitrag Betroffene
von Hass-Mails gesehen. Ein „Vorreiter der
Transgender-Szene“, der ein kleines Geschäft
betreibt, konnte besonders gut und sensibel
ausdrücken, worin sein Problem besteht. Er
hatte sich zunächst gefreut, vor einigen Jahren
endlich den Mut zum Comingout gehabt
zu haben und viel Zuspruch bekommen. Klar,
die vielen anderen, denen es ähnlich geht,
Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 49 [Seite 49 bis 51 ]
teilen seine Emotionen. Aus einem völlig unbekannten
Ladenbetreiber, der für seine Kunden
bislang einfach ein Typ hinter der Kasse
war, der Verkäufer, wurde mehr. Ein mutiger
Mensch, und man stärkt sich gegenseitig.
Dann kommt, anonym zunächst und bald
auch ganz real, bedrohlich nah der Hass auf.
Der Star einer kleinen Twittergemeinde sieht
sich echten Menschen gegenüber, die feindlich
auftreten. Da steht jemand vor seiner
Wohnung oder ein Kunde im Laden verbalisiert
ihm, was er für „einer“ sei. Allein mit der
Situation: Die angerufene Polizei hat Wichtigeres
zu tun.
Das ist ein weich und empfindsam
auftretender Typ mit einer komischen
Brille und blassem Teint, schmale
Schultern. Er artikuliert zart, im
Tonfall irgendwie „dazwischen“; ein
stimmiges Bild gibt er ab, kann klug
reflektieren, bietet aber zugleich
denen die gewünschte Angriffsfläche,
die darin erkennen, er sei eben
kein „Mann“ wie es richtig gehöre.
Im Buchladen nicht verkehrt, dürfte
er kaum Freude daran haben, wenn
er probierte, eine Ausbildung im
Handwerk beispielsweise auf dem
Bau zu machen. Der mag intellektuelle
Themen oder meinetwegen
kreativen Bastelkram, feine Klamotten
verkaufen, aber auf einem
Gerüst mit Hammer oder Kelle die
Mische für den Zement hantierend,
kann man sich den kaum vorstellen.
Bei seiner Artikulation wäre ein „verpiss dich,
du alberne Schwuchtel“ zu erwarten. Schon
deswegen, weil „echte Männer“ eben auch
Vorbilder haben, sich zu geben, und das nicht
änderbar ist. Wir sollten nicht vergessen, dass
es unmöglich ist, eine ganze Gesellschaft dahin
zu erziehen, sich smooth und genderlieb
zu jedem Zeitpunkt auszudrücken.
Das gilt auch für andere der Öffentlichkeit
zugängliche Äußerungen. Entweder suche
ich mir eine Gruppe, die zu mir passt und töne
mit den anderen weitgehend intern mit, dann
bleibt mir der Hass erspart oder ich profiliere
mich; jetzt muss es Widerstand geben. Das ist
wohl der eigentliche Grund: Man ist auf der
Suche nach einer Grenze, vermutet eine Mauer,
gegen die zu laufen eine Entdeckung der
Realität bedeuten kann. Wo ist das Ende der
Welt? Die Kante, die gerade mich mit meinen
Ansichten zum Absturz bringen wird – der
wahre Grund des Problems ist die individuelle
Sinnsuche. Dass es Abgründe und Mauern
gibt, können wir nicht ändern. Wir können
Türen hinein oder Brücken drüber bauen, und
sie werden nicht immer offen stehen, und
nicht allen genügen.
Bezeichnend fand ich sein Statement zum
Schluss. Im Rahmen einiger andere, die Anfeindungen
erleben, kamen die Auswirkungen
auf die Psyche zur Sprache. Es macht was
mit einem. Leider würden sich viele schließlich
zurückziehen, fanden die Unterstützer,
die eigene Organisationen vertreten, die
grundsätzlich helfen wollen, nicht nur einer
Ansicht den Weg in die Öffentlichkeit
ebnen, sondern den Menschen dahinter
wertschätzen. Genauso der Transgender.
Er habe überlegt, seinen Twitter-Account
abzuschalten … aber „das wär’s irgendwie
auch nicht“, meinte er und verzog sein Gesicht
so unnachahmlich, als hätte er etwas
süßsaures im Mund und wüsste nicht, es
runterzuschlucken oder lieber doch nicht.
Einfach eine Webseite ohne Kommentarfunktion
für sein Bloggen zu nutzen hätte
ihm nicht genügt? Es zeigt: Die Reflexion
ist denen wichtig, die nur reden, weil ihnen
das Material der Sprache als Spielzeug
nicht hinreichend Freude bereitet
wie die Farbe auf der Leinwand dem Maler.
Er bleibt eine arme Sau, wenn allein die
Reaktion auf seine Ansicht das Ziel seiner
Wünsche ist. Er will die Welt ändern.
Alle sollen ihn toll finden, und das wird
nie sein. Er hat sich die Wand zum Gegenanrennen
gesucht,
gefunden und möchte,
dass sie einstürzt. Eine
Trompete kaufen, eine
Posaune und mit den
Freunden um Jericho
marschieren, das will
er? Es gibt Menschen,
die entdecken, was alles
im Instrument, der
Posaune oder dem Buntstift,
Pinsel (was weiß ich:
Kunst) steckt, und diese
überwinden die Mauern
im eigenen Kopf schließlich,
scheren sich nicht
mehr um die der anderen
draußen. Es ist Platz genug,
wenn wir nicht gerade
Sophie Scholl sind
oder Anne Frank damals,
und das wird gern vergessen.
# Neunzehnhundertfünundvierzig
Der 8. Mai gestern ist der Tag „der Befreiung“,
der Kapitulation, des Kriegsendes, und
einige feiern deswegen. Es kam in den Nachrichten.
Ach ja, da war doch was. Anderen
ist es wichtig gewesen, gerade gestern eine
„Girlande der Schande“ aufzuhängen. Müllsammler
waren in verschiedenen Städten
unterwegs und haben die gefundenen Abfälle
öffentlichkeitswirksam an Wäscheleinen
in Augenhöhe aufgehängt. So was kann man
gut in einer Gruppe zelebrieren. Je nachdem:
Eine Abordnung einer Stadt kann sich schick
anziehen und mit demütigem Gesicht einen
Kranz ablegen, einen Kniefall zum Gedenken
von Sophie Scholl machen und wieder
andere machen eben das mit dem Müll. Sie
ziehen sich eine witzige Superheldendeko
drüber und erklären sich zu Müllrettern. Jedem
das seine, aber bitte gemeinsam. Unerträglich
dumm ist wohl, sich gleichzusetzen
mit Verfolgten der NS-Zeit. „Sie fühle sich
wie Sophie Scholl“, in ihrer Freiheit durch
die Coronaregeln beschnitten, meinte eine
junge Frau (aus Kassel) mit um Aufmerksamkeit
heischender, überschnappender Stimme
auf einer Querdenker-Demo vor kurzem?
Da muss sich doch ein Loch im Boden auftun,
diese Person zu verschlucken und einen
dümmsten Plappermund schließen. (Sogar
Gott scheint machtlos).
# Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.
Er bedeutete das Ende der NS-Diktatur und
des Zivilisationsbruchs der Shoah. Es bleibt
unsere immerwährende Verantwortung, die
Erinnerung an die Millionen von Menschen
wachzuhalten, die in den Jahren nationalsozialistischer
Gewaltherrschaft ihr Leben verloren.“
(Bundeskanzlerin Angela Merkel).
# Girlande der Schande: Zusammen mit den
„Stinknormalen Superhelden“ aus Rathenow
und vielen befreundeten Müllsammelgruppen
spannen wir am 8. Mai die „Girlande der
Schande“ quer durch die Republik, um auf die
Müllflut aufmerksam zu machen. Dabei basteln
wir eine Girlande aus dem gesammelten
Müll und hängen diese für alle sichtbar auf.
In Köln werden wir die Girlande rund um den
Ebertplatz spannen. Es gelten die gleichen
Corona-Regeln wie immer! (Auf dem Ebertplatz
gilt grundsätzlich Maskenpflicht und
Abstände sind natürlich jederzeit einzuhalten
/ Krake Köln).
Wir können ein gesellschaftsrelevantes Thema
für eigene Aktivitäten entdecken. Zum
eigenen Nutzen, und wenn wir das gut publizieren,
zum Nutzen aller. Den Widerstand
gegen die Nationalsozialisten auf billige
Weise zu instrumentalisieren, macht nur fassungslos.
Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 50 [Seite 49 bis 51 ]
Wer Kunst mag, kann sich in eine Ausstellung
begeben oder in der Umgebung ein Bild machen.
Da bekommt man wohl einen ersten
Eindruck, was Ästhetik in der Öffentlichkeit
wem einbringt. In Schenefeld gibt es eine
Plastik vor dem Rathaus. „Jörg Plickat, Dialog,
iranischer Travertin, 1997“ steht auf einer
Tafel. Am Markttag nutzt der Gemüsehöker
den Sockel zur Müllablage. Wenn kein Markt
ist, steht das sinnlose Stelenpaar nur so da.
Da gibt es keinen Dialog. (Jeder Grabstein ist
kunstvoller. Der ist noch graviert „hier ruht
Else Soundso“, und das bedeutet handwerkliches
Geschick).
# Kollektivkunst, Dialog oder Monolog?
# Am 22. Februar 1943 wurden die Geschwister
Hans und Sophie Scholl aus Ulm von den
Nationalsozialisten in München hingerichtet.
„So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen –
– aber was liegt an unserem Leben, wenn wir
es damit schaffen, Tausende von Menschen
aufzurütteln und wachzurütteln“, sagte Sophie
Scholl vor ihrem Tod durch das Fallbeil.
(Ulm News, 22. Februar 2020, R. Grimminger).
Unser Fernwärmehäuschen, von Schülern
besprüht, das fällt auf, ist aber aus grafischer
Sicht grottig hässlich. Im schlichten Weiß,
ohne gewurschtelte und kaum authentische
Graffiti, gefiele es mir allemal besser. Und
wäre es beschmiert von den bösen Gesellschaftsfeinden,
könnte
das Auge des Malers, meines
jedenfalls, darin die
echte Wut sehen und den
Wunsch, sich eine Mauer
zum Dagegenrennen zu
suchen, die mich gleichwohl
antreibt. Also?
Selbst ist der Mann!
:)
Ich schreibe, und es ist der neunte Mai 2021,
Muttertag, Europatag … es ist seit Wochen
zum ersten Mal warm und schön. Ein wunderschöner
Tag beginnt. Wolkenloser Himmel,
die BamS liegt auf dem Frühstückstisch. Auch
dort ist Sophie, die Studentin ein Thema. Alle
Jahre wieder, möchte man meinen. Ich weine,
wenn ich das lese und ändere nichts mehr.
„Vor 100 Jahren wurde die bekannteste Widerstandskämpferin
gegen das Nazi-Regime
geboren, sie wurde mit nur 21 Jahren hingerichtet“,
(Bild am Sonntag, 9. Mai 2021).
Die Frage nach dem Nutzen einer Aktion: für
wen den? Kriegsende, Erinnerung an den NS-
Widerstand, die Girlande der Schande, Müll
auf Augenhöhe, eine witzige Aktion, die unser
aller Versagen anschaulich macht. Das stärkt
die Gesellschaft genauso, wie die Erinnerung
an den Krieg und die
Opfer früher. Kann der
Einzelne sich selbst
stärken, wenn er Teil
der Weltretter wird,
sich in einer Gruppe
zum Müllsammeln findet,
mit den anderen
zusammen ein Graffito
gegen die Beschmierung
öffentlicher Wände
anbringt oder gegen
Hass im Netz antritt?
Es bleibt die Frage
nach der inneren Erfüllung, der Suche nach
einer Wand, gegen die ich laufen möchte und
ob mich eine Gruppe dahin führen kann? Um
Sauberkeit zu erzeugen, wäre ein Job bei der
Stadtreinigung vernünftig. Um gegen Hass
im Netz vorzugehen, könnte man probieren
darüber nachzudenken, wie das eigene Leben
ohne negative Emotionen wäre: Ich finde alles
schön, liebe jede …
Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 51 [Seite 49 bis 51 ]
Meine kleine Freiheit
Mai 28, 2021
Nach dem Wehrdienst, der für mich eine
Dauer von 15 Monaten bedeutete, begann
mein Studium an der „Armgartstraße“, der
Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg.
Es war Anfang 1985, und nach zwölf Semestern
bin ich vergleichsweise zügig damit
fertig gewesen, habe ein Diplom bekommen.
Als Regelstudienzeit waren acht Semester
vorgesehen. Ich kenne niemanden, der es in
so kurzer Zeit schaffte. Nicht, weil die Anforderungen
so hart gewesen wären, dass man
länger brauchte, sondern aufgrund erheblicher
kreativer Freiheiten, was es hier eigentlich
genau zu leisten galt oder eben auch
nicht. Es sei „ein Sanatorium“, spottete Otto
Ruths. Im Ausland würde konzentriert und
hart ausgebildet, bei uns könne man machen,
was man wolle. Dementsprechend mau wäre
die Qualität dieses Studiums, fand mein alter
Professor bekümmert. Nichtsdestotrotz: Ich
bin also anerkannt ausgebildeter Grafik-Designer
und habe informative Illustration als
Schwerpunkt studiert, und zwar bei Professor
Gero Flurschütz. Das inzwischen selbstverständliche
Bachelor/Master-Studium wurde
erst später etabliert: Heute heißt dort alles
anders. Unser Grad war dem Wunsch nach
einheitlichen Bezeichnungen geschuldet. Die
FH für Gestaltung sollte als Teil der anderen
Fachbereiche integriert ausbilden. Grafiker
sind keine Künstler. Sie gestalten den Alltag
künstlerisch, sind aber nicht frei, arbeiten im
Auftrag. Man nannte es Gebrauchsgrafik. Für
Kunst gingen die mit dem Abitur ans Lerchenfeld.
Dazu reichte es bei mir nicht. Nach der
Realschule schaffte ich noch ein Fachabitur.
Kunst war von vornherein ausgeschlossen.
Hätte ein „richtiges“ Studium mich zum
Künstler gemacht? Tatsächlich ließ die
Schul- und Studiumslandschaft einen Wechsel
ans Lerchenfeld (Uni) zu. Dazu musste
man einige Zeit an der FH gewesen sein, sich
quasi bewiesen haben. Die exakten Konditionen
weiß ich nicht mehr. Es hat mich nicht
interessiert. Vermutlich stand mir Angst im
Weg, überhaupt über das Leben nachzudenken,
die Zukunft zu planen. Damit Kreativität
funktioniert, muss einiges im Menschen zusammenkommen.
Die Frage, ob Kunst existentiell ist und bedeutet
die finanzielle Existenz miteinzuschließen,
kann nicht korrekt beantwortet
werden. Spielen mit Material, die Welt mit
ästhetischen Thesen zu erreichen; wir streiten
noch, wie’s zu verordnen ist.
Als Belege für diese Unsicherheit,
was das eigentlich sei, mögen die
unterschiedlichen Leben Berühmter
nützen. Wann waren sie anerkannt,
zu Lebzeiten wie Picasso
oder erst nach dem Tode wie
Vincent van Gogh? Meine Eltern
meinten: „Den Fischladen sollst
du mal nicht machen“, Malen sei
brotlos. Tröstlich: „Du kannst es
in der Freizeit tun.“ Ich bin viel
zu unreif gewesen, wusste nicht,
was ich wollte. Ich tat, was manche
geraten haben. Alles geschah
irgendwie.
Trotzdem sperrig und irgendwie
fehl am Platz: Diplom? Das hat
der Ingenieur. Später, bei einer Bewerbung
im künstlerischen Echtleben, konnten wir das
kaum brauchen. Nur die Künstlerin Angela
im Einkaufszentrum, oben im ersten Stock an
der Rolltreppe zum 1-Euro-Laden, nennt sich
stolz Diplom-Bildhauerin. So wird man kaum
eine richtige Rodin. Diese liebe Bildhauerin
kann allenfalls Hunde, Pferde und Enkelkinder
hauen (für ein unterbezahltes Geschenk
zu Weihnachten). Bleibt noch zu unterrichten.
Zu lehren, so zu werden wie wir? Ein Erfolg,
etwas aus dem Leben gemacht zu haben, der
vermutlich nur wenige Schülerinnen davon
überzeugt, dass das eine besondere Sache ist.
Ein Weg, dem nachzueifern sich kaum lohnt.
# Was bitte ist Diplomkunst?
Nach dem Studium wollte niemand eine
Note, einen Titel sehen, wenn wir uns irgendwo
beworben haben. Da zählte nur
die Mappe, eine Sammlung mit guten
Zeichnungen, anstelle der Behauptung,
jemand zu sein. Heute brauchen
wir vor allem eine verblendete Sprache,
um nicht danebenzuliegen, wenn
wir etwas erreichen wollen. Department
Design heißt es nun hinter der
Alster auf dem Mediencampus, Master
of Arts. Das ist unsere Armgartstraße
gewesen. Gebrauchsgrafiker werden
nicht mehr gesucht. Was brauchen
wir?
# Ich benötige dich
Benötigen, ein altes Wort, dringlich
klingt es, eleganter als brauchen, höflich
formuliert: Was tut not? Humor
auf keinen Fall, Ironie funktioniert
nicht! Ich schweife mal ab, treibe das
auf die Spitze. Anders als in der Politik
(der grüne Ministerpräsident Winfried
Kretschmann hat auf diese Weise gerade den
Parteikollegen und Oberbürgermeister von
Tübingen, Boris Palmer, abgestraft und korrigiert)
ist Ironie in der Kunst (noch) nicht fehl
am Platz, so hoffe ich. Ich bin es außerdem
gewohnt, abgestraft und bestraft zu werden,
und es gefällt mir. Ein Kreativer der nicht
stört, ist kein Künstler, sondern nur ein Dekorateur.
Freiheit, sich frei entfalten, ausleben können
und Träume, Wünsche entwickeln, sie sich erfüllen,
das benötigt der Mensch. Druck ausüben,
Macht über andere gewinnen, sie besiegen
wollen, brechen, ist verpönt. Das tut weh.
Menschen an sich zu binden, mitzunehmen,
wem das gelingt, der konnte Grenzen übertreten,
ohne gebremst zu werden. Was dem
einen der erfüllte Wunsch ist, Besitz, wird
dem Gegenüber ein Käfig, Leben, wie mitgeschleift
zu werden, und doch geschieht es.
Wie weit kommt der Mann; denn wir sind ja
die Bösen? „Wir mussten uns immer weiter
ausziehen, wurden wie Spielzeuge herumgereicht“,
eine Party beim Prinzen in England.
Das habe ich so in einem Interview gelesen,
das eine junge Frau gab, die jetzt öffentlich
Klage führt (und ich war ja nicht dabei). Ich
gebe zu, die Vorstellung Teil dieser Veranstaltung
zu sein erregt mich. Kranke Männer
werden dingfest gemacht, und auf der anderen
Seite böse Männer tun es, üben sexuelle
Gewalt aus. Machtmenschen, die ganz offensichtlich
nicht krank sind, nehmen sich, was
sie brauchen. Sie finden auch dazu helfende
Frauen, die das böse Spiel vorantreiben, junge
Menschen auszunutzen.
Die Gesellschaft schaute weg, die Eltern, die
Freunde waren fern, und Gott gerade hinter
dem Pluto unabkömmlich, beschäftigt. Heute
steht hinzuschauen, wenn jemand bedrängt
wird, so hoch im Kurs, dass zweierlei passiert:
Es wird gerade deswegen doch weggeschaut,
weil Zivilcourage eingefordert werden könnte,
und es wird extra hingeschaut, zu intensiv,
im voraus eilenden Sinne, weil eine Belohnung
winkt. Retter sein! Und das Unheil
entwickelt an Fahrt, das Rufmord heißt.
Es ist mein malerisches Thema geworden,
weil’s mich betrifft: Ich bin ein Mann, und ich
war selbst einmal Kind und jugendlich. Ich
möchte nicht als psychopathisches Monster
gesehen werden wegen dem, was ich sagte,
weiter (frech) male und hier im Dorf (selbst
hinschauend) treibe. Das ist scheinbar passiert,
und viel ging kaputt.
Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 52 [Seite 52 bis 56 ]
verachtet, verbal selbst zu richten. Er ordnet
dich als Ganzes ein: Das ist „so“ einer! sagt
er anonym. Und ein kleiner Krieg fängt an.
Die Gewalt ist ein Teil der Welt und wird es
bleiben. Die Chance besteht ja gerade darin,
sich auszuleben und eigene Grenzen zu bemerken,
statt hinter der Gardine zu spannen,
wenn unten falsch geparkt wird und die Polizei
zu „informieren“; das ist nicht das Leben.
Nötigen, bedrängen, missbrauchen; ich habe
mich immer gefragt, was sexueller Missbrauch
sei? Nicht das Verbrechen. Ich meine
den Begriff. Wenn wir die Zigeunersoße
brandmarken, den Mohrenkopf nicht mehr
zum Munde führen dürfen, ohne Bauchschmerzen
zu bekommen, wie kann es sein,
dass Menschen missbräuchlich gebraucht
werden, zweckentfremdet?
# Missbrauch
Ein Wort, dass obschon omnipräsent, noch
nicht in den Fokus der Gutmenschen geraten
ist, die täglich ihre Verbots-, Gender- und
Weltverbessrerliste länger machen. Bislang
fand sich keine, die drauf plädiert hat, dass
diese missdeutliche Verletterung dringend
verworfen werden müsste, warum? Impliziert
es für mich doch die gute Gegenseite des
richtigen Gebrauchs. Wer sagt denn so was?
Los geht’s: Ich brauche eine Frau und „gebrauche“
sie lustvoll, das wäre die korrekte
Kehrseite zum Missbrauch? Das habe ich so
noch nie gehört. Das klingt nach benutzen.
Gebräuchlich ist, wie sich’s gehört. Brauch.
Ach so.
# Vollstreckt
9. Mai 1921, ich muss das so schreiben: Weil
es aktuell in den Nachrichten kam, Erinnerung
an eine Heldin damals, vor hundert
Jahren geboren. (Es wirkt tagelang nach bei
mir). 22. Februar 1943, Sophie Scholl, die Widerstandskämpferin
im Dritten Reich wurde
enthauptet. Sie wurde nur 21 Jahre alt.
Ich weiß, dass viele Menschen litten, auch
heute täglich Unheil geschieht, aber meistens
sehe ich darüber hinweg. Ich habe vor
wenigen Tagen einen Mann gesehen, der trug
ein Mädchen auf der Schulter. Sie war etwa
zwölf Jahre alt. Im Fernsehen war das, in den
Nachrichten. Mit vielen anderen, in einem
Strom durch das Bild drängenden Menschen,
eilte er mit ihr auf die Kamera zu. Ich sehe es
noch immer vor mir, wenn ich daran denke: Er
kommt nah heran, passiert die Stelle an der
er gefilmt wird, ohne darauf zu achten. Mit
der Kleinen, wie eine leichte Jacke oder einen
leblosen Sack übergeworfen, hetzt er schnell
rechts raus, direkt im Vordergrund, dass man
die Gesichter erkennen kann. Die Verletzte ist
dünn, hübsch, dunkelhaarig, vielleicht seine
Tochter. Ich erinnere, wie verzweifelt dieser
Mann schaut, obwohl das Bild nur für einige
Sekunden durchlief. Das kleine Mädchen;
dort, wo das linke Auge hingehört, war alles
blutig, matschig geradezu. Krieg in Israel, im
Gaza.
# Verbrauch
Es wird gern vergessen, das Menschen finstere
Sachen tun, wenn wir bemerken, dass Männer
böse sind. Das ist dummes Zeug. Frauen seien
besser? Ich glaube nicht daran. Insgesamt: Es
gibt weder gute noch böse Menschen. Es gibt
Gewalt, auch verbal, und wir alle sind dazu in
der Lage, die Grenzen anderer zu missachten.
Der Krieg ist ein gutes Beispiel dafür, dass
Angriffe, nicht die Menschen böse sind. Wer
ist wem ein Feind? Das böse Spiel ist ein beiderseitiges.
Nur weil eine Gesellschaft nach
innen schauend den jeweiligen Gesetzesbrecher
erkennt, muss respektiert werden, die
Tat zu verurteilen und nicht den Menschen
insgesamt. Das ist unser Fortschritt, seit es
die „Gute Nachricht“ gibt. Der Grund, dass sich
das Christentum so breit machen konnte, ist
nicht, dass religiöse Eiferer damit Missbrauch
trieben.
Es ist schlicht so, dass ab unserer Zeitrechnung
die immer voller werdende Erde und
die sozialer und zivilisierter werdenden Massen
sich derartig auf die Pelle rückten, dass
den zehn Geboten der Teil mit der Barmherzigkeit
noch extradeutlich nachgereicht
werden musste, damit zumindest diese neue
Idee, wie’s auch geht, geübt werden konnte.
Der Rechtsstaat sollte so handeln, und deswegen
gibt es eine komplexe Struktur. Das
hindert deinen Nachbarn nicht, wenn er dich
Unser Altbundeskanzler Gerhard Schröder
war von 1968 bis 1972 mit Eva Schubach,
von 1972 bis 1984 mit Anne Taschenmacher
und von 1984 bis 1997 mit Hiltrud Schwetje
verheiratet. Vierte Ehefrau Schröders war ab
1997 die Journalistin Doris Schröder-Köpf.
Im Januar 2018 stellte Schröder seine neue
Partnerin, seine spätere fünfte Ehefrau, die
südkoreanische Wirtschaftsexpertin Kim Soyeon
vor, die er am 2. Mai 2018 in Seoul heiratete.
(Wikipedia).
Er verbrauchte vier Frauen, bis er glücklich
wurde? Das sagt man so nicht.
Das böse „Vergewaltigung“ ist eindeutig. In
diesem Wort steckt wohl, dass es so nicht
richtig ist, und es gibt keine umgekehrte Formulierung.
Das ist brutal und lässt nicht an
technische Geräte denken, eine Sache. Aber
der bestimmungsgemäße Gebrauch auf der
einen Seite, fälschlich der Missbrauch einer
Sache andererseits, das klingt nur logisch,
(denke ich) wenn wir von Dingen reden. Eine
Kaffemaschine brauche ich zum Kaffee kochen.
Wenn ich sie dazu missbrauche, Wiener
Würstchen zu garen, ist es verkehrt, aber
eventuell geht das.
Die Macht der Worte, die Gewalt geht vom
Gesetz aus, vom Staat. Was ist richtig, was
sollte bestraft werden, und wer im Staat ist
dafür zuständig, Bedingungen zu schaffen,
dass Straftaten dort gesehen werden, wo Leid
und Gewalt real verübt werden? Schmerz und
Verbrechen sind eindeutig am Leib spürbar.
Was weh tut, tut weh. Juristische Bewertungen
dagegen sind eine Welt für sich. Ein Urteil
macht aus dem Leben ein Wort. Und ein
Wort bedeutet dann, über das Leben anderer
zu bestimmen.
Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 53 [Seite 52 bis 56 ]
Menschen sind Monster, immer wieder, wenn
sie meinen zu wissen, was richtig ist, wer
Feind. Ich kann nicht länger ausblenden, dass
auch ich ein Mensch bin, und worin deswegen
meine Pflicht besteht. 1943 – ich konnte
nicht darüber hinweg lesen: Es gab einen
Henker, der es schaffte, eine junge Frau
abzuschlachten (wie ein Schwein), die
Flugblätter verteilt hatte, und das galt
ihm und seinem Staat als Recht und richtig.
Und heute gibt es weiter Menschen,
die möchten, dass der Staat tötet, weil
diese Leute mutmaßlich das Rechte kennen?
Es liegt einige Jahre zurück: „Wiedereinführung
der Todesstrafe“, was ich davon
hielte? Sie fände, darüber müsse nachgedacht
werden; eine Frau in meinem Alter
hat mich das gefragt. Wir trabten durch
den sich im Umbau befindlichen Stuttgarter
Bahnhof. Die intellektuell Geistreiche
kannte den aktuellen Weg zur S-Bahn
nach Backnang, wo wir hinwollten wie
oft. Während der Bauarbeiten im Rahmen
des Megaprojektes „Einundzwanzig!“ änderte
sich das einige Male zu gehen, und
der verschlungene Pfad in den Keller der
Bahn ist dort nicht immer logisch wiederfindbar
gewesen. Sie kenne sich aus,
fahre hier jeden Tag, meinte sie. Eine flotte
Dame in schwarz. Wir ließen uns gern
ein wenig an die Hand nehmen, plauderten
vergnügt, im guten Tempo durch das
Gewusel der Massen vorwärts strebend.
Sie sei Medienreferentin beim grünen
Kretschmann im Büro, so hatte sie sich
vorgestellt, während wir beschlossen,
den Regio aufzugeben. Lok kaputt, Hirn
beschädigt? Zu Fuß am Gleis unterwegs,
erst fröhlich interessiert, vielerlei politische
Themen durchhechelnd, machte es
Spaß zu reden; schließlich konfrontierte
sie mich – brüskierte uns, mit ihrem
Wunsch nach scharfem Schwert im Staat.
Unglaublich. Es ging so nett voran. Sie
kannte den Weg. Grün kann so ordentlich
sein, pragmatisch und vernünftig in Baden-
Württemberg. Das gefiel mir. Man läuft mit,
weiter, auch im Text, und dann das. Ich weiß
noch, ich sagte wörtlich: „Da gehe ich nicht
mehr mit“, war schockiert und höflich zum
Schluss.
„Einen schönen Tag noch.“
Widerstand ist immer begründet. Widerstand
zeigt, dass kein Staat das Recht und das
Richtige schon kennt, sondern darum ringen
muss. Natürlich ist unsere Welt besser geworden.
Es gibt aber weiter zu tun, und wir
machen weiter Fehler. Besonders meine Fehler,
mein eigenes Versagen kenne ich nur zu
gut. Andere zeigen mit dem Finger auf wieder
andere Menschen. Das liegt mir nicht so. Ich
probiere, besser zu verstehen. Heute lebe ich,
und es treibt mich um, etwas zu verbessern,
zunächst mich selbst. Ich will wissen: Was ist
krank, was böse? Was tut gut, geht leicht, gefällt
und macht Spaß; wie fühlt sich’s an? Wo
beginnt übergriffige Einflussnahme, Machtmissbrauch?
Mich drängt zu verstehen: Was
schafft die Lenkungskraft der Erziehung?
Möglichkeiten zur Selbsterziehung nicht zuletzt
gesundes Erwachsenwerden, auch die
Entwicklungsmöglichkeiten derjenigen, die
bereits lange volljährig, aber unreif geblieben
sind, probiere ich dort zu sehen, wo diese
gegen sich selbst unterwegs sind. Schwer,
andere zu ändern, beinahe unmöglich. Sie
sind so blöd, man sieht das doch gleich. Ich
möchte ihnen das, was sie so tun, auf diese
Weise nicht nachmachen, kann meine Fehler
bei ihnen erkennen. Ich bin, so scheint es mir,
auf meine Art genauso. Wo setzen wir an, unsere
Gesellschaft besser und menschlicher zu
machen, wenn nicht bei uns selbst?
Stark verkürzt erzählt: Ich wollte das vor einiger
Zeit mit einer Polizistin diskutieren. (Die
Polizei diskutiert nicht). So ist mein neues
Menü „Psycho“ entstanden. Eine Thematik, die
ich so befremdlich und unmöglich wie nötig
dargestellt habe, weil ich Unglaubliches erlebte.
Das hat mich eine Zeit lang von der
richtigen Malerei mit Farbe abgebracht. Das
große Bild, an dem ich seit einem Jahr arbeite,
„Europa von den Socken“, 120 x 100 cm,
Acryl auf Leinwand, stand in der Ecke. Aber
eben nicht ganz fertig. Ich konnte es aushalten.
Das hätte früher nicht funktioniert, ein
Bild lange beiseite zu legen.
# Strafbar!
Ironie funktioniere nicht in der Politik. „Das
sei doch ein Profi, der müsste das doch wissen,
der Palmer“, sagte der Ministerpräsident.
Wir Politiker sind nicht am wirklichen Geschehen
interessiert, „wir stellen es professionell
in unsrem Sinne dar“, heißt das wohl. Zu
unserem grünen Vorteil. „Quotenschwarzer“
bedeute ein rassistisches Unwort,
das sage man nicht. Vielleicht macht man
sich strafbar, wenn man es verwendet? Er
hatte es nur weitergesagt, seine These
illustriert, Cancelling in unserer Kultur
angeprangert. Auch Lehmann, der Fußballer,
hat den Begriff nicht erfunden. Er
stand am Anfang einer Kette von umfallenden
Dominosteinen. Ein Wort, das auf
drastische Weise rassistischen Alltag beschreibt,
wird selbst zum Unwort. „Neger“
ist schlimmer, und die Steigerung davon?
Das dürfen nur die selbst sagen, die es
betrifft; stimmt. Die eleganten Politiker
sagen nur professionelle Wörter.
Wer glaubt etwas verstehen zu wollen, ist
schon vom Ansatz her auf einem riskanten
Weg. Der Mensch ist mit der Größe
der Realität überfordert, schafft sich Ordnung,
verkleinert sie auf einen Schrank.
Er gibt allem eine Schublade. Es steckt
im Wort „strafbar“. Die Polizei ist nicht
daran interessiert, die Wahrheit zu finden.
„Können wir ihn bestrafen?“ ist vielmehr
ihr Ansatz (und falls nötig, helfen wir
nach, damit’s passt).
Daran zu glauben, es gäbe eine Wahrheit
ist bereits falsch, weil wir damit rechnen
müssen, dass diese nur bruchstückhaft
bekannt ist. Es siegt demzufolge die stärkere
Wahrheit. Darin liegt eine Chance.
Jedem Projekt wohnt das Risiko seiner
Fehlerhaftigkeit inne, so auch dem Unternehmen,
andere gezielt gesellschaftlich
ächtend zu bespitzeln.
Ein Teil der strafbaren Handlungen ist
ein argumentativer Rattenschwanz im
Gesetz um den Kern einer Tat herum. So
ist das Verbrechen beispielsweise, Falschgeld
zu verwenden. Dazu muss dieses hergestellt
werden, und derjenige, der es unwissentlich
weitergibt, gerät auch in den Fokus. Deswegen
geht es bei Gericht gezielt um die exakt
zu beweisende Strafbarkeit, weniger um den
Menschen und das verursachte Leid. Der Ruf
nach größerer Gerechtigkeit verhallt ein ums
andere Mal, und nur einfach gestrickte Menschen
beharren darauf. Gerechtigkeit, für wen
den? Milde für den Täter, der Opfer der Situation
sei, wäre gerecht; der empörte Verteidiger
verlangt danach? Das sehen die Ankläger
genau anders herum. Diese sind in der komfortablen
Situation, Schuld benennen zu können.
Das ist denen, die verletzt wurden nur
selten klar. Ihr Verständnis von Gerechtigkeit
bedeutet in der Regel gnadenlose Härte, die
„es geben müsste“.
Es bleibt die Annäherung an ein für die Gesellschaft
zu komplexes Problem. Der Rechtsstaat
kontrolliert sich dort, wo Ordnungskräfte
notwendigerweise Gewalt anwenden, um
polizeilicher Willkür vorzubeugen. Die größere
Wahrheit kann letztlich gewinnen, wenn
eine mobbende Gruppe sich zum Aufpasser
deklariert, aber lügen muss, ihre Ziele zu erreichen.
Lügen haben kurze Beine, heißt es.
Eine Polizei mit kurzen Beinen fällt schließlich
hin.
Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 54 [Seite 52 bis 56 ]
# Meine kleine Freiheit
Heute würde ich sagen, dass der
Gewinn des Lebens darin besteht,
dazuzulernen. Während zunächst
der Anteil Meinungen und Ratschläge
anderer mein Leben bestimmt
hat, bin ich heute frei zu
denken, was ich möchte.
So kommt es mir vor.
So fühlt es sich an. Da muss ich,
wenn ich diesen Satz hinschreibe,
gleich an S. denken. Ein Professor im
Studium. Zusammen mit dem Kollegen
M. waren zwei Fachleute für
Trickfilm engagiert worden. Und ein
oder zwei Semester habe ich dort
verschiedene Kniffe der filmischen
Erzählkunst und Techniken erlernt,
diese elegant mit wenig Aufwand
grafisch umzusetzen. Der Kollege S.
hatte zahlreiche kluge Tipps drauf,
wie man eine Geschichte im Film
mit ganz einfachen Mitteln auf den
Punkt bringen kann. Einmal glitten
unsere Gespräche in kleiner Runde
vom Thema ab. Zwei, drei Kommilitoninnen
saßen mit mir dabei,
hübsche Mädchen, deren Augen
geradezu an den Lippen des Profs. hingen, als
der philosophisch wurde. „Was heißt das, der
eigene Wille?“, meinte er.
„Du kannst ja nicht einmal darüber bestimmen,
was du denkst.“
Ein ganzes Leben lang scheinbar … habe ich
über diesen Satz nachgedacht.
# Die Gedanken sind nicht frei
Stimmt das? Ich prüfe es nach. Andere thematisieren
dasselbe auf ihre Weise. Mein
Weltbild kollidiert immer wieder damit. Vor
geraumer Zeit, als es ganz normal war ohne
Maske vor Mund und Nase zum Gottesdienst
zu gehen, singen mit der Gemeinde war üblich,
dicht an dicht sitzend in der Bank eine
Kirche zu besuchen, statt bei ausgewählt
begrenzter Besucherzahl nach vorheriger
Anmeldung hinzugehen. Es geschieht oft,
mal im Alltag, dann im besonderen Moment,
ich stolpere drüber. Eine Predigt mahnt mich,
dass es kein isoliertes Selbst gibt und damit
auch keine Freiheit der Gedanken nach dem
Motto „mein Wille geschehe“, sondern nur die
Freiheit zwischen den anderen. So gesehen
sind die stillen Worte in unserem
Kopf immer bedingte Gedanken, frei nur
im individuellen Kanal. Wie breit kann ich
meine Spur machen?
Du stellst meine Füße auf weiten Raum
(David).
# Paulskirche
Der neue Pastor Brodowski, hier bei den
anderen, in der Siedlung in Schenefeld,
nicht im Dorf, wo ich „meine“ Stephanskirche
und Rinja mag, gut kenne, spricht vom
Leben in der Beziehung zu Gott. Der Pastor
macht sich lustig über den altgrünen
Joschka. Der Prediger zitiert: „Mein langer
Lauf zu mir selbst“, so hieße ein Buch vom
pensionierten Politstar. Das sei an seiner
Realität, wie er, Brodowski sie verstünde,
vorbei. Leben isoliert von Gott und der
Umgebung ganz auf sich selbst bezogen,
blende doch aus, dass niemand ohne das
Drumherum existiere. So ungefähr erinnere
ich seine Mahnung vor kurzem in unsrer anderen
(großen) Kirche mit dem etwas abseits
stehenden Turm. In diese Richtung argumentierte
auch der Professor für Trick. Nur glaube
ich, dass es weniger „evangelisch“ gemeint
war. Was wäre denn noch freies Denken, Freiheit
überhaupt, wenn wir so festgelegt sind,
dass uns alles bloß geschieht?
# Leben in Beziehung zum Gegenüber
Freier Wille, ja oder nein, glasklar und entschieden
oder fest und vorherbestimmt unterwegs,
irgendwie dazwischen; ich kann
das nicht beantworten, aber das eindeutige
Empfinden, viel selbstbestimmter zu sein, ist
nun immer spürbar. Das wird mit den Jahren
stärker, lässt sich nicht auslöschen, wenn
mich noch irritiert, dass mir nach wie vor so
einiges passiert, worüber ich wenig Kontrolle
habe. Gerade das häufiger vorkommende Erlebnis,
die Wahl zu haben was ich als nächstes
möchte, lässt mich spüren, dass es Momente
gab in meinem Leben, wo ich keine Wahl hatte
und wie unter Zwang funktionierte.
Das fühlt sich nicht gut an. Wer nicht wählen
kann, wird sich fürchten. Schlimm, wenn wir
nicht wählen können, obwohl wir’s könnten,
wenn wir wüssten, dass wir es können. Auf
diese Weise sind viele gefangen in ihrem
Kreislauf, den sie zu denken gewohnt sind. Ich
habe nach einem Ausweg aus diesem Strudel
gesucht. Ich fand den entscheidenden Menschen,
um auszubrechen, kam raus, gewann
meine menschliche, natürliche Freiheit und
Selbstachtung zurück – und habe dabei so
viel verloren. Freiheit vom lebenslangen Alptraum,
eine vollzeitliche Angststörung (wer
denkt sich Begriffe aus, und wie lang dürfen
wir sie verwenden) war mein Leben, was
heißt das schon. Der Schock, schließlich ganz
viel zerstört zu haben; das sitzt noch.
Vor einem Jahr habe ich mit „Das grünere
Gras“ angefangen (Europa von den Socken).
Das ist zu einem Bild mit Malpausen geworden.
Nun hat es beinahe ein Vierteljahr
herumgestanden, eine Zeit, in der anderes
wichtiger war. Seit einigen Tagen male ich
wieder. Zwischendurch kamen mir Zweifel, ob
ich ein weiteres Mal den Zugang finde weiterzumachen.
Aber darauf kann ich mich, so
scheint es, verlassen; die Kreativität versiegt
mir nicht. Ich zeichne nicht seit dem letzten
Sommer, na und? Man wird schlechter darin,
wenn man’s nicht täglich tut, na und? Gerade
mache ich anderes. Es macht keinen Sinn, in
eine Richtung arbeiten zu wollen, aus Angst
man müsse dranbleiben. Für wen denn?
Und vielleicht liegt hier die Antwort auf die
schwierige Frage, wie es denn richtig ist, mit
der Freiheit und dem sinnvollen Gebrauch
unseres Selbst.
Man gehe durch die offene Tür, renne nicht
an gegen die Wand daneben, finde ich. Aber
zu glauben, man könne alles und jedes beginnen,
führt eventuell dazu, nicht wahrhaben
zu wollen, wo man gerade ist. Die Wahl
besteht darin, zwischen den Türen und Mauern
zu unterscheiden und den passenden
Weg zu nehmen. Aber die Unfreiheit, die sich
nicht leugnen lässt, ist die, dass hier eben nur
Türen offen stehen, von uns geöffnet werden
können, die am aktuellen Platz drumherum
montiert sind. Wenn ich gerade in einem
Zimmer bin, ist das bildlich real. Wenn ich
mich auf einem Bahnhof befinde, muss ich,
wenn es mir nicht gefällt, etwa die Bahn als
Verkehrsmittel zu nutzen, zunächst den Weg
zum Flughafen auf mich nehmen, bevor ich
auf diese Weise abheben kann.
Entspannter auf dem Weg, der so vieles bedingt,
das ist mein Leben heute. Und ich bin
um so vieles unglücklicher, trauriger und
enttäuschter als je zuvor – ein Widerspruch
scheinbar: Entspannt aber nicht glücklich,
was soll das denn? Glück ist doch nur ein Höhepunkt.
Enttäuschungen zulassen können,
sich nicht dafür bestrafen, Fehler gemacht
zu haben, das meine ich. Was ich alles nicht
bekam, wo überall ich mir im Weg stand, gegen
wie viele Mauern ich rannte! Nur scheiße
war diese Vergangenheit. Eine Kette von Fehlern,
Versagen und falschen Entscheidungen
drängt sich mir auf, die ganze Zeit ist alles
präsent, was ich verkackte. Meine Erinnerung
tut mir weh; ich komme klar damit. Früher
wollte und konnte ich’s nie spüren, wie unglücklich,
ängstlich und blind ich gewesen
bin. Eine seltsame Sache.
Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 55 [Seite 52 bis 56 ]
Es ist für so vieles nun unwiederbringlich
zu spät. Das geben diejenigen,
die gern sagen, sie würden
alles noch einmal ganz genauso
machen, nicht zu. Das ist so blöd,
denn natürlich möchte kaum jemand
das Leben eines anderen
komplett haben, mir jedenfalls
geht es so. Fehler schmerzen, und
es gibt Sachen anderer, die ich ihnen
neide. In diesem Widerspruch
liegt die Wahrheit des nicht anders
Könnens. Weil wir nun mal Individuen
sind. Anderen kann ich vormachen,
der tolle Typ zu sein? Mir
selbst mache ich nichts mehr vor.
Ich hätte ganz anders gelebt, wenn
ich das nur gekonnt hätte. Das gibt
heute und zukünftig unendlich
viele Dinge, die ich ändern möchte,
und es scheint ausgeschlossen,
eine Möglichkeit zu entdecken,
spezielle Wünsche umzusetzen. So
denke ich, es sei zu spät. Na und.
# Verdammt lang her
Es kann niemand mehr kommen, der mich
eines Bessren belehrt. Das müsste ich selbst
entscheiden. Mir fällt eine Erzählung ein, gerade
nur ein Satz aus diesem Roman, er sticht
hervor bis heute: Die anderen sind irritiert,
als Rob (der Rancher auf einem Gestüt) umschwenkt.
„Ein erwachsener Mann kann
seine Meinung doch ändern“, sagt der
raubeinige Pferdezüchter. Die kleine
Familie. Sie hielten den Vater für starrsinnig.
Ein harter Mann, Mutter und die
Söhne, sie hatten bereits aufgegeben.
Aber seine Härte ist kein Starrsinn, ist
nicht egoistisch, es ist mehr. Der knorrige
Rob kann sie noch überraschen.
So lang her! Ich habe das als Jugendlicher
in einem Buch gelesen. Es blieb
irgendwie hängen. Vielleicht, weil mein
Vater es so nie gesagt hätte? Heute, ich
bin traurig, kann vieles nicht ändern,
es tut weh. Ich bin zufrieden. Es macht
mir Spaß, zu tun, was ich kann. Fühlen
und Gefühle sind nun zweierlei. So ist
es unsinnig formuliert? Das kann man
einem jungen Menschen kaum plausibel
machen.
:)
Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 56 [Seite 52 bis 56 ]
Fertig.
Jun 19, 2021
Vier Jahre, vier Bilder. „Kalte Küche“ und „Eingänge“,
dann „Gurken und Rosen“, schließlich
ist „Das grünere Gras“ gerade fertig geworden.
Von 2019 bis nun im Frühsommer 2021,
schaffte ich pro Jahr nur jeweils ein einziges
großes Bild fertigzustellen. In 2018 wurden
„Malen hilft“, „Vorsicht Startbahn“ und „Mal
kurz für immer“ fertig, und das hat viel Ärger
gegeben. Ich habe die Webseite gelöscht und
neu angefangen, Schenefeld (und die Welt)
zu erklären. Dann gelang mir tatsächlich
noch „Kalte Küche“. Meine neue Kunst.
Das sind absurde Gemälde, realistisch umgesetzte
Szenen, die es so nicht gibt. Um mir
selbst meine Ideen anschaulich vor Augen zu
führen, besser als eine hingeworfene Skizze
(die mir zu ungefähr wäre), ein Modell von
dem Bild zu haben, das mir vorschwebt, greife
ich auf die zahlreichen Abbildungen zurück,
die ich im Internet finde. Mein Anspruch
ist, eine ganz eigene Welt zu schaffen, und
so findet sich auch keine Vorlage im Ganzen
dafür. Das Haus in „Eingänge“ und „Kalte
Küche“ gibt es so nicht, wohl aber den schönen
Aufgang in das Restaurant, das wirklich
nicht Kombüse heißt. Weitere Gebäude sind
aus anderen Abbildungen dazu gekommen,
sollen einer Bühne die Kulisse sein für das
Bild. Das gleiche Prinzip wende ich bei den
Figuren an. Einzelne Gliedmaßen, eine passende
Hand oder die Füße, muss ich mir für
die exakte Umsetzung zusammensuchen.
Nachdem anstelle einer Skizze ein digitaler
Entwurf vorliegt, übertrage ich die Idee mittels
Pauspapier auf die Leinwand. Ich erzähle
hier (bislang) viermal die Geschichte vom Erwachsenwerden,
und auf jedem Bild ist eine
junge Frau. Hier geht es um Beziehungen,
Erwartungen und Manipulation.
Das neue Bild, Europa ist von den Socken
oder „Das grünere Gras“, wie soll mein Gemälde
heißen? Europa reitet den Zeus. Es gibt
Vorbilder: Tizian. Das ist nicht neu. Beziehungen,
Bindungen, und die anderen schauen zu.
Die Drohne ist neu.
# Ukraine, Paar kettete sich für 123 Tage aneinander
– und trennt sich sofort nach der
Befreiung. Ein Leben in Ketten – Paar will mit
Handschellen Beziehung retten.
(…). Mit den Handschellen wollen Vika
und Alexander ihre Beziehung retten. „Ich
beschloss, dass es eine interessante Erfahrung
für mich sein wird, dass es neue
Emotionen in mein Leben bringen wird,
die ich vorher nicht erlebt habe. Ich liebe
ihn, also kam ich zu der Entscheidung, es
zu tun.“ „Was den körperlichen Komfort
betrifft, so gewöhnen wir uns mit jedem
Tag mehr daran. Es wird leichter. Aber
es sind einige Spannungen aufgetreten.
Das merke ich besonders an Vikas Verhalten.
Sie ist wütend geworden. Meiner
Meinung nach gibt es mehr unbegründete
Unzufriedenheiten. (…)
Früher haben wir uns gegenseitig
viele Anweisungen gegeben. Jetzt
machen wir Routine-Dinge ohne
ein Wort, alles ist für uns beide
klar.“ Drei Monate wollen Alexander
und Vika das durchziehen.
(…). Es war ein Experiment, das
ihre Liebe retten sollte: Ein ukrainisches
Paar ließ sich an den
Handgelenken aneinander ketten
und verbrachte 123 Tage zusammen.
Doch direkt nach ihrer Befreiung war
die Beziehung vorbei. „Ich bin endlich
frei“ – laut „DailyMail“ waren dies die
ersten Worte der 29-jährigen Viktoria
Pustovitova, genannt Vika, nachdem
die Kette, die sie und ihren Freund
Alexander Kudlay seit Valentinstag
dieses Jahres aneinandergebunden
hatte, durchtrennt wurde. Insgesamt
123 Tage hatte das Paar an den Handgelenken
aneinander gekettet in
nächster Nähe und ohne Privatsphäre
miteinander verbracht. Kaum waren
sie von ihrer Fessel befreit, konnten
die beiden es jedoch kaum erwarten,
endlich getrennte Wege zu gehen.
Ihre Beziehung, die durch dieses Experiment
gerettet werden sollte, ist
endgültig vorbei. (Stern, Panorama/
Weltgeschehen, 18.Juni 2021).
Kein Mensch lebt isoliert. Die große
Liebe muss da irgendwo sein. Insofern
bedeutet erwachsen werden, dass
Träume und realistische Möglichkeiten
im Blick liegen und die Freiheit von den
Eltern in neue Abhängigkeiten führen wird.
Dabei erinnere ich meine eigenen Versuche,
schaue aber weniger auf den jungen Mann,
der ich selbst war, sondern mehr auf meine
Träume damals und suche nach ihrer Reflexion
heute. Man kann das nicht sinnvoll schreiben
oder erklären; und deswegen sind hier
vier Bilder entstanden, bei denen es jeweils
um Facetten von Beziehungen geht. Ich bin
also mit im Bild, wenngleich nicht sichtbar
zu erkennen. Ich kann der Stier sein, auf dem
die Europa reitet, der Obelix mit der Gurke,
das „Problemwildschwein“ Kalle, dem ich so
unähnlich nicht bin. Es sind quasi erweiterte
Selbstbildnisse, denn es ist ja meine Fantasie,
mein Traum, der hier zu Bildern wird. So kann
die einzelne Figur der beiden zunächst gemalten
Bilder mit „Eingänge“ im ersten Bild
und dieselbe Figur in „Kalte Küche“ als das
letzte Bild einer Serie verstanden werden.
Die zwei neuen Bilder, die ich anschließend
malte, gehören dazwischen. Ich denke dabei
an eine Art Labyrinth, das von meiner Protagonistin
betreten wird. Wie unsinnige Traumsequenzen
könnten weitere Motive eine Geschichte
erzählen, die dann mit dem zuerst
gemalten Bild „Eingänge“ und dem letzten,
das „Kalte Küche“ heißt, ihren Rahmen und
ein Ende findet.
Das ist der Plan.
In der Schule lernte ich, dass die romantischen
Naturdarstellungen von Caspar David
Friedrich in Wirklichkeit politische Kritik seien.
Meine Bilder sind davon inspiriert. Ein Rebus
ist ein Bilderrätsel, so ungefähr. Nur mit
Humor und Ironie können wir lernen, nicht
zu hassen, sondern kreativ zu schaffen. Was
das alles soll?
# Alliteration: Kalauer
am Kochtopf – und
die Kunst, was wegzulassen
…
Isoldeweg und Volkerweg
sind kleine
Straßen in Rissen
hinter der Bahn. Da
fahre ich gelegentlich
mit dem Fahrrad.
Ich hatte kurz
die Hoffnung, nicht
nur Isolde wäre weg,
auch Christiane mache
den Abflug (wie
offenbar Volker die
Bühne verlassen hat),
aber die SPD ist gerade
aktuell in Schenefeld
gescheitert, Straßen
zukünftig nach
Frauen zu benennen.
Kalte Küche! Auch
der Hof derselben ist
irgendwann nur noch
ein Hinterhof; diese
Hoffnung bleibt mir.
Man muss Geduld
lernen.
Ich fühle mich frei, die
Personen mit unterschiedlichen
Schauspielern
zu besetzen,
bin nicht darauf versessen,
bestimmte
Figuren abzubilden.
Mir gefällt daran, dass es eine individuelle
Herausforderung ist. Wenn ich nicht wüsste,
auf diese Weise kreativ zu denken und meine
Fantasie zu lenken, könnte ich es nicht
machen. Das scheint nun auf der Basis malerischer
Erfahrung und Selbsterlebtem möglich
zu sein. Das ist gut! Ein eigener Topf, ein
privates Füllhorn mit Einfällen steht mir zur
Verfügung. Dazu kommt die vielfältige Problematik
immer neuer Situationen, etwa ein
Meer hinzubekommen oder einen Schotterpfad
im Gebirge, nicht zuletzt die Anatomie
der Figuren plastisch werden zu lassen. Das
Projekt kann jederzeit abgebrochen werden.
Mit jetzt vier Bildern und dem von Beginn
an gesetzten Rahmen, dazu die kleinen Digi-
Jun 19, 2021 - Fertig. 57 [Seite 57 bis 58 ]
talskizzen aus dem Kalender,
ist das „Kunstprojekt“ immer
fertig und längst abgeschlossen.
Fällt mir etwas ein, das
hineinpasst, bleibt nur der
Erfolgsdruck, das jeweils neue
Bild zu vollenden. Ich habe
diesen Druck, sonst könnte ich
nicht arbeiten.
Die Anerkennung durch die anderen
bleibt (wie gewünscht)
aus, schon deswegen, weil ich
nicht mehr ausstelle. Damit ist
es mir gelungen, ein Problem
meiner Persönlichkeitsstruktur
befriedigend zu erforschen.
Ich konnte den inneren Zwang,
für meine Kunst geliebt werden
zu wollen, klar spürbar
machen und meine Lust am
Gestalten vom Wunsch nach
Anerkennung trennen. Ich habe keine existentiellen
Nöte und hoffe, dass so zu leben
händelbar bleibt. Ich bin nun beinahe alt. Da
wird es nicht mehr allzu lang dauern, bis ich
gehen kann.
Während ich das Meer malte, habe ich oft
an Ahab denken müssen. „Hier hast du mein
letztes Eisen!“, schreit der Alte und stößt
die verbogene Harpune voller Hass in
den großen, weißen Wal. Verstrickt in
die Fangleinen, ist der verbitterte Kapitän
an Moby Dick gefesselt, und während
der Wütende die Harpune tiefer in
das Fleisch des Walfischs bohrt, das Blut
spritzt, taucht der Riese gelassen weg,
nimmt den kleinen Quälgeist auf seinem
Rücken mit in die Tiefe. Bis zum nächsten
Atemzug, den der Wal machen wird, kann
es eine Weile dauern? Als das Tier erneut
auftaucht und wieder die Oberfläche erreicht,
vollendet der Pottwal sein Drama
und versenkt den Dreimaster Pequod, gegen
den er vierkant mit voller Wucht anrennt,
seinen Schädel hinein rammt, dass
die Planken bersten. Ahab ist tot und der
Wal zieht einfach weiter.
Mit einem Fluch gehen oder wie?
Mir liegt wenig am Leben, nachdem wesentliche
Dinge befriedigend klar wurden, und
ich beschäftige mich. Wenn die Zeiten härter
werden, was man nicht voraussehen kann,
wird Kunst oder irgendwelche Hoffnung auf
die Verwirklichung eines Traumes nicht im
Weg stehen. Dann bleibt der stumpfe Kampf,
gegen die Mühsal von Krankheit und Alter
anzugehen. Ich erwarte nichts, langweile
mich kaum. Wie lange noch: Eine möglicherweise
tödliche Krankheit käme mir nicht ungelegen.
:)
Jun 19, 2021 - Fertig. 58 [Seite 57 bis 58 ]
„Selfexecuties“
Jun 26, 2021
Ich habe mit einem neuen Bild begonnen.
Mitte Juni, die „Europa“ hängt, und ich musste
nicht lang warten, da hat sich mein innerer
kreativer Motor bemerkbar gemacht. Ein vertrauter
Prozess, Schicksal. Schon im Kunstunterricht
fiel auf, dass ich freiwillig malte. Auch
außerhalb der Schulzeit entstanden Aquarelle
und Zeichnungen einfach so. Wer einmal den
Zugang fand, sich auf diese Weise zu verwenden,
kennt das. Ein Werk ist fertig, eine kurze
Pause, dann geht es wieder los. Andere reden
vom inneren Schweinehund und Blockaden.
Wie man malt? Mich hat schon immer interessiert,
wie berühmte Kollegen arbeiten oder
meine Professoren an der Armgartstraße, bei
denen ich studierte. Meine Methode ist individuell,
gute Gründe, den Weg fortzusetzen
… es würde mir schwerfallen, eine allgemeine
Antwort zu geben. Rückblickend wäre es
leicht zu erklären, wie Schritt für Schritt ein
bestimmtes Werk entstanden ist.
Warum ich’s überhaupt mache? Wie ich arbeite,
ist einfacher zu beschreiben, als das!
Während ich mich dabei gut vorbereite, nach
einer ausgefeilten Skizze auf der Leinwand
starte, entsteht der Blog leider nicht so kontrolliert.
Inzwischen haben wir Anfang Juli,
und immer noch ändere ich den Text, möchte
herausfinden, was wichtig ist, begreife nur
allmählich. Einen Roman könnte ich so wohl
nicht verfassen?
„Sie kennen doch die Quallen“, so etwa beginnt
C. S. Forester „Meine Bücher und ich“.
Ein Aufsatz, der einfachen Konsumenten
von Kunst und Literatur erklärt (und anleiten
kann), wie es dem Schriftsteller möglich
ist, seine Romane zu schreiben. Der Erfinder
von „Hornblower“ vergleicht sein bildhaftes
Denken, wie es auch von Albert Einstein bekannt
ist, mit autonomen Entwicklungen, die
ein beweglicher Geist zulassen muss. Unterbewusstes
Gären, das der Autor erst wichtig
nimmt, wenn es an der Zeit ist. Der Kreative
setzt sich nicht einfach hin und schreibt aus
dem Nichts los, und genauso wenig beginnt
er, abrupt nachzudenken, was er als nächstes
zu Papier bringen könnte. Er beschäftigt
sich bereits einige Zeit mit verschiedenen,
möglicherweise lohnenden Einfällen, ohne
allzu genau in die Tiefe zu gehen. Während
Forester anderweitig unterwegs ist (eine
Kreuzfahrt um Südamerika regt ihn an, „Der
Kapitän“ zu schreiben), spürt er bereits ein
von ihm kaum registriertes Anwachsen von
Ideen, wie Bewuchs am vollgesogenen Holz
eines Wracks im Meer. Schließlich wird daraus
ein Plot, der ihm schmackhaft vorgekaut
ins Netz geht. Dann erst folgt die Arbeit mit
dem Stoff.
Er denkt erst und schreibt anschließend.
Der Autor weiß sich selbst zu
verwenden, kann auch erklären, wie
er’s macht. Erst beinahe unbewusst,
schließlich konzentriert planend, und
dann kommt bei ihm die Ausführung.
So entstanden die bekannten Romane
(auch die seines Kollegen John Irving,
so wurde die Relativitätstheorie
zu Papier gebracht, so malte Edward
Hopper, so komponierte Beethoven).
Sie alle kannten dieses Zulassen
von innerer Gedankentätigkeit, die
schließlich zu harter Kombinationstechnik
führt, bis dann die eigentliche Produktion
des Werks beginnt. Forester schrieb kaum
skizzierte Ideen auf. Die Angst, er könne sterben,
bevor das Buch fertig sei und ein anderer
würde es vollenden (für den Verlag, der
damit verdienen möchte), hielt ihn davon ab.
Er versuchte, alle Probleme vorab im Kopf zu
erledigen. „Das Geschreibsel, das dabei herauskommen
möge“, wenn ein Fremder seinen
Roman zu Ende schriebe, ängstigte ihn. Eine
unheilbare Krankheit, die zunehmend seine
Beweglichkeit beeinträchtigte, war bei ihm
früh diagnostiziert worden. Das bedrohliche
Leiden war jedoch zur Überraschung der Ärzte
im weiteren Fortschreiten zum Stillstand
gekommen.
Journalisten und Biografen gefallen sich darin,
das Zitat von Irving zu verbreiten, er beginne
seine Romane am Schluss. „Die letzte
Seite tippe er stets zuerst“, heißt es dann. Und
von Edward Hopper gibt man zum Besten:
„Wenn ich mich an die Staffelei setze, ist alles
erledigt.“ Dass das nicht stimmt, sondern vor
allem der Wunsch des
Künstlers ist, es möge
(diese Mal endlich) so
elegant laufen, wird von
denen, die selbst nicht
schreiben, sondern nur
abschreiben, gern übersehen.
Tatsächlich gibt
C. S. Forester an einer
Stelle zu, wie übel es
ihm ergangen ist, als er
einmal mitten in der Arbeit
am Buch nicht weiter
kam. Ich hatte mir
gesagt „hier entfliehen
sie“ und nicht weiter
darüber nachgedacht,
wie genau das vor sich
gehen würde, so etwa
erzählt der Autor sein
Missgeschick. Mitten im
Feindesland die gut bewachte
Kutsche zu verlassen, war nicht eben
einfach für seine Helden. Hopper wiederum
berichtet vom Problem, eine aufreizende Sekretärin
mit üppigen Busen und einen Büroschrank
so in Szene zu setzen, dass uns die
Frau im Bild interessiert und der Schrank
sich der Logik seiner Bildkomposition unterordnet.
Und Irving, im Interview gleich
eingangs naseweis damit konfrontiert, er beginne
ja immer mit dem letzten Satz, nimmt
dem Reporter den Wind aus den Segeln. Der
Autor macht schon deutlich, wie flexibel seine
Arbeit ist. Das habe ich mal (irgendwo) so
herausgelesen. Humor steht immer zwischen
den Zeilen.
Kunstunterricht kann den Weg bahnen, ein
Talent formen. Aber nur wenige Lehrer können
ihren Schülern beibringen, eigene Gedanken
nicht nur zu denken, sondern selbstbewusst
auszuleben.
Die geplagte Britney Spears ist aktuell in den
Nachrichten, sie weine jeden Tag und kämpfe
darum, die Vormundschaft ihres Vaters über
ihr Leben per Gericht wieder los zu werden.
Gut so! Irgendwann müssen wir aufwachen.
Sie klagt, man habe sie gedrängt, Lithium zu
nehmen. Das ist ein Medikament, das man
nicht mehr absetzen darf, wenn einmal damit
begonnen wurde, es einzunehmen. Es
wird sie schließlich schon durch diese zwingende
Abhängigkeit dauerhaft verblöden.
Das ist als vermeintliche Hilfe deklarierte
Unterdrückung. Ärzte glauben, über andere
so gut Bescheid zu wissen, sich derartige
Eingriffe in deren Autonomie erlauben zu
können. Sie schaffen unsichtbare Gefängnisse
und sind noch stolz darauf. Statt sich der
tatsächlichen Aufgabe zu stellen, Menschen
konstruktiv zu trainieren und sie lebendiges
Verhalten zu lehren, flexibel im Leben zu bestehen.
Psychiater sind einfach nur widerlich,
die schlimmste Spezies auf diesem Planeten,
das ist meine Meinung, tatsächlich; und ich
kenne mich damit aus.
Diese Ärzte wollen welche sein. Die Zuverlässigkeit
anderer Medizinbereiche fehlt ihnen.
Sie stehen auf der Seite der Gesellschaft,
sprechen für den Staat, erstellen Gutachten,
nach denen bei Gericht entschieden wird, ob
ein Mensch krank sei oder schuldfähig, damit
andere die Schuld nicht trifft, wenn zukünftig
wieder etwas passiert. Psychiater nehmen es
auf sich, zu beurteilen, was unsichrer ist als
die Wetterentwicklung. Meteorologen sind
frech. Aber sie verweisen auf ihre Satellitenbilder
und die Computerprognose. Psychologen
sind eingebildet
genug, um, falls es
anders kommt als sie
meinten, einfach weiterzumachen.
Sie therapieren
Sexualstraftäter,
nachdem sie eigene
Krankheiten erfunden
haben. Und wir nehmen
es hin, was anschließend
passiert, ein ums
andre Mal. Sie unterstützen
die Polizei, deren
Aufgabe es ist, für
Ordnung, Stabilität und
Sicherheit vom Ganzen
zu sorgen. Sie sind die
Anlaufstelle für verstörte
Kinder und hilflose
Eltern in Not. Die
Erkrankten hoffen auf
grundsätzliche Hilfe,
Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 59 [Seite 59 bis 62 ]
und diese zu geben, ist der Psychiater weitestgehend
unfähig. Diese Fachärzte helfen
der Gesamtheit eines Systems, das bereit ist,
eine durch ihre spezielle Fakultät sich selbst
rechtfertigende Berufsgruppe zu finanzieren.
Menschen haben Angst vor psychisch Kranken.
Psychiater schützen die Angehörigen,
sind der verlängerte Arm der Pharmazie und
überfordert, wenn es darum geht, Kranke insgesamt
gesund zu machen. Sie können eine
akute Not effizient entspannen, mehr nicht.
Britney zitiert Einstein: „Eltern sollten ihren
Kindern Märchen erzählen, wenn sie intelligente
Kinder haben möchten.“ Was mag das
bedeuten? Märchen sind ja nicht gerade
dumme Geschichten. Hier geht
es um die Suche nach Wahrheit.
Wann wird ein Medikament erfunden,
das gegen Dummheit hilft? Das
wird dann sein, wenn Intelligenz für
alle bezahlbar im Regal der Geschäfte
liegt. Das Verhalten der psychisch
Kranken schadet diesen. Diese Menschen
schaden sich selbst, und der
Arzt erkennt darin eine Krankheit.
Man kann untersuchen, auf welche
Weise das Gehirn der Betroffenen in
seiner Funktion gestört reagiert und der zum
Patienten erklärte Mensch zu seinem eigenen
Nachteil fehlerhaft agiert. Nun kommt die
Intensität des Fehlverhaltens ins Spiel und
natürlich die Beurteilung, was daran falsch
ist. Ein Spinner kann gut integriert sein. Ist
genügend Geld vorhanden, zum Beispiel eine
Erbschaft und zuverlässiges Arbeiten mit
Kollegen nicht nötig, damit ein Mensch seine
Existenz bestreiten kann, toleriert die Gesellschaft
einige Schrullen.
Wenn jemand anderen zur Last fällt und nicht
länger arbeitsfähig ist, nennt man das gern
Depression. Tatsächlich helfen Medikamente
in so einem Fall, wo gutes Zureden versagt.
Deswegen, und weil es unzählige Spielarten
des Abnormen gibt, bleibt die Idee, mit einer
Pille gegen selbstschädigendes Verhalten
anzugehen, dennoch eine unzuverlässige
Methode. Das Problem: Eine weitere Person,
der Arzt, kommt ins Spiel. Das geschieht, obschon
die Unselbständigkeit desjenigen, der
beim Psychiater gelandet ist, die offenkundige
Problematik darstellt. Für ein Fußballteam
ist es zwingend nötig, dass es professionell
gecoacht wird. Den Spielern sagt man aber
nicht, dass sie eine Krankheit haben, wenn sie
ohne Trainer schlecht spielen.
Die Ursache jeder psychischen Not ist unzureichende
Funktionalität des Gestörten. Er ist
nicht kaputt, hat keinen Schaden, wird nicht
heil. Die Struktur ist in Ordnung. Der sogenannte
Kranke benutzt sein System zwanghaft
falsch. Gehirn und Körper sind auf unnötige
Weise in einem Betrieb gefangen, der
dem Ganzen schadet. Bildlich gesprochen:
Das ist ein Haus, in dem die Bewohner in die
Spüle pinkeln und die Kartoffeln im Klo waschen.
Das Essen wird kalt im Schlafzimmer
gegessen und man schläft tagsüber (im Stehen)
auf dem Balkon. Im Bett wird anderes
gelagert. Das Haus (die Person) ist korrekt
gebaut, die Benutzung ist falsch. In den meisten
Fällen ist dieser Fehler im Lernprozess
der Anpassung geschehen.
Das bedeutet, bei einigen wurden Lösungswege
der alltäglichen Probleme einstudiert,
die zu ineffizienten Ergebnissen führen. Das
ist nicht krank. Die Lage kann sich durch Wiederholung
zuspitzen. Die Probleme summieren
sich, aber die Dynamik dieser Entwicklung
erkennt niemand, den das angeht, weil man
sich die Dinge schönredet und die Angst zu
scheitern maskiert. Wenn ein junger Mensch
zunächst integriert dasteht, eventuell eine
gute Ausbildung probiert, eskaliert die Situation
möglicherweise überraschend, weil
sich die Bedingungen ändern. Anstelle von
Eltern und Lehrern treten Arbeitgeber oder
Beziehungspartner existentieller Selbständigkeit
auf. Es sind die komplexen Probleme,
ein eigenes Netz als Rahmen des Daseins zu
schaffen.
Generell ist festzuhalten,
das psychische Krankheiten
auf der Basis
sozialer Beziehungsprobleme
entstehen. Das
kann ohne erkennbare
Krankheit (schlecht) gutgehen
und erst später
schwierig werden. Dafür
erfand die Neuzeit das
Wort „Burnout“. Diagnosen
sind Namen, und sie
werden zum Werkzeug
der Ärzte. Diese können
wir aber nicht in die Pflicht nehmen, zur
Verantwortung ziehen, wenn es unser Leben
ist, das uns entgleitet. Den Mut, einem Arzt
zu widersprechen, bringen manche noch auf.
Mir hat der Chefarzt einer Klinik laut spottend
hinterhergerufen: „In zwei Wochen sind
Sie wieder hier!“, als ich auf eigene Verantwortung
ging. Das war schwierig genug. Ich
habe es hinbekommen, ohne dass sich die
böse Drohung bewahrheitet hat.
Nach einem Zusammenbruch wird ein Arzt
zwingend in unser Leben eingreifen. Er probiert
unser normales integriertes Funktionieren
wieder herzustellen und hat es nicht
eilig damit. Je nach Art unserer Störung, setzt
der Arzt ein Medikament ein. Am oben vorgestellten
Beispiel des Hauses, eine sinnvolle
Struktur, die falsch verwendet Probleme
macht, können wir sehen wie so etwas läuft.
Der Arzt verschließt mittels Medikament einige
Türen, und die Bewohner können ihre
Lebensmittel nicht länger im Abort waschen.
Nach einiger Zeit, wenn der Patient besser
zurecht kommt, passt der Psychiater die Dosis
an. Die Tür zum WC wird einen Spalt geöffnet,
in der Hoffnung, dass das System zukünftig
besser genutzt wird. Das mag deutlich machen,
wie unzuverlässig diese Methode ist,
die pauschal in Abläufe eingreift.
Meine Probleme begannen, als ich jung war
und nun erwartungsgemäß selbstständig
handeln sollte. Ein langer Weg, das zu schaffen
mit unendlichem Kummer liegt hinter
mir. Wer schließlich den Mut aufbringt, dem
Arzt den Rücken zuzukehren, muss alternative
Wege zum Besseren finden. Mir ist das
gelungen. Ich zahle einen hohen Preis dafür.
Nicht zuletzt, dass ich die verflossenen
Jahre nicht rückwirkend umgestalten kann
oder heute Dinge tun, für die es definitiv zu
spät ist. Ich kann malen.
Warum geht es im Leben abwärts, anstelle
der erträumten Karriere? Ein Mensch, der
nicht wie die anderen klarkommt, muss
(verständlicherweise) Angst empfinden und
verzagen oder aggressiv reagieren. Jemand,
wie ich einen beschreibe, spürt nicht, dass
er etwas dazu tut, weswegen die Dinge
nicht laufen. Es gibt immer wieder junge
Menschen, die es erfolgreich hinbekommen,
Angst nicht wahrzunehmen. Solange alles
wie bekannt ist, Papa, Mama und die Lehrer
rundherum, fliegt „Alexandra“ zu den Sternen.
Wie es kommt, dass es mit einem Mal einen
großen Rumms in der sausenden Bahn gibt
und unser kleines Wägelchen schlingert, ja
aus den Schienen springt, überrascht. Hat
man seinen Schaden, folgt eine traumatische
Zeit. Mit einem Mal bist du allein und neue
Ratgeber zwingen sich auf. Dann klappte der
Wechsel, die stützenden Eltern wie geplant
in neue Beziehungen zu verlassen, nicht, und
wir stehen am Scheideweg.
Ein Kraftakt, der darin besteht, die Welt noch
einmal neu zu erfinden. Ist man erst einmal
bekannt als „Psycho“, beginnt der Teufelskreis,
dass ein junger Mensch, den anfangs keine
adäquate Umgebung stützte, später weiter
von denen ausgegrenzt wird, die sich lieber
mit anderen zusammen tun. Würde die Gesellschaft
das als Problem vieler ernst nehmen,
könnte effizient geholfen werden und
ein Stigma der Zuschreibung diverser Krankheiten
würde vermieden. Dazu müssten Methoden
entwickelt werden, die Funktionalität
des Menschen zu seinem Besten trainierten,
ohne ihn wie einen Kranken zu behandeln.
Statt den Bescheuerten weiter fertigzumachen,
was die Nachbarn schon erledigen,
sollte es möglich sein, verschüttete Intelligenz
zu nutzen.
Die Selbstverantwortung ist das Kennzeichen
des Gesunden. Wer zum eigenen Vorteil ein
Verbrechen verübt, gilt als schuldfähig und
damit als gesund. Wer seine Firma und sein
Selbst hart an der Grenze der Regeln zum
eigenen Vorteil führt, den nennen wir clever.
Wer gelassen durch die Welt geht, den bezeichnen
wir als weise. Ein vom Arzt geführter,
durchs Medikament betäubter Patient ist
weder Straftäter, noch clever oder weise, und
er bekommt keine Perspektive als die, dass
seine Zukunft eine begleitete sein wird. Das
wiederum macht depressiv und aggressiv,
der Teufelskreis neuer schubhafter Abstürze
ist bei dieser Sichtweise zwingend. Die vielen
Möglichkeiten unserer modernen Welt
sind eine Herausforderung! Gerade Künstler
haben sich auf diesen gefährlichen Weg einer
Sinnsuche gemacht, bei der Genie und
Wahnsinn sich die Hand reichen.
Die gruseligen Details aus dem Leben der
Ausnahmesängerin Spears zeigen die zwei
Seiten des Menschen, wenn es um Kreativität
geht. Die einen hören, kaufen und
vermarkten Musik (und jede andere Art von
künstlerischem Talent). Die anderen schaffen.
Einige, die mit Kunst nur verdienen wollen,
sind skrupellos genug, Menschen krank zu
machen, über deren Talent sie Macht ausüben.
Sie wollen nur absahnen.
Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 60 [Seite 59 bis 62 ]
# Künstler und andere Beknackte
Wer psychisch auffällig wird, sich in Behandlung
begibt oder gezwungenermaßen eingewiesen,
hat es doppelt schwer. Stigmatisiert
wie ein Ausländer, aber ohne die Sozialkompetenz,
die unterdrückte Minderheiten kennzeichnet,
die schließlich Stärke finden, wenn
sie eine Gruppe bilden können. Erste Ansätze
dafür gibt es, seit die digitale Welt uns alle
ändert. Hätten die aus Afrika verschleppten
amerikanischen Sklaven im Austausch vernetzt
twittern können, wäre ihnen schneller
klar geworden, wie viele sie sind und die
Freiheitsbewegung wäre zügig und effektiv
vonstatten gegangen.
Ich glaube, moderne Verschwörungstheoretiker
sind gleichermaßen solidarisch untereinander
wie kollektiv krank. Diese Leute können
im Verbund ihre eigene Normalität gestalten.
Der Mainstream erkennt keine Lügenpresse.
Corona? Die Zufriedenen nehmen es hin, dass
die gefährliche Deltavariante in Indien, dort
wo sie so unheilvoll wütete, sang- und klanglos
abgeebbt ist. In wenigen Wochen sank
die Inzidenz wie ganz von selbst zurück auf
zwanzig. Darüber berichtet niemand. Ob das
daran liegt, dass Indien Impfweltmeister ist?
Badet man nicht länger kollektiv im Ganges?
Hier wird omnipräsent gewarnt: Die vierte
Welle kommt! Es gibt nur dieses Thema. Dann
berichtet der Chefvirologe von den beunruhigenden
neuen Zahlen in Großbritannien und
in Lissabon. Der harte Kern der Wahrheit ist
querdenken. Wer eine Lüge erkennen will,
weil man uns nicht darüber berichtet, dass
es wo besser wird, ist psychisch krank? Die
anderen bleiben unspektakulär auf Abstand
und nehmen hin, dass die Nachrichten ein
Geschäft sind wie alles andere.
Sind verschworene Menschen Spinner, oder
haben wir es mit Kranken zu tun? Sie haben
eine eigene Wahrheit und können diese finanzieren.
Menschen, die durch gegenseitige
Solidarität so gesund handeln, dass sie im
Alltag den Boden unter den Füßen behalten.
Sie wissen in ihrer Angst und Wut nicht allein
zu sein; das hilft. Auf diese Weise gestärkt,
können sie weiter eine Wohnung nutzen,
einkaufen, ein Auto fahren, normale Sachen
machen eben – und sich in Chatgruppen austauschen,
während sie isoliert psychotisch
abdriften würden. Die Gesellschaft hat ein
Problem, wenn die Zahl psychisch Kranker
zu groß ist. Schwierig, wenn verschworen
fanatische Menschen zusammen ein System
bilden und dann handlungsfähig sind, ihre
Aggression in Aktion umzusetzen. Was nicht
übersehen werden darf: Aus dem Blickwinkel
eines aggressiven und gestörten
Menschen gibt es gute Gründe für seine
Sicht.
Bedauerlicherweise mobben Menschen
und stellen sich als positiv dar, wenn
sie andere fertig machen. Ein kranker
Mensch benötigt Hilfe, aber in diesem
Fall werden die Helfer mehr dankbar dafür
sein, als die Hilfe suchende Person. Ist
es ein Fall, an dem die Polizei beteiligt
ist, hat man keinen Freund und Helfer
im Beamten. Es liegt auf der Hand, dass
ein labiler Mensch, der eine Gefahr für
die Allgemeinheit sein könnte, freudig
begrüßt wird von der Kripo, mehr noch,
wenn die Angelegenheit eine sexuelle
Auffälligkeit beinhaltet. Wer als polizeibekannt
geführt werden kann, stellt im
Gegensatz zum noch unbekannten Straftäter,
der alle überrascht, ein definiertes Arbeitsfeld
dar. So jemand kann von Montag bis
Freitag eine Aufgabe sein, nach dem Motto:
„Wir schauen hin und passen auf.“
Desgleichen der Arzt: „Nun sind Sie erst einmal
Patient, und wir schauen mal, wie wir Sie
richtig einstellen können“, wird er sagen. Was
der Arzt nicht leiden kann, ist, genau wie die
Polizei, die nicht zu kontrollierende Notsituation.
Kommt es dazu, dass die Lage in der
Praxis eskaliert, vor den Augen vom Personal
und den anderen im Wartezimmer, genießt
derjenige Patient das größere Wohlwollen
des Psychiaters, den der Arzt bereits kennt.
Kontrolle geht den Menschen über alles,
mehr noch, wenn es im Beruf um die Qualität
der Akteure geht, ob sie selbstbewusst mit
schwierigen Fällen klarkommen. Da liegt es
auf der Hand, dass ein in der Kartei geführter
Kandidat die besten Chancen hat, lange Zeit
Teil des Hauses zu sein. Wir als Betroffene
möchten gesund und normal leben, aber der
Arzt und die Ordnungskräfte möchten uns
führen.
# Gebraucht werden
Die Familie, und im Fall von Britney Spears
der Vater als Vormund und Verwalter des
Megavermögens, das die Sängerin mit ihrer
Kunst erwirtschaftete, hat kein Interesse
daran, dass Klein-Britney eigene Wege geht.
Auch der Papa vom abgeschmierten Michael
Wendler betont, wie scheiße er’s findet, dass
nicht er den Sohn managt (wie anfangs). Er
hat tatsächlich die Kontrolle über „seinen“
Michi verloren, und ihm bleibt scheinbar nur
nachzutreten. Das tun auch alle, die anfangs
voller Neid darauf schauten, dass die süße
Abiturientin Laura einen Narren am Wendler
gefressen hat. Wir können sicher sein, dass
diese junge Ehe von Anfang an immensen
Psycho-Terror ausgesetzt gewesen ist. Und
vielleicht liegt hier die Ursache für den absurden
Verschwörungswahn vom Schlagerbarden
und das spätere Bohlenbeben.
Als Kreativer hast du keinen Freund in deiner
eigenen Familie (das ist auch meine
Erfahrung), sondern nur Spötter, Neider und
die, die mitglänzen wollen, wenn dir was gelingt.
Das sind auch die, die dich fertig machen,
wenn sie meinen, du wärest momentan
schwach. Hast du gerade Geld, geht erst rich-
tig die Post ab! Arme Britney. Künstler, denen
die Anerkennung vornan steht, sind labil, weil
sie abhängig vom Lob und dem Geld sind, das
einigen erst ausdrückt, wie toll etwas ist. Die
Mehrheit kann nicht singen oder malen, hat
eine Sauklaue anstelle intelligenter Handschrift.
Damit bekommt die Masse keinen
ansprechenden Text hin, aber zum anonymen
Anschwärzen anderer reicht ihre Ausdrucksfähigkeit.
Für ihre Botschaft bringen diese Leute
kein Klavier zum Klingen. Sie nehmen ein
Smartphone, um sich auszudrücken. Es gibt ja
die Tastatur. Das sind Menschen, die, obwohl
im Konzert, als Teil vom Publikum Begeisterung
skandierend, keinen Ton mitbekommen.
Sie bemerken nur ihr eigenes Dabeisein. Es
sind diejenigen, die in der Vernissage einer
Ausstellung keine Farben sehen, Prosecco
trinken und reden. Sie haben zuhause wichtige
Bücher im Schrank (für Gäste gut platziert),
die sie nicht gelesen haben. Sie wollen
nur dazugehören.
Ein Bild wird versteigert, es sei von David
Bowie, der hat gemalt? Siebzigtausend! Die
Zeitung beschreibt, es zeige einen Kopf im
Profil und ein Foto davon ist auch abgebildet.
Das zeigt einen hellen Fleck inmitten einiger
Farbspuren. Ein Mann habe das Werk in einem
Spendenzentrum für Haushaltsgegenstände
gekauft, etwa vier Euro dafür bezahlt.
Auf der Rückseite fand sich eine Signatur. Die
erinnerte den Käufer an David Bowie, der vor
einigen Jahren starb. Er hat jemanden gefragt,
der sich damit auskennt. Fachleute haben die
Echtheit bestätigt: tatsächlich von Bowie!
Eine Sensation.
Gut möglich, dass der berühmte Musiker auch
malte; ich habe es nicht gewusst. Udo Lindenberg
zeichnet, der alte Mueller-Stahl möchte
uns mit seinen Werken beeindrucken; ich
hab’s mir (mal auf Fehmarn) angesehen, das
lohnt kaum. Und Madonna veröffentlichte
ein selbstgeschriebenes Kinderbuch! Einige
regen sich auf: Mein Schwager hat sich gelegentlich
abfällig darüber geäußert, dass in
anderen Sparten erfolgreiche Menschen nun
auch beginnen zu malen oder schreiben (die
Zeichnungen von Udo sind toll!). Geld gefällt
mir. Die siebzigtausend aus der Versteigerung
hätte ich selbst auch gern.
Das Porträt von Bowie? Eine Aktie ist das.
Wer schaut sich an, was auf einem Geldschein
zu sehen ist; und dort sind immerhin
qualifizierte Illustratoren tätig gewesen, und
eine raffinierte Umsetzung, grafisch präzise,
ist ein Muss. Die Menschen, die Musik lieben
und diejenigen, die ein Kunstwerk vom Wesen
her erkennen können, einen Film daraufhin
ansehen, wie er gemacht wurde, sind die
absolute Ausnahme. Wohl neidisch, empören
sich manche, dass ein toter Musiker viel Geld
mit einer schlappen Skizze machen kann. Absurd?
Warum sich darüber aufregen, dass ein
Sänger malt und sich drüber lustig machen,
das „Geschmiere“ sei ja nicht zu erkennen:
Zwei Gewinner sind schon mal erkennbar. Zunächst
der glückliche Musiker, dass er auch
das schaffte, zu malen. Danach dieser Typ, der
auf dem Flohmarkt vier Euro investierte, anschließend
mit Gewinn wieder verkaufte. Der
Idiot, der auf der Versteigerung den Zuschlag
erhielt, muss erst noch beweisen, keiner zu
sein. Wer weiß, vielleicht geht das Ding ab
wie eine Rakete? An der Börse und im Kunsthandel
ist alles möglich.
Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 61 [Seite 59 bis 62 ]
Ich lernte zu singen, im Tempo korrekt. Das
konnte ich früher nicht begreifen. Um damit
aufzutreten, reicht es nicht. Aber das Glück,
das ich dabei empfinde, es zu tun, mag dem
entsprechen, das jeder empfindet, der nun
etwas kann, was bisher nicht gelang. Davon,
dass ich Objekte sammle, die ich mir nur
mit viel Geld leisten kann, weil sie von berühmten
Menschen hergestellt wurden (eine
alte Unterhose vom Star, mit noch echten
Kackspuren darin, genetische Expertise inclusive),
habe ich gar nichts.
Jedem das seine.
# Kaiserin Elisabeth von Österreich: Ihre
Leibwäsche wurde nun versteigert. Am
Dienstag sind neben einigen Kleidern auch
drei Stücke von Sisis kaiserlicher Wäsche in
Grasbrunn unter den Hammer gekommen, zu
einem Startgebot von 1000 Euro – laut Katalog
ein ärmelloses „Leibchen an Hals und
Dekolleté mit Spitzenbordüre, sieben
Perlmuttknöpfen und kleiner, in Rot gestickter
Krone“, ein „Beinkleid en suite
gefertigt und mit Bordüre an den Beinabschlüssen“
sowie feine „Strümpfe mit
eingearbeiteter Bezeichnung E.S.“ (1. Juni
2021, Auktion bei München, Süddeutsche
Zeitung).
Kunst beginnt, wenn wir zulassen können,
was in uns geschieht und die Grenze
ziehen können zur Umgebung. Wo
ist das Fenster, und wie weit öffne ich
die Vorhänge, wann singe ich nackt auf
meinem Balkon? Forester nimmt das
Meer, das zu seiner schriftstellerischen
Heimat wurde, da er ja einen Seehelden
kreierte, als Beispiel. Muscheln wachsen
auf modrigen Planken in der Tiefe, und
Ideen formen sich von selbst im Dunkel
des Unbewussten. Dann stoßen die wasserträchtigen
Stumpen unverhofft an die
Oberfläche, und eine neue Idee ist geboren,
muss beachtet werden.
:)
Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 62 [Seite 59 bis 62 ]
Es tut gleichmäßig weh
Jul 7, 2021
Meckern und töten, böse Welt! Ausgenutzt,
bedrängt und nicht respektiert werden, das
möchte niemand. Tatsächlich ist unser Leben
genauso, dass wir die ganze Zeit angegriffen
werden, wie etwa der Mond von Gestein
getroffen wird und unser Trabant deswegen
mit Kratern übersät ist. Auf der Erde, die unter
dem gleichen Beschuss steht, finden sich
kaum Krater, Spuren dieser andauernden Angriffe
aus dem All. Das liegt an der Atmosphäre.
Die Lufthülle ist nicht nur die vertraute
Basis unseres Alltags, weil wir atmen. Sie ist
das dicke Fell des Planeten, sein natürliches
Immunsystem, das die unzähligen Asteroiden
verglühen lässt, die uns nahe kommen. Luft
ist mehr als nichts. Die rasenden Steine reiben
sich im Bereich unserer Atmosphäre an
winzigen Partikeln. Reibung erzeugt Wärme,
in diesem Fall so viel Hitze, dass die Brocken
verdampfen. Wenn sie nicht zu groß sind. Nur
ganz dicke Dinger fallen uns auf den Kopf.
Die Fachleute fragen sich, ab welcher Größe
wird ein Himmelskörper unserer Welt gefährlich,
können wir ihn rechtzeitig entdecken,
darauf reagieren?
Für den gewöhnlichen Zeitgenossen stellt
sich diese Frage nicht. Wenn die Sicherheitsfanatiker
mit einem Helm Fahrrad fahren,
denken sie nicht, dass ihnen der Himmel auf
den Kopf fallen könnte. Sie fürchten Autofahrer,
die anderen Radfahrer und nicht zuletzt
ihre eigene Dummerhaftigkeit, die zu einem
Sturz führen könnte. Manche ängstigt nicht
der physische Angriff, die Schmerzen durch
einen Knochenbruch. Sie leiden unter verbalen,
akustischen Anwürfen, die unseren Alltag
begleiten: „Platz da, jetzt komm’ ich!“
# Beim entscheidenden Strafstoß von Englands
Stürmer Harry Kane wurde dem dänische
Torwart Kasper Schmeichel mit einem
grünen Laserpointer ins Gesicht geleuchtet.
Nun hat sich die Polizei eingeschaltet.
(08.07.2021 t-online, dpa).
Foul. Es kann nicht bestritten werden: Das
Corona-Virus und der Raub meines Portemonnaies
durch einen geschickten Dieb,
meine Tante, die mich anonym bescheißt,
um mir das Erbe streitig zu machen und der
Staat, der meine Bank zu Strafzinsen zwingt;
wir sind unter Beschuss! Das ist
Leben. Und: Die anderen sind
Schuld.
Es ist alles andersherum.
Liebte ich meine Frau, könnte
ich nicht mit ihr verheiratet sein,
oder umgekehrt, das Wort taugt
nichts. Was in den letzten Jahren
passierte, hat zu einigen Änderungen
geführt, wie ich’s einordne:
Obschon langjährig mit Ring
verbunden, zog ich los mit A. (einer
Kunstfreundin), schrieb ihr,
und sie schrieb mir. Einige Jahre
tatsächlich ging das gut. Ein Fehler?
Ich nehme es auf mich. Sie ist
fünfundzwanzig, wir sind fertig
miteinander. Abitur, intelligent,
schön. Kann sie noch mutig werden, wie sie’s
wollte? Angst ist das Wahrhaftige an ihr. Sie
könnte sich eine Regentonne überstülpen, ich
würde ihre Furcht bemerken, sie am Gangbild
erkennen.
Es hat viel Ärger gegeben. Mein langjähriger
Freund H. ist sich sicher, C. (aus der Politik)
wäre schlichtweg eifersüchtig auf die jüngere
gewesen. Der Einfluss der Amtsträgerinnen
auf die Ordnungskräfte ist in der Bundesrepublik
Deutschland durch das Gesetz
begrenzt.
Die Fehler, die ich in dieser Zeit unbestritten
machte, kann ich nicht entschuldigen. Schon
gar nicht bei A. – sie war so naiv, zwischen die
Fronten zu geraten in einem privaten Krieg,
den zugegebenermaßen ich begonnen habe,
mit dem Staat, der Polizei, der Gesellschaft.
Kontakte verbieten sich. Diese Person ist ein
Fake. Beim Tarnen, Täuschen und Theaterspielen
haben alle verloren.
Ich hatte vor einigen Jahren begriffen, das
Suizide nicht begangen werden, weil diese
Selbstmörder eben so verrückt sind, dass sie’s
leichthin mal ausprobieren wollen. Wie genau
die Sache vonstatten geht, das wollte ich
wissen. Ich begann mit unklarer Fragestellung:
Ein Segelfreund tauchte plötzlich nicht
mehr auf, so etwas verstört. Auf Nachfrage
kam wenig zutage. Aber in den folgenden
Jahren begriff ich nach und nach, wie alles
gewesen war. Es wurde zu meiner zentralen
Lebensfrage.
Was macht Menschen psychisch krank, eine
ganz allgemeine, pauschale Antwort musste
her, fand ich. Mir war aufgefallen, dass man
nicht einfach mal zur Bahn läuft, seinen
Schädel im rechten Moment auf die Schiene
legt und sich gepflegt den Kopf absäbeln
lässt. Ich malte 2011 „Begegnung“, und das
Bild wurde in Ausstellungen gezeigt. Begriffen
hatte ich zu dieser Zeit wenig vom Thema,
und ehrlicherweise muss man zugeben,
dass meine Forschung nicht strukturiert war.
Mir ist nun individuell klar geworden, wie ein
Mensch so unter Druck gerät, eine Krankheit
das normale Funktionieren in Frage stellt
und alles möglich ist.
So bin ich zum zweiten Mal im Thema: „Selfexecuties“
soll das neue Bild heißen. Ich
möchte exakt sein. Beim Malen aber auf eine
andere Weise als im Blog. Mich interessiert
herauszufinden, was genau ich empfinde. Ich
möchte wissen, wie ich denke und beobachte
meine Empfindungen. Deswegen male ich
nicht eine Situation, die es in der Realität
so geben könnte. Während ich probiere, klare
Worte für einen Text zu finden und mich
bemühe, mit präzisen Formen und überzeugender
Farbgebung eine Welt abzubilden, die
realistisch rüberkommt, möchte ich dennoch
lieber deutlich machen, dass meine Produktionen
künstliches Theater sind. Das neue
Bild soll nicht die (tragische) Realität im Sinne
von Berichterstattung in der Presse sein.
Mir geht es um einiges, dass man in einem
Text so nicht sagen kann, wohl aber auf der
absurden Bühne einer verrückten Malerei.
Bei aller Kritik an der modernen Welt, bin
ich froh in einer Kultur zu existieren, die mir
Vorbilder schuf, mich auf diese Weise ausleben
zu können. Ich bin dankbar für die fertig
grundierten Keilrahmen, perfekte Pigmente
und Pinsel in bester Qualität. Mir liegt nichts
dran, echte Ölbilder „wie früher“ zu machen
oder in der Natur „das Licht“ einzufangen. Ich
mache meine Sachen für mich und bekomme
die aufregendsten Anregungen aus dem unglaublichen
Internet.
Die Jahre haben mich verändert. Mir ist die
Umwelt egal, ich unterstütze die grüne Partei
nicht, weil ich annehme, so alt zu sein, dass
ich hinsichtlich der Klimakatastrophe davonkomme.
Ich esse also Fleisch, fahre Auto. Ich
bewundere Greta Thunberg unendlich, ohne
mich verpflichtet zu fühlen, ihren Mahnungen
viel Beachtung zu schenken. Ich mag, dass sie
merkt, wie verlogen die Erwachsenen sind.
Eine böse Gesellschaft ist der Mensch. Ständig
kommt es zu Amok, Krieg und Tod. Der
einzige, der sich wenig damit aufhält, die an
der persönlichen Notlage des Gestörten unbeteiligten
Opfer zu beklagen und stattdessen
den Attentäter beweint, bin ich?
Jul 7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh 63 [Seite 63 bis 64 ]
Die moderne Genderei und überall verlangte
Frauenquote finde ich albern, desgleichen
Klage um homophobe Äusserungen und den
bösen Sexismus. Das ist mir scheißegal. Die
Vorstellung, meinen Penis bei einem anderen
Mann in den Hintern zu schieben, ekelt mich.
Natürlich ist es furchtbar ausgegrenzt zu
werden. Das ändert nicht, dass die geforderte
Korrektheit in allen Themen mit meiner Individualität
unvereinbar bleibt. Ich bin nicht
schwul.
Ich bin kein Papst und auch nicht modern
allen gerecht gegenüber, bin selbstgerecht
und entsprechend unfair. Ich bin mir bewusst,
dass es Behinderte und Benachteiligte gibt,
war selbst schon in der Situation ausgegrenzt
zu werden. Trotzdem: Ich bin kein, auf welche
Weise auch immer, gezwittertes Wesen mit
Penis unten und Titten oben oder nur psychisch
im falschen Körper gefangen. Darüber
mache ich mich lustig, wie Proleten, die bei
Kommentatorinnen im Fußball einen Rappel
kriegen. Ich grenze aus und weiß das.
Ich gab zu, junge Frauen attraktiv zu finden.
Das hat Ärger gegeben! Ich habe mich zum
Thema Sex und Internet geäußert, betrunken
geschrieben und nüchtern verschickt. Das hat
Ärger gegeben. Ich habe entsprechend gemalt,
und es hat Ärger gegeben. Frau von der
Leyen wollte zu dieser Zeit ein Stoppschild,
wie es das bereits in den skandinavischen
Ländern gebe, und sie hat Ärger bekommen.
Die Kommissarin: „Frau von der Leyen ist
blöd. Wenn ein Bild von uns gelöscht wird,
stellt derjenige es eine Minute später auf
einer anderen Seite wieder ein.“ Die Ministerin
wechselte oder wurde gewechselt. Nach
weiterem Stress auf anderen Positionen ist
sie nun in einem Amt angekommen, dass ihr
offenbar so gut gefällt, wie dem Herrn Steinmeier
seines. Mir gefällt, dass ich in mancher
Hinsicht Recht behalten habe. Durch das
weltweite Netz ist eine nach dem deutschem
Gesetz nur schwer beherrschbare Situation
entstanden. Man kann offensichtlich nicht
bestrafen, dass es Nudisten gibt, die ihre Familie
nackt fotografieren und das posten wie
andere ihre Currywurst, die ihnen gerade serviert
wird und dergleichen Quatsch. Moderne
Zeiten schaffen neue Probleme. Na klar, wir
baden alle nackig am Strand, und es werden
Filme gemacht, das verstehe ich schon. Warum
muss ich als Papa meine Tochter im Wald
fotografieren, die einen Baum toll findet,
nackt und in schicken Schuhen, etwa zehn
Jahre alt? Ich habe die Kommissarin gefragt:
„Was ist Kinderpornografie?“ Und sie sagte
schroff: „Die Beine breit.“ Das mag dem geneigten
Leser eine Ahnung davon geben, wie
schwierig es mit der Gerechtigkeit ist.
Die Schülerinnen tragen dünne Hosen heute,
und darin sehen sie aus wie nackt. Die sind
mit vierzehn Jahren geschlechtsreif, wenn
nicht früher, und da soll mir jemand erklären,
was krank daran ist, wenn ich sie auf die entsprechende
Weise anstarre. Inzwischen geht
es auch unter Gleichaltrigen zu wie bei Huxley
(Schöne Neue Welt) vorausgesagt. Das
Equipment (in der Gartenlaube) der gestern
verurteilten Männer in Münster zeigt aber,
was kriminell ist. Das ist eine Dimension von
Missbrauch, die jede Vorstellung sprengt und
nicht damit zu vergleichen, dass ein Mann
beginnt Frauen attraktiv zu finden, sobald die
entsprechenden Anreize gegeben sind. Da
hat sich einiges geändert. Frau von der Leyen
war und ist nie blöd gewesen. Feige ist, dort
zu fischen, wo es vermeintlich einfach ist.
Und dagegen muss der Bürger vorgehen, mithelfen.
Das ist wichtiger, als zu gendern, und
wir sollten unsere Gefühle zunächst kennen,
bevor wir probieren, uns pauschal verschubladen
zu lassen.
Ich gehe nicht mehr zur Wahl, habe beschlossen,
mich politisch zu enthalten. Meine Erfahrungen
mit der SPD hier vor Ort lassen keine
andere Konsequenz zu. Keine soziale Unterstützung
für einen Staat, wie auch immer der
sich selbst lobt. Deutschland ist ein tolles
Land; ich kann es nutzen. Der Rechtsstaat
schützt mich vor einer aggressiven Polizei,
auch die Dorfpolitiker stoßen an Grenzen.
Das gefällt mir. Die falschen Freunde hier
haben erreicht, dass ich Frauen nicht mag
und asozial aus meinem Abseits spotte, isoliert
bin und radikalisiert, ja gewaltbereit?
Die Rufmörder haben es begriffen. Man senkt
den Kopf, geht mir aus dem Weg und auch
ich gehe auf die andere Straßenseite, wenn
möglich. Andere feixen fröhlich.
Ich habe für mich mein eigenes Dorf idiotenfrei
hinbekommen.
Die Gesellschaft hat mich verloren. Corona,
ich bin gut informiert, weiß stets detailliert,
wie es auf den Intensivstationen in Hamburg
läuft. Trotzdem mache ich möglichst keinen
Schnelltest und verzichte lieber auf einiges.
Ich meide Menschen. Ich trage Maske. Ich
gehe nicht ins Restaurant. Ich gehe allein segeln.
Ich mache, wenn überhaupt, Urlaub auf
Fehmarn. Und natürlich lasse ich mich aktuell
nicht gegen das Virus impfen. Erst mal abwarten.
Das ist mein Recht. Ich habe gelernt,
was das wert ist und habe zwei gute Anwälte,
ausreichend finanziellen Spielraum. Früher
dachte ich ganz anders. Damals vertraute ich
einigen Werten und was man so sagt. Ich bin
heute immer „dagegen“. Deswegen schließe
ich mich den Spinnern von „Querdenken“
nicht an. Ich bin Querulant. Das ist individuell.
Ich brauche keine Gesellschaft, die mich
bestätigt. Ich bin durchdrungen von klammheimlicher
Freude, wenn Amtsträger Haue
bekommen, bin Rechts- wie Linksanarchist
und Farbterrorist ohnehin. Ich bin der gestörte
Einzeltäter mit Pinsel. Das haben diese
Gutmenschen erreicht.
Ich gehe nicht zum Arzt. Warum? Niemand
darf an mich ran. Sowieso: Ich raste aus, wenn
man mich bedrängt, etwa im Auto hupt, es
müsse schneller gehen und schlage gegebenenfalls
zu! Ich denke, ich kann das bezahlen
und schäme mich nicht für diese Einstellung.
Das Gefängnis ist überall. (Ich bin verheiratet).
Ich bin grundsätzlich verstört und sehe im
Helfer pauschal den Gegner. Macht über Hilfesuchende,
Diagnose ist bereits Missbrauch:
Ärzte machen Geschäfte mit der Angst; Krebs
ist eine Firma. Nach monatelangen Schmerzen
war ich im Frühjahr in einer Praxis. Der
Aufforderung, eine Blutuntersuchung und
einen Termin für eine Magenspiegelung bei
fachärztlichen Kollegen zu machen, kam ich
nicht nach. Ich kann mich nicht überwinden.
Mir fehlt das Vertrauen in andere. Ich hatte
dreißig Tabletten bekommen, und nachdem
ich drei davon an drei aufeinanderfolgenden
Tagen genommen habe und es nicht besser
wurde, habe ich sie nicht weiter eingenommen.
Die Probleme mit dem Magen sind geblieben.
Ich kann seit einem Dreivierteljahr
kein Bier, geschweige denn Wein trinken,
ohne dass es brennt, drückt im Bereich von
Magen und Ösophagus. Ich freue mich darauf,
dass es doch noch wieder weg geht, von
allein, und genauso freue ich mich auf den
Krebs, falls die Sache schlimmer wird. Es gibt
(solange ich nicht nachprüfe) noch unzählige
alternative Erklärungen, was die Schmerzen
verursacht. Die Vorstellung, eine Krebserkrankung
zu bekämpfen, mit den bekannten
Strategien, irritiert und verstört mich, was
bringt das? Genauso die gängige Methode,
mit Organtransplantationen im Falle zerstörter
Körperteile zu reparieren – und der Gedanke
dahinter, es sei ein guter Einfall, um
nun doch noch länger zu leben – warum lange
leben? Das halte ich für eine vollkommen
bescheuerte Idee.
Zusammengefasst: Weder die alberne Gleichmacherei,
die Schwulenlobhudelei, den Coronaquatsch,
den Klimawandellaberkram,
die Lügenpolitik, die Steinmeierei und Opferscheiße
mag ich noch hören. Ich verachte
Weißkittel, Staat, Polizei. Ich kann mit diesen
Ansichten nicht in respektvollen Beziehungen
mit anderen sein. Das strebe ich auch
nicht an. Ich habe keine Beziehungen mehr,
die auf Empathie basieren, glaube ich.
Herdenimmunität? Das zeigt, wie Montgomery
und Kollegen uns betrachten. Ich bin kein
Schaf. Ich esse welche: Koteletts, Lammkarree,
Filet, Hüfte und bei Massim(ilian)o gern
auch fette Haxe – wenn nur das mit dem
Bauch nicht wär’ …
Verkracht mit der Welt. Ich mochte Rotwein.
Nun denn, irgendwann muss jeder gehen. Das
schafft Platz für andere. Da ist keine Kommentarfunktion
im Blog bei mir, und es gibt
so gut wie keine Mailkorrespondenz. Gut so.
Niemand kann vor anderen damit punkten,
mir zu sagen, wie verkehrt ich drauf bin, es
sei denn im echten Leben. Unbeachtet im Klo
weggespült gibt es keinen Shitstorm. Ich bin
in keinem sozialen Netz aktiv und stelle meine
Bilder nicht mehr aus. Da sind entfernte
Bekannte, die winken mir zu auf der Straße
und einige langjährige Freundschaften bestehen
unverwüstlich. Das muss genügen.
Meine liebe Frau ist noch da und schimpft –
wie Frauen das ständig tun. So ist wenigstens
was los.
:)
Jul 7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh 64 [Seite 63 bis 64 ]
Man muss zurückschauen können
Jul 10, 2021
Heute habe ich etwas ganz Wunderbares erlebt.
Ich verlasse gerade unser Einkaufszentrum.
Eine Tüte mit Lebensmitteln schaukelt
lustig in meiner Hand. Ich sehe wohl recht
vergnüglich aus? Eine junge Frau trinkt „Red
Bull“ oder ähnliches aus einer Dose in der
Hand, hält inne und schaut mich lächelnd an.
Ich probiere herauszufinden, ob sie was von
mir will und ändere leicht meine Gehrichtung
auf sie zu. Ich bin schon fast vorbei, während
wir uns wie Honigkuchenpferde angrinsen.
Statt mich nach dem Weg zu fragen, kommt
sie ebenfalls näher (ich denke, vielleicht ist
die bescheuert). Ein wenig entrückt ist dieser
Blick. Ich begreife, wie schön die Unbekannte
ist.
Sie sagt einfach: „Behalt’ dein Lächeln!“
Sie hat einen reichlich großen Mund, finde
ich und überlege, was nicht mit ihr stimmt,
antworte aber automatisch und plötzlich
voller Begeisterung: „Ja!“ Ich wundere mich
über mich selbst, strahle sie jetzt voll an. Ich
registriere ihre Prinz-Eisenherz-Frisur, denke
still für mich an Amélie (aus dem Film) und
irgendwie auch an Imke. Wir haben zusammen
studiert, nur der Mund ist größer. „Ein
schönes Wochenende dir!“, meint sie, „in diesen
dunklen Zeiten …“, und schon sind wir
auseinander. Ich schaue ihr nach und sage:
„Genau so!“ Und noch einmal bekräftige ich
laut: „Ja!“
Magisch.
Ich erinnere mich, das ist ein Pakt! Er muss
aufgefrischt werden, wenn diese Treffen
stattfinden. Wir Beknackten sind die Glücklichen,
denke ich.
# Nudge
Es geht mir durch den Kopf: Waren die Zeiten
nicht immer finster? Wir leben heute und erreichen
morgen die Welt von morgen. Es gibt
kein Zurück. Die Hoffnung auf einen Sommer
ohne allzu viel Corona …
Das habe ich gesehen: Ein Containerschiff
verlässt Hamburg. Während wir unser Boot
im Yachthafen aufklaren, macht jemand ein
Foto. Die „Ever Gifted“ ist groß wie eine Wand.
Zuhause montiere ich den „weißen Schwan“
in den Vordergrund, als würde der Riese unser
schönes Museumsschiff „Cap San Diego“
überholen. Die neue Begegnungsbox vor
Schulau ist fertig ausgebaggert. Vielleicht
könnte das tatsächlich so geschehen: Moderne
trifft Vergangenheit.
Ever gifted, für immer beschenkt.
Die Elbvertiefung ist kein lohnendes
Streitthema mehr. Die Elbe ist tief. Das
ist ein Fakt. Der Streit der Umweltverbände
ist Geschichte. Ich blicke zurück,
und mein Gegenüber ist die Erinnerung?
Ein Geschenk ist, unbelastet
zu sein und emotional frei. Verpasste
Chancen belasten uns. Und banale Bilder
sind die Kulisse; einige reparieren
alte Autos, probieren etwas von früher
festzuhalten, sammeln Fotos. Manche
halten es nicht aus zurückzuschauen!
Das ist auch meine Vergangenheit: Die
bekannten Schiffe der Hamburg-Süd
kamen regelmäßig die Elbe rauf, als ich klein
war. Es gab einige davon. Die waren immer
ganz sauber und schön. Der schneeweiße
Rumpf leuchtete schon von weitem, und der
rote Streifen quer über der Brücke ist das
Markenzeichen der eleganten Frachter gewesen.
Tatsächlich ein vertrauter Anblick und
alltäglich für uns Segler damals.
Das war auch gerade: Nicht lang her, der Russische
Präsident schrieb in der ZEIT.
# 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion:
Wladimir Putin schreibt über seine
Sicht auf Europas Geschichte und Vorstellung
einer gemeinsamen Zukunft. (…).
Putin legt darin auch seine Sicht der jüngsten
europäischen Geschichte dar. Die Ereignisse
2014 in der Ukraine bezeichnet er als von
Europa unterstützten „Staatstreich“, schreibt
vom „Austritt“ der Krim. Die Bundesregierung
und die EU dagegen sprechen (wie auch alle
Kommentatorinnen und Kommentatoren der
ZEIT) von „Völkerrechtsbruch“ und einer „Annexion“
der Krim durch Russland. (Gastbeitrag
von Wladimir Putin in der ZEIT, 22. Juni
2021).
Ich erinnere mich: Putin interpretiere die
Geschichte um, meinte dazu das Schenefelder
Tageblatt vor kurzem in einer kostenlosen
Wochenendbeilage. Aber: Der Präsident
schrieb Geschichte; interpretieren kann jeder.
# Hell scheint die Sonne in der dunklen Zeit
Neue Farben. „Schwarzfahren“ wird bald anders
definiert. „Man wolle keine rassistischen
Begriffe“, das habe ich wo aufgeschnappt. Mit
der Bahn nach Wedel: Vergangenen Sonnabend
bin ich mit der letzten Flut nach Teufelsbrück
gesegelt. „Laroche“ leider geschlossen!
Bei mittags einsetzenden Ebbe kreuzte
ich nett zurück nach Schulau und hatte einen
feinen Sonnenbrand anschließend. Ich
vergaß, mich einzucremen. Es heißt, man
bekomme Hautkrebs, wenn man sich nicht
schützt.
# Der Krebs kommt sowieso
Nun wurde bekannt, die Creme verursacht
selbst auch Krebs, wenn sie vom letzten Jahr
ist und ein bestimmter (in jeder Sonnencreme
enthaltener) Stoff sich inzwischen
verflüchtigte. Ein chemischer Prozess, der das
Produkt unbrauchbar macht. Das Übel beginnt
mit dem Moment der ersten Öffnung
der Verschlusskappe und schreitet unaufhaltsam
fort, bis man das reinste Gift verteilt,
sollte man die Creme noch nach einem Jahr
anwenden.
Das wussten wir ja gar nicht, können nichts
rückgängig machen: Als wir Kinder waren,
cremte meine Mutter uns mit einfacher Nivea
ein. Und das war verkehrt. Oft hatten
wir Sonnenbrand. Das ist falsch gewesen?
Das hat man uns die letzten zwanzig Jahre
stets gesagt, wir hätten nur soundso lang
jeweils in die Sonne gedurft und den Faktor
x je nach Hauttyp regelmäßig nachcremen
müssen. Dann haben wir sparsam immer die
Reste vom vorigen Jahr genommen, und wie
wir nun seit kurzem, aber rechtzeitig vor diesem
Sommer wissen, war das auch verkehrt.
Und es kann nicht mehr korrigiert werden. So
wie die Geschichte, die bereits geschrieben
wurde, von Putin oder der Sonnencremeindustrie.
Der Mensch hat die Klimakatastrophe verursacht,
das ist nicht nur Geschichte, das ist
unsere Zukunft. Das kann nicht einmal die
rechte Partei uminterpretieren. Die Polizei
war unser Freund und Helfer. Das ist auch
Geschichte.
# In Köln verursacht ein Video Aufregung.
Eine Verkehrskontrolle lief mutmaßlich völlig
aus dem Ruder – ein Polizist soll einem
Autofahrer Gewalt angedroht haben. Dem
Beamten drohen Konsequenzen. (…).
„Ich wusste nicht, was der mit mir vorhat. Mit
einem Video schützte ich mich.“ (…). Der Polizist
habe bei der Verkehrskontrolle gesagt:
„Ich würde mir wünschen, dass Sie auf dem
Boden liegen und ich mit meinen Füßen auf
Ihrem Kopf.“ Und weiter: „Genauso wünsche
ich mir, dass alle Salafisten und Rechts- und
Linksradikalisten direkt der Blitz treffen würde.“
(…). „So was kann man als Polizist doch nicht
sagen.“ Ganz ähnlich sieht das auch die stellvertretende
Kölner Polizeipräsidentin, die
sich im „Express“ so äußerte: „Für derartige
Worte eines Polizeibeamten habe ich wirklich
kein Verständnis. Das entspricht nicht
dem Bild der Polizei Köln.“ Gegen den Beamten
sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet
worden. (t-online, 10.07.2021).
Jul 10, 2021 - Man muss zurückschauen können 65 [Seite 65 bis 66 ]
Vorbei sind die Zeiten, wo man sich über die
Bodycam aufregte. Selbst zu filmen ist angesagt!
Was wäre ein Fußballspiel, bei der nur
eine der Mannschaften aus Stürmern und
Verteidigern besteht und die andere lediglich
ihren Kasten verbarrikadiert, sich
hinlegt als ein Haufen Mensch, in der
Hoffnung das genüge.
Wir schauen zurück!
Letzte Woche, schon Geschichte. Ich
habe mir eine Fahrkarte gekauft, die
Maske aufgesetzt, das ist einfach. Mit
meinen Haaren und dem Sonnenbrand
bin ich rotgefahren. Ein Plakat
weckt mein Interesse. „Komm ins
Blaulichtmillieu“, lese ich in Sülldorf,
als ich dort mit der S-Bahn unterwegs
bin: „Bewirb dich jetzt bei der Polizei.“
Blaue und Rote im Krieg … im Kampfe
an der Rotlichtlampe. Und dann kommt noch
die Delta-Variante! Echt gefährlich heute,
und es gibt kein Zurück.
Eine dunkle Zeit?
:(
Jul 10, 2021 - Man muss zurückschauen können 66 [Seite 65 bis 66 ]
Beschränkt und erfolgreich
Jul 15, 2021
Man bekommt, was der Laden hat. Es gibt
noch diese Menschen, sie sagen beim Bäcker:
Ich „bekomme“ (drei Roggen und ein Croissant).
Das hat ihnen Mama so beigebracht?
Ein Leben lang sind diese Leute so ins Geschäft
spaziert: „Ich bekomme.“ Sie fordern
es auf eine Weise, die das Ergebnis vorwegnimmt.
Anstelle offen gegenüber einer Reflexion
zu sagen: „Ich möchte drei Schrippen“,
stellen sie es fest. Der Kunde, ein König.
„Ich bekomme.“
Die überraschende Antwort: „Schrippen sind
heute aus“, irritiert den Käufer? Man meint
schon vorher bestimmen zu können, was es
gibt. Nach einer Formel zu leben, lehrt ein
Selbstbewusstsein, das nur in einer planbaren
Welt funktioniert. Wenn der Bürgersteig
einen Radweg enthält, einander begegnende
Fußgänger mit Hund oder Kinderwagen
Trauben bilden, klingelt der rasende Senior:
„Ich komme!“ Ich bekomme den Weg frei, für
mich.
Meine Spur, mein roter Teppich. Die Gesunden
lieben ihren Nächsten erst an zweiter
Stelle, kümmern sich zu erhalten, was sie
wollen. Dazu gehört verbale Verteidigung:
„Moment. Zunächst komme ich.“ Es ist das
Selbstbewusstsein derer, die in zivilen Verhältnissen
groß werden. Eine solche Erwartungshaltung
kann sich nur erfüllen, wenn
man weiß, was der Bäcker im Regal hat. Dann
kann der Kunde noch meckern: „Die sind aber
klein heute.“ Beschränktheit ist das Normale.
Würden wir differenziert lehren, in der Schule
etwa, könnten wir Einfluss auf die zukünftigen
Generationen nehmen, dass sie flexibler
wären. Wir benötigen aber Beschränkte:
Der spezialisierte Mensch ist das Ergebnis
des Fortschritts. Wir werden darauf ausgerichtet,
im systemischen Ablauf das Element
eines Teams zu sein. Da ist Beschränktheit erwünscht,
und folgerichtig plappert eine Mutter
über ihre Tochter: „Sie hat Aspergerautismus
und kann anderes nicht ausblenden.“
Das Mädchen rastet aus in einer idiotischen
Umgebung. Sie ist die einzige, die etwas
merkt. Oha, das kann ich nur sagen, weil sich
niemand dafür interessiert und etwa was davon
hat, mich zu belehren. Alle nutzen das
Netz, um sich in dem was sie tun, von anderen
Bestätigung zu holen. Die sozialen Systeme
sind den römischen Spielen nachempfunden.
Daumen hoch beziehungsweise runter heißt
folgerichtig: „weitermachen oder den wilden
Tieren zum Fraß vorwerfen.“ So werden diejenigen,
die bereits einige Dislikes haben, ab
einer magischen Grenze inflationär
und exponentiell mehr davon bekommen.
Dabeisein bei den Bösen
lohnt, wenn genügend mitmachen.
Als hochintelligent bezeichnet, hat
ein Mädchen es schwer. Dazu wurde
Asperger diagnostiziert? Was denn
nun, krank oder was ganz tolles;
wir gefallen uns darin, etwas zu beschreiben,
dass wir nur wegerklären
mit unseren Begriffen. Wir können
nicht ändern, dass Eltern sich ein
ganz besonderes Kind wünschen.
Eine dumme Idee, die klug bemäntelt
daherkommt. Natürlich werden
Kinder in der Schule angefeindet, die anders
und besonders sind. Die Erwachsenen greifen
ja auch alle anderen an, neiden Berühmten
den Erfolg. Sie grenzen die Ausländer aus.
Männer verhindern Frauenbeteiligung in
der Wirtschaft. Die moderne Frau wiederum
wird beknackt daran, nichts zu verpassen.
Abgehetzte Mütter, die das großartigste Kind,
dazu die steile Karriere auch noch und den
vorzeigbaren Mann wollen, mit Charisma und
in einer guten Firma, ganz oben, der aber zuhause
macht, was „Frau“ will. Die gibt es.
Steht der Intellekt in einer Familie oben an,
Kultur und die Werte oder die Leistung, der
Kommerz – anstelle trivialer Herzlichkeit –
gut möglich, dass ein Supermonster rangezüchtet
wird, das unser System sprengt. Ein
Gen wird gefunden. Das ist daran Schuld –
Schicksal. Die beunruhigende Frage steht im
Raum, was die Hochintelligenz schließlich
bringt? Ein Netz würde gespannt, schreibt
das Tageblatt. Ein Fisch wurde darin gefangen
und zubereitet, jeder darf mal schnuppern,
einen Happen abbeißen; das steht dort
nicht. Zunächst werden Klassen übersprungen.
Ein Sozialpsychiater oder drei begleiten
die Superpflanze, die wie eine Diva vor Stress
beschützt werden muss und für die keine
vegane Extrawurst genügt. Und nach Schule
und Studium, was kommt dann? Überall das
beste Ergebnis und die größten Werte noch
dazu und mit einer psychosozialen Sonderkrankheit
ausgestattet, wird es schwer werden,
diese Ansprüche zu einer selbständigen
Existenz zu formen. Das ist mehr denn je eine
aus dem Baukasten. Das Wunderkind hat allemal
die Chance, diese Kisten zu sprengen.
Aber man muss sich dann auch eine individuelle
tischlern können.
# Das eigene Boot
Wir wissen, was richtig ist und sich gehört?
Die anderen auch! Jede Gruppe erklärt sich
zum funktionalen wie rechtmäßigen Block.
Die Querdenker, der Flügel der AfD, Nordkorea
und andere von uns als Unrechtsstaat
definierte genauso wie das System Bundesrepublik
Deutschland. Auch unsere föderalen
Bundesländer begehren auf gegen die Gesamtheit.
Wenn wir probieren, eine grundsätzliche
Rechtmäßigkeit zu postulieren,
scheitern wir schnell. Da ist keine profilierte
Ansicht, die irgendwer öffentlich macht, die
nicht Widerspruch hervorruft.
Arten sterben aus, der Klimawandel beschert
uns Gewitter, die wir so nicht kannten. Neue
Gruppen ersetzen alte. Der Busfahrer erzählt:
„Wir haben früher auch demonstriert. Aber
nach der Schule. Die Kiddies von ,Fridays
for Future‘ sind schon morgens im Bus und
machen für die Demo blau. Anschließend
der Versammlung liegen ihre Pappschilder
weggeworfen auf dem Rathausmarkt, und die
Stadtreinigung säubert die zu rettende Umwelt.“
Die Zeiten ändern sich. Und Frau Baerbock
hat einen Kobold, der sie berät? Da gibt
es sehenswerte Videos mit Peinlichkeiten
aller Art, und das ist nicht das Schlechteste
der Moderne. Wir werden unsere Fehler nicht
mehr los und sterben schließlich aus, weil
wir im eigenen Dreck verrecken.
Die Gesellschaft ist eine unreflektierte Herde,
die nur deswegen in einem komfortablen
Jetzt lebt, weil vorangegangene Generationen
einen Rahmen schufen. Viele bilden sich was
drauf ein, etwas zu leisten, aber diese können
das nur tun, weil sie einen Staat erbten, der
ihnen den Boden bereitet, auf dem sie sich
entfalten können. So stimmt tatsächlich, dass
die Gesellschaft ein Team ist und den Fortschritt,
die Stabilität des Ganzen sichert. Die
Gesundheit des Gesamten hängt also davon
ab, dass im Kollektiv zielgerichtet funktioniert
wird und das schränkt individuelle Freiheiten
ein. Die Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür.
Auf der anderen Seite schürt der Druck auf
Einzelne Aggression. Diese können,
formt sich daraus ein eigenes System,
eine alles gefährdende Untergruppe
bilden.
Gerade ist ein Journalist vor Gericht
gescheitert. Er hatte ein
Video zu bieten, auf dem er von
einer Gruppe Polizisten angegangen
wird. Offensichtlich trägt der
Reporter eine Kamera am Leib,
die alles aufzeichnet. Ein Polizist
stößt den Filmenden zu Boden, ist
sichtlich aufgebracht, er ließe sich
nicht beleidigen. Das Verfahren gegen
den Beamten wurde jetzt zur
Überraschung einiger eingestellt.
Auch die anderen Beteiligten werden
nicht bestraft. Natürlich, eine
Revision steht noch aus. Der Journalist
und etliche, die das Video
gesehen haben, folgern, hier decke
der Staat sich selbst. Allerdings,
dem Film fehlt die möglicherweise
vorangegangene Sequenz, denn es
wird nicht deutlich, was den über-
Jul 15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich 67 [Seite 67 bis 68 ]
griffigen Uniformträger so in Rage gebracht
hat. Unser System spricht im Zweifel für den
Beschuldigten. Sonst würde gelyncht wie damals.
Bleibt die Lage ungeklärt, soll der Richter
Mäßigung üben. Kein Wunder, dass dieses
Verfahren eingestellt wird. Niemand rastet
mal so aus, weil es ihm gerade gefällt. Da ist
sogar der Polizist nur und tatsächlich auch
ein Mensch wie wir anderen.
Die Polizei macht die Drecksarbeit
für den Bürger. Dafür ist sie da.
Der Normale mag sich nicht selbst
wehren, wenn es zu schmutzig
wird. Darum gibt es auch hier die
Spezialbereiche der Ordnungshüter.
Die Unordnung zu bekämpfen,
bedeutet sauber zu machen und
aufzuräumen. Am Rande einer
Demo kommt es zu Reibereien, das
ist wohl klar. Wir können froh sein,
dass überbordende Polizeigewalt
durch aufmerksame Beobachter
erkannt und festgehalten wird.
Diese Journalisten erledigen für
uns eine Grenzziehung. Sie selbst
werden im Weiteren in ihrer Berichterstattung
beschnitten durch
den Staat, der sich gegen Berufsspanner
wehrt, logisch. Kein Staat
der Welt lässt sich bieten vorgeführt
zu werden.
Nie zuvor ist dem Einzelnen klar geworden,
wie differenziert jede Betätigung heute eine
Spezialaufgabe ist. Die Beschränktheit der
jeweiligen Berufe: Sogar der Arzt arbeitet in
einem Geschäft! Sein Krankenhaus ist eine
Firma. Nur die Ewiggestrigen möchten die
staatlichen Gesundheitssysteme zurück, die
gute alte Zeit, wo die Medizin noch zum Wohle
der Menschen schuf.
Der Arzt ist ein Laden wie der Bäcker. Er hilft
dem Patienten nicht, er arbeitet nach System.
Kein Mediziner sieht den ganzen Menschen.
Er probiert es nicht einmal. Der Orthopäde
spricht eventuell von Stress, immerhin, aber
was genau dieser Begriff individuell meint,
skizziert der Spezialist höchstens. Ein Wort
für alle. Einlagen für Schuhe werden bei verschiedenen
Beschwerden verschrieben, weil
es möglich ist, so etwas anzufertigen. Es gibt
sie aus Korkleder oder Kunststoff. Eine Firma
verdient Geld damit. Es gibt unglaubliche
Apparate in der Medizin und Menschen, die
davon leben, sie zu entwickeln. Eine Magenspiegelung
kann entscheidende Hinweise auf
eine Erkrankung geben. Sie wird gemacht,
weil es technisch durchführbar ist. Deswegen
bedeutet die Untersuchung nicht, dass der
Hilfesuchende durch die Inanspruchnahme
des Fachmannes anschließend beschwerdefrei
ist. Ein Urologe hat der Sparte nach zugehörige
Geräte und Techniken, der Orthopäde
hat seine, und der Handchirurg „kann“ ausschließlich
Hände. Wie in der Landwirtschaft
und anderswo: Es ist naheliegend, dass einer,
der täglich Schweine schlachtet, es kann. Wer
es gewohnt ist, Spargel zu stechen, tut das
besser als irgendeiner.
Bezogen auf die Medizin, können wir feststellen,
dass es Ärzte gibt, die in ihrem Spezialgebiet
geradezu Wunder vollbringen. Es gibt
Chirurgen, die sich einen Namen machen wie
Operntenöre. Weil spezialisierte Menschen
Bestleistungen erbringen können, heißt das
noch nicht, dass der Intellekt automatisch
unsere Welt verbessert, indem Erscheinungen
unserer Natur Namen gegeben und
Fachgebiete kreiert werden. Im Fall einer
operierten Hand ist der Erfolg exakt messbar.
Diagnosen, die eine psychische Abnormität
definieren, kommen über Kaffeesatzlesen
kaum hinaus. Das hört der Fachmann ungern,
aber es ist schlimmer: Unendliches Leid wird
durch Fehleinschätzungen verursacht. Das ist
bei verpfuschten Operationen
an der auf komplizierte Weise
beweglichen Hand schmerzlich
– und wenn der entlassene
Sexualstraftäter wider die Vorhersage
erneut vergewaltigt.
Am Beispiel der falsch operierten
Hand ist die Schuldzuweisung
präzise möglich. Bei
der Beurteilung psychischer
Krankheiten steht schon von
Beginn an die Frage im Raum,
inwieweit ein Außenstehender
kompetent ist, verantwortlich
für andere zu entscheiden.
Dazu kommt, dass psychisch
Kranke sich nicht effektiv gegen fachlich
deklarierte Bevormundung wehren können.
Ihre Krankheit besteht unisono darin, dass
sie entweder aggressiv (auch gegen sich
selbst) oder depressiv handeln. Sie schlagen
zu, ritzen sich die Arme, zwingen Angehörige
durch unzählige Blödheiten, sich nur mit
ihnen zu beschäftigen oder lassen alles mit
sich geschehen. Sie verprügeln den Arzt, töten
die Mutter, anstelle sich einen Anwalt zu
nehmen. Gewalt dosiert angewendet ist normalgesundes
Handeln.
Wir erfinden Krankheiten. Darum gibt es heute
nicht den gelegentlichen Zappelphilipp,
sondern das ADHS-Kind und den Asperger in
der Klasse; Störer. Daraus werden anschließend
Gestörte. Wir haben sie solange fertig
gemacht und in ihrer Entwicklung gestört,
der Name verrät es. Der moderne Mensch ist
das Opfer seines Intellekts. Alles bekommt
einen Namen, eine Schublade, und das sind ja
auch Berufe, die wir schaffen: „Entstörer“ benötigen
wir. Was uns bislang noch fehlt, sind
Menschen, die diese Berufe so gestalten, dass
ihnen die Erfolge, falls es zu einer Besserung
kommt, auch erkennbar zugeschrieben werden
können.
Im Falle der Sexualstraftäter wird unsere
Hilflosigkeit deutlich. Während die Justiz bei
denjenigen, die zur finanziellen Oberschicht
gehören, Strafbarkeit feststellt, falls es gelingt,
ihre gutorganisierten Sexpartys, bei denen
Minderjährige die Lustobjekte sind, auffliegen
zu lassen, werden weniger betuchte
mit der Zuweisung einer Krankheit bestraft.
Dann kommt es bei Resozialisierung zu
Rückfällen? Auf die Idee, dass unser System
grundsätzlich von falschen Voraussetzungen
ausgeht, scheint niemand zu kommen. Das ist
die Beschränktheit, die uns so gut funktionieren
lässt, und sie schafft Arbeitsplätze.
:(
Jul 15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich 68 [Seite 67 bis 68 ]
Wir sterben und wissen
es
Jul 17, 2021
Als freier, künstlerischer
Maler kommt man nicht
umhin zu denken. Alle
denken, auch die, die
keine Künstler sind, tun
es. Manche bilden sich
was drauf ein; niemand
stellt es ihnen ab, wenn
Denken nervt, krank
macht oder lästig wird. Es geschieht uns.
Nicht alle denken darüber nach, wie sie es
tun und ob es anders geht. Alle Aktivitäten
werden von Gedanken begleitet. Manche reden
von Bauchentscheidungen, und das soll
wohl heißen, dass dabei gerade nicht gedacht
würde. Dann kommen Gefühle ins Spiel. Einige
sagen, Emotionen lösen Gedanken aus,
und andere finden die Gedanken ursächlich
für die Entwicklung einer Gefühlslage. Tatsächlich
gibt es die Möglichkeit, einen Kurs
zu besuchen oder Literatur zu konsumieren,
die einen befähigen soll, auf das eigene Denken
manipulativ einzuwirken. Dadurch würde
derjenige selbstbestimmter, und das hätte
sowohl Einfluss darauf, gesteckte Ziele zu
erreichen wie das Gemüt zu beruhigen. Die
Logik dahinter ist klar: Lasse ich mich von der
Umgebung steuern oder nehme das Ruder
selbst in die Hand?
Ich habe schon Segelanfänger in meinem
Boot an die Pinne gelassen. Es ist erstaunlich,
dass es ihnen, wenn sie besonders unbedarft
sind, nicht gelingt mit dem Boot eine zielgerichtete
Fahrt zu machen. Nichtsegler, die gar
nichts von der Bedienung einer Jolle wissen,
können nicht segeln. Das bedeutet, ihr Schiff
dreht Kreise, treibt irgendwie, die Segel flattern
oder stehen back. Die Unfähigen können
den Sinn vom aufgeholten oder tief herabgelassenen
Schwert nicht verstehen, die Platte
unter dem Boot, die sie Kiel nennen und die
eine planbare Fahrt erst möglich macht. Sie
wissen nicht, mit der Pinne umzugehen. Sie
drücken diese nach Lee von sich weg, wundern
sich erst, dass das Boot nun genau in
die andere Richzung segelt, als sie meinen,
und im nächsten Moment flattern die Segel
usw. – da sind wahrscheinlich wenige, die
dann schnell ganz von allein lernen. Mit einigen
helfenden Worten bessert sich die Lage
jedoch bald.
Angenommen, wir Menschen sind so ein Boot
selbst; das soll heißen, unser Körper wäre die
bedienbare Struktur, der Kopf mit dem Gehirn
und seinen Richtorganen der Kapitän. Das
habe ja nicht ich mir ausgedacht, als ein Bild,
und das kann man auch mit einem anderen
Fahrzeug darstellen. Eine Kutsche mit Fahrgästen,
und die sollen dann zu einer Einigung
kommen, dem Kutscher Anweisungen geben,
und der wiederum kennt sich mit den Pferden
aus, ist mit der Straße vertraut und kann
notfalls bremsen.
Normal Arbeitende
mutmaßen,
dass Künstler
nicht wissen,
was sie tun und
das Talent ihnen
hilft, Sachen zu
machen, für die
sie selbst zu hart
arbeiten müssten.
Viele glauben,
dem Künstler
falle alles zu.
Andere meinen,
Maler würden
erst nach dem
Tod berühmt und
seien deswegen
dumm, weil sie
am Hungertuch
nagten. Noch
wieder welche
verweisen auf
Van Gogh und
erkennen das Kranksein in der Kunst, bei Musikern
bemerken sie vordergründig nur das
ungezügelte Leben mit Alkohol und Drogen.
Verdient jemand außergewöhnlich, steht der
Neid im Raum; das ist ja auch beim Fußball
ein Thema. Keiner bewegt sich annähernd wie
ein Ronaldo, aber alle schauen begeistert zu,
und schon geht wieder die Debatte los über’s
Geld. Ich gehe dann aus dem Raum, und das
ist einer der Gründe, warum Kreativität einsam
macht. Ganz wenige nicht künstlerisch
schaffende Normale erkennen die Leistung
der Kreativen deutlich und reflektiert an. Das
sind die wenigen, die nicht neiden, spotten
oder plappern, was schon gesagt worden ist.
Wir kommen auf die Welt an einem Ort, den
wir dann zum Ausgangspunkt unseres Lebens
machen müssen (und diese Unfreiheit
am Beginn akzeptieren). Im günstigen Fall
werden Eltern, Großeltern und Geschwister
sowie bald auch Freunde den Rahmen so garnieren,
dass wir schnell lernen, uns zurechtzufinden.
Damit wächst der Anteil an
Eigenverantwortung, aber das Gefühl
und die Erfahrung, alles durch einfaches
Schreien erreichen zu können,
weil Mama dann kommt, genügt nicht
mehr. Wenn wir beim Boot als Sinnbild
weiterdenken, stellt sich die Frage,
welcher Typ der unsrige ist und in welchem
Revier wir starten? Wer sind wir,
was werden wir sein: Eine kleine Jolle,
die man sowohl dafür nutzen kann, am
Wochenende wie zum Camping eine
Tour zu segeln, bei der man in einem
nahen Hafen am Flusslauf übernachtet,
am Sonntag zurückkehrt und auch
mit Gleichgesinnten Regatten segelt –
oder ein auf der Werft im Bau befindliches
Containerschiff, das, wenn es fertig
ist, zu den größten der Welt zählen
wird und von dem andere erwarten,
dass es seinen Dienst wie geplant auf
den Ozeanen der Welt tut – das sind geerbte
Erwartungen unserer Umgebung und eventuell
genetische Anlagen dazu.
Niemand kommt umhin, bald über den Tod
nachzudenken, schon als kleines Kind. Kinder
fragen ständig. Es dauert nicht lange,
das Leben grundsätzlich zu beschreiben. Wir
werden geboren, wachsen einige Zeit lang
auf und lernen, erreichen unsere Körpergröße,
begreifen Geschlecht, Sexualität. Im
mittleren Teil des typischen Menschenleben
steht, so sollte es sein, eigenverantwortliches
Dasein, Existenzsicherung, individuelle
Entfaltung persönlicher Vorlieben, Sexualität
und Familie, bis dann Rente und Tod unausweichlich
näher kommen. Den Sinn von
Fehlern, Feindseligkeit und Krankheit lernen
wir kennen. Wir stellen die Befriedigung von
Trieben, intellektuelle oder anderweitige Vorlieben
den erstgenannten Schwierigkeiten
gegenüber, wenn wir verstehen lernen, dass
an einem selbst gesteckten Ziel anzukommen
befriedigt. Ob das bedeutet, aus einer
kleinen Segeljolle einen Großsegler oder
Öltanker machen zu müssen – sich zeigen
wird, dass derartige, grundsätzlich operative
Änderungen nicht gelingen können oder ob
wir das Revier wechseln müssen, uns letztlich
genügt, die Segel anzupassen, je nach Wind
und Wetter – das wird unser spezielles Leben
sein.
Irgendwann müssen wir beginnen, darüber
nachzudenken.
Erstaunlicherweise scheinen einige das
nicht nötig zu haben und andere mehr. Und
wieder welche müssten nachdenken, tun es
aber nicht. Ich habe mit Herrn B. gesprochen.
Dieser Mann betreut sterbende Menschen im
Hospiz. Meine Mutter ist in dieser Einrichtung
verstorben. Sie war exakt vier Wochen dort.
Meine Mutter hatte, schon im Bewusstsein
ihres Todes in den Tagen vor dem Umzug in
ihr Sterbezimmer, noch in der eigenen Wohnung
allein, den Verstand verloren. Sie wurde
möglicherweise aufgrund von Angst nicht
mehr wirklich klar, während wir ihr Sterben
begleiteten. Noch wenige Wochen vor dem
endgültigen Abschied in Wedel hatte sie
vehement postuliert: „Ich verlasse meine
Wohnung nicht mehr!“ Damit konterkarierte
sie den ursprünglichen Plan, den durch eine
Krebserkrankung unausweichlich vorhergesagten
Tod im Hospiz zu erleiden, wofür wir
Angehörigen mit ihr zusammen mehrere
Häuser kontaktiert hatten.
Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 69 [Seite 69 bis 70 ]
Die Angst vor dem Tod muss jeder erleben,
keiner im Hospiz komme drum herum, ich
habe den klugen Sterbebegleiter danach gefragt.
Meine Eltern beneideten ihren Segelfreund
Hannes. Er „habe es gut gemacht“, fanden
sie. Kann man das machen? Hannes war mit
Ehefrau nachts auf dem Nachhauseweg von
einem Opernbesuch am Kantstein direkt vor
dem eigenen Wohnhaus unvermittelt tot
zusammengebrochen. Auch Olaf, ein Freund
vom Onkel meines langjährigen Segelfreundes
Bernd, stürzte, sagt man, (vor dem kleinen
Kino in Blankenese) im noch nicht so fortgeschrittenen
Alter auf dem Gehweg – und
überlebte das nicht; wir waren aber überrascht
und entsetzt. Der war gerade am Beginn
einer möglichen Rente und hatte noch
viel vor. Ebenso der im Ort bekannte Kassierer
einer Bank in Wedel. Dieser Pechvogel
segelte am ersten Tag seiner Verrentung
bei Freunden auf der Ostsee mit. In einer
plötzlichen Bö vor Schleimünde kenterte der
zum Segelboot ungenügend umkonstruierte
Kutter, und der Mann ertrank. Das waren
Beispiele für einen gelungenen Tod, fanden
meine Eltern. Wie man das „mache“, haben sie
tatsächlich darüber nachgedacht? Sie hatten
beim Anwalt eine Verfügung formuliert, was
sie im Falle eines unvermittelt nötigen Krankenhausaufenthalt
ohne Bewusstsein wollten
und was nicht.
Das Hospiz liegt räumlich direkt angeschlossen
nah einem Hamburger Krankenhaus. Es
ist ein Zaun, der beide Anlagen trennt, und
typischerweise gelangt man von einer Nebenstraße
zum Gebäude. Dabei gerät man
gar nicht in den Betrieb der Klinik. Es ist ein
kleiner Parkplatz dort und eine Tür, an der
man sich als Angehöriger legitimieren muss.
Ich erinnere Sylvie. Sie war vorher im Kindergarten
beschäftigt gewesen. Die junge Frau
hatte sich bewusst entschlossen, eine Zeit
lang hier zu arbeiten. Eine Herausforderung,
eine Pflicht für sie. Das war ihr bewusst geworden.
Es tat Not, weil sie begreifen wollte.
Ich denke noch oft daran, wie gut es getan
hat, wenn sie mit ihren Putzkram in der Nähe
still die nötige Arbeit machte. Ich habe ihre
Telefonnummer auf einem Zettel. Ich solle
anrufen, sie koche gern für Freunde und habe
dann original afrikanische Spezialitäten aus
ihrer Heimat bereit, die sie unmöglich alle
allein essen könne. Das habe ich nie getan,
mit dem Tod meiner Mutter war Schluss. Es
ging nicht, nur deswegen.
Ich sehe die Zeit wie im Nebel,
wenn ich daran denke:
Die Leitung, Frau E., die ich
über eine Freundin in einer
ähnlichen Einrichtung als
Ansprechpartnerin empfohlen
bekam. Sie machte es
möglich, dass meine Mutter
noch am selben Tag das angemeldete
Zimmer bekam,
als ich anrief, beschrieb, wie
sich die Lage zugespitzt
habe.
Das war unglaublich.
Der direkt am Sterbenden
verantwortlich begleitende
Herr B. sagte mir, jeder im Hospiz wäre
irgendwann damit konfrontiert, den nahen
Tod als unausweichlich zu bemerken mit der
entsprechenden Angst. Er erzählte von einem
Bewohner, der nach einigen Wochen wie erwartet
starb. Dieser Mann war ganz dünn und
ausgemergelt geradezu, unübersehbar von
seiner schweren Krankheit gezeichnet. Der
scherzte aber nur und war immer auf eine
aufgesetzte Art fröhlich, hatte Geschichten
drauf, als unterhalte er das Personal in einem
Hotel. Dem Herrn B. sagte er gelegentlich:
„Man sagt ja, ich hätte diese schlimme Krankheit,
aber Sie wissen doch, dass das
nicht wahr ist.“ Daraufhin probierte
der Pfleger regelmäßig, behutsam
die Realität in das Empfinden seines
„Gastes“ einzubauen: „Doch. Es
stimmt. Sie sind todkrank und werden
in wenige Wochen oder sogar
schon in einigen Tagen hier bei
uns sterben. Das wissen Sie auch.“
Der Mann bestritt es ein jedes Mal
und machte Scherze. „Darum sind
Sie hier. Weil Sie sterben“, meinte
der professionelle Sterbebegleiter
trotzdem, nicht um den Mann zu quälen. Dann
kam, was kommen musste, erzählte B. mir, es
wäre heftig und unausweichlich über den
knochendünnen Todgeweihten gekommen.
Jeden Tag habe er sich’s einreden können, er
wäre zum Spaß an diesem Ort. Erfolgreich
scheinbar, habe der Mann seine unübersehbare
Endlichkeit im Spiegel und beim Blick
auf seine Gliedmaßen verleugnet.
Aber dann wäre es schließlich passiert. Da
hätte sich der Sterbenskranke eines Nachts
für viele Minuten, ja Stunden weinend an
B. geklammert, gekrampft geradezu. Er griff
zu, ein Kind, das um Hilfe ruft. Hatte rotzend,
schluchzend und zuckend den Pfleger rundum
mit den Armen wie ein Krake unlösbar
eingefangen, bemüht mitgeschleppt auf diesem
unvermeidlichen Weg, wenigstens solange
es geht, noch Kraft in den abgemagerten
Ärmchen ist, Eisenkrallen daraus zu machen.
Es ist immer präsent. Ich erlebe es: Als wäre
auch ich noch dabei gewesen, hätte den Sterbenden
selbst gekannt.
Der Pfleger erinnerte sich, erzählte. Die Flure
hatten gebohnerte Fußböden, und hinter
jeder Tür befand sich ein Sterbezimmer, und
keines der Betten dort ist leer geblieben.
Mit jedem Gestorbenen bekam ein weiterer
Mensch von einer Meldeliste die Gelegenheit,
hier behütet zu sterben. Vor meinem inneren
Auge lebt jetzt gleich alles auf, während ich
diese Zeilen in das Pad tippe: Die Kerze im
Erdgeschoss. Sie wird dort angezündet, wenn
ein vertrauter Gast die letzte Reise antritt
und das Haus verlässt. Als B. erzählte, glaubte
ich dabei zu sein. Ich sah den Mann scheinbar,
während wir im schummrigen Flur leise
redeten und meine Mutter Greta oben im ersten
Stock schlief. Ihr blieb noch Zeit.
Wie viel davon, und was dann?
Der Pfleger, ich selbst und der Mann: Wir
drei schienen nun unentrinnbar unterwegs,
magisch gefangen vom Tod selbst. So plastisch
beschrieb B. mir, wie es war, mit in das
nicht länger auszublendende Schicksal des
Kranken gebunden zu sein. Umklammert. Der
konnte nicht mehr – und hatte die Angst zugelassen.
Er war am Morgen anschließend der Nacht
ganz friedlich gestorben.
:)
Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 70 [Seite 69 bis 70 ]
Ich bin
nicht bescheuert
Jul 18, 2021
Wir kannten nur Ampeln, keinen Kreisverkehr,
die Dänen hatten das; wir nicht. Inzwischen
gibt es auch in Deutschland viele Kreisel.
Man kann immer fahren, kaum, dass man
stoppen muss. Schon bist du drin! Es nervt,
an der Ampel zu stehen. An einigen „Lichtzeichenanlagen“
ist zusätzlich noch ein Schild
angebracht: Bitte bis an die Haltelinie fahren,
Kontaktanlage. Das heißt wohl, halte ich zu
weit ab vom Strich, kann ich warten, bis ich
schwarz werde. Oder besser, es bleibt rot für
immer. Man muss vorsichtig sein. Wer die falsche
Farbe im Munde führt, gilt den anderen
als Rassist.
Heutzutage möchten wir alles korrekt haben.
Laschet darf nicht lachen, wenn Steinmeier
die Opfer der Flutkatastrophe würdigt, bäh.
Auch nicht hinten im Bild. Einer hat es gesehen.
Dann wissen es alle. Wer
schreibt, bleibt. Wer filmt, der
blimpt? Ein neues Wort wird benötigt,
wenn die Plagiatsjäger auf
der rechten Spur überholt werden,
von denen, die Deepfakes
„in echt“ können. Jeder pupst mal.
Politik, Kunst, alles Öffentliche ist
massentauglich, die Themen entsprechen
dem Konsens. Wer das
nicht begreift, bleibt allein. Das
ist auch gut so. Ich möchte nicht
gestört werden durch Hassmails.
# Gendersternchen* nachträglich
Auch: Wir würdigen Frauen! Gestern
kam eine Astro-Doku. Die Mädels spielen
neuerdings eine Rolle in der Geschichte,
die es möglich macht, alles noch einmal neu
zu erzählen. Das Fernrohr, das Galileo nahm,
wurde ihm von seiner Cousine geschenkt. Die
Galaxien, die Hubble entdeckte, konnte er nur
sehen, weil seine Geliebte ihm … usw. – bald
wird es eine neue Vergangenheit geben.
Es ist vorgekommen, ich erinnere mich an
eine Meldung vor längerer Zeit, da musste
die Polizei einen Autofahrer stoppen und
behutsam aus dem Kreisverkehr lotsen. Eine
Überwachungskamera oder zufällige Beobachter
hatten bemerkt, dass ein Fahrzeug
im Kreisel verbleibend kreiste, immer wieder
und unzählige Male. Von zweihundert Ringen,
die derjenige bereits gedreht haben soll,
bis die Beamten einschritten, ist die Rede gewesen.
Der moderne Satellit der Landstraße
in seiner Umlaufbahn hält die Stellung. Ich
habe das nicht so genau in Erinnerung. Wahrscheinlich
hat man den Fahrer psychiatrisch
untersucht. Es kann eigentlich nicht verboten
sein, sollte man meinen, zumindest ein paar
Mal rundherum zu fahren?
Wenn im Verkehrsfunk von Staus
die Rede ist, sagen die Moderatoren
dieser Sendung gern, wie viel Zeit
die Verkehrsteilnehmer extra benötigen.
Dann heißt es gelegentlich:
Zeitverlust hier eine Dreiviertelstunde.
Ich merke immer auf: Was
ist Zeitverlust? (Der Planet hält an).
Dann kommt mir der Beknackte in
den Sinn, der, warum auch immer,
nicht aufhörte, in einem Kreisel zu
kreisen. Ich muss an unsere Küchenuhr
denken. Die ist so in der Art einer
Bahnhofsuhr eine große, runde
Platte, schneeweiß mit einem Rand wie eine
Pizza, und rundherum sind die Zahlen, eben
fast wie man das am Gleis kennt, so sieht
sie aus. Ein kleiner, schwarzer Zeiger für
die Stunden, ein langer zur Anzeige der
Minuten. Er ist ebenfalls schwarz. Und,
ganz wie bei der Bahn, hat unsere große
Wanduhr in der Küche auch einen
dünnen, schnellen Sekundenzeiger in
Signalrot.
Diese vorangestellten Beschreibungen
münden in die Idee: Zeit wird sichtbar in
der Bewegung. In einem Weltall sausend,
dürfte es schwierig werden, sie zu bemerken.
Insofern ist Zeit relativ, auch für
jeden Normalen, nicht nur den schlauen
Albert Einstein. Es kommt schon sehr
darauf an, wer, und wo wir sind, gerade
tun. Reißt mir andauernd der Geduldsfaden,
während andere locker traben? Was
bin ich auf der Weltuhr: ein Sekunden-,
Minuten- oder Stundenanzeiger? Dasselbe
Tempo für alle auf
dem Planeten, Zeit,
mit der wir um die
Sonne sausen und
mein eigenes Boot
im blauen Meer.
# Segeln
Ich weiß noch gut,
wie es „nach Bermuda“
war. Fünf
Tage über See,
und dann tauchte
die Insel an der
Kimm auf. Natürlich
haben wir
uns an Bord bewegt. Und ja, auch der Wind
traf unsere Wangen, wir spürten die Zeit.
Es wurde abends dunkel. Und die See rollte
an. Mittags knallte die Sonne, nachts war
es kühl, und die fliegenden Fische krachten
gegen die Kajütaufaubauten und klatschten
ohnmächtig an Deck. Wir hatten zu tun mit
den Segeln, gingen zum Essen in die Kajüte
und spuckten anfangs, weil wir zunächst
noch seekrank waren. Dann wurde es besser,
und auch das bedeutete, dass sich etwas geändert
hatte. Gestern übel, heute besser; das
ist Zeit. Aber das Wetter blieb scheinbar
gleich. Der Himmel war immer blau. Jeder
Tag war warm und ähnelte dem vorangegangenen.
Und nur in der Karte konnten
wir anhand der ermittelten Position begreifen,
dass wir Virgin Gorda und zuletzt
Anegada hinter uns gelassen hatten, das
Ziel, Bermuda näher kam. Ohne die Karte
wäre es nicht nachprüfbar gewesen. Das
rauschende Kielwasser, die besonders unter
Deck im Vorschiff (wo ich meine Koje
hatte) knallende Bugwelle, machte einem
klar, wir drängten nordwärts.
# Dasselbe Bild wie zeitlos gleich an jedem
Tag
Die Segel standen in derselben Position fest.
Ich meine, es war raumschots. Unter Vollzeug
waren unsere weißen Schwingen jedenfalls
gleichbleibend und immer gutgefüllt von einem
konstanten Wind gerundet. Man spürte:
„Capella“ ist unterwegs. Fünf Mal tagaus, tagein
rollte die See aus derselben Richtung heran.
Gleiche Windstärke, gleiche Wellenhöhe
kamen die Buckel dichter, sie hoben uns an,
unterliefen die Yacht und wir ritten unspektakulär
darüber hinweg. Rundherum gleich war
das Meer, der täglich identische, blaue Kreis
bis zum Horizont. Es änderte sich scheinbar
gar nichts.
Und dann tauchte
das Land auf, morgens,
noch vor dem
Frühstück!
Bermuda, Hamilton.
Die Einfahrt später:
Wie im nordischen
Schärengarten lagen,
beschaulich
verteilt, einige Inselbrocken
seitlich
des gewundenen
Fahrwassers. Inzwischen
tuckerte der
Motor, die Segel waren
nach Tagen zum
ersten Mal wieder
hübsch aufgetucht. Wir waren einigermaßen
unsicher, wo wir die Yacht jetzt festmachen
sollten. Hans-Jürgen, unser Kapitän, studierte
die Karte. Lars und ich probierten Landmarken
auszumachen, den passenden Liegeplatz
zu finden. Dann ließen wir uns von Ansässigen
helfen und fanden einen feinen, kleinen
Hafen, der privat zu einem Hotel gehörte,
steuerbords des Wasserweges zwischen den
Ufern. Eigentlich war nach der anderen Seite
hin eine Marina zu erwarten, und auch ein riesiger,
blauer Kreuzfahrer mit dickem Schornstein
hatte dort mächtig aufragend seinen
Liegeplatz gefunden. Unserem Kapitän passte
aber einiges nicht, oder dem Hafenmeister
gefiel es nicht, die Yacht dort hinzuweisen.
Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere einige
Tage im Hotel; und dort war dieser perfekt
gekleidete Manager des Restaurants
(mit blauem Sakko und rotem Schlips), der
uns servierte, wenn wir an Land gegessen
haben. Wer die Sahne zunächst in die Tasse
nahm, dann den Kaffee von ihm eingeschenkt
mochte, dem sagte er: „You don’t need to stir
it up.“ Der trug kurze Hosen und Kniestrümpfe
und war dabei eine Respektsperson. Die
Aufmerksamkeit selbst. Das sah nicht einmal
lustig aus, so selbstbewusst war dieser Mann
mit der typischen Klamottenkombi dort. Jetzt
war Zeit wieder wie immer.
Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 71 [Seite 71 bis 74 ]
Dieser Chef vom Restaurant ist im mittleren
Alter gewesen und servierte am Abend auch
in der Hotelbar. Um nach Hamilton zu kommen,
nutzen wir ein Boot, glaube ich. Eines
Abends waren wir tatsächlich zusammen in
einer Diskothek tanzen. Der sportliche und
lebensgewandte Restaurant-Manager begleitete
Lars und mich. Er hatte seinen freien
Tag, zog scheinbar gern mit den Youngsters
aus Germany los, während unser alter Hans-
Jürgen auf seiner „Capella“ blieb. Mir wurde
schnell klar, dass ich mich in der Disco nicht
wohl fühlte, und ich nutzte die kleine Fähre,
den Abend vorzeitig zu beenden. Ich weiß
noch genau, wie ich damals, das ist nicht
lang nach meinem Studium gewesen, Anfang
der Neunziger, immer gekniffen habe, wenn
es nachts was zu unternehmen gab. Mein
Mitsegler und dieser Fremde hotteten die
ganze Nacht ab und machten später (als ich
längst auf der Yacht schlief) noch ein Mädchen
klar?
Party, was mit Leuten unternehmen? Ich
stand nur daneben, das war immer so. Dieser
Mâitre d’ Hotel zeichnete sich, wenn er
im Hoteldienst beschäftigt war, durch eine
exzellente Zuvorkommenheit aus. Saßen wir
mit Hans-Jürgen am Tisch, und in der Nähe
waren vielleicht einige weitere Gäste mit
dem Frühstück beschäftigt, stand der Ober
gern einige Meter entfernt. Gut möglich, er
räumte etwas im Betrieb auf. Der bermudabritisch
korrekt gekleidete Head-Waiter sprach
mit einem Gast, richtete Geschirr auf einem
Tisch an? Dann genügte eine unter Umständen
nur zufällige Bewegung mit dem Gesicht
in seine Richtung, dass er seine Tätigkeit aber
auch sofort unterbrach. Er schaute dich im
selben Moment an; man konnte ihn nicht beobachten,
ohne dass er blitzschnell reagierte,
eventuell fragte, ob man etwas wünschte.
Dabei war dieser Profi nicht unnötigerweise
überaufmerksam. Er checkte nur ab: Muss ich
zum Gast? Es ist das einzige Mal in meinem
Leben gewesen, dass ich jemanden wüsste,
der das beruflich auf diese extreme Weise so
exakt und kontrolliert hinbekam. Es gelang
ihm scheinbar ganz leicht. Sein einstudiertes
Training war in Fleisch und Blut übergegangen.
Der war sympathisch und immer bereit.
Es ist normalerweise ein Zeichen des unsicheren
Menschen, der sich auf neurotische
Weise beobachtet fühlt. Die schauen dich
ständig an, wenn du in ihre Richtung siehst.
Das war hier anders: Dieser Chef vom Dienst
war extrem souverän und selbstbewusst. Er
war beruflich dienend perfekt und nicht ansatzweise
unterwürfig, ganz im Gegenteil.
Was bedeutet es, wie fremdgesteuert auf das
Drumherum fixiert zu sein? Menschen achten
ständig auf mögliche Dislikes oder bleiben
in sich ruhend gelassen. Ein Problem unserer
Zeit, wo alles dargestellt wird, gepostet.
Das gab es damals noch nicht, wohl aber im
Alltag selbstbewusst auftretende Menschen,
und die unsicheren gab es auch schon immer.
Ich bin sehr unsicher gewesen, unreif
und habe es überspielt, nicht gewusst, dass
ich’s tat.
# Selfexecuties
Ich komme mit dem Bild voran. Ich habe es
nicht eilig. Ich übertrage nach
meiner Vorlage. Zunächst
zeichne ich das ab. Dann verfestige
ich diese Kontur mit
einem kleinen Pinsel und
dünner Farbe. Anschließend
beginne ich, grob zu malen,
schließlich werde ich genauer.
Ich habe einen Plan. Ich werde
die drei Mädchen relativ exakt, eine nach der
anderen, auf die Leinwand übertragen. Wenn
die Figuren isoliert stehen, verbinde ich die
Flächen im Hintergrund, male die Räder der
Wagen, Schienen und Details. Auf diese Weise
wird Chaos auf der Fläche vermieden. Es
ginge auch anders. Es ist meine Entscheidung
für genau dieses Bild, es so umzusetzen.
Viele Wege führen nach Rom heißt es,
und so ist auch ein Bild zu malen eine Reise.
Du kannst zu Fuß pilgern,
oder im Reisebus den touristischen
Konzepten einer
Gruppe folgen. Es gibt kleine,
entspannte Ausflüge und
haarsträubendes Survival,
Scheitern in der Kunst, beim
Versuch, eine Leinwand in
eine gelungene Darstellung
zu verwandeln. Mal
arbeite ich so, dann wieder
ein wenig anders. Es gibt
Gründe. Bei dem Bild mit
dem Floß musste ich es anders
machen, weil mir das
Wasser als Vorlage fehlte.
Ich hatte keine Lust gehabt
und auch keinen Sinn darin
gesehen, das Meer auf die
Welle genau schon vorher
am Computer zu entwerfen.
Bei diesem Bild arbeite ich
konkret, entsprechend der
digitalen Komposition. Ich
denke, die eigentlichen Absonderlichkeiten,
die es jedes
Mal gibt, wenn sich die
ursprüngliche Idee wandeln
muss, habe ich bereits in der
Skizze erlebt.
Ein Leben ohne Liebe, Romantik
und tiefe Gefühle,
das muss doch möglich sein! Es kann wohl
nicht sein, dass wir Tag für Tag einer Vision
nachjagen. Das Geschenk und dazu die passende,
stoische Einstellung, von einer tödlichen
Krankheit innerlich zerfressen zu werden,
nun gelassen abzuwarten, bis kein Arzt
der Welt einen noch therapieren kann, wird
den wenigsten zuteil. Die See soll uns aufnehmen,
das Hochhaus möge einen Sprung
ermöglichen und die Bahn tötet zuverlässig
mit tonnenschwerem Gerät und hochgespanntem
Strom, oder wir saufen. Auf Probe
leben, bis zu leben gelingt? Oder: Mutprobe
ohne Hose. Das geht mir durch den Kopf,
wenn ich dieses Motiv fassen will! Was hilft
es, zu lieben, wenn nur Gleichgültigkeit und
Verarsche unser Gegenüber ist auf diesem
Planeten? Da ist kein anderer Stern in Sicht,
nur Finsternis.
# Mutig in die Extreme
Ich probiere etwas Unmögliches, glaube ich.
Das Thema ist aus einer bildhaften Erinnerung
in Gang gekommen, die sich dann zu einer
Idee formte, schließlich konnte ich nicht
geradlinig zu Ende komponieren und habe
akzeptiert, was jetzt entstanden ist. Farben,
Formen und eine geradezu unmögliche Kombination
von Inhalten.
Mich beschäftigt, wo
Dinge sind, Bildelemente
sind Teil formaler
Richtungen für das
Auge; ich male kein
vorhandenes Foto ab,
das es gibt und muss
alles erfinden. Ich
male nach montierten Fotos in einem neuen
Zusammenhang. Es geht also, grob beschrieben,
um drei junge Frauen. Sie sind einigermaßen
nackt, und wir können annehmen, das
sie sich dabei fotografieren. Handys werden
später herumwirbeln, Schuhe. Die Szene ist
eine Art Bühne. Ich möchte einen künstlich
eingefrorenen Moment schaffen.
# Tödliches Blitzlicht
Der Raum und Boden der Darstellerinnen
in einem absurden Spiel
bildet sich aus den Plattformen am
Wagenende zweier Güterwagen. Im
Hintergrund ist dunstige Wiesenlandschaft
am Abend. Man sieht einen
Oberleitungsmast und ein zweites
Gleis. Links und rechts wird das Arrangement
durch die Stirnwände der
Container gerahmt. Ich möchte eine
Inszenierung, kein reales Unglück
abmalen, sondern ein künstliches
Konstrukt schaffen. Die Elemente
gestalten eine emotionale Bindung
aus Farbformen und Gegenständen,
können bestenfalls das Auge des
Betrachters fantasievoll führen. Eine
Achterbahn mit Horrorstationen, eine
Jahrmarktpsychose, die recht hübsch
gemalt sein soll, das schwebt mir
vor. Im Entwurf ist bereits ein Symbol
auf einer Seite des Güterwagens
integriert: „Lebensgefahr auf dem
Waggon durch Hochspannung“. Aus
kompositorischen Gründen lasse ich
den überspringenden Lichtbogen in
den vergleichsweise niedrigeren Teil
knallen, wo sich die Frauen befinden.
Ich möchte diese fiktive Bühne
haben. Das ginge nicht, würden sie
oben auf den Güterwagen klettern,
wo es ja tatsächlich vorkommt, das
Jugendliche getötet oder schwerstverbrannt
vom überspringenden Strom erwischt werden.
Ich habe mir gesagt, das feuchte Wetter
macht eventuell möglich, glaubhaft werden
zu lassen, was ich zeigen möchte. Obwohl sie
Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 72 [Seite 71 bis 74 ]
unten sind. Es ist auch ganz gut, dass alles
wie ein absurdes Theater dargestellt ist. So
können wir als Betrachter denken, dass es
nicht wirklich passiert. Es ist dann ähnlich
dem Pictogramm, nur ein Bild und nicht ganz
wahr.
# Kunst muss nicht real sein
wollen
Ich frage mich, warum wir
immer eilen? Das gehört
dazu, zu beschreiben, wenn
ich in Worten sagen möchte,
wie diese Idee sich verselbstständigte.
Es wäre
möglich gewesen, eine Erinnerung
an einen bestimmten
Moment, den verstörenden
Blick – hier breche ich ab. So
angesehen zu werden, dass ich es nie mehr
vergesse, als exaktes Bild, so, wie und wo das
einmal war, zu malen? Das schaffe ich gerade
nicht. Deswegen ist diese überladene Kunstsituation
zu meiner Szene geworden. Ich
kombinierte also weitere Gedanken hinein,
die mir in der Arbeit an der Skizze in den Weg
ragten wie Stolperdrähte. Ich möchte deswegen
eine synthetische Szenerie entwickeln.
Das Drängen, Protzen und Angeben mit dem,
was einer mit jemandem machen kann – der
schließlich nicht aus der Situation kommt,
ohne zu reagieren. Das ist so ein Stolperstein.
Ein Gedanke musste beachtet werden. Das
hat mich zum modernen Tand gebracht, als
ein Element, die gewünschte und leider nötige
Synthese zu entwickeln.
# Selfie
Du wirst nicht umhinkommen, etwas zu tun,
wenn man es dir aufzwingt. Das Tempo deines
Lebens wird fremdbestimmt sein. Auf
manches müssen wir eine Antwort finden.
Und sei es, den anderen zu ignorieren. Man
erlebt es beim Autofahren. Das kann jeder
beobachten, beispielsweise als unbeteiligter
Fußgänger von außerhalb der Fahrbahn. Da
fahren oft zwei Autos zusammen. Das vordere
Fahrzeug hat ausreichend Abstand zum
Verkehr, mehrere Längen oder hundert Meter,
je nachdem wo das geschieht,
in der Stadt oder
außerhalb. Dem Wagen
klebt ein zweiter hintendran,
der nicht genügend
auf den Abstand achtet.
Das ist entweder unbewusst,
dann düngern
diese einander Fremden
imaginär verbunden
vorwärts, und der zweite
überholt nicht – obschon
das naheliegend wäre.
Oder der hintere Wagen
drängt noch heftiger, und
das geschieht bewusst
nach der Methode: „Platz
da, Idiot!“ So einer wird
eventuell überholen.
Aber es gibt auch blöde Opas, die drängen
dich und überholen nie. Sie möchten nur,
dass du tust, was sie wollen. Sie probieren
gar nicht, schnell zu fahren. Sie ärgern andere
prinzipiell, benötigen ihren Zorn, damit sie
nicht merken, dass sie demnächst ohnehin
altersbedingt sterben werden. Dumme Rentnerärsche,
wohlstandskrank im Benz unterwegs
sind typisch.
# Der Rollator wartet schon …
Das haben wir im Supermarkt an der Kasse.
Erst durch die Pandemie wurde der Abstand
erzwungen, der die Situation entspannt.
Aber nicht immer. Bei Warteschlangen vor
dem Bäcker, der coronabedingt nur
zwei Kunden innen erlaubt oder vor
der Bankfiliale gibt es gelegentlich
Streit. Manche können nicht warten.
Es wurde ein Wort erfunden:
„Entschleunigung“. Wir wissen nicht,
wie man es anwendet? Was ist der
Grund, dass wir eilen um des eilens
willen? Nur zu oft ist es Gewohnheit,
ja Zwang. Das heißt, wir könnten die
Dinge langsamer machen, die Gründe
warum’s pressiert sind nur vorgeschoben.
Es ist ein Machtkampf,
andere zu bedrängen. Wenn es uns
gelingt, andere zu scheuchen, löst
das Befriedigung aus, ich gewinne Zeit und
Stärke – das ist der Grund?
möglichen Vater,
ihrer bislang nur
erträumten Kinder.
Wer kann das sein?
Die Eroberung der
Angebeteten, wird
Warum leben wir in Beziehung; es ist nicht
der Sex allein, wir möchten Familie und einiges
mehr. Um diesen Zustand zu formen, müssen
wir eine Partnerin finden, sogar rechtzeitig,
im Sinne der
gesellschaftlichen
Erwartungen, die
uns eventuell unter
Druck setzen. Und
Frauen wünschen
sich den ganz bestimmten
Mann,
gelegentlich genannt,
was nun passiert. Die Frau suche in
Wahrheit den Mann aus, halten welche dagegen.
Gekränkte Eitelkeit nagt oder explodiert
im Zurückgewiesenen, wenn die Versuche, jemanden
für sich zu gewinnen, scheitern.
Und hier kommt tatsächlich ein Zeitfaktor
ins Spiel. Wir sehen diesen Zusammenhang
zunächst kaum bewusst. Aber dass unser Leben
endlich ist, spielt eine Rolle dabei, möglichst
viel in bestimmter Zeit zu erreichen.
Ein „neues Leben“ möchten einige beginnen.
Es sei nie zu spät für einen Neuanfang, meinen
welche; das ist Unfug. Es klingt wohl
absurd zu sagen, die Angst vor dem nahenden
Lebensende lässt den Menschen hasten,
rasen, eilen und drängen? Ein junger Mensch
glaubt, das Leben vor sich zu haben. Wir
rechnen unsere Zukunft aus und beurteilen
die Erwartung, was noch kommen wird mit
zwanzig entsprechend. Dazu passt
das ganze Gebaren, was Menschen
so tun, um zu wirken; Selfies sind
ein Teil dieses Prozedere. Und eine
gefährliche Umgebung zu nutzen,
etwa ein Bild von sich in einem
kleinen, natürlichen Pool in den
Bergen zu fotografieren, dessen
Wasser sich hunderte Meter in die
Tiefe stürzt und einen mitreißt bei
einem winzigen Fehler, ist anerkannt
bei vielen.
# Das will ich auch: Dabeisein
Jetzt gebe ich zu, dass ich gern
nackte Frauen ansehe. Ich mag
auch erotische Gewaltdarstellungen.
Das Internet macht es einfach.
Google genügt, um zu begreifen: Ich bin nicht
der einzige. Da sind auch Frauen dran beteiligt.
Sie sind ja die Hauptpersoninnen dieser
Fotos, und insofern verwundert die Klage,
Männer seien auf eine fiese Weise sexistisch.
Wir dürfen annehmen, dass nur ein Teil der
Pornobilder unfreiwillig aufgenommen wird.
Das weiß ich ja nicht beim Schauen, wie’s
zuging, ob das ein Theater ist oder die böse
Realität im Rape.
Vorsicht! Die Kombination bestimmter Themen
verbietet sich von selbst.
Kunst muss Falsches zu Wahrheit machen,
wenn mir meine Gefühle zeigen, dass pauschale
Konventionen lügen. So kombiniert,
entsteht die alternative Wahrheit, bis das Motiv
kreativ überzeugt und andere es akzeptieren.
Wenn peinlich ist, was jemand tut, dem
wir für gewöhnlich gern folgen, werden wir
uns fremdschämen und die öffentliche Beziehung
beenden. Innerlich verstörend wird das
Band aber fortbestehen und der bekannte
Verdrängungsprozess beginnt. Für den Kreativen
bedeutet diese Erfahrung, abgestoßen
zu werden vom Ganzen, umzukehren und der
Gesellschaft nachzulaufen oder die eigene
Insel der Glückseligkeit nun allein weiter
zu suchen. Ein Gemälde soll den Betrachter
auf die Reise durch emotionale Handlungsstränge
mitnehmen. Sie gehören
scheinbar nicht zusammen, bekommen ihren
Sinn durch die gemeinsame Betrachtung
in zeitlicher und räumlicher Nähe, die
eine Leinwand schafft. Die Pfade, denen
wir mit dem Auge folgen, ging der Maler
im Geiste bei seiner Arbeit. Einige dieser
Wege lassen sich parallel zum Malprozess
auch schriftlich fixieren.
# Das offene Atelier
Das gehört dazu: Mir war nicht wirklich klar,
was den Widerstand im Dritten Reich kennzeichnet,
obwohl es unterrichtet wurde und
jeder sich umfangreich informieren kann.
Das gebe ich zu. Natürlich habe ich von Anne
Frank gehört. Im Regal bei uns steht ein schmaler
Band, „Tagebuch Anne Frank“. Das hat
meine Frau mit in die Ehe gebracht. Vielleicht
hat sie das gelesen?
In einer Erzählung, in einem dicken, langen
Roman gefällt es dem Schriftsteller, verschiedene
Handlungsstränge zu verfolgen,
die dann schließlich in einem fulminanten
Höhepunkt der Story zusammenkommen. Oft
nimmt der Autor die übergeordnete Rolle eines
unabhängigen Erzählers ein. Der Schreibende
führt uns an verschiedene Schauplätze.
Er beleuchtet erst die Wege und Motive
Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 73 [Seite 71 bis 74 ]
Angst und Sexualität malen? Mein Thema,
das ist Porno, und die Frauen sind unfreiwillig,
aber absehbar tot, entstellt mindestens.
Das Bild zeigt unabsichtlichen, gemeinschaftlich
provozierten Suizid. Der „tragische
Unfalltod“, das kann wohl nur sein, wenn ein
Bahnarbeiter im Job vom Strom erwischt
wird. Die scheinbar alles erklärende, verbalisierende
Welt macht es sich gern leicht. Was
haben Jugendliche auf den Wagen verloren?
Und die Flut von Nacktbildern heute verstört
Ältere. Das Schimpfen, Ermahnen und nach
mehr Sicherheit rufen erklärt nicht die Motive
der untereinander Verstrickten im Netz.
Ein gemaltes Bild kann, wie eine Sequenz im
Traum, eine andere, umfassendere Sicht bieeiner
Person, dann die Linie der anderen Protagonisten.
So geschieht es im Film, im Theaterstück,
und so kann man auch zu einem
einzelnen Bild gelangen, mit verschiedenen
Emotionen, deren Synthese ein absurdes,
formal interessantes Farbgeflecht bildet. Die
Logik, nach der wir die Fläche mit den Augen
abtasten, folgt unserem Instinkt. Provozierte
Blickführung in der Kunst spielt mit typischen
Sehgewohnheiten und natürlichem
Verhalten. Ob ein Betrachter auf Helldunkel,
dynamische Richtungen und Farbgegensätze,
Grenzen reagiert, wird zur Basis von Harmonie
und Spannung. Das zweite Gleis unserer
Motivation, warum wir Dinge anschauen, ist
unsere emotionale Bewertung, eben nicht
nur der Farbstimmung; Themen und intellektuelle
Inhalte der abgebildeten Objekte
spielen eine Rolle, ob wir uns für etwas interessieren.
In der Malerei haben wir nun die
Möglichkeit, realistische Abbildung auf eine
abstrakte Weise im absurden Zusammenhang
zu kombinieren und eine individuelle Realität
zu schaffen.
# In diesem Jahr war ein Sophie-Scholl-Erinnerungsdatum
…
Die Widerstandskämpferin wäre jetzt einhundert
Jahre alt geworden? Gestern kam eine
N3-Reportage, eine 101-jährige alte Dame
badete an der Holzbrücke in der Förde bei
Kiel. Dabei hätte Sophie sein können, wenn
sie nicht unter dem Fallbeil der Nazis getötet
worden wäre. Man konnte nicht daran vorbei
lesen – in diesem Frühjahr. (Markus Söder
machte einen Kniefall). Der Bruder Hans wur-
de auch erwähnt, er starb zur selben Stunde.
Und wie ich eben auf Wikipedia gelesen
habe, waren sie zu dritt, die für uns gestorben
sind. Die weiße Rose.
Warum habe ich auch in diesem Jahr keine
Notiz vom Bruder Hans Scholl genommen?
Und vom Christoph Probst hatte ich noch nie
etwas gehört.
# „Der Volksgerichtshof verurteilte am 22.
Februar 1943 im Schwurgerichtssaal des
Justizpalastes in München den 24 Jahre alten
Hans Scholl, die 21 Jahre alte Sophia Scholl,
beide aus München, und den 23 Jahre alten
Christoph Probst aus Aldrans bei Innsbruck
wegen Vorbereitung zum Hochverrat und
wegen Feindbegünstigung zum Tode. Das
Urteil wurde am gleichen Tag vollzogen.“ (Wikipedia).
Es sind die Bilder von der jungen Frau, die
niemand vergisst, und die bekannten, tapferen
Sätze. Das kann keiner aushalten, und das
macht gerade sie zur Ikone.
Es trifft ins Herz.
Wie primitiv muss der Maler denken, das hier
zu vermischen?
Denkt, was ihr wollt: seid Follower, Mitläufer
irgendwo.
Einige Fotos von Sophie sind leicht abrufbar,
und manches kam im Boulevard. Ich gebe es
zu, ich lese die BILD am Sonntag. Ich besitze
keine nennenswerte Geschichtsliteratur. Ich
mag das gar nicht schreiben: Ich habe das
Gesicht ständig vor Augen, wie diese Studentin
uns ansieht. Da ist einmal ein undramatisches
Gruppenbild, jeder kennt es. Am
Schlimmsten berührt mich das vermutlich
erkennungsdienstlich gemachte, dreifache
Porträt, das man findet, wenn man googelt.
Ich sehe, was der Gefangenen bevorsteht,
wenn ich glaube zu sehen, was sie denkt. Jemand
hat diese Kamera betätigt. Jemand hat
das Fallbeil niedersausen lassen. Könnte ich
das tun, wer wird Henker von Beruf?
Und ich kenne diesen Blick, die Angst, sah es
genau so selbst schon bei einer lieben Freundin
– in banaler Situation scheinbar. Das verstört,
und das Begreifen kommt spät, zu spät
um die Dramatik zu erkennen, einzugreifen.
Wir denken: Nazis, das war früher? Geschichte,
und heute sind wir klüger, meint man. Aber
der Tod ist damals nicht gestorben. Und die
Angst auch nicht.
# Ich habe jeden Boden des Anstandes verlassen?
ten. Denkschubladen machen es einfach, aber
sie sind nur eine Erklärung der Realität, nicht
die Wahrheit an sich. Wie und warum ein absurdes
Bild seinen Sinn bekommt, kann ein
Text nur bruchstückhaft wiedergeben. Sich
noch daran aufgeilen, wie krank ist das denn;
wie ist es möglich, ein Bild zu kreieren, aus
diesem ekligen Konglomerat von Emotionen?
Darum habe ich das begonnen. Weil ich
sogar glaube, dass unsere Realität auf diese
Weise stimmt – und was allgemein gesagt
wird, ist unehrlich. Üblich ist, unangenehme
Gefühle und atypische Kombinationen, übergreifende
Querverbindungen des Denkens zu
maskieren. Bei Empfindungen, die niemand
wahrhaben mag, fürchten wir, machte man
sie öffentlich, von den anderen abgestraft zu
werden. Alle wollen nur positiv wirken.
Und ich denke: des Kaisers neue Kleider, aua.
Ich empfinde das normale Tagesgeschehen
als verstörend. Gerade wird wieder eine uralte
Frau vor Gericht gestellt in Itzehoe. Die
habe Akten im KZ sortiert oder so. Das lese
ich nicht mehr. Nach Jugendstrafrecht wird
ihr Fall verhandelt. Sie sei, als die „Taten“
begangen wurden, nicht volljährig gewesen.
Man muss Jurist sein, so zu denken. Christus
stürze vom Kreuz.
# Ich morde auf der Leinwand aus Überzeugung,
lebe im normalen Irrenhaus
Ich habe noch dieses Lied im Ohr, der Major
Tom im Weltall. Warum driftet seine Kapsel
weg? Es scheint, als löse sich der Astronaut
mutwillig ab. Er „zerstöre das Projekt“, wie es
im Text heißt, und das Ende bleibt offen.
„Mir wird kalt.“
Was wäre, wenn ein Raumflieger vom Kurs
abkommt und nichts dafür kann? Er biegt
ab, wie die Voyager-Satelliten Schwung holten
am Jupiter. Ein Astronaut verlässt das
Sonnensystem, weil’s ihm unausweichlich
geschieht. Verpatztes Billard. Eine spontane
Begegnung, das Schicksal selbst ist schuld.
Die Leere ausserhalb der bekannten Bahnen
wäre unfassbar. Nur zwischen Galaxien ist es
noch um ein Vielfaches einsamer? Die Zeit
würde vergehen, es käme dem Flieger endlos
vor, nie mehr trifft er auf andere. Sein Bruch
mit der Vergangenheit ist unumkehrbar. Der
Tod ist ewig. Der Horizont steht fest. Die Aussicht
darauf, später dem Mâitre d’ Hotel in Hamilton
oder anderswo zu begegnen, sich ein
Zimmer im Paradies zu nehmen, geschweige
denn eine süße Alien irgendwo da draußen
zu finden, gibt es nicht.
Ich habe nachgedacht. Es kommt eine Zeit im
Leben, da ist es zu spät für Liebe.
Fernsehen, in die Ferne schauen, Zukunft –
was ist das? Gestern die Alte, in der Seebadeanstalt
Holtenau, wie sie ins Wasser klatscht,
wo sie bereits als Kind gebadet hat. Als ich’s
sah, wusste ich wieder genau, warum ich dieses
beknackte, absurde, kindisch blöde, verbotene
Bild malen will.
Ich bin doch nicht bescheuert.
:)
Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 74 [Seite 71 bis 74 ]
Veränderung im Volksgemurmel
Jul 29, 2021
Niemandem ist geholfen, eine überschäumende
Glosse mit wiederkehrenden Erzählfragmenten
zu lesen, das weiß ich schon. Aber
zu schreiben hilft dem, der es tut. Jedes Jahr
wiederholen sich Wetterperioden, das ist auch
neu und vertraut zugleich. Ein gefährlicher
Beigeschmack hat sich in die Beobachtung
der Extreme, unser Schietwetter eingeschlichen?
Das Vertrauen ist erschüttert: Es gibt
sie wirklich, die Klimakatastrophe. Da wechselt
die mediale Angst zwischen der Pandemie
und der neuen Bedrohungslage am Himmel
hin und her. Die moderne Sintflut wird
nicht vom queeren Regenbogen gestoppt.
Das ist kein Thema für einen Schlagermove.
Spaßgesellschaft war gestern, Kanzlerkandidat
Laschet hatte seinen Fettnapf. Niemand
lacht ungestraft angesichts der Katastrophe.
Es sei denn, unbemerkt vor dem Fernseher zu
Hause? Aber keiner pupt noch ungehört. Das
soziale Ohr wächst aus jeder Alex, die es hinausträgt
zu besseren Menschen, die sich gern
daran weiden. Das kollektive Netz wird eng.
Wir stricken uns eine Solidaritätsschlinge,
hängen uns rein, machen den Sack zu.
Harmlos waren die Klagen früher: „Wann
wird’s mal wieder richtig Sommer“, fragte
seinerzeit unverwechselbar der beliebte Entertainer
Rudi Carrell; und heute jammern
manche, wie lange es dauern mag, bis alles
wieder so ist wie vor der Pandemie? Musik
hilft immer. Jazz etwa, ist eine Inspiration,
weil diese Musik sich mit jedem neuen Spiel
erfindet wie eine gute Kunst auf der Leinwand.
„What’s New?“, ist ein Standard. Eine
rhetorische Frage! Neue Probleme und neue
Antworten sind Alltag. „The New Standard“,
heißt ein Album von Herbie Hancock. Und
auch im schönen „There’ll Be Some Changes
Made“, weist ein alter Titel im Jazz von
1921 (ein „Standard“) darauf hin, dass es gelegentlich
Änderungen gibt in der Musik, der
Kunst, im Einzelnen und in der Routine einer
Gesellschaft; nicht zuletzt in Beziehungen
überhaupt.
Aktuell machen wir eine Phase des Umbruchs
durch. Klimadrama und Pandemie halten die
Gesellschaft in Atem. Das ändert alles im
Ganzen und auch Einzelne finden neue Wege
für sich. Es gibt kein Zurück. Was es mit uns
macht, hängt ab von unserer persönlichen
Situation. Menschen, die
sich nicht gegen Corona impften,
handelten unsolidarisch, meint
man neuerdings. Vor kurzem gab
es keine breite Mehrheit für diese
Ansicht. Das hat sich geändert.
Etwa die Hälfte der Bevölkerung
ist geimpft. Diejenigen, die weiter
beschwören, es würde auch zukünftig
keine Verpflichtung dazu geben,
wirken bereits bemüht. Wir sind
zu einigem verpflichtet, besitzen
beispielsweise einen Ausweis und
zahlen Steuern. Wir sind in Solidarität
verbunden, die Verkehrsregeln
einzuhalten, und viele ignorieren
das. Alle sind aufgefordert, den Müll
korrekt zu entsorgen, aber es liegt ständig
Abfall auf den Wegen. Egomanisches und unsolidarisches
Verhalten ist ganz normal. Wir
benötigten den Staat und die Polizei nicht,
hielten sich alle an das, was richtig ist. Darüber,
was das ist, kann zudem noch gestritten
werden.
# Das ist unsere moderne Freiheit
Sich eine Spritze geben zu lassen, mit etwas,
dass man nicht möchte, ist einfach zu verhindern.
Kein Arzt setzt das Ding mit Gewalt an,
und der widerspenstige Bürger würde von
Helfern festgehalten, sie kommen mit der
Polizei zu dir nach Hause? Nein, so ginge es
nicht. Käme die Pflicht, sich impfen zu lassen,
müssten neue Gesetze geformt werden. Ein
Streitthema! Aktuell wird gern von der Impfpflicht
durch die Hintertür gesprochen, wenn
es um mehr Freiheiten für Geimpfte geht, und
genauso würde die gesetzliche Impfung auch
vorgehen, nur umgekehrt: Freiheitsentzug
oder alternative Strafen drohten denen, die
es nicht machten.
Es müsste eine rechtliche Grundlage geschaffen
werden. Das bedeutet, was heute Unrecht
ist, muss zum Richtigen umerklärt werden.
Dem dürften sich einige Juristen und Politiker
vehement entgegenstellen. Fände sich
die Mehrheit doch, hieße es, wir seien Rechtsstaat
und die Chinesen beispielsweise nicht,
weil bei uns demokratisch die Gesetze geändert
worden wären. Eine Bewegung vom Volk
ausgehend? Dazu müsste eine Welle wechselnder
Stimmen, hin zur neuen Ansicht und
dem deswegen geänderten Regierungswillen
beobachtet werden, die reflektiert zeigte,
wir wollten es selbst so. Letztlich würde
der Beweis erbracht, dass Demokratie funktioniert.
Um so eine neue, alternative Wahrheit
zu schaffen, worin das Recht und damit
die richtige Weise sich zu verhalten besteht.
Eine ausgehandelte Pflicht kommt zustande,
indem die neue Ansicht durch überzeugte
Bürger in die Masse einsickert. Das hieße,
wir würden sehen, dass die Bereitschaft gegen
eine Impfpflicht zu demonstrieren, kleiner
würde, bis sie als Sand im Getriebe, der
hinzunehmen ist, übergangen werden kann.
Das müsste Grusel auslösen, bei denen, die es
gewohnt sind, gegen Atomkraft zu demonstrieren
oder Friedensmärsche planen. Viele
haben schon zurückstecken müssen.
Frontal mit der Spritze in der Hand, kommt
mir kein Arzt ins Haus. Erzwungene Herdenimmunität
mittels Impfung hieße, man
gängelte die verstockten Böcke, schließlich
selbst hinzugehen. Erst kostet der Test, dann
verlierst du den Job. Steht das neue Recht
endlich, droht Ungeimpften die Geldstrafe,
zum Schluss tatsächlich das Gefängnis. Wer
auf dem Weg dorthin noch weiter ausflippt,
den steckt man in die Klappse. Und dort
kommt der Knackidoktor tatsächlich mit
seinen Schergen. Die Unfreiheit marschiert
immer erst durch die Hintertür. Schleichende
Einbrecher mutieren zu eloquenten Sozialarbeitern.
Geschulte Berufsredner manipulieren
aus dem guten Grund, nicht hinter die
stramm gelenkten Demokratien der anderen
zurückfallen zu dürfen, mit unserem zerstrittenen
System. Der Altkanzler mahnt zu Recht,
man dürfe nicht ständig die bösen Staaten
belehren: „Mit wem soll Deutschland dann
noch Handel treiben?“, fragt Gerd Schröder.
Schimpfen und anprangern sei falsch, endlose
Diskussionen stören die gesunde Funktion
einer Gesellschaft, meinen nicht wenige.
Politikprofis müssen uns einnorden, damit
Deutschland weiter funktioniert. Sie treten
im Fernsehen auf, kommen bald wie Drücker
an deine Haustür. Auf „die Rente isch sicher“,
folgt „Impfstoffe sind sicher“, bis das Vieh
in blökender Herde ausreichend willig zum
Schlachter läuft. Hier und da noch knüppeln,
ist die neue Partei oder Meinung etabliert,
schlägt das Gewaltmonopol endlich frech
von vorne zu. Die hässliche Fratze Staat.
Der Vorwurf, unsolidarisch zu sein, ist zunächst
ein verbaler Angriff. Das ist das Gegenteil von
Motivation, die auf eine positive Weise andere
mitnimmt. Eine Drohkulisse unterstützt
die Mahner. Wir leben noch immer, wie schon
zur Zeit der Nationalsozialisten oder als eine
Meute forderte, Jesus zu kreuzigen, in einer
Gesellschaft der Mitläufer. Dieses Wort war
verpönt, als ich jung war. Heute ist das englische
Follower etabliert. Justiz ist anstelle
von Lynchjustiz getreten, und das Recht gewährt
dem Angeklagten einiges. Strafen fallen
geringer aus, als es der Mob verlangt. Der
Einzelne ist aber nach wie vor aufgefordert,
Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 75 [Seite 75 bis 79 ]
etwas aus seinem Leben zu machen, den Sinn
zu suchen, Bewusstheit zu entwickeln, mitzulaufen
oder gegenzuhalten. Nur der Rahmen
ist detaillierter, das gesellschaftliche Netz ist
dichter. Das gibt stützenden Halt und andererseits
bedeutet es Bindung, die unsere Freiheit
begrenzt. Wir tragen den Colt nicht offen
im Holster. Dass wir bessere Menschen seien
als frühere, die Hexen noch verbrannten, meinen
welche. Jedenfalls ist es uns schwieriger
gemacht worden von
denen, die es mitansehen
mussten. Wir
erbten den demokratischen
Staat.
Heute sitzt manche
Hexe oben im Rathaus;
wir schmeißen
kraftlos einen Farbbeutel
dagegen. Gut
und Böse sind nicht
abgeschafft in der
Moderne, die Rollenverteilung
ändert
sich, das ist der
Fortschritt.
Googelt man es mit
dem Übersetzer,
kommt als Antwort
eine zweifache auf
deutsch. Links, im
englischen Bereich,
frage ich: „Follower?“
Es erscheint: „Anhänger“ bzw. „Anhängerin“ in
der maskulinen und femininen Form erklärt
als Übersetzung. Anhänger*Innen hängen
sich dran, sie laufen nicht mit, sie werden
mitgeschleift oder gezogen im Wagen. Dafür
ist kein eigener Antrieb vonnöten, nur der
feste Griff nach dem Stern.
Ich erinnere (etwas abschweifend) an dieser
Stelle meinen Vater. Er war der Auffassung,
„Deutsche“ seien obrigkeitshörig und verwies
gern auf den Film „Der Hauptmann von Köpenick“.
Nun war es nicht eine Obrigkeit, die
unsere Sprache verdoppelte. Das Gendern
hat sich vom kurzen Rasen, flach am Boden
des rasenden Weibervolkes, hochgearbeitet.
Vorbei an der Gras- und Blinddarmnarbe, den
wegrasierten Schamhaaren der missachteten
Frauen, die wie kleine Mädchen aufgeilen
möchten? Und doch respektiert sein, wie erwachsene
Königinnen und richtige Männer
in der echten Wirtschaft. Es durchströmt das
Wollen der Weiber, die blauen wie roten Arterien
aller Geschlechter.
# Da rinnen Reden durch Regen und Regenrinnen
in kanale Tuben, treiben verbale Motore
und Moderatorinnen, virale Wortungethüme
zu spucken ...
Ein Sprachunkraut gilt jetzt als Zierpflanze.
Aber mein Vater (in memoriam) liefert auch
hier die Antwort. Die Deutschen hätten sich
Adolf Hitler selbst gewählt, betonte er oft.
Erich hatte erfahren, dass nicht ein Böser
allein schuld gewesen ist, wie man es mich
in der Schule lehrte. In den Siebzigern verurteilte
man die Altnazis nicht. Erst die
fünfunddreissigjährigen Staatsanwältinnen
von heute, sie greifen durch und suchen die
letzten Überlebenden heim, sie gerade noch
rechtzeitig anzuklagen. „Mutig gegen Extremismus“,
schreibt die brave Abiturientin ein
Buntstiftessay nieder, ohne erfahren zu haben,
was weh tut. Gut und besser ist die junge,
juristisch gewiefte Frau heute, die noch
eine Oma wegsperren kann.
# Mitlaufen
Es ist wohl so, dass ein Verhaltenskodex ganze
Gruppen erfassen kann und diese nun Mitschnackerqualitäten
entwickeln, die nicht nur
rechthaberisch sind, sondern zu Recht und Gesetz
geformt, wirklich Druck machen. Eine latente
Bereitschaft, den Nachbarn zu gängeln,
wenn es einen verbalen Hebel dafür gibt, ist
typisch bei uns. Kleine, harmlose Änderungen
kommen sowieso vor. Ein schleichender Prozess,
auch in der Sprache, ist ja nicht grundsätzlich
schlecht. Alles ändert sich, und das
ist auch gut so. In diesem Zusammenhang ist
es vielleicht (weiter schweifend) interessant
zu erwähnen für nicht Maritime, dass während
meiner Jugend alle Bücher, in denen das
Kap Horn beschrieben wurde, dieses nun neu
und anders als in älteren Ausgaben als Kap
Hoorn bezeichnet wird. Das wiederum regte
meinen Großvater auf. Er hatte ein Problem
und Diskussionen im Verlag bei seinem Titel
„Mit der Pamir um Kap Horn“, den er nicht verhunzt
haben wollte. Die ganze Welt schriebe
es mit einem „o“, nur wir Deutschen würden
so ein Geschieß machen wegen der Holländer.
Es sei eine harte Ecke, segelnd schwer zu
schaffen, und der Seemann sage, er habe „die
Horn“ gerundet, the horn. „Hoorn“, namensgebend,
entsprechend der Stadt in den Niederlanden
aus der die Entdecker kamen, mache
es weich im Klang. Mein Opa rollte nun das
„r“ kurz und scharf,
stieß das Wort aus
wie eine Harpune.
Er machte gern
klar, wie das klingen
müsse: Horn =
hart. Mein Großvater
war nicht „in die
Partei eingetreten“,
als es alle machten,
und nicht nur das
habe ihm die Karriere
bei der Hapag
versaut, meinten
Angehörige.
Der vorauseilende
Gehorsam wäre
dem Deutschen typisch,
das Volk der
Denunzianten sind
wir? Erfinden Probleme,
wo noch keine
sind, entwickeln Vorschriften, die es nicht
braucht. Deutsche retten, wo es geht, das
Gute, sind es selbst. Da gibt es schnell den
Willi(gen), der darauf hinweist, jemand habe
Regeln gebrochen. Die Deutschen benötigen
zwei Worte, Bürger und Bürgerinnen, wir vereffen
die Schifffahrt dreifach korrekt in der
Mitte – bis wir uns unseren Turm zu Babel (in
Berlin) hin bauen? Und im anarchistischen
Zorn der wackelnden Demokratie preist sich
schließlich ein „Führer“ an, für Ordnung zu
sorgen, Klarheit zu schaffen. Alles wieder wie
früher, wo es noch richtig gewesen sei. Das ist
eine mögliche Zukunft.
Den müssen wir ja nicht wählen. Ich bin prinzipiell
unsolidarisch. Das hat sich erst entwickelt.
Ich gehe grundsätzlich nicht mehr
zur Wahl, bin zum dummen Nichtwähler
mutiert. Ich lasse mich nicht gegen Corona
impfen. Das bin ich ja nicht allein. Wir Verstockten
sind eine größere Gruppe, sollten
möglicherweise ernstgenommen werden wie
Menschen im Rettungsboot, die sich weigern
zu rudern.
Bequemlichkeit, der Vorwurf unsolidarisch
zu sein, was kann helfen? Eine Bratwurst geschenkt
im Impfzentrum, hat manche schon
überzeugt. Das habe ich in einem Beitrag
gesehen; typisch, dachte ich, als ich den
Mann hörte: „Er wäre gerade vorbeigekommen,
und man hätte ihm Grillwurst und Moderna
geboten; prima! habe er gemeint und
sich einen Ruck gegeben.“ Vielleicht ein von
Spahn bezahlter Statist? Eine Gefahr für das
System sind diejenigen, die nicht mitmachen.
Wie viele Menschen kann eine Gesellschaft
durchschleppen, die grundsätzlich bocken?
Mich hat eine persönliche Erfahrung mit dem
Staat abgebracht vom Pfad der Tugend. Es
bleibt nur zu maulen. Verachtung. Nie wieder
ein Wort mit dieser Frau wechseln, nie wieder
eine Politik, gleich welcher Couleur unterstützen,
und nie wieder eine Beziehung zu
einem anderen Menschen eingehen, die auf
Empathie, Vertrauen setzt. Das ist das Mindeste.
Was soll mir Zukunft und Erwartung
von visionären Zielen, wenn es ohne geht?
Ich bleibe für mich wie Diogenes in der Tonne.
Ich kann Freundschaften (und Ehe) führen
auf der Basis vom gegenseitigen Nutzen. Ich
verzichte auf imaginäre Kraft gemeinschaftlicher
Bande. Niemals romantisch sein ist
möglich. Freunde, Kunden, Vertragspartner:
Wann muss es fertig sein, was kostet es? Das
sind Fakten. Die kalte Welt. Ich bin Arschloch,
wie die in der Partei
oben im Turm und
ihre Freunde. Ich sehne
mich nach einer
Erkrankung, das restliche
Ende meines
Lebens abzukürzen.
Eine schwarzgetönte
Hochglanznelke
wachse aus meinen
Gebeinen. Ein Rest
wird aus der Zukunft,
wenn dich die Obrigkeit
ans Bein pisst.
Der Staat, das ist eine
Frau, die du kennst?
Dann halte Abstand.
Wir sehen in Tunesien,
dass es nicht so
einfach ist, aus einem
arabischen Frühling
eine stabile Demokratie
zu formen, erschrecken mit der Erkenntnis,
dass die Vereinigten Staaten einen
Trump empor brachten, getragen von breiten
Mehrheiten, sollten begreifen, dass auch Europa
und die Bundesrepublik Deutschland
nicht automatisch freie Gesellschaften sind.
Wir machen uns lustig über verschworene
Querdenker, belächeln den smarten Christian
Lindner bei seinen Dauermahnungen? Der
hätte mitregieren können und all das besser
umsetzen können, was er heute kritisiert. Wir,
die wir uns nicht impfen ließen, seien unsolidarisch?
So kämpfen die anderen verbal. Es
geht nicht darum, dass zu impfen gut oder
schlecht sei, oder dass eine Herdenimunität
nötig wäre. Es geht ums Mitlaufen mit den
Schafen in der Herde oder eben nicht. Wer
die Masse als solche sieht, wie ich, weil der
differenzierte Blick auf Einzelne nicht länger
möglich ist, kann nicht solidarisch mittun. Ich
nehme andere nicht mehr als zu respektierende
Individuen wahr, es sind noch „Personen“,
mehr nicht. Ich habe an Empathie verloren,
stelle Freundlichkeit und Humor nur dar,
weil es mir eingefleischt und automatisch
Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 76 [Seite 75 bis 79 ]
wie früher geschieht. Nett zu sein, ist meine
alte Hampelei, die bekannte Maske. Das geht
immer. Ich bin verändert. „Black And Blue“
andersherum. Schwarz ist mein Wesen, und
weiß bleibt meine Haut. Die Revulotion ist
innerlich.
Mit mir geht gar nichts mehr. Da ist kein Chor,
der mich noch als Bass bekäme. Mich schulen
dürfe, endlich verlorene Töne wieder zu
treffen, emotionale Saiten innerlich meiner
Seele anzuzupfen und herzlich Geselligkeit
schenken könne. Singt besser ohne mich,
Leute. Keine ehrenamtliche Vereinsarbeit
geht mit mir. Und kaum mal ein Treffen mit
Segelfreunden, das mich reizen könnte, nehme
ich an. Bald fragen sie nicht mehr. Ich
besuche keine Vernissage, gehe nicht zu Veranstaltungen.
Ich probiere niemals, Partner
für eigene Ausstellungen zu gewinnen. Ich
möchte keine Kooperation. Ich unterrichte
nicht, könnte spenden für dieses und jenes,
mache es nicht. Ich bin der unsolidarische
Bremser. Ich fahre Auto unterhalb
der vorgeschriebenen
Geschwindigkeit, 49 km
pro Stunde in der Stadt, 29
km (stumpf auf voller Länge)
in der langsamen Zone
vor der Kita. Jede gestresste,
typgerecht stylische, modern
und männermordende, frigide
Helikoptermutter, am Ziel
ihres Kinderwunsches nach
Plan angekommen, rotiert
schneller. Ziege unterwegs
im (vom sich abrackernden
Gatten finanzierten) Supersuv.
Ich nötige meine Mitmenschen
durch Einhaltung der
Vorschriften und weide mich
daran, was ich im Rückspiegel
erlebe. Fährt mir eine auf
wenige Meter auf, behalte
ich meinen Abstand zum vorderen
Wagen ungerührt bei.
Nervt es zu sehr, gehe ich rechts raus in eine
Nebenstraße und nehme meine Fahrt im Anschluss
wieder auf. Ich habe mich hinreißen
lassen, bin vernünftigerweise unvernünftig
ausgerastet und probierte, mich gewalttätig
abzureagieren. Ohne Erfolg. Die Welt hat sich
an dieser Stelle nicht geändert. Sie hört nicht
auf, mich zu provozieren. Ich sehe es aber anders.
Gelegentliche Einzelfälle angegriffen zu
werden, wirken undramatisch, im Vergleich
mit der nahen Vergangenheit, die stressig gewesen
ist, weil alles zusammen kam.
# Eine kurze Geschichte der Zeit
Das Erbe meiner Eltern wurde von meiner
Familie mutwillig und bösartig zerschlagen.
Raffgier: Tante, Vetter, Schwester, die klebrige
Melange ist weiter unterwegs. Geht mir am
Arsch vorbei. Schweigen hilft. Parallel: Die
Umgebung von humoriger Vertrautheit mit
den oberen Zehntausend hier aus dem Dorf
ist restlos und vollständig zerstört. Ich sei
selbst schuld daran, sagen sie. Ein Trümmerfeld
kaputter Beziehungen. Sie haben alle
ihren Spaß gehabt, sage ich. Schweigen hilft,
Teil zwei. Fortsetzung folgt. Meine Bereitschaft,
interessiert der Politik zu folgen, die
Demokratie zu stützen, ist dahin. Mein Vertrauen
in den Staat, die Polizei, Hilfe durch
das System der Ärzte und Therapeuten in der
Not annehmen zu können, habe ich grundsätzlich
verloren. Ich gehe nicht freiwillig,
aus eigenem Antrieb, mit irgendwelchen
Beschwerden
zum Arzt. Ich ertrage, warte
ab, nehme Einschränkungen
hin. Da muss mich schon
der Notarztwagen holen,
den sonst wer ruft, wenn ich
mich in Schmerzen krümme?
Ehe, Familie – der Rest einer
klein gewordenen Welt. Meine
Fehler muss ich als keine
darstellen, sonst wär’ ich tot.
Meine Kunst? Die aufrichtige
Beziehung zu einer wunderbaren
Freundin entpuppt sich
als Eingangstor zur digitalen,
asozialen Hölle, die andere
so lieben. Das ist mir nun
reichlich wurscht: Malen hilft.
Ziviler Alltag ist nicht Krieg. Keine Maschinengewehre
im Verbund, keine Feuerstöße
aus der Uzzi, keine drohende Panzerkette am
Horizont. Einzelfeuer versprengter,
im Feld verlorener
Hohlköpfe ist hinzunehmen.
Das zusammenhängende
Bild gemeinschaftlicher Boshaftigkeit
ist in den lockeren
Haufen zufälliger Ärgernisse
zerfallen. Pfosten stakt auf
Krücken, „Coole Brille“ informiert
– und Bartels spielt
Omi; wer das braucht? Paranoia
für Anfänger. Ich schaffte,
ein Puzzle zu begreifen
und konnte es auseinander
dividieren. Es gelingt mir
nun oft, Idioten Stand zu halten.
Tatsächlich, ich lernte,
Frauen sind um nichts besser
als Männer.
Ich hasse andere Menschen
pauschal so sehr, dass ich es
nicht mehr bemerke, empfinde
mich als ausgegrenzt und
habe, dauerhaft verstört und
verletzt, ein Prinzip draus gemacht. Ich spiele
mich gut genug, nett. Ich empfinde nichts.
Nicht einmal am eigenen Nervenkostüm bin
ich besonders interessiert. Flippe ich aus,
geschieht es, ohne dass es mich lang stört.
Der Anwalt mag es richten. Ich lebe, mehr
nicht. Ich passe meine Meinung nicht an. Ich
ändere mich nur, wenn ich’s selbst entscheide,
bin gern dumm, weil ich es will. Zorn gehört
dazu? Im schlimmsten Fall saufe ich ab,
wie der alte Ahab mit seinem Walfischbein.
Er nimmt die ganze Mannschaft mit in den
Tod für seine ignorante Rache. Ein Vorbild?
Besser Melville folgen: Es hilft mir, meinen
Hass zu begreifen, in Worte und Gedanken zu
gießen. So male ich, schreibe und bleibe notgedrungen
fröhlich am Leben.
# Trotz
Es geht nicht um
verbotene Vergleiche
mit der bösen
Nazizeit, oder dass
alles anders sei,
weil früher Dumme
den Bösen nachliefen
und heute
Dumme das Gute
verhinderten, weil
sie gerade nicht
mitmachten. Es
zeigt sich einmal
# Statistik
mehr, wie viel Dynamik
eine Gruppe
entwickelt, wenn
sie sich erst formen
kann. Und das gibt
es tatsächlich zum
Guten hin, wie etwa
sinnvolle Revolutionen
gezeigt haben.
Dann muss es der
Masse aber erkennbar
schlecht gehen.
Das ist bei uns nicht
der Fall. Wir sind
wohlstandskrank,
aber nicht coronakrank.
Jeden Tag haben deutlich mehr als tausend
Personen einen zumindest leichten Unfall im
Straßenverkehr bei uns. Jeden Tag infizieren
sich einige tausend Menschen neu mit Covid.
Andere Zahlen: Einer von hundert ist schizophren.
In einen Gelenkbus vom Hamburger
Verkehrsverbund passen 105 Personen. Ein
Verrückter befindet sich in jedem Bus, wenn
das Fahrzeug randvoll im Feierabendverkehr
unterwegs ist. Heute werden gut dreitausend
tägliche Neuinfektionen mit dem Corona-Virus
gemeldet. Tendenz steigend. In Deutschland
leben 80 Millionen Menschen. Zum
Vergleich: Ein Prozent davon ist schubweise
oder dauerhaft psychotisch krank. Das sind
wohl reichlich mehr, als die derzeit täglichen
etwa dreitausend mit Corona Infizierten,
Spreader der Krankheit, denen wir in die Statistik
der Erkrankten folgen dürften, sollten
wir ihnen zu nahe kommen. Doch schlimmer?
Wir sollten sie vorsorglich doppelt rechnen,
jeder wurde angesteckt. Wir könnten den sich
neu infizierenden Pechvögeln begegnen und
zusätzlich denen, die diese gerade ansteckten?
Gefährlich ist die Mathematik in den falschen,
querdenkenden Händen und Hirnen.
Äpfel und Birnen sind wieder unterwegs. Ein
Milchmädchen rechnet wie ein Kunstmaler,
und das bin ich.
Gut zwei Millionen Verkehrsunfälle im Jahr
werden in Deutschland registriert. Das sind
sechstausend Mal „Bumm“ am Tag. Ich fahre
Auto, Fahrrad und gehe zu Fuß am Straßenrand.
Mein Risiko seit Jahren, ich bin nicht
unbeschadet davongekommen. Wie oft passiert
etwas im Verkehr, und wen traf ich mit
dem schlimmen Covid selbst an; ich probiere,
den eigenen Vergleich zu kreieren. Was ich
noch weiß: Ich habe direkt nach dem Führerscheinerwerb
einen Spiegel bei einem
parkenden Fahrzeug abgefahren. Ich war mit
dem Fisch-Bulli auf der Bahnhofstraße in
Wedel zu forsch gewesen. Ach ja, und dafür
kann ich ja nichts: Mit Greuli, dem Grafiker
bei Schlotfeldt, drehte ich einen Kreis auf der
Rothenbaumchaussee,
da war es glatt
und das Auto voll
mit vier Personen.
Ich war Praktikant,
nur Beifahrer und
wohl gerade achtzehn
geworden. Es
gab nicht einmal
einen Blechschaden,
glaube ich.
Bundeswehr: Mit
dem schweren MAN
unterwegs, schlug
mir ein Ast der seit-
Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 77 [Seite 75 bis 79 ]
lichen Straßenbüsche einer schmalen Landstraße,
vom in Kolonne vorausfahrenden
Lkw abprallend, gegen meinen großen Außenspiegel,
der deswegen mit Wucht gegen
das Türfenster einklappte. Auch dieser zweite
Unfall in meinem Fahrleben kostete einen
Spiegel. Ich hätte nicht genügend Abstand
eingehalten, meinte seinerzeit Peters, mein
lieber Feldwebel aus dem Ruhrpott. Mystisch,
diese Scherben: Sieben Jahre Pech zweimal,
so ist es gekommen! Mit meinem Golf später,
blieb ich bei Brenneke an der Mauer hängen,
Schramme. Familie? Mein Vater setzte den
Mercedes beim Zahnarzt in den Zaun bei
Glatteis. Er schob mit dem Fischtransporter
drei Pkw auf der Elbchaussee ineinander,
weil er auf die Elbe sah und abgelenkt war.
Meine Frau rammte einen Pfosten in der Tiefgarage
bei Dello. Freunde: Norbert wickelte
sich um eine Verkehrsinsel. Er brach sich alle
Knochen und den Kiefer auch noch. Er ist
dann lang beim Sport ausgefallen. Furchtbar:
Kornklaus starb, weil er helfen wollte. Das
war auf der Autobahn, kurz vor dem Tunnel.
Zu Fuß auf dem Standstreifen, ein Lkw war
verunfallt und der Hilfsbereite hatte seine
Fahrt gestoppt (Urlaub zu Ende, Hamburg in
Sicht) und ist ausgestiegen, um Erste Hilfe
zu leisten, im Dunkeln, aus. Peter hat das erzählt.
Mein Leben ist Erinnerung. Ich werde
bald siebenundfünfzig Jahre alt und weiß
von einigen Karambolagen in dieser Zeit zu
berichten, kenne einen Mann, der mit dem
Coronavirus einen Schnupfen durchlebte.
Vierte Welle. Die Fallzahlen steigen! Ballungen
in Ballungszentren. Wer weiß, bald
könnten es viele hunderttausende am Tag
sein? Dann wäre in jedem Waggon der S-
Bahn schon einer dabei, der das Virus in sich
trägt. Wir könnten dort gefährlich nah seine
Aerosole schnuppern. Gut, dass es die Masken
gibt: Keine nennenswerte Grippewelle,
niemand hatte Schnupfen im vergangenen
Winter. Auch andere meldepflichtige Infektionskrankheiten
treten zur Zeit weniger auf.
Jeden Tag stehen wir Deutschen der Gefahr
gegenüber, auf zufällig rund 800.000 Geisteskranke
(meistens harmlose Spinner) zu treffen
und alternativ aktuell am Tag auch noch
3.000 Covidpositive obendrein, schlimm. Und
einige tausend Menschen lenken ihr Fahrzeug
auf eine Weise, dass es kracht jeden Tag.
Die könnten gerade uns treffen, die wir draußen
unterwegs sind.
# Wie gut, dass Schizophrenie nicht ansteckend
ist!
Nötig wäre, damit wir uns echt mutig in Gefahr
brächten, täglich quer durchs ganze Land
zu kreuzen und so aber auch jedem Bürger
und den infizierten Bürgerinnen nach Kräften
vollständig zu begegnen. Wir öffnen jede Tür,
steigen in jeden Bus, besuchen jede Gastro
außen und innen, machen eine Coronaparty
deutschlandweit täglich. Da könnten wir am
Tag dreitausendmal mutig sein und achthunderttausend
Spinner kennenlernen. Nicht
mit hinein gerechnet, könnte uns ein Stück
gefrorener Weltraumschrott aus dem Klo von
Bezos in seiner Millionärsrakete treffen, der
unversehens aus dem Himmel scheißt? Der
Kluge trägt den Helm.
Unsere Krankenhäuser geraten an den Rand
der Belastbarkeit? Das sind auf Kante genähte
Geschäftsmodelle. Klar, dass diese
kollabieren, wenn dauerhaft pandemische
Mehrarbeit gefordert ist. Da kann das gutflorierende
Krebsgeschäft nicht routiniert abgewickelt
werden. Werden wir chinesisch, wird
die Welt so, wie Orban es sich für Ungarn
wünscht? Also straff geführt oder wird eine
multikulturelle Vielfalt dagegenhalten? Eine
reale Bedrohung, die uns unmittelbar betrifft,
ist kein Wortfeuerwerk, das ist mehr. Und eine
spürbare Gefahr in direkter Nachbarschaft,
persönliche Bekanntschaft
mit
der Krankheit, die
Freunde und Familie
betrifft, hat
es isoliert gegeben
mit Corona.
Aber nicht flächendeckend.
Es
war furchtbar in
New York. Hier in
Schenefeld kenne
ich nur einen einzigen,
der mir sagte,
er habe „es“ gehabt;
ein leichter
Schnupfen. Und
natürlich sind da
viele, die mir von
schlimmen Verläufen
berichten,
die habe „soundso“
durchlebt. Ein
Urologe, gerade
in den Vierzigern,
sei tot. Ein mir
zugeheiratet, nun quasi fremd erworbener
Cousin im entfernten Familienzusammenhang,
den ich einmal bei diesen Leuten auf
einer Feier im Süden wo traf, war mit Corona
im Krankenhaus. Ein Segelfreund vermietet
im großen Stil, er hat Erkrankte in den Immobilien.
Es gibt Covid. Ich weiß, wie es auf
der Intensivstation ist. Ich bin bestens informiert.
Ich zähle mich bestimmt nicht zu den
Verschworenen. Ich sehe Nachrichten, glaube
an die Not im Krankenhaus, die ich vielerorts
gesehen habe, im Film. Das reicht nicht für
Panik oder zu begreifen, handeln zu müssen?
Es ist doch ganz klar, dass nur Impfen weltweit
nützt, die Pandemie einzudämmen. Das
zu bestreiten, wäre nicht nur menschenverachtend,
sondern auch die Wissenschaft und
erkennbare Verbesserungen bestreitend. Besonders
Ältere erleben den gefährlichen Verlauf,
wir könnten nicht ertragen, diese andauernd
isoliert sterben zu sehen. Der Lockdown
killt unser System. Und ja, natürlich werben
die Geimpften für ihren Status, und verständlicherweise
drohen sie „dem dummen Rest“,
er sei unsolidarisch. Das halte ich aus. Meine
Nachbarin, sie plaudert mit uns durch die
Hecke, während wir grillen. Die arbeitet beim
Hausarzt um die Ecke: „Du lässt dich nicht
impfen John? Bist du dumm!“ Bescheid zu
wissen, macht so stark. Der Maler, der unser
Bad saniert, drückt sich diplomatischer aus.
Ich bin sein zahlender Kunde. In der Sache
aber genauso, wer sich nicht impfe, gefährde
sich und andere. Das ist jetzt Standard. Meine
liebe Frau beschimpft mich deswegen täglich.
Da sollte man gelassen bleiben.
Warum klug sein, wenn’s dumm auch geht?
Das Wetter hat sich dem Menschen angepasst,
es ist Unwetter geworden. Der Planet
hat Fieber. Ich habe mich den Mitmenschen
angepasst. Ich bin zum asozialen Unmenschen
mutiert. Mir wurde aufgezwungen,
mich zu wehren. Ich war gutgläubig, und es
tat schließlich weh, verarscht zu werden. Man
riet mir, ein dickes Fell müsste ich haben, und
nun habe ich es bekommen, bin stumpf und
bockig, wenn man meine Solidarität einfordert.
Ich reagiere spät oder gar nicht darauf.
In der Summe der Erfahrungen bin ich zu
oft angelogen worden von guten Bekannten,
meiner Familie, dem Staat (persönlich),
schließlich von Medizinern, in deren Einflussbereich
ich kam. Ich habe gelernt: Der für
meinen Lebensweg nebensächliche
Tischler
oder einem nicht näher
vertraute Musiker, dessen
Kunst lediglich imponiert,
die Verkäuferin im Supermarkt
an irgendeiner Kasse;
sie unterscheiden sich
vom Arzt, nahen Angehörigen,
der Politikerin und
dem Polizisten dadurch,
dass ihre Macht auf uns,
die es gegebenenfalls direkt
betrifft, geringer ist.
Sie werden dir helfen in
der Not!
Man hüte sich, enge Beziehungen
zu denen, deren
Beruf eine Dienstleistung
ist, etwa mit Einfluss auf
unsere Freiheit oder die
Gesundheit, einzugehen.
Das sind die, die dich gegebenenfalls
hängen lassen.
Es gibt Menschen, die
ihre Position in der Gesellschaft gegen mich
verwendet haben und Einfluss auf meine
Gesundheit und die Motive, die ich verfolgte,
genommen haben, zu meinem Schaden und
ihrem vermeintlichen Vorteil, den sie aus
meiner eventuellen, momentanen Schwäche
ziehen mochten. Ich habe Fehler gemacht?
Mich zu entschuldigen, sie einzusehen, ist unmöglich:
Das führte zu neuem Spott und Anwürfen.
Ich musste lernen, mir Luft zu schaffen,
bin nicht allein mit diesen Erfahrungen.
Ein Frauenbuch trägt den schönen Titel: „Wer
sich nicht wehrt, kommt an den Herd.“ Davon
Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 78 [Seite 75 bis 79 ]
können auch verstörte
Männer lernen, danke.
Christ zu sein, ist eine
echte Herausforderung.
Es ist ein Irrtum, anzunehmen,
dass rationale
Gründe überwiegen,
man solidarisch
sein kann, schon deswegen,
weil es eine
Winwin-Situation sei,
ließe man sich gegen
Corona durch einen
Impfstoff schützen.
Die guten Argumente
für vieles, z.B. eine
gesunde Ernährung,
sind bekannt. Dass
Drogen zu nehmen
ein Fehler ist, wissen
wir. Abstand zu halten,
wenn gefährliche
Aerosole unterwegs
sind, ist geboten. Das
hat jeder mitbekommen.
Es gibt Dicke, es gibt Süchtige und es
gibt Unbelehrbare. Warum borniert sein? Es
ist die Wut darüber, in der Vergangenheit von
irgendwem missbraucht zu sein – im weitesten
Sinne. Vertrauensbruch, der sich pauschal
verselbstständigt, als ein diffuses Gefühl. Das
siegt über meinen Verstand. Ich weiß das.
Viele Künstler haben nicht gesund gelebt,
waren und sind mit dem Gesetz in Konflikt
gekommen. Ich weiß nun, warum.
Mir liegt nichts mehr am Leben! (Behaupte
ich). Leck’ mich am Arsch, Welt. Ich ertrage,
dass es weitergeht, mein Leben. Ich kann
das ganz gut aushalten. Mich hat es noch nie
nach Mallorca hingezogen, ich finde es leicht,
zuhause zu bleiben. Ich höre im Sommer
jeden Abend unmittelbar die tumbe Masse
Mensch auf Pavlos’ Terrasse lachen, labern
und spotten über irgendwas. Einer grölt immer
rum. Ha-ha. Die Regieanweisung „Volksgemurmel“
wird im Theater umgesetzt mit
„Rhabarber, Rhabarber usw.“ – das ist, was ich
denke, innerlich antworte. Ich weiß, wo die
Bühne endet. Es ist meine Haut. Niemand je
berühre mich noch. Allein sein ist nicht übel,
wenn es nett zu malen gibt.
:)
Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 79 [Seite 75 bis 79 ]
Heilige Scheiße
Aug 3, 2021
Man stelle sich vor, wie lang es dauert, ein
Bild zu malen? Nicht irgendeinen Schmierhin.
Nein, die einigermaßen realistische
Malerei. Anspruchsvoll. Das zieht sich. Eine
ausgeklügelte, abstrakte Kunst ist nicht weniger
schwierig zu erlernen. Nur Laien führt
diffuse Intuition, banaler Geschmack. Selbst
zu arbeiten, heißt zu bemerken, was tatsächlich
besser sein könnte. Und was individuell
Gutes wie Schlechtes bedeutet. Du wirst sehen,
es benötigt viel Selbstkritik; hier stimmt
die Perspektive nicht, da ist es zu dunkel
oder dort müsste noch Glanz drauf. Im fertigen
Bild nicht sichtbare Schwierigkeiten des
Künstlers bei der Umsetzung eines Themas
gestalten die Arbeit langwierig. Die Bedingungen
im Schaffensprozess sind gelegentlich
schlecht. Der Maler ärgert sich über das
Material, wird anderweitig in der Konzentration
gestört. Wer nicht willkürlich schreddert,
benötigt Präzision. Er übermalt Fehler, die im
Endprodukt nicht zu sehen sind. Reichlich Irrtum
und viel Zeit, Widerstände aus dem Weg
zu räumen. Je länger du arbeitest (nicht nur
an einem Bild), Zeit vergeht, sich mit Malerei
auseinanderzusetzen, wächst der Respekt vor
den Kollegen, die man als bessere neidlos
anerkennen muss. Was sind ihre Motive, wie
definieren sie Erfolg?
Hängt das Bild, und nie kommt Besuch vorbei,
hieße das einseitige Kommunikation. Ein langer
Weg in die Sackgasse erzeugt möglicherweise
Frust. Das kann auch zum Antrieb werden.
Eigentlich gehen wir davon aus, unser
Bild werde von anderen angesehen. Jemand
spricht, in diesem Fall mit Farbe und Form,
andere rezipieren. Sie nehmen Inhalte, statt
über die Ohren, sehend auf. Malerei kommuniziert;
lang wird geschaffen, kurz geschaut.
Meine Reise ist, wie mit einem Boot durch alle
Wetter kreuzend, fertig werdend, schließlich
beim Motiv anzukommen. Dagegen genügt
uns eine schnelle Fahrt mit den Augen, alles
zu betrachten. Einen Quadratmeter Fläche
kann jeder zügig erfassen. Sekunden reichen
aus, wesentliche Inhalte zu bemerken.
Ein gutes Bild wird dem Liebhaber nie müde
zu betrachten. Da gibt es immer wieder Neues
zu entdecken. Wir assoziieren eigenes,
interpretieren das Gesehene individuell.
Erfrischende Kunst entsteht im Auge des
Betrachters. Emotionen sprießen, Fantasie
blüht oder ein gruseliger Moment lässt den
Betrachter kalt erschaudern, das ist ein Bild!
Wir denken die Motive,
Themen kreativ weiter,
vergleichen innere Bilder
damit, die uns kommen
wie im Roman, den
wir gern verschmökern.
Quatsch begreifen wir mit
einem Blick und gehen
darüber hinweg, uns nie
wieder darauf einzulassen.
Da kann gewichtig drübergeredet
werden in der
Vernissage, egal.
Eine Radiosendung muss vorbereitet werden.
Unterrichtsstoff des Lehrers einer Schule benötigt
kritische Beschäftigung, bevor er Lernenden
präsentiert wird.
Nicht selten wird der Inhalt
einer Kommunikation ineffektiv
vom Empfänger aufgenommen.
Wenige schalten
das Radio ein, während
gesendet wird? Die Schüler
sind abgelenkt, der
Stoff ist dröge. Als Künstler
muss man sich die Frage
stellen, worauf es ankommt: Resonanz oder
Produktion? Den Schwerpunkt setzen, ihn
gegebenenfalls verschieben, bedeutet mehr
Kontrolle darüber zu gewinnen, was man tut.
Zu prüfen, ob und wie die Arbeit bewertet
wird, gehört dazu. Einen Monolog zu halten,
macht nur Sinn, wenn man sich darüber klar
ist, was das Ganze soll. Ein Idiot ist auf jeder
Party, redet, und niemand hört zu? Darüber
sollte nachgedacht werden. Die
Bilder der alten Meister im Museum
werden angeschaut, obwohl
die Künstler tot sind und eventuelle
Zuneigung durch staunende
Besucher nicht mitbekommen. Der
Betreiber einer Kunstausstellung
oder Biograf eines Verstorbenen
mag annehmen, gemocht zu werden,
wenn Interessenten erscheinen?
Das ist etwa so, wie wenn jemand
eine alte Platte online stellt,
Kommentare gepostet werden.
Deswegen bist du nicht der Duke
(Ellington).
Man sei kein Künstler, weil man
Bilder sammelt, meint David
Hockney.
Die Ausstattung einer Präsentation
ist eine Form der Kunst. Ein Bild in die
Öffentlichkeit zu bringen, bedeutet einen Teil
der Kommunikation zu leisten. Eine Sammlung
schaffen, zu präsentieren, ist als kunstverständiges
Tun mehr, als einen Spruch zu
lassen. Geltungsdrang und Leistung machen
nur Sinn im persönlich befriedigenden Verhältnis
zueinander.
# Gute Unterhaltung!
Es drängt zur Kunst? Wir können die Welt
nicht gestalten, aber eine Leinwand. Die Natur
besiegen wir nie, wir passen sie künstlich an.
Menschen gehen nicht auf die Toilette, weil
das Wasserklosett erfunden wurde. Schöner
Wohnen, besser schietern? Eine Glosse muss
nicht wahr sein, es genügt zu unterhalten.
Wir haben gerade unser Bad saniert, und ein
Kunstkreis weit westlich von Hamburg lädt
zu einer neuen Ausstellung ein. Was das miteinander
zu tun hat: Es kommt auf die individuelle
Sicht an!
Zunächst das schöne Badezimmer. Rundum
gelungen, dank an die Handwerker. Wir ließen
das neue WC gemäß Angebot einbauen, und
ich habe im Ausstellungsraum des Händlers
auch zur Probe gesessen. Nicht nackt. Das
hätte ich tun sollen! Wer ahnt denn, dass es
ein Klo für Eunuchen ist? Das Dianawandklosett
einhundert scheint mir für Frauen und
Vollkastraten ohne Hodensack oder Hängepenis
konzipiert. Nur mit kurz geschrumpften
Klüten und Pinkelstummel (an einem kalten
Tag), wäre es (gerade) noch möglich, sich
kontaktlos draufzusetzen …
# Wind muss wehen!
See steiht vun achtern und von
vorn, zurück darf kein Seemann
schaun. Hans Albers kommt mir in
den Sinn. Sturm im Waschbecken,
in der Kloschüssel: „Nordwest“ gift
krusen Büdel un’ lütt’n Pint, heißt
es an Bord.
Ich hoffe auf kalte, windige Herbsttage.
Flache Schüssel. Und was noch schlimmer
ist, ich habe diese Diana selbst gekauft, abgehakt,
ohne weiter darüber nachzudenken.
Wie doof ist das denn? Und nun ist sie fest
mit der Wand verkachelt. Wahrscheinlich
male ich Schwachsinn, weil das so einfach
ist, mein blödes Hirn für Design nicht taugt:
Das ist zu schick für mich.
# Feuchtgebiet
Morgens, wenn ich mit Wasserlatte
den kurzen Weg ins Badezimmer
mache und entsprechend lang
abhänge, liegt mein Gemächt auf
dem glatten Porzellan auf. Kalt,
nass und möglicherweise feucht
vom Pipi der ganzen Familie?
Brr. Sich stocksteif aufrichten und
weit hinten sitzen, hilft. Je nach
Länge, und das ist beim richtigen
Mann verschieden. Nur durchgegenderte
Transtanten mit Regenbogenarsch
können jederzeit
kurz sitzpieschern. Immerhin, es
hat einen tollen Hall: Das dröhnt!
Eine echte Furztrompete. Pavlos
und seine trinkfesten Freunde auf
der nahen Terrasse vom „Lindos“
benötigen nur noch die kleinen Ohren der
indischen Elefanten für das Vergnügen, dabei
zu sein: Mein Rüssel ringele sich. Es ist
hübsch und kurz, dieses „Diana“, dicht bei der
Wand; darum hat man es uns empfohlen. Unser
Bad ist klein.
# Assoziationen
Kunst muss anstoßen. Die Fettecke von
Beuys polarisierte noch, weggeputzt! Sauber.
Neue Themen reizen, mal dir selbst den
Schwamm fürs Klo. Der große Bogen eines
schrägen Gedankens führt Inhalte kreativ
zusammen: Und dann aktuell der Kunstkreis.
Aug 3, 2021 - Heilige Scheiße 80 [Seite 80 bis 81 ]
Ich bekomme Einladungen. Diese Leute sind
wichtig. Sie sind vergleichbar mit den Herstellern
von Sanitärporzellan. Als Künstler
ist man darauf angewiesen, wie
der Mensch auf das Klo. Wo ablassen,
wenn nicht beim Aussteller?
Ich werde regelmäßig beworben,
mir was anzuschauen und habe
mich in der nahen Vergangenheit
zurückgehalten mit Spott. Ausgetreten
war ich (aus dem Vorstand),
nachdem Details über eine
Kollegin mich nachdenklich machten. Was
mochten die Tanten über mich zum Besten
tratschen? Milde geworden, habe ich Ausstellungen
besucht. Was sollen alte Frauen, die
selbst nichts Gescheites an den Tag bringen
mit ihrer Zeit anfangen? In der hochberühmten
Drostei, im Barlachhaus ist es vermutlich
nicht anders. Die Kunst ist fest in der Hand
vertrockneter Schrapnelle mit intellektueller
Brille. Gut, dass die Pandemie den Kulturbetrieb
maßgeblich lahmgelegt hat. Dünnsinn,
mit Steuergeld subventioniert, muss beendet
werden. Aber Unkraut vergeht nicht, kommt
jetzt glatt daher wie meine neue Schüssel.
Ich ertrage (gutgläubig) Beschiss im Hof, der
angrenzenden Küche, im Badezimmer.
Schöne Neue Welt und schönen Gruß!
:)
Aug 3, 2021 - Heilige Scheiße 81 [Seite 80 bis 81 ]
Das
Wundermittel
Aug 6, 2021
Viele Menschen gestalten das eigene
Dasein ansprechend, nutzen die Freiheit
unserer zivilisierten Welt. Sie erringen einen
grundsätzlichen Erfolg, den sie aus ihrem
Leben gemacht haben, weil sie anwenden,
was ihnen beigebracht wurde. Wer es nicht
hinbekommt, normal zu leben, kreist um
bekannte Fehler. So einer ist der Satellit
der persönlichen, fixen Ideologie, zwanghaft
in der Wiederholung von Stereotypen
gefangen. Individualität ist gleichermaßen
speziell, wie unter Umständen selbst
schädlich. Einige stehen im Lauf der Welt
geradezu angenagelt auf dem Fleck, den sie
nur irgendwie erreichten. Sie treten auf der
Stelle, als wären sie mit Koffern beladene
Reisende am Bahnsteig, aber ohne den Zug
zu nehmen.
Aussenseiter wirken unnötig blind, unfreiwillig
komisch, sogar hässlich und beschränkt
nur deswegen, weil es wie offensichtlich
rüberkommt, dass diese Menschen sämtliche
Perspektiven ignorieren. Kritische Freunde
verstünden die spezielle Lage nicht, meinen
diese Unglücklichen, wenn sie darauf
angesprochen werden, warum sie eine
Chance nicht wahrnehmen und stattdessen
Frust zementieren. Vielleicht stimmt es, und
umgekehrt macht es sowieso Sinn.
Wir urteilen gern nach dem Prinzip, Schuld
zu beweisen. Wer nicht schuldfähig ist im
Falle einer Tat gilt als krank. Was ist mit
denen, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt
kommen, nicht diagnostisch erfasst werden
und die selbst daran schuld seien, wie es
heißt, am eigenen Unglück? Täter gegen
sich selbst: Es scheinen Menschen zu sein,
gegen jede Wand unterwegs, ohne eventuell
offen stehende Türen zu erkennen, die ihnen
neue Möglichkeiten der Entwicklung bieten
könnten. Der Begriff der Schuld verblasst
als kraftlos, bei dem Versuch zu beschreiben,
wie jemand gegen die eigene Person
handelt, die guten Wege nicht sieht. Jahre
scheinen nutzlos zu verstreichen. Psychische
Krankheiten werden diagnostiziert. Dieses
Leben ist begleitetes Fahren mit Therapeut.
Und nur einige lernen schließlich dazu, aus
einem individuellen Grund, den sie endlich
begreifen. Das sind wenige. Werden diese
in der Regatta des Lebens tatsächlich noch
einen führenden Platz ersegeln? Umgekehrt
könnten andere, gesunde und erfolgreiche
Menschen, deren persönlicher
Erfolg nur einem zufälligerweise
leichten Start geschuldet ist, erfahren,
wie schwer es ist, ein Rennen
siegreich zu beenden, bei dem am
Ziel keine Medaille vergeben wird.
Die Ersten werden die Letzten sein,
heißt es. Die vernetzte, integrierte
und erfolgreiche Masse verhält sich
gern wie nebenbei, unabsichtlich
ausgrenzend gegenüber anderen.
„Das geht gar nicht“, werten sie manches
Verhalten ab, und es fällt ihnen
leicht, unter Ihresgleichen überheblich
zu tun, ohne dass es den Freunden
anstößig erscheint. Gut maskiert
und besser dargestellt kommt
es vermeintlicher Stärke gleich.
Scheinbar selbstbewusst, drängen
nicht wenige nach dem Motto, erst
komme ich, und Hauptsache, es geht
schnell. Sie werden langsamer, wenn
später der Rollator ihr tägliches Fahrzeug
geworden ist? Wir haben keine Möglichkeit
unser Miteinander mit Egomanen, Dränglern
und Provokateuren einfacher zu gestalten,
indem wir notorische Windbeutel belehren.
Die Freiheit zu zaudern, Risiken zu meiden
und das Leben dadurch zu verpassen oder
unverdient Macht zu missbrauchen mag
uns gegeben sein. Wege zu suchen, ist die
lohnende Alternative.
# Das ganze Leben ist Ausweichen
Abstand, wir müssen lernen, dass allumfassende
Transparenz und Nähe zu anderen auf
Grenzen stößt. Das Virus lehrt uns Distanz.
Die Bürger möchten wissen, was Donald
Trump verdient, aber ihr eigenes Privatleben
nur kontrolliert und selektiv posten. Beim
Nachbarn Mäuschen spielen, gefällt vielen
trotzdem. Lebensentwürfe sind so: Trennwände
setzen, selbst drumherum navigieren.
Ein Irrgarten oder das Kabarett, je nachdem.
Mit dem Kopf durch die Wand, sich dabei
noch stark fühlen, und bei Schmerzen werfen
wir was ein. Das ist moderne Zivilisation.
Willenskraft, sich anzustrengen und Ziele zu
erreichen, wird gelobt. Wir twittern erfolgreich,
bis zum kompletten Selbstbeschiss.
Wenige gehen manchen Idioten geschickt
aus dem Weg. Die Masse schwimmt im
Strom, ob nun mit der Welle oder gegenan.
Erst durch Schaden wird man klug, lernt,
dass es an der Kante vom Fahrwasser auch
und möglicherweise eleganter ist, eigenen
Wegen zu folgen.
Seit die Rede vom digitalen Missbrauch in
aller Munde ist, wir den Begriff Fake News
verwenden, verblüffende Deepfakes irritieren,
steht unser Verständnis von Wahrheit
auf dem Prüfstand wie nie zuvor. Bereits
ein Schulkind wie Greta Thunberg mit
Pappschild entdeckt, dass alle „des Kaisers
neue Kleider“ spielen. Ehrgeizige Klimaziele
werden ausgerufen, Friedensgipfel, aber es
ist immer irgendwo Krieg, und das Klima
schmiert weiter nahezu ungebremst ab.
Irrational ist diese Hoffnung: „Wir werden
alle sterben!“, ruft jemand in Panik, und dann
entschärft Bond die Bombe rechtzeitig?
Manche erwarten eine Zeit nach der Pandemie,
in der alles wieder wie früher ist und
Malle wie gewohnt ballert. Das wird so nicht
wahr werden.
Vielen, um ihre Fehler kreisende Menschen,
denen es nicht gelingt, aus ihrem Leben
einen Erfolg zu machen, wird empfohlen,
einfach wie die anderen, normalen
Menschen zu sein. Ich denke, mit diesem
Rat gefüttert, wird der Kreislauf wasserdicht
und verewigt im Gegenteil noch das
Problem. Der Begriff der Normalität ist ein
armseliges Erklärungsprinzip. Normale
wissen für gewöhnlich gar nicht, warum sie
klarkommen (obwohl sie das behaupten).
Dem Künstler beim Zeichnen kurz über die
Schulter zu schauen, lehrt nicht sofort alles.
Ich habe lange Zeit gelernt. Warum sollte es
funktionieren, anderen zu sagen, man mache
etwas einfach so? Wenn jemand einen
Handwerksbetrieb übernimmt, sein Geschäft
in der zweiten oder dritten Generation führt,
werden ein paar Worte an den Gesellen
kaum genügen, das Wunder der Existenz zu
erklären. Genauso Ratgeber, Therapien – sie
funktionieren bedingt. Der Eigenanteil des
Lernens ist entscheidend, will jemand aus
Schwierigkeiten raus kommen.
# Wir benötigen Zeit zu lernen
Tempo und Tipps gehen nicht selten am Individuum
vorbei. Die jetzt Schlauen mögen
die Dummen von morgen sein. Wir werden
gelehrt, uns korrekt zu verhalten und das
Vertrauen in Helfende wird vorausgesetzt.
Allein klar zu kommen funktioniert durchaus
anders. Das grundsätzliche Problem ist,
dass die Umgebung unzuverlässig, quasi
immer unehrlich ist. Kaschiertes Chaos ist
das Drumherum. An den Scheidewegen des
Lebens stünden keine Wegweiser, meint
Chaplin dazu. Kein Gott nimmt uns so
allumfassend an die Hand, wie derjenige, der
uns das Geld aus der Tasche zieht, in unser
Haus einbricht oder behauptet unser Freund
zu sein. Unser Nächster, den wir aufgefordert
sind zu lieben wie uns selbst, wird sich
immer verhüllen und später anders rüberkommen
als erwartet. Nur ausnahmsweise
werden wir vom Leben und den anderen
beschenkt, mit einem Lächeln, Anteilnahme
und gelegentlich der allerliebsten Nähe
oder selbstloser Hilfe in unserer Not. Im
Alltag gehen die Menschen oft grußlos
aneinander vorbei und verbergen die Motive
ihres Weges. Zu lügen oder die Dinge besser
darzustellen, wie in der Werbung, ist auch
anderswo möglich und Menschen tun, was
ihnen möglich ist. Die Welt ist nicht erst
seit kurzem den Fake News ausgesetzt. Die
Wahrheit, was immer das sei, darzustellen,
anstelle sie exakt wiederzugeben, ist normal.
Es entspricht der gesellschaftlich akzeptierten
Maske, positiv zu wirken. Vom Lügen
sprechen wir erst, wenn zum eigenen Vorteil
und Schaden des Rezipienten berichtet wird.
Aber wer erkennt diese Grenze, ab der das
Maß zu übertreiben oder Dinge wegzulassen
voll ist? Selektive Darstellung steht uns
frei, außerdem ist niemand allwissend. Wir
erwarten Aufklärung vom Falschen, weil wir
annehmen, gerade dieser wüsste das Detail,
das uns noch fehlt. Der Mensch beschuldigt
seinen Freund und folgt lieber dem
Dieb. Wir vertrauen demjenigen, der uns
kaltlächelnd betrügt. In der Summe kommt
fortwährend Desinformation dabei heraus,
wenn der Mensch darauf angewiesen ist,
seine Umgebung in gegenseitiger Kommunikation
zu begreifen. Und das sind wir.
Aug 6, 2021 - Das Wundermittel 82 [Seite 82 bis 83 ]
Wann stellen andere die Dinge nicht zu
ihrem Besten dar? Das ist eine fließende
Grenze, ab der manche das Gefühl beschleicht,
betrogen worden zu sein oder
gerade noch hinnehmen, eine gute Werbung
etwas herunterzurechnen, um in der Realität
zu bleiben, sich nicht unnötigerweise zu
ärgern. Nur wer sich darüber im Klaren ist,
die Angst vor einer Reklamation bremse ihn
zornig zu werden, kann die Entscheidung
selbst treffen, angemessen zu reagieren. Die
anderen rasten zwanghaft, neurotisch aus
oder kneifen jedes Mal, wenn sie begreifen,
dass sie übervorteilt wurden. Aber ein wenig
betrogen werden wir bei allem, was uns
widerfährt. Unsere Erwartungen werden
immer anders sein, als das Ergebnis ausfällt.
Manche finden ein Haar in jeder Suppe.
Das Geschick besteht in der individuellen
Wahlfreiheit, Emotionen still auszuleben,
laut oder maßvoll.
# Wir schaffen den Rahmen künstlich
Gerade ist Olympia. Doping im Sport ist
mehr als eine Regelverletzung. Es geschieht
dennoch. Sollten bessere Läufer generell
bestraft werden, für ihre Leistung, die dann
etwas runtergerechnet würde, wie manche
Politiker höhere Steuern für Reiche vordern?
Eine absurde Idee. Im Sport möchten wir,
dass die Bessere gewinne. Aber kaum, dass
eine herausragende Leistung beobachtet
wird, taucht der Verdacht der Manipulation
auf. Dem geht schon ein kompliziertes
Reglement voraus, nachdem trainiert und
speziell ernährt die Athleten antreten. Du
kannst nicht saufen und Burger fressen,
so viel ist klar. Ab wo die Vorbereitung ein
strafbares Doping ist, steht in der Regieanweisung
für fairen Sport. Man probiert,
gleiche Bedingungen herzustellen. Männer
treten nicht gegen Frauen an im Sport.
Aber es gibt Mädchen, die biologisch den
Männern nahe sind, schon als Jugendliche
davonrasen und sich nun Hoffnungen
machen, auf eine Karriere im Laufen? Bittere
Enttäuschungen laufen parallel zu diesen
Siegen mit. Irgendwann kommt das Begreifen,
dass Äpfel und Birnen im Regal nur Sinn
machen, wenn die Früchte, also die Natur
selbst, sich an die Regeln hält. Begeistert ändern
Retter die Welt m/w/d und fordern uns
auf, niemanden auszugrenzen. Immer wieder
müssen wir lernen, dass soziale Geländer
in Dicke, Länge und Griffhöhe noch an der
Vielfalt der Angreifenden gemessen werden.
Der Mensch schafft sich künstliche Stabilität
in einer unübersichtlichen Welt. Brücken
müssen auf ihre Haltbarkeit geprüft werden.
Das gilt auch für die Luftbrücken kreativer
Selbstverblendung.
Als Wohlstandskranke plagt uns, dass die
gewohnte Stabilität gefährdet sein könnte.
Andere sind neidisch auf die Fata Morgana
des Glücks, also nicht darauf, dass jemand
mehr Geld hat. Die zivilisierte Welt ist
wachstumsorientiert. Da muss wohl auch
das Glück im Laufe des Lebens anwachsen?
Tatsächlich kommt dieser Idee die Mühsal
des Alters in die Quere. Wir können das Leben
medizinisch verlängern und zahlreiche
Krankheiten werden scheinbar effizient
behandelt, dass alle älter werden als früher.
Damit wurde zugleich das Problem geschaffen,
eine Illusion gefährlich glaubwürdig zu
machen. Sie besteht in der Idee, etwas ganz
Tolles komme noch.
Ich kann ein Zitat von Edward Hopper nicht
wiederfinden und deswegen nicht belegen,
woher es stammt: „Depressiv? Wird man das
nicht im Alter?“, er sei „nicht stolz darauf“,
bekundet der Maler an einer Stelle. Hopper
wurde immer mit der Frage nach Einsamkeit
konfrontiert, wenn Betrachter ihn auf
seine Motive angesprochen haben. Nun ist
dieser Künstler sehr produktiv gewesen, und
Deprimierte sitzen normalerweise tatenlos
herum und jammern. Ein Arzt verschreibt
etwas, damit es dem Kranken wieder gut wie
früher ginge. Wir sollten annehmen, dass die
Kunst malen zu können auch nützt? Aber
viele Kreative kennen den Verlust eines ganzen
Lebensabschnitts an das Nichtschaffen
während einer lethargischen Episode. Ich
habe etwa gelesen, dass Miles Davis pausierte
und seinen Ansatz verlor, erst wieder
Trompete üben musste. Als Maler sind wir
gewohnt, hinter die Fassaden zu schauen.
Wir stellen im Bild selbst potemkinsche
Dörfer auf und müssen deswegen deren
Statik kennen. Damit sind wir den Normalen
einen Schritt voraus, können als Explorer
aber auch vor ihnen in das Unbekannte abstürzen.
Wir müssen lernen; andere kommen
durch mit dem, was man ihnen beibrachte?
Mein Onkel stellte es andersherum dar.
Wollte er sich und seine Leistung aufwerten
oder mich ermahnen, nicht auf das Glück zu
vertrauen, alles gelinge nach der Schule von
selbst? Er sagte: „Du hast ja Talent. Wir anderen
müssen arbeiten.“ Ich glaube, dass sich
hier niemand erfolgreich verpisst und jeder
sein Päckchen trägt, das irgendwann merkt.
Für einige sind die letzten Wochen im Angesicht
ihres unabwendbaren Todes die bittere
Zeit, in der sie das erste Mal resümieren, wer
sie sind und was hätte sein können. Ganz
schön spät, denke ich, um aufzuwachen.
# Die nur eingebildete Gesundheit der
Normalen
Alle sind verrückt und die Kranken sind
gesund, so ist es nicht. Doch viele machen
sich was vor. Ihr dickes Ende kommt, wenn
es keine Geschenke gibt, für ein Rennen,
dass manche gar nicht mit ihnen in
Konkurrenz gelaufen sind. Du kannst nie
gegen dich selbst gewinnen (oder den Krebs
besiegen als ein Gewächs im eigenen Leib),
auch wenn ein Arzt es behauptet. Menschen
lassen sich geradezu ausschlachten und
reparieren wie das eigene Auto. Sie werden
sich noch gegenseitig aufessen, wenn die
gewohnte Nahrungskette der Welt einmal
endgültig zusammenbricht.
Der Mensch selbst benimmt
sich als ein Krebs dieses
Planeten, und einjeder von
uns stiftet seinen Nachbarn
dazu an, greift sich
selbst ein Stück der Welt.
Schicksal? Die Aufgabe, sich
dem Leben und dem Wissen
zu sterben (irgendwann), zu
stellen, nimmt einem keiner
ab. Eine Impfung gegen
den Frust, alt zu sein, ist
bislang nicht im Angebot.
Wie das wohl wäre, mit den
bekannten Ratschlägen:
„Nimm besser Moderna
oder Biontech, aber nicht
Astrazeneca“, und sollten
schon Kinder es bekommen:
das Medikament, das uns
blendet, Kummer niemals
wahrzunehmen?
# Das Wundermittel
Es gibt ewige Sicherheit, bedeutet gerechte
Gesundheit und Sicherheit und Frieden für
alle auf Rezept, beinhaltet aber, den Bürger
gesetzlich verpflichtend, das Geschenk der
Medizin auch anzunehmen? Man stelle sich
diese Debatte vor. Die aktuelle Situation regt
mich an, weiter zu denken. Der omnipräsente
Krampf, sichere Verhältnisse zu kreieren,
ist mehr als Wahlwerbung. Es ist die Tüte
über dem Kopf, die Hände vor die Augen zu
halten, den Kopf in den Sand zu stecken für
alle. Eine Impfung der Bevölkerung gegen
das neue Virus macht deutlich wie nie, dass
unsere Leben endlich sind und wir, im selben
Boot sitzend, stets dem grundsätzlichen
Gegner Krankheit und Tod gegenüberstehen.
Das ist zunächst einmal hinzunehmen. Und
die individuelle Antwort darauf, wie damit
umzugehen sei, kann bei kollektivem Druck
auf die Gesellschaft nur zu Widerstand führen
mit den bekannten Ausreißerqualitäten,
die Menschen immer entwickeln.
Menschen haben noch Angst. Das ist tatsächlich
der Rest vom natürlichen Verhalten,
der uns geblieben ist. Dagegen gibt es jede
Menge Medikamente, Geld scheint auch zu
helfen, aber einige haben weder das, noch
Medizin.
:(
Aug 6, 2021 - Das Wundermittel 83 [Seite 82 bis 83 ]
Wo ist Goethe jetzt
Aug 17, 2021
Es ist wieder August. Durchwachsen ist
dieser Sommer. Am Anfang war das Wort,
denke ich oft abschweifend bei diesem
Text, wenn es auch mal um die Ostseeinsel
Fehmarn geht. Ich zeichne hier, wie jedes
Jahr. Ich möchte gern einige Fotos integrieren,
habe bereits passendes Material parallel
zur Schreibarbeit aufgenommen. Eine Arbeit
ist es, die kaum je Geld einbringen wird, aber
keine Spielerei rund um ein vorgedrucktes
Feld darstellt, mit bunten Hütchen drauf, die
nach Anleitung gezogen werden
müssen, mit den anderen albernd
am Tisch sitzend. Das zu mögen,
ist für mich die Kunst! Die Natur
des Kreativen besteht darin, nicht
normal oder gewöhnlich zu handeln.
Urlaub und Arbeit, geht das?
Wer sich langweilt, dem ist nicht zu
helfen. Eine lange Geschichte. Die
ich nicht kurz mal so hinbekomme,
aufzuschreiben. „Das muss man ja
nicht lesen“, meint die beste Lektorin
von allen in so einem Fall.
Das sei warnend vorangestellt.
Freak oder was? Ich bin ja nicht normal.
Als Künstler gehöre ich zu den besonderen
Menschen. Das ist nicht gerade was Großartiges.
Ich möchte nicht überheblich wirken.
Mir geht es, wie den anderen auch. Es kann
aber schon sein, dass ich ungewöhnlich
reagiere. Wem nützt Kunst? Darauf habe
ich eine Antwort: Mir tut gut, zu malen. Ich
schreibe gern. Es ist nicht etwa, weil fieser
Überdruck dringend entweichen muss, ein
Ventil, dass andere nicht haben, eine Art
Schornstein? Meine Furze entweichen normal
am Hintern. Ich mochte es von Anfang
an, schon als Kind, Bilder zu machen, und
die Wut über Unänderbares ist nur eines von
vielen Gefühlen, die eine Rolle spielen.
Sich auf eine Weise ausdrücken können, ist
schon mal was. Ich bin genauso hilflos wie
andere manchmal, zum Beispiel kann ich
mir keine Gesundheit kaufen. Möglicherweise
würde jemand mit meiner Kunst Geld
machen? Das kann ich nicht. Ich habe auch
nicht aus einem therapeutischen Grund angefangen.
Mein Leben begann ganz normal,
ich war so gesund wie die anderen Kinder,
nur dünn. Ich hatte einen kleinen Spielkameraden
in der Nachbarschaft. Das waren
die Jahre, bevor ich im Kindergarten auf
gewöhnliche traf, viele auf einmal (Monster).
An meinen Freund musste ich mich nicht
gewöhnen. Der war einfach so da, wie das
Gras, der Kastanienbaum und unser Gemüse.
Mit Kai spielte ich in unserem Garten, und
zwar noch bevor meine Schwester geboren
wurde. Wir waren so klein, dass
meine Erinnerung an diese Zeit
wohl nur bleibt, weil meine Mutter
erzählt hat, wie besonders wir
Kinder redeten:
„Willst du jetzt gern mal das
Zementmischauto haben? Dann
nehme ich den Kipper.“
„Ich könnte auch das Rollerdings
fahren, was meinst du?“
„Oder wollen wir wieder rote Steine
malen für Matschfarbe machen?“
Es habe nie Streit gegeben, erinnerte
sie sich. Einmal hätten wir beide, der kleine
Kai und ich, voller Eifer gemeinsam und fleißig
aus eigenem Antrieb alle roten Wurzeln
auf einmal im ganzen Beet ausgekriegt!
Aber jahreszeitlich viel zu früh. Das wären
noch ganz kleine Mohrrübchen gewesen,
nicht bereit, geerntet zu werden.
„Wir haben dir heute geholfen Mama und
sind schon fertig. Die ganzen Wurzeln aus
dem Garten haben wir für dich ausgebuddelt.
Sie sind alle in dieser Wanne, sieh mal.“
Dann zog
diese Familie
mit meinem
allerersten
Freund fort,
keine Ahnung
wohin. Ich
war wohl erst
vier Jahre
alt, so lange
ist es her.
Manche Menschen fehlen irgendwann. Mein
Großvater hatte so eine feine Ironie, die selten
geworden ist. Das tut weh: Ganz allein
Witze zu machen, die nicht mehr ziehen,
schon Neunzehnhundertdreißig erkennbar
lahmten. Meine Eltern fehlen. Sie sind tot.
Eine liebe Freundin fehlt auch, und das ist
furchtbar, weil es durch mich maßgeblich so
wurde, wie es nun ist. Was andere ihr sagten,
mag richtig sein. Was sie daraus machte, ist
so falsch, wie alles, was ich tat. Jeder für sich
ist auch scheiße. Ich hoffe, sie lebt. Es bleiben
noch Erinnerungen und Geschichten.
Bilder oder Text, ich mag es, zu erzählen.
„Das hier nicht Schenefeld, ist New York“,
meinte Steve gelegentlich, wenn ich in
seinem Shop die Post zustellte. Eine kleine
Straße, etwas nördlich vom Schenefelder
Platz. Es war eben doch nicht New York.
Sein Gesicht schien auf seltsame Weise vom
schummrigen Dämmerlicht im Kiosk verschluckt,
wenn ich, geblendet von der Sonne
draußen, in den Laden stolperte. Beinahe
unerkennbar dunkel wie gar nicht vorhanden
war da ein Loch über den Schultern?
Gerade
noch die
hellere
Fläche
eines
Shirts
zeichnete
sich
vor dem
Sammelsurium aus Zeitschriften, Zigaretten
und allerlei Lebensmitteln im Hintergrund
ab. Das Bild für den Moment, Rembrandt
hätte Freude daran gehabt. Amerika ist eine
farbige Person. Nur die Kontur einer anderen
Kultur, wenn er hinten am Tresen zugange
war. Vielleicht war das doch die Bronx? „Du
musst einem ein Bild schenken“, meinte er,
wenn Zeit zum Reden blieb, „Uwe Seeler
oder irgendeinem Berühmten“, er habe
Beziehungen – und so mache man das eben
mit der Kunst.
Meine kleine Geschichte.
Als ich einmal Briefträger war und Alexandra
noch ein Schulkind.
# Ein Psalm Davids, vorzusingen
„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe
am äußersten Meer, so würde auch dort
deine Hand mich führen und deine Rechte
mich halten.“ (Lutherbibel, Psalm 139).
Ferien auf Saltkrokan,
ein Buch
von Astrid Lindgren.
Da habe
ich den Psalm
gelesen, als Kind.
Manchmal glaube
ich, nur eine Seite
vom Roman zu
sein. Fetzen der
Erinnerung und
Alltag gleiten
ineinander, wie
rote Marmelade
in den Joghurt. Plötzlich gerät mir irgendwie
Senf da rein? Falsche Farben in der Tube
verschmieren meine Palette.
Eine kleine Welt, Europa. Und Italien zwinkert
mir zu. Weiß wird der Zucker oben vom
Tablett gereicht? Fremde Rätsel und eigene
Puzzlestücke sind wie Fragmente unserer
Geschichte. Eine Insel löst sich, fährt auf den
Atlantik raus.
Brexit.
Kontinentale Verschiebungen reißen durch
die Edinburgh und unsere Herzen. Das
Leben geht weiter: Dies ist mein New York!
Ich habe nur ein kleines Boot und kein
Wohnmobil, aber Fehmarn ist auch schön im
Sommer.
Diese Insel kann nicht davonschwimmen.
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 84 [Seite 84 bis 94 ]
Eine Ferienwohnung am Rande der Welt.
Und ein Flügel der Vogelfluglinie schwingt
seinen schönen Bogen, geleitet uns durch
luftige Baustellen mit nur dreißig Kilometern
stündlich, langsam. Wir schauen
entspannt auf den Sund, sehen noch die
rot-weiße Tüte flattern, bis irgendwann der
Pfad zum modernen Hades drüben fertig
ausgebaggert ist und ein Charon uns in das
lange Loch führt, das alle Blechdosen frisst?
Warten auf die
Liebe lohnt
nicht. Hoffnung
ist nur was für
Literaten, und
die werden vom
Leben selbst (am
Ende) verraten.
Ein alter Mann
muss schließlich
gehen.
# Goethe kommt
ja auch nicht
mehr vorbei
Erzählt das Leben seine Geschichten, füttern
sie kostenlos und unbeworben diesen Blog.
Und einen echten „Bücherstall“, unauffällig.
Leicht zu übersehen. Nicht einmal ein Geheimtipp
ist diese Wörterkiste, abseits vom
Stream. Steht nur so rum. Man nähre sich
gern an neuen Worten. Der graue Schrank
fällt kaum auf. Halber Weg zum Hafen und
kurz mal links raus abgebogen. Hier wartet
ein Regal und Selbstbedienungsladen, die
eigene Bücherkiste, offen für jedermann.
Gib ein Buch, nimm eines. Die Box hat ein
Schild an der Seite: „Hier war Goethe“, steht
dort. Geht man aber nah dran, zeigt sich
(verschmitzt) noch ein ganz winziges „nie“
darunter.
Warum, warum nur geschieht alles – ich
kann es nicht begreifen, kann mir nicht
besser helfen.
Das sei mal so dahingestellt.
Verballhornen ist nötig. Poetrisch Schlamm
schlagen, urban mit der Gruppe gesketcht!
Das trendige Englisch erheitert doch. Ich
mag das modische Zusammenhocken nicht,
will auf Beifall
verzichten. Ich
kann mich im
Ausland zurechtfinden,
spreche
ein wenig
englisch. Das habe ich in der Schule gelernt.
Es gibt auch Anlass zu erzählen, wortreich in
die Ferne zu schweifen, in verschiedene
Geschichten zu kommen. Mir fällt noch
einiges (dazu) ein. Das kann ich erzählen:
Nachdem mein Versuch auf dem
„Rist“ in der Altstadt von Wedel ein Abitur
zu schaffen, nach nur einem Schuljahr
kläglich scheiterte, begann ich auf
der Ernst-Barlach-Schule neu. Schräg
versetzt, von Klasse fünf nach Klasse
fünf. Ich habe schließlich unspektakulär
im Sommer 1981 mein Zeugnis bekommen,
Realschulabschluss. Befriedigend
überall, Erdkunde zwei, Kunst eins.
In die letzten Schuljahre mit der „e“,
wir gehörten zu den geburtenstarken,
fünfzügigen Jahrgängen (in meiner Klasse
waren immer gut dreißig Schüler), fielen
zwei bemerkenswerte Dinge. Unvergesslich
bleibt ein etwa vierzehntägiges Praktikum
im Beruf, das jeder machte und die ungefähr
gleich lang dauernde Klassenreise (mit der
„d“ zusammen, glaube ich war das) nach
England.
Großbritannien für uns Wedeler Dorfbacken,
wir wohnten paarweise in einer Gastfamilie.
Das machte die Schule seit Jahren nach
einem erprobten System. Die Stadt Ipswich,
wo wir unterkamen, liegt nicht allzu weit
von London entfernt. Und über die Zeit bei
„Markenfilm“, das Praktikum in der Werbeund
Trickfilmbranche oder meinen Klassenlehrer
Gerd Kröger, einen guten Aquarellisten
und wunderbaren Menschen, mit dem
wir während der Schulzeit viel unterwegs
waren, habe ich bereits geschrieben. Nicht
nur der alte Reklamezeichner und dieser
Lehrer Kröger in der Realschule haben mich
nachhaltig beeinflusst und mein Leben
geprägt.
Diese Geschichte
kann nicht umweglos
erzählt
werden. Ich muss
abschweifen: Andere
Umstände
und Menschen,
denen ich begegnet
bin, mögen
dazu beigetragen
haben, wie sich
manches ergab.
Ich sehe mit Mitte
fünfzig anders
aus als nach dem
Schulabschluss
oder zum Ende
meines Studiums und beurteile die Umgebung
in einer veränderten Weise. Zu altern
hat mich insgesamt geändert. Die Kraft, zum
Beispiel für sportliches Engagement, ist
geringer, auch meine Interessen sind nicht
mehr dieselben. Mit fortschreitender Zeit im
Verlauf des Lebens sollte es gelingen, eigene
Entscheidungen zu treffen. Das ist bei mir
der Fall. Wenn diese Entwicklung günstiger
verlaufen wäre, könnte ich darüber reden
seit den beginnenden neunziger Jahren, und
es hieße einfach Erwachsenwerden.
# Die eigene Entscheidung
Eine aktuelle Beschreibung vom Urlaub auf
Fehmarn mag illustrieren, was ich absolut
wichtig finde, selbst für mich zu tun. Banale
Entschlüsse können ungemein befreiend
sein. Das war gestern, am Tag vor Ulis
Geburtstag, und den vergesse ich schon mal.
Im Vorraum
vom Supermarkt
wollen
einige den
plötzlich hereinbrechenden
Schauer
abwarten. Sie
haben sich
mit ihrem
vollgepackten
Einkaufswagen neben die Pfandautomaten
gestellt, scharren mit den Hufen. Es pladdert
vor der Ladenöffnung, es dampft und nebelt
drinnen, wo wir überlegen, ob das Ganze
dauert und wie darauf zu reagieren sei.
Niemand scherzt. Regen ist nicht Teil der Zivilisation.
Wenige Meter zum Auto möchten
die Leute nicht im Schietwetter gehen. Schüler
huschen durch: „Das wird scheiße gleich
im Bus, wenn wir nass sind!“ Ich bin mit dem
Fahrrad gekommen. Unsere Ferienwohnung
ist zwei Kilometer südlich vom Zentrum,
etwa Grüner Weg, da muss ich hin. Ich kann
das Rad sehen, allein die wenigen Meter bis
dorthin genügten, komplett durchzunässen,
so heftig hat sich der Sommer von eben
verabschiedet. Als ich losgefahren bin, sah
es prima aus in Luv, wer denkt denn so was?
In der Sardinendose.
Das hintere Maul von Edeka an der Osterstraße,
die Abteilung für Pfandflaschen und
abgestellte Einkaufskörbe anschließend der
Kassen. Der Ausgang eigentlich nur. Rentner
schieben nach. Die benötigen keine Maske
im feuchtvernebelten Innenraum auf Tuchfühlung
mit den anderen, weil sie ja geimpft
sind und nicht jeden Blödsinn mitmachen?
Wir wenigen, die den verordneten Mundschutz
noch brav tragen wie im Laden – und
weil hier weiter aerosole Enge herrscht, sind
bereits in der Minderzahl.
Da kommt eine besonders
penetrante Olsch, so eine Else,
wie sie in jedem Kaff einen
(ehrenamtlichen) Trulla-
Bläla-Treff betreibt (vermutlich)
heran. Die dumme Omi drängt
ungebremst vorwärts. Sie hat
einen Sabbelmund. Eine Maske
würde sie schöner machen,
aber sie hat die nicht mehr
nötig? Ihr kleiner Mut und
Anarchismus überzeugt mich
nicht. Ich kann einen wirklichen
Feind erschlagen, wenn
das sein müsste, ohne Skrupel
– aber eine banale Regel einhalten. Ich habe
einen Führerschein dabei, wenn ich Auto
fahre, ein Ticket im Bus, erneuere meinen
Pass, zahle Steuern.
Ich blockiere anders: Ich gehe nicht zur
Wahl, aus Verachtung einer mir mal nahestehenden
Person in der Politik, meine
Entscheidung. Ich enthalte mich. Das ist in
unserer
Demokratie
Teil des
Wahlrechts.
Rechte und
Pflichten
sind die
Freiheit
innerhalb
von Grenzen
und als
Ergebnis
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 85 [Seite 84 bis 94 ]
langjähriger Erfahrung der Menschheit, die
sich erinnern kann, zu begreifen. Corona ist
ein kollektives Problem, aber nur ein überschaubares
Risiko für den Einzelnen. Die
Pandemie bedroht die Systeme insgesamt
in einem nie gekannten Ausmaß. Aber den
einzelnen Menschen nur dann, wenn er
davon direkt betroffen ist und sich ansteckt.
Bei derzeit achttausend Neuinfektionen in
einem Land mit achtzig Millionen, hieße das,
einer von zehntausend wird mir gefährlich
pro Tag. Dazu kommt die Unwahrscheinlichkeit,
sich direkt in dessen Aerosole hineinzubegeben.
Und dann kann es noch einen
milden Verlauf bedeuten, symtomfrei sogar,
wenn man diese Krankheit wie nebenbei
bekommt. Da kann kein Drosten eine sichere
Vorhersage machen. „Wer sich nicht impfen
lässt, wird sich
infizieren“, sagt
dieser Virologe.
Bei einer Impfquote
von gut der
Hälfte der Bevölkerung
dauert es
ein ganzes Jahr, bis
jeder verbleibende
Dussel Corona
gehabt hat, wenn sich (…) pro Tag infizieren.
Ich habe mich das gefragt, denn der Chefmahner
spricht vom heißen Herbst, den wir
bekämen. Ich mag falsch liegen. Zu rechnen
ist nicht meine Stärke. Ich denke für uns so:
Etwa zweiunddreißig Millionen Deutsche,
die Ungeimpften, müssten sich mit circa
einhunderttausend Infizierten an der Zahl
(täglich) anstecken, um nach knapp einem
Jahr deutschlandweit damit durch zu sein.
Als Vergleich mag die Not im Iran, einem
Land, der Zahl nach in vergleichbarer Größe
dienen. Eine Meldung der Tagesschau vom
Anfang des Monats macht deutlich, dass
bereits bei knapp der Hälfte täglicher Infektionen
davon, der Staat und seine Einwohner
an ihre Belastungsgrenze kommen.
# Fast 40.000 Neuinfektionen im Iran. Noch
nie seit Beginn der Pandemie war die Zahl
der Neuinfektionen und der Corona-Toten
im Iran so hoch. Die Delta-Variante bringt
Krankenhäuser an Kapazitätsgrenzen. Die
Impfkampagne kommt nur schleppend
voran. (Tagesschau, 08.08.2021).
Über zwei Millionen Verkehrsunfälle nimmt
die Polizei pro Jahr in Deutschland auf. In
diesem Winter werden wir zwei Jahre mit
der Pandemie gelebt haben. Dann sind
etwa vier Millionen von uns damit als
infiziert in der Statistik geführt. Eine gute
Vergleichszahl, um für sich selbst das Risiko
einzuschätzen. Man
kann sich fragen,
wann der letzte
Unfall mit einem
Fahrzeug irgendwo
mit den eigenen
Augen beobachtet
wurde, ob man
selbst daran beteiligt
war und wie
viele Personen im
Bekanntenkreis mit
Covid infiziert sind
und wie schwer?
Die breite Bevölkerungsmehrheit
in Deutschland ist durch
Corona nicht in Angst und Schrecken zu
versetzen, wohl aber dadurch, dass ihnen soziale
Nachteile entstehen. Sie möchten das
gewohnte Leben
führen, deswegen
gibt es die Bereitschaft,
dem Staat zu
folgen, der das Impfen
anmahnt. Die
lebensbedrohlichen
Umstände auf den
Intensivstationen
beherrschen nun
kein Medienportal
mehr.
Ärzte werden noch immer gezeigt, und es
wird weiter gewarnt. Patienten und Angehörige
klagen aber nicht mehr, wie anfangs in
der Pandemie. Weder aus Indien oder sonst
wo im Ausland, noch bei uns. Betroffene
tauchen selbst in den Nachrichten gar nicht
auf. Eine Drohkullisse der Fachleute steht,
denn der Herbst stünde vor der Tür: „Die
Menschen im Krankenhaus und auf den
Intensivstationen würden jünger und seien
ungeimpft“, mahnt ein Arzt. Aber ein junger
Patient oder Angehörige, Freunde, die uns
glaubwürdig versichern könnten, wie furchtbar
dieser Schock für ihre Familie wäre,
erscheinen gerade nicht vor der Kamera.
Klammer auf: (Das Tal der Aussätzigen.
„Ben Hur“, daran denke ich oder „die
Schwulenseuche“, eine nicht mehr erlaubte
Bezeichnung für die HIV-Erkrankung aus den
Achtzigern. Schon immer fürchteten sich
Menschen vor dem qualvollen Tod, und nicht
weniger davor, mit der Schuld bezichtigt zu
werden, andere mit der Übertragung ihrer
Krankheitserreger zu gefährden.
Covid?
Natürlich haben sich die Bewohner der
Altenheime gern durchgeimpft. Die Alten zu
Hause haben sich geradezu überschlagen,
schimpften ganzseitig in der Bild, auf die
Unfähigen, die alles verkehrt organisiert
hätten, die nicht funktionierende Hotline.
Opa und Oma regten sich über diejenigen
auf, die ihnen mittels digitaler Windhundsoftware
zuvorgekommen waren, wollten als
erste einen Termin im Impfzentrum bekommen.
Inzwischen sind in unserem Land die
allermeisten Senioren vollständig geimpft.
Das hat die Lage merklich entspannt.
Die Senioren werden aber weiter sterben,
wenn nicht an dem neuartigen Virus, dann
eben an anderem. Und die Gesellschaft hat
damit ein Problem, dass überhaupt Alte
in nie dagewesener Zahl versorgt werden
– müssen. Es kommt ab meinem Alter, ich
nähere mich bereits der Sechzig an, das
Bewusstsein auf, selbst von der „Krankheit“
zu altern bedroht zu sein. Ich sehe mit
Schrecken die vielen „Betroffenen“, die mit
einem Rollator unterwegs sind. Nicht wenige
kenne ich, die noch vor einigen Jahren agil
herumspazierten und ihr Rentnerleben
genossen haben. Ich war in den letzten Jahren
oft im Altersheim, im Hospiz, als meine
Eltern erkrankten, gepflegt werden mussten
und schließlich starben. Das kam nicht in
der Tagesschau. Obwohl ich nicht mehr vor
Ort bin und einen Bogen um diese Einrichtungen
mache wie früher, als ich jung war,
wird dort weiter gelitten. Ich weiß das und
erinnere mich jeden Tag mit ganz eigenen
Bildern daran.
Das Sterben der durch
das Rauchen am Lungenkrebs
erkrankten Menschen
wird nicht gefilmt.
Die letzten Tage eines
Aidskranken zeigen die
Nachrichten nicht. Nicht
wenige beschuldigen
Homosexuelle bis heute
dafür, welche zu sein,
weil sie sich selbst vor
gleichgeschlechtlichem
Sex ekeln würden, und weil es ihnen gefällt,
sich über andere zu erheben. Raucher werden,
besonders wenn sie an Krebs erkranken,
angefeindet. Menschen, die aufgrund von
Fettleibigkeit oder übermäßigem Alkoholgenuss
krank werden, schließlich auf einer
Intensivstation sterben, sehen wir kaum
einmal in einem Bericht.) Klammer zu.
Leicht finden sich dagegen authentische
Flutopfer.
Die reden erschüttert über ihr Unglück, und
müssen nicht herbeigeredet werden. Wir
sehen im Fernsehen die Not von Menschen,
die bei der Flutkatastrophe im Ahrtal alles
verloren haben. Da wird ein Zahnarzt in
seiner
zerstörten
Praxis
gezeigt.
Der Behandlungsstuhl
und
sämtliches
Inventar
erinnern
gerade
noch an
medizinisches Gerät, während die Helferin
und der alte Doktor resigniert aufräumen,
so weit das geht. Alles ist mit braunem
Schlamm überzogen. Er hätte vorgehabt,
sagt der Geschockte, die Rente noch zu
verschieben und einige Jahre Arbeit als der
vertraute Arzt seiner Patienten zu leisten,
daraus würde nun nichts.
Eine Frau steht auf einer wie gepflügt wirkenden
Freifläche. Hier habe bis vor ein paar
Tagen ihre Bäckerei gestanden. Das wäre
eines der Häuser gewesen, die komplett
abgerissen werden mussten, berichtet die
frustrierte Chefin einiger Mitarbeiter. Sie
zeigt uns ein Foto und hofft mit finanziellen
Hilfen auf den Neubeginn.
Die Flut kam so plötzlich! Alles verloren:
Ein Mann klopft Dachbalken vom ersten
Stock weg, soweit das aus dem Erdgeschoss
seiner ehemaligen Werkshalle eines kleinen
Handwerksbetriebes Sinn macht. Es geht
darum, herauszufinden, ob dieses Haus
bleiben kann. Unten erkennt man die eingeschlammten
Konturen zerstörter Maschinen.
Menschen entsorgen ehemals wichtiges
Arbeitsgerät in einen Container. Zerstörte
Existenzen ganz normaler Zeitgenossen wie
du und ich.
Auch die abgedeckten Häuser von Großheide,
ein umgestürztes Fahrzeug und eine
Trümmerlandschaft wohin das Auge blickt,
nach dem Tornado vor wenigen Tagen,
machen deutlich, dass es ganz normale
Menschen in furchtbarer Not gibt. Nicht zu
reden von den dramatischen Bildern und
den Berichten von jungen Frauen, Familien,
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 86 [Seite 84 bis 94 ]
die es gerade noch zum Flughafen in Kabul
geschafft haben. Das ist echtes Weh, wenn
eine Betroffene von ihren Todesängsten
spricht. Und unser armseliger Außenminister
stammelt rum im feinsten Zwirn.
Drei Beschreibungen von Angst machender,
aktueller Not einfacher Mitmenschen. Die
gezeigten Afghanen sprechen deutsch wie
wir.
Wo sind Bilder von aufgebrachten Nachbarn,
Familienangehörigen oder Freunden, denen
Nahestehende fehlen, weil sie gerade an
Covid gestorben sind oder schwerkrank auf
einer Intensivstation liegen? Zu diesem
Thema hören wir Politiker, Virologen und
Ärzte, aber es gibt keine Schilderungen
persönlich Betroffener, wie wir das schon
hatten. Solange die echte Not für Leib und
Leben derart ist, wie etwa ein Bericht hier
und da von einer schweren Karambolage auf
der Autobahn, ein beklagenswerter Todesfall
auf der Baustelle – ein Arbeiter geriet unter
eine umfallende Betonplatte – steht die
Argumentation im Vordergrund, Schüler zu
impfen und ob das Druck ausübe. Man fragt,
was Luftfilter in der Klasse nützen könnten
und mehr dieser Art.
Das mag deutlich machen, wie sehr wir ein
systemisches Problem ausleben. Wir sind
nicht krank und flächendeckend in Gefahr,
infiziert dahinzusiechen. Wir haben ein
Problem, uns so zu organisieren, dass wir als
Staat und Gesellschaft insgesamt funktionieren.
Natürlich sind vier Millionen Betroffene
mit einer bislang nicht bekannten
Erkrankung furchtbar viele einzelne Schicksale.
Deswegen kann man aber durchaus
realisieren, dass ohnehin Menschen sterben
oder mit etwas Schlimmen krank sind. Das
bemerken wir solange nicht, bis diese im
Begriff „Corona“ vereint genannt werden.
Gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner
unseres Landes, reicht es nicht aus, alle in
Panik zu versetzen, weil die persönlichen
Berührungspunkte mit diesen Covid-Schicksalen
kaum anders sind, als würden wir in
der Zeitung von einem schlimmen Geschehen
sonst wo lesen. „Drei Menschen starben“,
steht in irgendeinem Zusammenhang in
einer Nachricht.
# Und wir lesen darüber hinweg
Die vier Millionen, die bereits in Deutschland
erkrankten, fallen in dieser primitiv
gerundeten Statistik nicht auf. Das ist die
Zahl Einwohner, um die ich unser Land
auf achtzig Millionen verkleinerte. Sicher
sind so viele Kranke bemitleidenswerte
Schicksale. Menschen sterben, und das ist
schlimm. Schlimmer wäre, niemand würde
sterben. Wie voll wäre Planet A dann? Greta
Thunberg hätte vielfache Not der Sorte
Umweltprobleme, die sie nicht müde wird,
uns zu erklären. Natürlich wird man sich mit
dem Gedanken beschäftigen müssen, der
jeweils Betroffene zu sein. Das muss jeder
selbst für sich entscheiden, das Haus noch
zu verlassen, weil ja vielfach Gefahr droht
von irgendeiner Bedrohung und derjenige
welcher zu sein, diese abzubekommen. Damit
dieser Herbst die angedrohte Not einer
furchtbaren Infektionszeit bekäme, in der
sich sämtlich die nicht Geimpften infizierten,
müssten die täglichen Neuinfektionen ein
Vielfaches der oben genannten Zahl von
einhunderttausend am Tag erreichen. Das
wird nicht passieren.
Es kann nur bedeuten, dass Corona noch
jahrelang bleiben wird, möglicherweise für
immer. Eine kalte Ewigkeit lang. Ein heißer
Herbst wird es in jedem Fall im Krankenhaus.
Gefahr besteht sehr wohl. Es droht
ein Lockdown, weil die Intensivstationen
kollabieren, Ärger für die Verantwortlichen.
Den schwarzen Peter wird man der
Regierung zuschieben, die Politiker hätten
nicht dazugelernt. Die Virologen sind fein
raus, wenn sie jetzt bereits mahnen, dass wir
uns impfen lassen müssten. Und schließlich
wird, mehr noch als neuerdings, der Zorn
über Menschen wie mich hereinbrechen, die
(verstockte) Impfverweigerer sind. Deswegen
ist der Versuch, die Pflicht zur Impfung
politisch zu erzwingen nachvollziehbar. Das
ist aber solange äußerst problematisch, wie
die reale Gefahr für den Einzelnen unscharf
bleibt. Der Marktplatz in Burg auf Fehmarn
sieht aus, wie immer, wenn wir hier Urlaub
gewesen sind. Das ist ein friedliches Treiben
bunter Massen.
Wir haben Pflegenotstand,
und das nicht
erst, seitdem wir in der
Pandemie leben. Niemals
kann es gelingen, dass
eine ganze Nation
geschlossen solidarisch
an einem Strang ziehen
wird. Ein nicht unerheblicher
Teil bockt. Ich selbst
blockiere gern, aus Wut
über diese Frau in der
sozialen Partei, die mich
verarschte. Kein rational
überzeugender Grund, natürlich, und auch
kein guter. Ich setze mich dem persönlichen
Risiko aus, aber mit mir werden gut zwanzig
Prozent der Bevölkerung (wir Idioten) stumpf
dagegen halten, wenn der Staat mahnt.
Wenn mich, weil es der blöde Zufall will, ein
fremdes Auto abrammt, kann ich sterben.
Wenn ich der eine bin, der sich (von den
Zehntausend, denen ich kaum am Tag begegne)
heute auf Fehmarn infiziert, kann ich
sterben. Wenn ich von einem Alien entführt
werde, weiß ich nicht, was das bedeutet. Das
sind so Wahrscheinlichkeiten.
Fehmarn ist wahrscheinlich so normal wie
alles andere auch. Das gefährliche Leben
kann hier ganz real nachempfunden werden.
Die Aliens sind selten, aber es kracht schon
mal. Ich habe so Unwahrscheinliches nicht
auf der Insel erlebt. In Burg auf Fehmarn
ist es reizvoll für mich, in der Hauptstraße
zu hocken und etwa das Rathaus zu
zeichnen. Nicht isoliert, was auch schön
wäre, weil es hübsch dasteht und architektonisch
interessant ist. Ich möchte das
Treiben der Touristen vor den Geschäften
und die geparkten Fahrzeuge mit in meiner
Skizze haben. In der Nähe von Edeka,
Café Junge und dem griechischen Restaurant
hocke ich auf einer kleinen Treppe,
die mit drei Stufen den Eingang zu einem
privaten Haus darstellt. Ein Zierbaum mit
überschaubarer Krone von nur knapp drei
Metern Höhe und schmalen Stamm steht
zu meinen Füßen. Er gibt ein wenig Schutz,
falls der leichte Niesel wieder einsetzt.
Das ist nur eines der Probleme, wenn man
draußen skizziert.
Zweimal, während ich zeichne, kommt
die Post. Einmal ist es ein Paketbote. Er
klingelt, niemand öffnet, und vermutlich
hat er irgendwo eine Benachrichtigung
hinterlassen. Der normale Postbote kommt
einige Zeit später. Er stellt einfach zu
und wir reden nicht. Ich zeichne, und der
junge Mann nimmt mich kaum wahr. Seine
Professionalität gleicht dem Kollegen von
Hermes oder was es vorhin war. Ich habe
nicht darauf geachtet. Ich konzentriere mich
auf die Autos, Menschen und das Rathaus,
ob ich abbrechen muss wegen Feuchtigkeit.
Für einige Minuten pausiere ich tatsächlich
zu zeichnen, weil ich nicht möchte, dass
das Buch mit den Skizzen (von jetzt drei
Jahren auf Fehmarn im Sommer) durchfeuchtet.
Dann mache ich weiter, und nach
einiger Zeit, so etwa einer knappen Stunde
herumhocken, bin ich fertig. Während dieser
Episoe in meinem Leben, sind massenhaft
Menschen vorbei gegangen. Wenig davon
habe ich in die kleine Skizze mit hineingenommen.
Es kam tatsächlich zu einem Verkehrsunfall.
Das habe ich nicht richtig sehen können,
aber hören. Es war aus meiner Perspektive
links von mir, von
Fahrzeugen verdeckt,
zu einem
leichten Crash
beim Parken auf
der steilen Schräge
gekommen.
„Oh Gott!“ oder
dergleichen hatte
eine Frau gerufen,
als ein Geräusch
zu hören war, das
an das Zerknüllen
von Pappkartons
erinnerte, nur etwas kraftvoller, lauter. Ich
beobachtete einen VW-Transporter, der
schon älterer Bauart, mich an das Fischauto
erinnerte, wie meine Eltern es für ihr Geschäft
nutzten. Von meiner Position aus war
nur der obere Teil des Fahrzeugs erkennbar.
Ich sah eine kastenförmige Plane hinten
und den Teil vorn, wo man sitzt und lenkt.
Das ragte über die Buckel davor geparkter
Pkw. Ich glaube, es war ein roter Transporter.
Dieser Bulli sackte nun, nach dem Blechschaden,
einige Zentimeter rückwärts den
Hang runter, um dann unvermittelt erneut
vorzuhupfen! Da krachte es wieder, als das
Ding sich an der selben Stelle in einen
anderen verbissen hatte. „Oh Gott. Noch
mal!“, rief die Passantin. Die Leute standen
inzwischen in einer kleinen Gruppe und
gestikulierten. Es war aber außerhalb der
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 87 [Seite 84 bis 94 ]
Gegend, die Teil meiner Skizze sein konnte.
Deswegen habe ich alles wie eine Störung
meiner Konzentration empfunden. Das hat
mich kaum interessiert. Später kam die
Polizei. Ich sah nie etwas, aber ein Beamter
schien zu fragen: „Wie geht es Ihnen jetzt?“
Einmal angenommen, zeitgleich hätte es
einen Zwischenfall vor dem italienischen
Restaurant gegeben. „Aaahrg!“, hätte ein
Passant geschrien und wäre wie getroffen
zu Boden gesackt. Mit letzter Kraft, wie von
einem Projektil abgeschossen, hätte der
Arme ausgestoßen: „Jetzt habe ich mich
mit Corona infiziert.“ Eine Frau könnte
gestöhnt haben, während sie die Hände vor
das Gesicht schlug: „Oh Gott! Wieder einer,
nochmal.“ Das hätte ich kaum mitbekommen.
Unwahrscheinlich, dass zur gleichen Zeit,
während ich zeichnete, beides geschah – jemand
crasht seinen Bulli, und ein Fehmaraner
infiziert sich mit Covid – ist es nicht.
Viele werden weder den Verkehrsunfall,
noch die arme Sau, die sich ansteckte bemerkt
haben. Unspektakulär und unsichtbar
ist dieses Virus. Selten macht es schwer
krank, aber einige sterben, und manche
leiden noch lange. Das kann nicht ernsthaft
bestritten werden. Da ist kein Grund, an eine
Verschwörung zu glauben. Wir bemerken
einiges nicht, und doch geschieht es. Auch
dass ich zeichnete, wurde von niemandem
registriert, und diesen Text, versteckt im
weltweiten Netz, liest gar niemand auf der
Welt.
# Das ist meine Realität, und ich lebe ganz
gut damit
Ich lasse mich nicht impfen, aus purem Trotz
gegen diese Gesellschaft, die mir herzlich
zuwider ist – aber wenn ein Test zu bezahlen
ist, habe ich damit kein Problem oder lasse
es eben, die entsprechende Veranstaltung
zu besuchen.
Ich kann die
Abläufe, die
unser System
modern verändern,
prima
nachvollziehen.
Ich ändere
mich nun auch.
Meine Anpassung
an die
unaufhaltsame
Sozialisierung
ist kreativ und
individuell. Ich
verschwöre
mich nicht,
schon gar nicht kollektiv. Ich bleibe für
mich zu Hause. Friseur? Ich kann mein Haar
lang wachsen lassen. Restaurant? Ich koche
selbst sehr gern. Geselligkeit? Ich kann mich
gut allein beschäftigen.
Weiter mit Edeka. Dieses vertrocknete
Schrapnell mit Rentnerschnauze ist
anders: Ohne Not, mir in diesem Kabuff
auf die Pelle rücken zu müssen, das
durchaus noch einige Plätze bietet,
steuert sie bis auf Zentimeter (ohne
mich überhaupt anzusehen) gegen
mich an, dabei ununterbrochen mit
einer anderen Trutsche im Fahrwasser
quasselnd. Sie watschelt, wie es
gewöhnlich für ihresgleichen ist, wölbt
unnötigerweise ihren Busen gegen meine
Brust, tritt mir beinahe auf die Füße,
obschon auf der anderen Seite genügend
Platz für drei ihrer Sorte wäre. Die dumme
alte Tante, die doch zu jung ist, den Krieg
noch erlebt zu haben, knallt eine Tasche
auf die Ablage neben mir. Das ist der Grund,
warum sie gerade hier in die hinterste Ecke
stapft? Jetzt verstehe ich ihre Zielstrebigkeit,
gerade mich anzurempeln. Wie konnte ich
missverstehen, es ist die bessere Seite vom
Raum. Klug sein kann sie! Ich denke nun
selbst rüberzugehen, mir ist es gleich; doch
sie verstopft den
Fluchtweg, blubbert
Bildzeitungsweißheiten.
Ich spüre (angewidert)
den Atem im
Gesicht.
Ihre Brille ist vom
Sprühnebel beschlagen.
Unentwegt
erklärt sie der
kompakten Freundin
im selben Alter
längsseits, wie irgendwas sich gehöre. Sie
hat mich übersehen wie die abgestellten
Bierflaschen, die auch noch stapelweise stinken.
Draußen regnet es jetzt Blasen, Regen
ist nun immer Unwetter.
Es muss sein. Ich stoße die Blöde beinahe
grob weg, bahne mir den Weg mit meinem
Beutel und den Bratwürsten; ich muss hier
raus! Blasen in den Pfützen, so klatscht es
runter.
Es schüttet?
Regen ist kein Wort dafür, was ich gern
eintausche gegen die.
Natürlich habe ich auch damals, als ich mit
der Schule fertig wurde, selbst Verantwortung
übernommen. Illustration studieren,
eine Jolle kaufen und Regatten segeln, das
wollte ich und habe es gemacht. Ich
begann mit dem Rauchen, gab es nach
Jahren wieder auf. Ich suchte Partner,
fand Auftraggeber und illustrierte jahrelang
Zeitschriften, Bücher, zahlreiche
Guides, nicht nur für Radfahrer. Ich
heiratete, und dazu gehören zwei; aber
das ist eine Entscheidung, ja zu sagen.
Jeder trifft Entscheidungen. Heute
aber würde ich sagen, sind Emotionen
und Ratio bei mir viel näher beieinander.
Äußeres beeinflusst das, aber ohne
mich fremdzusteuern.
Was ich meine ist, dass es in meinem Leben
zu lange dauerte, als Erwachsener bewusst
zu handeln. Ich stolperte nicht in meine Ehe,
ich rauchte nicht, ohne das damals doch
wirklich zu mögen, und ich habe mit viel
Interesse studiert und illustriert. Ich möchte
aber etwas anderes sagen. Schwierig ist es,
sich genau auszudrücken. Selbstbewusstsein,
so wie ich es inzwischen verstehe, bedeutet
gesundes Verhalten. Damit beginnt die
Überlegung, dem Wort „gesund“ noch eine
Definition voranzustellen. Die bekannten
Ernährungstipps oder Hinweise, Sport zu
treiben, möchte ich gerade nicht aufzählen.
Ich meine beinahe das Gegenteil der guten
Ratschläge zur Gesundheit, schreibe über
Gefühle und möchte doch nicht die Psyche
vom Rumpf abtrennen. Das ist nicht typisch,
so zu argumentieren.
Viele verhalten sich gewöhnlich, normal.
Sie arbeiten, leben in Beziehungen, sind
erkennbar wenig selbstbewusst, laufen nur
mit. Die Gesellschaft nutzt sie, und diese
Menschen existieren, weil die Zivilisation,
die modernen Techniken und soziale Sicherungssysteme
den Rahmen dafür schaffen.
Integrierte ohne Profil nutzen die Umgebung
auch, durchaus, aber wenig individualisiert
sind sie anfällig für eine unbewusste
Sehnsucht, es würde
ihnen etwas fehlen.
Die Perspektive wäre,
sich noch loszulösen,
etwas aus dem Leben
zu machen, was ganz
Persönliches. Das
kann schiefgehen.
Auch die andere, bereits
eingeschlagene
Richtung beinhaltet
die Gefahr, existentiell
zu scheitern, ohne
sich je zu Besonderem
aufzuraffen. Das kann genauso heißen,
gesundheitlich zu kollabieren, weil gerade
das Mitlaufen bedeuten kann, ungesund
abzubiegen. Käme es schlimmer, würden
diese Menschen als Bausteine unserer Gemeinschaft
nun eher zum Ballast. Nur Ärzte,
Arbeitsvermittler und soziale Einrichtungen,
mit Reintegration beauftragte Helfer könnten
einen Rest von gesellschaftlichem Nutzen
aus ihnen ziehen. Es würde noch Geld
an ihnen verdient, weil sie hilfsbedürftig
existieren, und das, inklusive der Perspektive
von Besserung, gibt den Individuen einen
Sinn und der Gesellschaft ein Motiv für die
bekannten Strukturen.
Das muss nicht abwertend sein, eine defekte
Uhr ist noch eine. Wer nichts leistet, kann
lernen, sich zunächst als Mensch ohne sonst
was zu akzeptieren. Die anderen bewerten
uns danach, worin wir ihnen nützlich sind,
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 88 [Seite 84 bis 94 ]
ihnen etwas geben können, sie erheitern.
Es wird erwartet, wir möchten etwas bieten,
verkaufen, helfen? Es ist möglich, dass
Fremde aus manch andrem Grund gerne
in unserer Gesellschaft bleiben, aber was
bedeutet das uns? Was haben wir individuell
der Welt draußen anzubieten, womit auch
wir zufrieden sind?
# People who need people, are the luckiest
people
Barbra Streisand hat das gesungen. Unser
Fortschritt bedeutet, keiner möge aus dem
fahrenden Boot stürzen, und verglichen mit
früheren Zeiten, ist es besser geworden.
Deswegen erlischt aber nicht das Bedürfnis
einzelner, mehr
aus dem eigenen
Leben zu machen
als normal oder
(sogar) nur unter
Zuhilfenahme
von Beratern
und Therapeuten
mitzulaufen. Das
gelingt nicht
allen Begabten,
und manche
erreichen mit
Findigkeit und hartnäckigem Lernen, Fleiß
schließlich besser, was Talentierte könnten.
Da sind nicht wenige, die ihnen das von
der Natur wie geschenkt überantwortete
Kapital dem Lob nachlaufend verpulvern.
Zu scheitern droht denen, die blindlings
Großes wollen. Ich habe das selbst erfahren
und möchte mich nicht exponieren, besser
zu sein. Nur ein selbstbewusster Mensch
ist in der Lage, im chaotischen Drumherum
die Ordnung für seine gesunde Existenz zu
erkennen. Das war schon so, als wir in der
grauen Vorzeit der Wildnis für uns sorgen
mussten. Die Gesundheit, eine gewöhnliche
Krankheit zu überstehen, ist nicht gemeint,
wenn von Selbstbewusstsein die Rede
ist, sondern die gesunde Fähigkeit, sich
zurechtzufinden. Eine solide Haltung den
unausweichlichen Problemen gegenüber zu
haben, ist weniger normal als es sein könnte.
Wir nehmen einige mit, die besser für sich
sorgen könnten – und so war mein Leben.
Ich habe schon oft Hilfe angenommen und
bin dankbar für vieles.
Ich habe spät gelernt, andererseits Unterstützung
dennoch abzulehnen, weil ich
erkennen musste, dass man mich für den eigenen
Lustgewinn vereinnahmen will – und
kann heute Menschen
ganz entschieden zurückweisen.
Je nachdem.
# Fehmarn
Es war vor fünf Jahren.
Ich verbrachte den
Sommer auf der Insel,
und wir wussten, meine
Mutter würde in wenigen
Monaten sterben. Dann,
vor vier Jahren machten wir Urlaub hier im
August. Und das war direkt anschließend
der furchtbaren Monate bis zum Tod (der
Streit um das Erbe begann, noch bevor wir
uns zum Leichenschmaus setzten), nachdem
mein Vater beerdigt wurde. Ja, wir waren
schon vor den schwierigen Jahren hier.
Anfangs genossen wir den „Urlaub auf dem
Bauernhof“ in Gammendorf.
Wir wurden vertraut mit der Insel, einigen
Dörfern, Landkirchen, Nord- und Südstrand,
schließlich Burgstaaken mit dem Hafen im
Süden, dem Adventure-Golf drinnen in der
Halle hinter der Werft, draußen in Meeschendorf
und natürlich Burg, dem bunten
Städtchen, das Zentrum, das doch nicht in
der Mitte ist. Puttgarden, die Fähre nach
Dänemark war anfangs das Einzige, was wir
mitbekamen, als diese schöne Insel von uns
achtlos überfahren wurde. Das ist heute
anders. Ich kenne einige Leute ein wenig.
Ich fahre mit dem geliehenen Rad, kaufe
die Brötchen beim Bäcker, lese montags
das Fehmarnsche Tageblatt, weil an diesem
Wochentag die „Lübecker“ pausiert. Die
Bildzeitung täglich. Kabul ist gefallen, welche
Zeitung könnte drastischer sagen, was
unsere Regierung vertorfte?
Schmerzen und Tod.
Weiter mit Fehmarn, ich bin einen ganzen
Sommer lang gehumpelt, weil mein Knöchel
schmerzte. Ich ging damit nicht zum Arzt.
Nach gut einem Jahr geduldigem Zuwartens,
hat es doch aufgehört wehzutun. In einem
folgenden Sommer machte ich Urlaub hier,
mit der besten Ehefrau von allen und wusste,
dass rechts mein Meniskus großflächig
degeneriert ist. Anfangs hatte es kurz sehr
weh getan. Dann wurde es von selbst ganz
allmählich besser. Das war vor zwei Jahren.
Ich war vorsichtig. Ich habe nichts unternommen,
obwohl mir zur Operation geraten
wird. Es tut nicht mehr weh. Bestimmte
Dinge lasse ich, laufe nicht mehr Schlittschuh
und jogge nie. Fahrradfahren ist
gelegentlich unklug. Beim Segeln trage ich
eine Bandage.
Das Alter verändert einiges. Seit einem Jahr
sind das Trinken von Alkohol und reichliche
Mahlzeiten, besonders
abends vor dem
Schlafengehen, unangenehm.
Das ist auch ein
Fehmarnproblem; im
Urlaub möchte ich gern
ins Restaurant. Der Arzt,
zu dem ich im Frühjahr
ging (weil meiner Rentner
ist), überwies mich zur Spiegelung und
deutete die Möglichkeit an, es könne (sogar)
Magenkrebs sein.
„Er wolle das abklären“, meinte der
Fachmann, und benötige dazu ein
Blutbild die kommende Woche. Ich
sagte den Termin ab und ließ auch
die Magenspiegelung nicht machen.
Die Überweisung für das Quartal ist
verfallen. Sodbrennen und Völlegefühl
haben sich langsam, aber kontinuierlich
gebessert. Vermutlich, weil es
mir schwer fällt, mein Essverhalten zu
ändern. Ich habe sehr lange wenig oder
keinen Alkohol getrunken, und das finde
ich schwierig.
Jetzt sind wir auf der Insel. Wir stehen
wieder bei Barnacle in der Schlange und
essen fett Eis. Ich trank schon Jever und aß
Rumpsteak in der Stadt. Ich habe mich gern
nach „der Pilotin“ erkundigt. Alles wie immer.
Nicole ginge es gut, das Kind beschäftige
sie, meinte der sympathische Ober mit
Hosenträgern, der immer dort ist. Ich habe
üppig Schlagsahnestreusel bei Pilar am
U-Boot vertilgt. Ich trinke Kaffee wie sonst.
Genauso fein, Georgia hat mir einen Grappa
angeboten, den ich gern getrunken habe.
Der erste Schnaps seit Oktober, und ich
habe gut geschlafen. Wir essen und trinken
abends am Hafen. Ich hatte anderntags mittags
zwei Becks in der „Haifischbar“, während
ich (heimlich wie immer, ohne zu fragen) die
Leute zeichnete.
Die Sonne schien, und die „Jeanny“ wurde
erwartet.
Und abends hat das Kornmehl die Gäste im
„Zum goldenen Anker“ gülden eingestaubt,
dass es eine Freude war, lieber in Billies
Bistro hinüber zu radeln und sich über die
unkundigen Touristen zu amüsieren. Ein
Kümo kriegt das Korn. Magischer Glitter
staubt rund um die zaubrische, blaue Jeanny?
Hustensymtome muss ich ja nicht haben.
Es geht uns gut, und ich gehe doch nicht
zum Arzt.
# Der Sohn von Tom Hanks sei wegen
Corona ausgerastet, und der nehme ja auch
Drogen lese ich im Netz. Einen Shitstorm
habe er bekommen. „Wenn es nicht kaputt
ist, dann repariere es auch nicht!“, hätte er
in die Kamera geschrien. (t-online,
11.08.2021).
Das Recht und die Möglichkeit,
eine vermeintlich asoziale
Entscheidung zu treffen, gegen
die der eigenen Person geratene
Gesundheitsempfehlung
zu konsumieren, gibt manchen
Menschen das Gefühl von Freiheit. Trotz der
empörten Haltung vieler, gibt es noch immer
Menschen, die rauchen, Alkohol trinken oder
ein Motorrad ohne Seitenairbag fahren.
Es gibt Bergsteiger, und Rettungseinsätze
kosten unser aller Geld, wenn diese in Not
geraten. Menschen machen keinen Sport,
sind fett, und das kostet! Es gibt Sexismus.
Menschen weigern sich, zu gendern. Zu viele
Idioten (Billie sagt das) lassen sich nicht
gegen das Coronavirus impfen. Die Umweltziele
werden weiter von bösen Konzernen
missachtet. Die Politik versagt. Wir sind noch
nicht klimaneutral u. v. m. stört.
Die Gastronomen klagen, aber finanziell
läuft es ganz gut an der Ostsee. Die Touristen
seien so pervertiert. Sie wollten alles
sofort. „Penetrant fordernd, seien die Gäste
geworden“, das höre ich an verschiedenen
Stellen. Stimmt: Ich erlebe bei Börke dasselbe,
wie zu Hause bei Allwörden. Beim Bäcker
ist man ungeduldig, drängelt – auch zur
Urlaubszeit. Es wird blöde vor dem Laden
sich behindernd ein- und ausgeparkt. Einmal
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 89 [Seite 84 bis 94 ]
hat ein Kunde die alternativ für Rollstuhlfahrer
gebaute Rampe genutzt, mich auf der
Treppe noch zu überholen, war so im Laden
zuerst am Tresen.
Frechheit siegt und formt die neue Welt.
Das ist kurioserweise mein Grund, den Arzt
zu meiden. Das ist kein Fehmarnthema; es
ist grundsätzliche Kritik: Der Konsumkranke
verlangt die Reparatur, geht zum Arzt, wie
wenn er gerade seine Brötchen fordert. Er
„kauft“ sich Gesundheit, und so ist diese
dann auch strukturiert. Mich schreckt das ab.
Auch deswegen scheue ich den Doktor und
die Impfangebote, die mir aktuell gemacht
werden. Ich fürchte den Apparat, unseren
Staat, die unkritische, aber vorwärts drängende
Masse, das Baukastenbezahlsystem.
Ich riskiere meine Gesundheit, hoffe (naiv)
auf das kürzere Ende, missachte die Perspektive,
länger, aber geflickt lebend zu leiden,
abhängig vom begleitenden Arzt. Ich will so
nicht geholfen werden.
Die Schräge vor der Inselbäckerei zeigt, dass
es den Fortschritt im Positiven wirklich gibt.
Im Geschäft drinnen an der Wand hängt eine
alte Fotografie.
Das Bild in
schwarz-weiß
ist vermutlich
aus den Sechzigern.
Ein alter
Kombi parkt
auf der linken
Seite vor dem
„Café Börke“,
und auf dieser Abbildung gibt es zwar die
Treppe wie heute an der selben Stelle, aber
die Rollstuhlrampe noch nicht. Die Gesellschaft
ist vielseitiger, schafft neue Räume
und Rechte für viele, die Benachteiligte sich
jeweils erkämpfen konnten. Dienstleister
und Geschäfte sind heute kunden- und menschenfreundlicher.
Die einzelnen Menschen
für sich genommen, sind aber insgesamt
durchaus nicht freundlicher zueinander
geworden.
# Die Regengeschichte geht noch weiter!
Diese blöden Rentnertanten sitzen beim
Arzt. Senioren verstopfen die Wartezimmer
gern. Es gibt nur wenige, die weise sind, wie
es sich für Alte gehört. Das ist kein Märchen,
das ist auch Fehmarn. Wenn sie mir nicht
auf die Füße treten, mich in den Schüttregen
treiben, nicht gestorben sind, leben sie noch
heute – morgen dement im Heim.
Ich bin raus aus Edeka.
Ich gehe durch das Megapladdern zum
Fahrrad, als wäre das gar nichts. Ich lege die
Einkäufe im Stoffbeutel in den Drahtkorb
über dem Hinterrad auf den Gepäckträger.
Ich bücke mich zum Vorderrad auf den
Fußboden, wo in kleinen Strandkieseln
das Schloss von Frau Grimm mein Rad im
Bügel vor dem Laden hält und schließe
auf.
Das Wasser knallt spürbar auf meinen
gewölbten Rücken, und die Jeansjacke
gibt schon jetzt nach.
Während ich im kleinsten Gang gelassen
treppelnd vom Parkplatz rolle, grinsen die
ersten Schlauen, die an der Ecke unter
einem großen Reklameschirm Zuflucht
gefunden haben. Sie tragen Sportjacken,
klammern sich an ihre Bikes und haben den
(sicheren) Helm mit gelber
Regenplane aufgesetzt. Ich
bin schon jetzt nass wie
nackt, nach nur dreißig
Metern Strecke.
Ich biege auf den gegenläufig
doppelten Einbahnweg
verkehrt herum nach
Süden und nehme den
heute menschenleeren
Bürgersteig für meine
Radtour, ohne jeden Schutz
vor diesem Unwetter.
Sturzbäche, Kaskaden von
Himmelsgewalt klatschen
runter. Der Himmel weint
nicht, er kotzt mich an. Das
ist ein Schwimmbad. Die
Ostsee selbst ist über mir
und nach unten offen.
Wo bin ich, in Hamburg? Ich sehe linksseitig
von mir auf der Fahrbahn eine still stehende
Blechlawine. In Zweierreihe nebeneinander,
ein Stau mit Komplettblockade schaut mich
an. Wie glotzende Goldfische im Aquarium
sitzen die Leute in ihren verglasten Kisten.
Nur das dieses Wasser draußen ist, und ich
bin der Fisch auf dem Fahrrad. Der Stau
ist genauso am Parkplatz der Inselschule.
Dort stehen überall Wohnmobile auf der
breiten Fläche, größer als das gewöhnliche
Fußballfeld. Rundherum führt die Zubringerstraße,
und da steht auch alles. Blech in jede
Richtung verkeilt und klatschendes Wasser
aus der Luft. Ich radele gemächlich durch.
Links rein kurve ich, rechts biege ich durch
die Verkeilten, und dann schräg zwischen
ihnen hindurch auf den schwimmenden
Radweg. Ich sehe in ihren Augen und vom
Zorn verformten Mündern, dass es nicht
weitergeht.
Sie leiden.
Ich kann, ohne zu stoppen, die
Kreuzung nach Süden passieren.
Da ist keine Vorfahrt zu beachten,
gar das Stoppschild zu befolgen
oder die kleine Ampel zu
betätigen. Sie stehen auch hier.
Längs in meine Richtung und
rechtwinklig dazu von Meeschendorf
kommend und raus aus Burg
nach Meeschendorf stehen auch
alle. Kreuzweise in sämtliche
Richtungen ist alles festgefahren.
Ich gleite, schwimme, grinsend
inzwischen, flott zwischen ihnen
durch. Glupschige Karpfen, im Glas
gefangen, schauen unverständlich
blöde, offenmäulig zurück.
Ihre Wischer wischen.
Ich bin nun durch und durch klatschnass.
Die Haare kleben auf der Stirn, Wasser rinnt
in meine Augen und wieder raus. Ich weine
nicht. Ich lache wie irre vor Vergnügen. Auf
der Mathildenstraße sehe ich sie rechts von
mir. Autos, Autos und noch mehr Autos. Die
stehen zu Blocks, seitdem sie den Südstrand
panisch verlassen haben? Das ist keine
Blechlawine, es ist eine Schlange, eine
Blechperlenkette ist festgeteert. Ich federe
leicht vorbei, als wärs die schönste Sonne
und die Fische blubbern in ihren randvoll
abgefüllten Aquarien mich unverständig an.
Wer hat denn den Schaden?
Es ist nur nass.
Ich nehme die Parade ab.
Inzwischen kann ich mich
nicht mehr halten vor Lachen.
Ich stürze vor Freude
beinahe vom Rad, während
ich die innendrin doppelt
gefangenen Autofahrer demonstrativ
angrinse. Meine
Frechheit wird nun immer
öfter belohnt! Es sind
eher die Einheimischen,
vielleicht mit einem Handwerkerfahrzeug
unterwegs,
die auch gern lachen, mit
Daumen hoch salutieren.
Sie stehen trocken, ich
fahre nass, aber es sieht
nicht so aus.
Ich quere den Stiftsweg, passiere dann
ungebremst den Kappellenweg, und es
staut. Quertreiber, ein roter Opel probiert es
gerade von links durchzukommen, können
mich nicht stoppen, nicht einbiegen, weil die
Längsverbohrten eisern blockieren. Das geht
bis dort, wo sich Mathilden- und Strandstraße
vereinen. Als die Schotterspur vor
dem Grünen
Weg beginnt,
kann ich leicht
hinüberkreuzen.
Hier ist
Stauende.
Es ist nicht
alles schlecht. Gesundheit ist die Freiheit,
wählen zu können. Ich schweife noch mehr
ab, um den Bogen zum Trafalgar Square
eleganter hinzubekommen. Tatsächlich, ich
sehe ein, es könnte zu weit führen (ich bin
quasi mit einer Großbäckerei großgeworden),
das hier ausführlich zu erzählen. Es
würde probiert,
Wasser zu Brot
zu machen, hörte
ich einmal. Aber
eine Entwicklung
überschneidet
sich mit der Urlaubsreise
nach
Fehmarn.
# Backen heute
Bei mir zu Hause
in Schenefeld
sind Geschäfte
vor Ort, die
frische Brötchen,
Brot und Kuchen
(auch Sonntags)
anbieten. Es gibt
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 90 [Seite 84 bis 94 ]
Zeitungen. Die wie
alltäglich gekauften
Brötchen haben wir
als Vesperpaket mit
zur Fahrt auf die
schöne Ostseeinsel
ins Auto genommen.
Das Sortiment der
vormals regionalen
Bäckerei ist neu, wurde nach dem Verkauf
der Geschäfte auf deutschlandweiten Industriestandard
umgestellt. Während Lunchpakete
vom „Mildenberger“ in Backnang, wo
wir auch hinreisen (das ist bei Stuttgart),
eine Bahnfahrt lang frisch bleiben, altbackene
Brötchen von „Börke“ auf Fehmarn prima
sind – hier breche ich ab.
Ganz gewöhnliche Brötchen möchte ich
essen.
Auf der Megaraststätte „Ostseeblick“, die gerade
vom Verkehrsminister Andreas Scheuer
als bester „Rastplatz der Zukunft“ eingeweiht
wurde, kamen wir nach kurzen
zwei Stunden an. Wir probierten die
mitgenommenen Baguette, Dreikornkrustis
und Dinkelknacker mit Käse
und Wurst belegt zu essen. Das waren
ungenießbare Schwämme. Wir haben
alles weggeworfen. Die hatten nicht
ansatzweise vertrauten Brötchengeschmack.
Die Dinger schmeckten nach
gar nichts. Zäh zu beißende Gummifasern
mit Käse. Ich begriff: Lebensmittelersatzprodukte
erzeugen warm
aus dem Ofen kommend den Eindruck
wohlduftender Brötchen. Ein „Dreikornkrusti“
kostet fünfundneunzig Cent!
Billie hat recht: Ich gehöre zu den
Idioten. Aber nicht wegen der Impfverweigerung.
Weil ich noch Morgen für Morgen
dieses Zeug fresse.
# Feldenkrais
Seit den Neunzigern
beschäftigt mich ein auf
den Körper und die Motive
unseres Verhalten bezogenes
Training, das ich aus
Büchern, in Gruppen- und
Einzelstunden entsprechender
Angebote kennengelernt
habe. Es ist sinnvoll,
diese intelligenten Ideen
publik zu machen, kreativ
weiterzudenken. Ich möchte
Gelerntes individuell
kommunizieren: Künstler,
anderweitig Aktive wie wir,
die auf eine mehrjährige
Ausbildung in der Methode,
sie qualifiziert zu lehren verzichtet haben,
interpretieren diese Erfahrungen aus ihrem
eigenen Blickwinkel. Geschult im Weitergeben
durch Berührung und mit gesprochenen
Anweisungen, sich koordiniert in entsprechenden
Lektionen zu bewegen, helfen weltweit
vernetzt Lehrer, die ungewöhnlichen
Anleitungen zu verstehen und einen eigenen
Weg zu gehen. Eine gute Sache.
„Lebe lieber ungewöhnlich“, heißt eine
bekannte Filmkomödie, die ich tatsächlich
nie gesehen habe. Die Story hat vermutlich
nichts mit dem hier zu tun, aber das ist dabei
herausgekommen; mein Leben ist nicht
gewöhnlich. Der Titel gefällt mir! Auf dem
Boden liegen und sich einfach bewegen,
hilft. Ein gewöhnliches Leben ist geschenkt.
Zu scheitern, ohne zu begreifen wieso,
wird zu einer lohnenden Aufgabe, wenn
Erkenntnisgewinn die Bedingungen
verbessert.
Krankheiten mögen unser Leben bestimmen;
bei mir und über mich herrschte
die Angst? Das wusste ich nicht. Eigentlich
ist das keine Krankheit. Erst der Arzt,
den die Überforderten hinzuziehen, verewigt
die Probleme und macht sie zu seiner
Berufung. Ein Patient ist kein selbstständiger
Mensch mehr. Und eine Diagnose ist
eine Schublade. Von Angst wird nicht gern
geredet, und ich habe gelernt, dass auch der
Fachmann die Dinge nicht versteht. Viele
Namen ein und derselben Sache machen
es nicht einfach. Medikamente möchten
die Qual vermeiden machen (und die böse
Schwester Aggression). Der Arzt fürchtet
die Angst des Patienten und der Arme wird
nun doppelt gebunden. Das hat man mit mir
gemacht.
Alptraum. Ein böser Geist ergriff von mir
Besitz. Die finsterste Macht verzauberte
mich auf die Abmessungen von Gulliver,
aber nicht in das Kapitel mit den Liliputanern.
Der Kleine sollte ich sein? Überriesen
hatten gegen die Liebe gewonnen. Eine Fata
Morgana der glücklichen Zukunft hatte sich
als solche entpuppt. Dem war nichts entgegenzuhalten:
Ich wurde in eine Kommode
gedrückt, hinterste Schublade unten. Mein
Leben schien zu Ende. Es wurde dunkel, als
der Mann mit dem weißen Kittel kam, und
die Lade mit mir darin zugeschoben wurde.
Dann knallte (frech) noch kurz ein Buch
hinein, und das war es. „Das starke Selbst“,
Moshe Feldenkrais.
Schwierig, im Dunkel einer Kiste zu lesen, in
der du gefangen bist. Das schwache Selbst:
Sich zu fürchten, ist gelegentlich normal.
Das war bei uns nicht gern gesehen. Tempo
und Fröhlichkeit mussten sein. Das „reiß
dich zusammen“ prägte die Zeit nach dem
Krieg, wo es aufwärts ging und alle sich zu
verkaufen lernten. Wir begriffen nicht wie
man es macht, nur was zu tun sei. Heute ist
es nicht besser. Zwischen modern geschiedenen
Eltern, Geschwistern und manchen
Matzen, ziehen wir fröhlich mutige Fratzen.
Autodidakten wissen oft nicht, „wie“ sie
etwas tun. Manche üben lange, bis sie bemerken,
sich nur zu wiederholen, ohne dass
eine Sache voran geht.
Das Training, das ich meine? Wir nennen die
Übungen lieber Lektionen, um zu betonen,
dass nicht die Geläufigkeit an sich das Ziel
ist, sondern die Erweiterung von eingeschlagenen
Wegen. Die Beobachtung „wie“ etwas
geht, möge wichtiger genommen werden, als
was es sei.
Das ist nicht Gymnastik à la Qi. Frauen
auf einer Lichtung im Wald! (Ein Mann ist
immer dabei). Sie schauen angestrengt auf
die (konzentrierte) Leiterin, während sie
mühsam ein Bein heben, lauschen krampfgewohnt,
alles ganz richtig wie gesagt zu
machen und möchten doch loslassen? Es
geht anders. Wir folgen keinesfalls dem
Tempo eines Chingdong nach dem Motto:
„Einatmen jetzt eins, zwei, u-und drei!“
Man benötigt den Guru nicht und keine
Räucherstäbchen, kann es zu Hause allein
auf dem Fußboden anwenden oder im Alltag
draußen unterwegs. Das soziale Miteinander
Gleichgesinnter ist dabei nicht vonnöten.
Mich würde es inzwischen auch definitiv
stören.
# Orthopäden kennen keinen Kopf
Mitbewerber zocken ab. Was braucht es das
Hirn, wenn der Körper zickt: „Mein Rückenbuch“,
Medizinprofessor Grönemeyer. Der
Rest vom Doktor tut ihm nicht weh, und
wenn es doch passiert, wir lassen morgens
den Arsch einfach im Bett! Sprüche wie:
„Ein starker Rücken kennt keine Schmerzen“
(Kieser Training) oder plakative Videos,
versehen mit einem roten Pfeil in Richtung
eines bestimmten Muskels der Protagonistin
in Sportkleidung: „Hier musst du dehnen!“
(Liebscher und Bracht), erscheinen billig,
wenn man gelernt hat Unterschiede wahrzunehmen.
Lieber drüber gähnen, als dehnen …
Der Initiator der nach ihm benannten Methode,
die ich erlernte, selbst anzuwenden,
Moshe Feldenkrais, vertrat die Auffassung,
Erziehung und Selbsterziehung wären der
Schlüssel dazu, wie sich ein Mensch entwickelt.
Das Verhalten als dynamische Spur
durch die Zeit zu betrachten, machte der
(eigentlich: Physiker) Trainer seiner Methode
zum Ansatz, Schüler und sich selbst Beweglichkeit
zu lehren. Körperliche Blockaden
aufzulösen, war ihm vor allem ein Mittel,
die Möglichkeit zu schaffen, beweglicher zu
denken.
Es geht
bei diesem
Training
nicht ums
Turnen
in einer
Gruppe,
dabei
verklärten
Ideen
anzuhängen
oder artistisches Ballett für jedermann
zu ermöglichen. Wir folgen nicht der Lehre,
richtig zu atmen. Wem es typisch ist, in den
Bauch zu atmen, kann begreifen, alternativ
den Brustkorb zu weiten, und die daran
gewöhnt sind, ihren Unterleib flach zu halten,
lernen Zwerchfellatmung. Die mit dem
geraden Rücken verstehen sich zu biegen,
andere, sich besser aufzurichten. Es geht uns
nicht darum, hübsch zu gehen. Wir glauben
daran, dass Flexibilität sich gut anfühlt. Die
Erfahrung, leichter voranzukommen und
durch Schmerzen geleitet, bald den Weg in
weniger davon zu gehen, überzeugt diejenigen,
die es gewohnt sind, sich anzustrengen,
weil es uns immer gesagt wird. Wir möchten
nicht andere Gedanken, streben besser an,
das Gehirn an sich umzuschreiben, wie etwa
die vom Schlag Getroffenen es müssen,
wenn sie wieder gehen lernen. Die Höchst-
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 91 [Seite 84 bis 94 ]
leistung menschlichen Vermögens selbst
nachbiegen und Gliedmaßen über Gebühr
dehnen zu können, ist kaum das Ziel, aber
sich keine Grenze für mögliche Verbesserungen
aufzuerlegen.
Ein „starkes Selbst“, das der Erfinder dieser
Ideen anstrebte, sollte nicht mit der Herde
zu laufen sein. Ich habe davon unendlich
viel gelernt und scheue mich nicht, fremdes
Gedankengut auf meine Weise selbst hinzuschreiben.
Das ist mehr als zitiert: Ich habe
so viel verinnerlicht. Es ist mir in Fleisch und
Blut übergegangen und besser als jede Religion.
Der Autodidakt Feldenkrais: „Ich fasse
an, fasse mit meinen Händen an“, ist nicht
drumherum gekommen, große Gruppen zu
unterrichten (mit auch drolligen Ergebnissen,
die nebenbei unausweichlich sind, wenn
eine ganze Turnhalle voll Menschen auf dem
Boden herum
rollen).
Was für ein
Spaß, das
anzusehen:
YouTube
ist das
Beste,
einen
Eindruck
zu bekommen.
# Religion
Warum hängen Menschen dem Glaube an
oder folgen einer Lehre, die ihnen das Leben
besser, angenehmer machen soll? Meiner
Auffassung nach kann es nicht gelingen,
Krankheit oder gar den Tod selbst außen vor
zu lassen, bei den Überlegungen, bewusster
zu existieren. Es ist allenfalls möglich, die
Gegebenheiten wie sie nun mal sind anzuerkennen
und den bestmöglichen Weg zu
nehmen, der von hier aus zu sehen ist. Gerade
das aber scheint nicht zu sein, was die
in einer Gruppe trabende Mehrheit erwartet.
Die Meisten scheinen dem goldensten Kalb
zu folgen, zum grünsten Gras aufbrechende
Kälber sind sie.
Statt mit dem Leib, der ihnen wie lästig am
Denkapparat baumelt, Frieden zu schließen,
reden viele sich die Gegenwart schön.
Sie rechtfertigen alles und möchten ihren
Schmerz betäuben. Anfällig für jede neue
Idee, sind manche Zeitgenossen bereit, aber
auch jeden Blödsinn zum eigenen zu erklären
und dabei zu sein, nur aus diesem Grund.
Die eine glaubt, wiedergeboren zu werden
oder ein Himmelreich schenke (mal später
dann) den ewigen Frieden. Wie soll das dort
sein, wer will es wissen? Absurd erscheint
doch, den jeweiligen Zustand des Körpers
auszublenden. Der individuelle Rumpf und
seine Glieder sind Teil jeder Erfahrung und
Erinnerung. Als könne mein Selbst unabhängig
davon in eine andere Körperlichkeit
switchen? Eine originelle Idee, genauer
darüber nachzudenken ist: „Beeing John
Malkovich“, ein wunderbarer Film! Ich
erinnere mich auch an eine Kurzgeschichte
von Guareschi. Es gelingt dem Priester Don
Camillo, das Denken eines Dorfbewohners
(quasi ein Schaf seiner Herde), mittels eines
Zettels und dem darauf notierten Wort „Seele“,
zu binden. Der Listige kann den Bauern
in seinem Sinne positiv manipulieren, weg
von den armseligen Kommunisten um den
Bürgermeister Peppone.
Es kommt dicke. Die moderne Welt schlingert.
Mach mit! Lippen aufspritzen bis zum
Entengesicht, denn wir schauen ja gern vorwärts
in das Selfie und bemerken unser Profil
nicht? Im falschen Körper gefangen, bitter.
Am falschen Ort gelesen, von der Links- zur
Rechtshändlerin. Goethe war gestern für die
Buchhändlerin. Der zeitgemäße Intellekt
ergreift Besitz von unseren Gehirnen. In der
Welt der Worte, sei besser keine Torte.
Das eine ist, die ganz besondere Problematik
zu kreieren und nun den Ausweg zu suchen.
Auf der anderen Seite spült unvermittelt
der Sturzbach ganze Häuserzeilen und
Existenzen fort. Luxus- und Echtkrankheiten
unterscheiden sich noch. In der vernetzten
Welt gefangen oder mit der Planetin
gemeinsam den Hitzetod sterben? Es wird
sich zeigen, was stärker ist, der eingebildete
Mensch oder die Natur.
Schon immer hat sich unsereiner mit
manchem herumschlagen müssen. Was es
damit auf sich hat, individuell zu denken,
zu empfinden, und ob sich’s getrennt ereignen
könne? Mal davon abgesehen, dass
ich getauft, konfirmiert, aus- und wieder
eingetreten bin in die evangelische Kirche,
kann ich mir nicht wirklich vorstellen, wie
ein ewiges Dasein gestaltet sein könnte. Das
verlangt auch kein Gott. Nur die Eingebildeten
beharren drauf. Ich bin Maler, und
meine Werke sind abgebildet vom äußeren
Eindruck und
eine Reflexion.
Dass ich mir
kein fixes Bildnis
ins Hirn mache,
wie angeraten,
sondern meine
Hand zum Werkzeug,
hilft. Das
ist der schwache
Trost, der mir
bleibt, die anderen könnten’s genauso wenig
begreifen wie ich selbst. Jeder schaffe nach
seiner Art und Talent. Ein Glaube, der mich
insgesamt von der Geißel jedweder schweren
Krankheit befreit, wenn ich der Lehre nur
fest genug anhänge, erscheint mir dicht am
Wahnhaften zu sein und letztlich Quatsch,
aber viele verfolgen ihre Wege (auch von
sich überzeugte Atheisten) mit der starren
Idee, gerade ihnen könne nichts geschehen.
Sie reden sich eventuell Übles, wenn’s passiert,
schön: Dann „solle es wohl so sein.“
Die Angst, als ein starkes Gefühl wahrzunehmen
und zu beherrschen lernen, ist
aber mehr. Die statische Idee, Gene oder
Schicksal bestimmten uns, hindert so viele
daran, einen besseren Weg zu nehmen. Autor
Moshe Feldenkrais macht gern klar, dass ein
Mensch nur für den gegenwärtigen Augenblick
so ist, wie er sich gibt und schon im
nächsten Moment um die aktuellen Erlebnisse
der nahen Vergangenheit bereichert
sein wird, sie zu dem hinzuzählen muss, das
nun unänderbar zu seiner Geschichte gehört.
Die Frage ist nicht, ob wir uns verändern,
sondern ob wir bereit sind, das zu beobachten
wie es genau geschieht und die daraus
gezogenen Schlüsse einer Selbstkontrolle
unterwerfen, zu unserem Besseren verwenden.
# In seiner Autobiografie schreibt Ralph
Giordano: „Die Befreiung von der Angst vor
dem jederzeit möglichen Gewalttod, weil
ich eine jüdische Mutter hatte, war, ist und
wird das Schlüsselerlebnis meines Daseins
bleiben.“ (Wikipedia).
Ich bin mit meiner Schwester, Eltern,
Großeltern und von Freunden begleitet in
das Leben gestartet. Vorbilder sind darüber
hinaus Lehrer gewesen, denen ich probierte
nachzueifern, weil ich mich für ihre Motive
begeistern konnte. Die Reise mit dem „Prinz
Hamlet“, der damals noch regelmäßig verkehrenden
England-Fähre, die Unterelbe abwärts,
an Cuxhaven und Helgoland abends
vorbei, bleibt unvergessen. Es ging über die
raue Nordsee nach Harwich (unten an der
Ostküste der britischen Insel), anschließend
folgte der
Aufenthalt
bei einer
Gastfamilie
am Stadtrand
von Ipswich,
zusammen
mit Steffen,
meinem
Mitschüler.
Wir verbrachten
Zeit mit
diesen Engländern, passten auf Little Justin
auf und besichtigten die Werkhalle, wo ein
wahrhaft riesiger Bagger von unvorstellbarer
Größe eines Hauses auf seine Reparatur
wartete, die Arbeit unseres Gastgebers.
Das kleine Auto, mit dem die humorvolle
Familie uns oft herumfuhr, machte bei jedem
Kuppeln ein quietschendes Geräusch. Wir
mutmaßten, eine verborgene Maus würde
gequält und schmissen uns weg vor Lachen.
Im Treppenhaus unserer Gasteltern hing
ein farbiger Druck oder Ölgemälde, ein
Aktbild. Das war eine nackte Dschungelfrau
oder jedenfalls eine gebräunte Schönheit
am Fluss. Steffen und ich bekamen,
pubertierend und doof wie wir waren, auch
dort bei jedem Vorbeigehen unerklärliche
Lachanfälle. Das Haus hatte in der Art
des Reihenhauses einen kleinen Garten.
Einmal war unsere Aufgabe, das kleine
Kind zu hüten, und ich meine mich daran
zu erinnern, dass es auf den Weg zwischen
das selbstgezogene Gemüse schiss. Die
Decken der Engländer bestanden (natürlich
genauso für uns, die Gäste) aus mehreren
einzelnen Lagen anstelle der gewohnten,
einteiligen Sommer- oder Herbstdecke, wie
das in Norddeutschland üblich ist. Drei oder
vier dünne Lappen übereinander hatten die
lästige Angewohnheit, des Nachts eine nach
der anderen davon zu gleiten.
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 92 [Seite 84 bis 94 ]
Wenn wir nicht mit diesen lustigen Gasteltern
zusammen waren (das Essen wurde
tatsächlich erst auf dem Teller gewürzt, und
am Bus standen alle brav in einer Schlange
an), unternahmen wir in Gruppen einiges mit
Kröger und Frau S. Die Englischlehrerin der
Parallelklasse „d“ war natürlich mitgefahren.
Vor allem eine Sache, die ich damals nur am
Rande registrierte, kommt mir heute wieder
in den Sinn. Nicht nur die englische Lebensweise
in der Gastfamilie war ganz anders als
zu Hause. Es gab auch etliche Ausflüge, etwa
nach London. Dort machten wir an verschiedenen
Stationen Halt und lernten die Briten
und ihre Besonderheiten kennen.
Ich kann mich an einen kurzen Aufenthalt
am Speakers’ Corner erinnern. Was damals
daran faszinierte, kann von jungen Menschen
heute nicht ansatzweise nachempfunden
werden. Es gab kein Internet, nur so viel
zur Erklärung.
# (…). Von diesem Glanz sei heute nur noch
wenig übrig. Zwar trete
hin und wieder mal ein
Mitglied der Sozialisten
auf, so Lewis. Die
großen Parteien und
Politiker jedoch scheuen
Speakers’ Corner seit
Jahren. „Die Ecke hat
nicht mehr die Relevanz
wie früher. Seitdem die
Religiösen das Zepter
in die Hand genommen
haben, ist sie zu einem
Ort für Fanatiker und
krude Verschwörungstheorien
geworden“, so
Lewis. (Welt – „Genau
genommen ist das
ein absoluter Freak-
Zirkus“, Veröffentlicht
am 22.07.2015, Florian
Schmidt, London).
Als Kreativer habe ich mit den Jahren lernen
müssen, dass Grafik zu schaffen, Bilder zu
malen oder Illustrationen anzufertigen
Kommunikation bedeutet. In gewisser Weise
ist mein Lebensweg durch ein früh zutage
getretenes Talent vorgezeichnet gewesen.
Meine individuelle Sprache, das eigene Bild?
Schon als ganz kleines Kind fiel ich auf,
anders zu sein: Begabt. Ich bin in der Folge
gar nicht umhin gekommen, Entscheidungen
zu treffen, wie ich diese Fähigkeit in meine
Existenz integrieren kann. Meine Auffassung
auf welche Art und Weise ich damit umgehen
möchte, kreativ zu produzieren, hat sich
insgesamt gewandelt.
Nach den Anfängen, aus dem Talent mithilfe
fundierter Ausbildung einen Beruf zu
machen, musste es weitergehen. Es zeigte
sich bald, dass die Frage: „Wem nutzt es?“
zu stellen ist. Schon in der weiterführenden
Schule am Steinhauerdamm in Hamburg, die
uns mit einem Fachabitur die beschränkte
Hochschulreife ermöglichen sollte, lehrte
uns meine liebe Klassenlehrerin Angelika
das theoretische Grundmodell. (Die könnte
ich, glaube ich, noch wo mit dem normalen
Apparat anrufen, und deswegen fehlt sie ein
wenig weniger).
Kommunikation bedeutet, jemand sendet,
andere nehmen Inhalte auf, und dann
kommen noch weitere Parameter dazu. Die
psychologisch relevanten Bausteine können
je nach Sektor der tatsächlichen Anwendung
dargestellt werden. Der Werbung, beim
wissenschaftlichen Vortrag, Radiosendung
oder Theatervorstellung, dem Konzert mit
Publikum und bei vielem mehr gereicht
das bekannte Modell seine Struktur.
Diskussionen auf der Arbeit und Themen
in der Familie werden so wissenschaftlich
beleuchtet, mit der vielseitigen Infografik
erklärt. Die ästhetisch motivierte Botschaft
einer Abbildung beinhaltet darüber hinaus
den Eigenwert künstlerischer Ausgestaltung
eines Themas. Die ungewöhnliche Sprache
des Gestalters: mehr als tausend Worte und
dergleichen.
# Zwitschern
Was heißt das, kommunizieren? Moshe
Feldenkrais, der oben skizzierte Lehrer eines
speziellen Bewegungstrainings, geht an
einer Stelle im Buch „The Potent Self“ davon
aus, dass die Kontrolle des Menschen, der
beginnt laut mit sich selbst zu reden, ungenügend
ist und hier möglicherweise
eine krankhafte
Änderung im Selbst ihren
Anfang nimmt. Wehret den
Anfängen! Kommunikation,
die erkennbar nicht bei einem
Rezipienten ankommt,
sei krank, nimmt der
bekannte Verhaltenstrainer
an. Stimmt das?
Der Drang zur Kunst.
Feldenkrais publizierte
seit den vierziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts.
Zu der Zeit, und als
ich jung gewesen bin, in
den Achtzigern, wäre uns
eine entgegenkommende,
mit sich selbst redende
Person auf dem Gehweg
unterwegs, unstrittig als krank erschienen.
Heute ist das ganz normal, nur dass diese
Menschen per Headset oft kaum erkennbar
anderen wichtige Nachrichten senden: „Bin
jetzt am Bus und gleich bei dir.“ Das ist nicht
krank, das ist nun nur normal. Es muss immer
irgendwo ein zuhörendes
Gegenüber sein,
dann ist zu reden legal.
Glaube dran, dass das,
was du zu sagen hast,
irgendwo ankommt:
Bete deine Gebete, iss
rote Bete und pflanze
Blumenbeete.
Inzwischen ist es leicht,
mithilfe eines aufgeschnappten
Namens
und Bildersuche im
Netz die unglaublichsten
Künstler kennenzulernen.
Da sind ganz
bestimmt einigermaßen
unbekannte Könner unterwegs. Sie werden
nie Millionen am Markt machen. Auch nicht,
wenn sie einmal gestorben sind. (Wenn ich
tot bin, wirft meine Familie alles weg. Davon
bin ich überzeugt).
Das bringt mich gelegentlich dazu, die
Frage nach dem Wert eines Bildes anders
zu stellen. In meinem Wohnzimmer hängt
kein Druck, sondern die jeweiligen neueren,
von meiner Frau akzeptierten Bilder, die ich
gemalt habe. Die anderen sind im Dachgeschoss,
das meine liebe Gattin vermeidet,
allzuoft aufzusuchen. Die selbstgestellte
Frage muss sein, inwieweit ein Bild gerade
mir, dem Schaffenden nützt? Das sei auch
anderen geraten, die staunen, wie viel ein
echter „Picasso“ oder „Van Gogh“ einbringt
– wem denn? Es mutet mir, dem quasi Kollegen,
seltsam an, den zu bedauern, der es
in seinem doofen Unglück richtig fand, sich
das Ohr abzusäbeln. Vielleicht war das nötig
für ihn, wie sich welche heute ritzen? Etwas
merken: Er lebte ungewöhnlich.
Noch heute bewundern manche den Trompeter
Chet Baker, der nicht wenigen Zeitgenossen
als verschmutzter Junkie galt (der
auch Musik machte). Das starke Motiv, ein
Leben lang zu malen oder der Trompete intelligente
Töne
zu entlocken an
sich, bleibt ein
Geheimnis, das
der Konsument
mit Geld nicht
kaufen kann. Wie
will ein solcher
wissen, wer hier
der Unglückliche
sei?
# Gewöhnlich
doof
Nun gibt es
Menschen, die
ein Tagebuch
führen, das sie nur selbst gelegentlich lesen.
Dies mag dem Modell einseitiger Kommunikation
ohne schnelle Rückkopplung die
gesunde Variante bieten, den Weg (und das
Verständnis, wie Kunst zu begreifen ist)
weisen. Das könnte den leicht zu begreifenden
Eingang in das Selbst zeigen, erklären,
wie wir eigentlich schaffen. Einfach gegen
die Wand zu reden oder im Club Leute zu
bequatschen, die nicht wirklich zuhören und
auf einer Straße ins Nirgendwo unterwegs,
im Wahn zu rezitieren, mag krank sein.
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 93 [Seite 84 bis 94 ]
Vielleicht hilft Schreiben auch zu denken
und zu malen nützt dem, der es tut, allein
wegen der Aufgabe, zwingend den eigenen
Stil zu kreieren? Wir sollten ehrlicherweise
zugeben, dass anderen zuhören nicht eben
leicht gelingt, und mit Reden glänzen zu
wollen die Regel ist.
Genie und Wahnsinn
lägen dich nebeneinander,
glauben wir zu
wissen. Die moderne
Welt, vernetzt wie nie
zuvor, muss sich fragen,
ob Schwarmintelligenz
der Antrieb
unseres digitalen und
in der Folge nicht
selten politisch wirksamen Tuns ist? Oder
ob genauso oft Schildbürger das Licht ihrer
Weisheit ins Dunkle unserer Denkfabriken
bringen, die behaupten, es mit Säcken eingefangen
zu haben.
Moderne Kulturfreunde kämen wohl nie
auf die Idee, in den Bildern von Vincent van
Gogh armseligen Quatsch zu sehen? Eine
Einschätzung, die Zeitgenossen des Malers
angetrieben haben mag, seine möglicherweise
wenig zielgerichteten Versuche
auszustellen und Anerkennung zu erlangen,
nicht nur zu torpedieren, sondern den
später Berühmten als kranken Spinner zu
ignorieren.
Damit wären wir erneut bei der Theorie, dass
jemand, der einen Monolog im Wohnzimmer
hält, einen Roman für die Schublade schreibt
und inzwischen sogar jemand, der sich am
Speakers’ Corner auf einen mitgebrachten
Tritt stellt und lamentiert, krank ist.
# Freak
Heute muss es Instagram oder Twitter, Youtube
oder eine andere, anerkannte Plattform
sein, wie ja auch Kunst nur dort etwas zählt,
wo entsprechendes Publikum auftaucht.
Wer auf die Idee verfällt, seinen Stuhl am
Feldrand einer Weide mit einigen Kühen
aufzustellen, den Tieren einen Vortrag hält,
gilt nur dann als normal, wenn derjenige
sich dabei filmt, noch besser,
streamt und eine nennenswerte
Zahl von Followern
kommentiert. Wir können
demzufolge beruhigt sein, alles
ist ganz normal geblieben.
Es sieht nur anders aus.
:)
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 94 [Seite 84 bis 94 ]
Kurze Arbeit
Aug 26, 2021
Meine Doktorarbeit
ist anders. Nur „Spitzenfreunde“
begrüßen
mich schon mal
mit: „Herr Doktor.“ Ich
weiß das zu schätzen.
Es wertet diese Leute
kaum ab. Augenzwinkernd
schwanken
sie zwischen petzen
oder Klappe halten.
Die sind unsicher,
was sie mit ihrem Wissen machen sollen?
So kommt es mir vor. Als wären wir allesamt
Spione und scheinbar eingewoben ins Netz,
zinken mir die Kollegen Bedeutsames zu.
Das ist der beste Tratsch, zur Selbsthilfe
empfohlen.
# Pss - st!
Ein treibender Eisberg scheint unterwegs.
Das Meiste verborgen, nur eine Spitze
davon kennend, pusten mir Fremde ein paar
Schneeflocken vom Gipfel ihres Wissens ins
Gesicht. Ich habe Ian Fleming gelesen, bin
kein Plagiat. Normale Freunde werden mit
Spitznamen geadelt. Von einigen Seglern auf
der Elbe unterwegs, wissen manche nicht
einmal richtige Namen. Jeder kennt Toddel,
Telle, Adje, Plüm, Schampus, Müschen oder
Petrus. Das ist durchaus ein
Netzwerk. Was macht einen
guten Freund, wie er im Lied
besungen wird, aus? Nur Kocki,
Piet und Niels nennen mich
Jonni.
Anders die Frau, die ich kannte:
Das hat mich klüger gemacht.
Keine Freundin, Politiker bilden
Seilschaften. Verbindung gerissen.
Hätte ich besser zugehört,
begriffen? Unsere Lieblingsbürgermeisterin
bevorzugt die
untadelige Gesellschaft. Ein
pervers ausspionierter Hofnarr, war ich das?
Gehörig abserviert. Zur Karrierefrau passt
besser, man hat sauber promoviert. Blasiert
gebildet, anstelle schmutziger Bilder ist so
toll: „Einer der klügsten Menschen, die ich
kenne“, Christiane über ihren Doktor Harvard.
Er grinst hochgehängt von der roten Laterne.
Wadenbeißern fällt schwer zu lächeln. Um
sich nach oben zu fressen, braucht es die
sichere Witterung und moralisch reines, rotes
Parteifleisch. Aber Vorsicht, ich erinnere
mich: Dem Genossen Heiko bescheinigte die
Plakatschönheit einst „der sei taff.“ Kabul
zeigt, manche denken anders drüber heute.
Glatt wie Olaf Teflon „und ab dafür“, wenn’s
wo brennt. Die soziale Partei, das weiche
Ei. Meine Stimme geht nicht in die Urne,
sondern in die grüne Tonne wie abgebildet.
Ich habe meine Lektion gelernt – von den
Spitzenfreunden. MfG Dr. John ;)
Aug 26, 2021 - Kurze Arbeit 95 [Seite 95 bis 95 ]
Frisch gestrichen!
Aug 30, 2021
Den Worten Taten folgen zu lassen, ist eine
berechtigte Forderung, wenn Enttäuschte
annehmen, mit einer Absichtserklärung bedient
zu werden. Heute verstehen wir unsere
Umgebung als konstruierte Realität, weniger
die Dinge zum Anfassen und Reinbeißen
um uns herum. Wir wissen mehr als frühere
Generationen, sind darauf angewiesen,
belastbare Informationen zu bekommen.
Der Anteil verstörter Mitglieder unserer
Gesellschaft, die vieles
anzweifeln, wächst. Nach
dem Sommerurlaub bin
ich damit beschäftigt, das
begonnene Bild weiter zu
malen. Kurioserweise begreife
ich den Sinn, das zu
tun und die nötige Motivation
mich dranzusetzen,
auch darin, dass mir die
Brötchen von gegenüber
nicht mehr schmecken.
Die im Urlaub genossenen
Backwaren der Inselbäckerei
kamen dem früher
Üblichen durchaus nahe.
Echte Brötchen meine
ich, nicht aufgebackene
Teiglinge.
# „Frisch gebacken“ klingt lecker knusprig
und ist ein beliebter Marketingbegriff.
Bäckereien, Backshops mit Selbstbedienung
oder sogar Discounter bewerben ihre
Backwaren gerne mit dieser Aussage. Doch
viele Anbieter stellen die „frisch gebackenen“
Brötchen aus vorgefertigten, gekühlten
oder tiefgefrorenen Teiglingen her und
backen sie vor Ort nur auf. Verbraucher
haben allerdings ein anderes Verständnis
von frisch gebackenen Brötchen. Das zeigen
eine Studie, eine Umfrage sowie (…). Im
Lebensmittelrecht ist „frisch gebacken“ nicht
definiert, und auch die Rechtsprechung gibt
keine klare Orientierung. So ist die Angabe
oftmals eine leere Werbefloskel ohne jeglichen
Anspruch an die Art der Herstellung.
(Verbraucherzentrale, 2018).
Farbe auf die Leinwand aufzutragen, befriedigt
als eine echte Herausforderung.
:)
Aug 30, 2021 - Frisch gestrichen! 96 [Seite 96 bis 96 ]
Leben wie gemalt
Sep 2, 2021
Es ist eine These: Menschen lieben nicht, sie
nutzen andere für sich selbst. Wir werden
nicht geliebt. Wir suchen Liebe, aber wenn
wir wo ankommen, ist es eine Täuschung.
Das Ganze hält nur so lang, wie unser
Gegenüber bekommt, weswegen wir in
Beziehung sind. Veränderungen beinhalten
das Risiko, dass eine Verbindung emotional
verarmt und möglicherweise zerbricht. In
guten und schlechten Zeiten: Es kommt
vor, dass Menschen nicht nur einen Vorteil
daraus ziehen, wenn da ein Partner ist,
der ihre Bedürfnisse reflektiert, sondern
andere mittels vorgetäuschter Identität
gezielt ausgenutzt werden. Die Erfüllung in
romantischer Liebe zu suchen, ist der Beginn
visionären Denkens, möglicherweise der
Antrieb überhaupt unterwegs zu sein – und
der Anfang unendlicher Irrtümer.
Was treibt den Menschen, der Wunsch nach
Anerkennung oder die Wut, etwas nicht zu
bekommen? Möglich ist es, mit gefährlicher
Atomkraft zu fahren wie im hochtechnisierten
Unterwasserboot, vollgepackt mit
finsteren Raketen, und andere segeln bloß
naiv mit der Jolle oben rum.
# Beziehungen
Wir sind miteinander in Verbindung, die
Liebe erschafft Paare; mit unsere Familie,
Freunden, während der Arbeit. Und mit
der Gesellschaft insgesamt, pflegt oder
erleidet jeder einzelne Mensch individuelle
Beziehungen. Ein Beispiel ist der finanzielle
Aspekt unserer Existenz, der uns alle verbindet.
Wir drucken uns kein eigenes Geld nach
Bedarf. Die Solidargemeinschaft ist nicht nur
ein christliches Gebot, es ist der akzeptierte
Zwang unserer Gegenwart. Wir
können uns alternative Lebensformen
ausdenken. Wir können aber
Großbritannien nicht auf die andere
Seite des Atlantiks verschieben oder
Deutschland aus der Mitte Europas
nehmen.
Zwei Menschen, die sich damit
beschäftigt haben, bewerten die Idee
eines monatlichen Grundeinkommens
vom Staat für jeden von uns.
Der Befürworter stellt die gewaltige
Summe, alle mit gut tausend Euro
monatlich auszustatten, dem Gewinn
an fehlender Bürokratie gegenüber,
die wir bislang benötigen, um Einzelfälle
zu prüfen. Er rechnet vor, dass es
billiger käme, jeden gleich zu bezuschussen,
anstelle Sozialschwachen
differenziert nach Antrag zu helfen
wie die bisherigen Systeme es tun.
Die Alternative, sämtliche steuerliche
Abgaben um eben diese Summe pro
Person zu reduzieren und im Gegenzug
jegliche Sozialhilfe, Arbeitslosengeld
und dergleichen abzuschaffen,
steht dahinter? Das hieße, einem
Gutverdiener zwanzigtausend zu erlassen,
einem der nichts tut, dieselbe Summe zu
schenken, und das System muss insgesamt
das Bonbon für jedermann erwirtschaften.
Die schöne Utopie kränkelt, wenn wir uns
einer modernen Idee des Finanzministers
erinnern, die Renten zu besteuern. Ähnliches
könnte ein bedingungsloses
Grundeinkommen zukünftig
ad absurdum führen. Dann
finge das Spiel, einen größeren
Bierdeckel zu benötigen, um
darauf die inneren Finanzen
des Systems zu berechnen, von
vorne an. Etwa, wie die Briten
mit der Europäischen Union
nach dem Brexit verhandeln, bis
alles wie dazumal geregelt ist.
Es ist die typische Verblendung
innovativer Menschen, die für
uns alle am Besten zu denken
meinen, nicht an den zukünftigen
Zeitgenossen zu denken,
dem dann wieder einfällt, seine
Gegenwart im eigenen Sinn
umzugestalten.
Der Ökonom, im Gegensatz zum
davon begeisterten Studenten,
glaubt nicht an das bedingungslose Grundeinkommen
als Anreiz, das Leben freier und
sozial gestärkt in Angriff zu nehmen. Er führt
als Argument an, dass die Freiheit zu handeln
nicht durch diese Beziehung zum Staat,
etwa, als wären wir sicher gefüttert wie
das Tier im Zoo, beschnitten werden dürfe.
Während der Befürworter in der grundsätzlich
zur Verfügung stehenden Summe einen
Anreiz erkennt, das Leben angstfrei zu gestalten,
meint der Gegner dieser Unterstützungsform,
dass es gerade nicht motiviere,
noch zu jagen, wenn Futter ungefragt von
oben ins Gehege gelegt würde. Der Spezialist
gibt zu bedenken, dass die Freiheit ein
hohes Gut sei und unser Risiko, das Leben zu
fürchten und deswegen aktiv zu werden, ein
Bestandteil derselben.
Dem kann entgegengehalten werden, dass
es keine Freiheit ohne Abhängigkeit gibt. Insofern
bleibt es eine organisatorische Frage,
wie der Wohlstand eines funktionierenden
Systems Teil des Ganzen sein kann und
Steuern auf der anderen Seite verpflichtend
dagegen halten. Ein Leben auf dieser Welt
ist nur in Beziehungen vorstellbar. Tatsächlich
wählt der Erwachsene sich seine Abhängigkeiten,
löst sich vom Elternhaus und geht
neue Beziehungen ein. Von besserer Freiheit
zu reden, einer Unabhängigkeit, die vollkommen
wäre, nie bindet, treibt den Begriff auf
die Spitze bis ins Gegenteil. Realität ohne
jede Bindung gibt auch keinerlei Halt. Um
einen Schritt zu tun, müssen wir ein Gewicht
haben und benötigen Boden zum Ausschreiten.
So kann jede Beziehung nach dem
jeweiligen Nutzen für uns begriffen werden.
Wollen wir bis zu den Knien im Matsch
stapfen oder bevorzugen die asphaltierte
Bahn für unseren Porsche? Es macht Sinn,
genauer darüber nachzudenken, wenn wir
vom fernen Glück träumen, wo individuell
die Bedürfnisse sind und wie sie befriedigt
werden könnten.
Es gibt reichlich Raum, sich kämpferisch zu
geben: Da sind Aktivisten bei Greenpeace
wie anderswo welche, die für das bedingungslose
Grundeinkommen kämpfen. Da
finden sich Organisationen, die zu rauchen
verbieten möchten wegen der gesundheitlichen
Risiken. Auch im Bereich gesunder
Ernährung für die Gesellschaft sind einige
unterwegs, uns zu ändern. „Fridays for future“,
Frauenrechte überall und das Schlagwort
„Gerechtigkeit“ führen nicht wenige im
Mund, wenn sie uns drankriegen möchten,
die Gesellschaft zu bessern. Das ist unser
Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 97 [Seite 97 bis 99 ]
Fortschritt. So kritisieren wir den sich zurück
entwickelnden Talibanstaat in Afghanistan
als mittelalterlich. Ein Unkraut frisst die
ganze Region, so scheint es vielen. Unsere
Ordnung, der saubere Garten Demokratie.
Wir werden nicht müde zu stöhnen, Gesetze
müssten auf einen Bierdeckel passen. Nicht
einmal ein islamischer Staat kann darauf erklärt
werden. Und Adolf Hitler als gottloses
Ungeheuer darzustellen, hilft kaum zu verstehen,
was geschah. Gern wird die Zeit des
Nationalsozialismus auf seine Singularität
als bösen Führer reduziert. Das suggeriert,
wir Guten hätten nichts damit zu tun.
# Böses isoliert zu betrachten verkennt, dass
es trotzdem bleibt
Die Gegner der Zigarette sind am Widerstand
rund um den harten Kern der Raucher
festgefahren, welche sich, nicht irritiert vom
Warnhinweis, unbelehrbar dem blauen Dunst
hingeben. Dazu kommen die Tabaksteuer
einziehende Behörden, die mit diesem
Geld wirtschaften. Die Gesundheitsapostel
scheitern an der Gruppe, die unbeirrt frisst
und säuft. Die böse, fette oder süße Nahrung
wird weiter hergestellt. Menschen beziehen
ihren Lohn davon, dass es geschieht. Die
Umweltretter beißen sich am Widerstand
einiger fest, die nicht zurückstecken möchten.
Die gute Gesellschaft verzweifelt an den
Idioten, die (wie ich) sich nicht gegen die
Coviderkrankung impfen lassen, und mehr
davon. Unbelehrbaren nutzt emotional, nicht
mitzumachen. Dieser Lustgewinn erschließt
sich vielen kaum. Die Guten sind immer die
Doofen? Nicht, weil sie übervorteilt werden,
sondern weil ihnen der Horizont fehlt, einer
Lehrmeinung Erfahrung entgegenzustellen.
Nur wer blockieren und schlagen kann, wird
bewusst darauf verzichten. Ein kleiner Anteil
der Bürger entscheidet sich nach Überlegung
für oder gegen eine Empfehlung. Die
anderen wissen nicht, wie verletzend sie
trampeln. Sie meinen hilfsbereit und gut
zu sein oder schlauer als der Rest. Sie sind
doch nur Brei, der gegebenenfalls sonst wo
hin marschiert – wie befohlen.
# Allzumenschliches
Liebe und Nutzen: „Was du von dem Mädchen
wolltest, ist ja klar, aber was wollte
sie von dir?“, werde ich gefragt. Jahre sind
vergangen, und es ist bekannt, dass ich
verheiratet bin. Was wollte – ja, wie soll ich
das sagen? Es scheint so klar nicht zu sein.
Eine große Blase könnte geplatzt sein. Ein
Blockwart hat sich den Schädel verbeult.
Schenefeld ist gerettet, hat mich verändert.
Ich vertraue niemandem, verwahre Emotionen
wie nie zuvor.
Ich lehne andere ab. Freundlich sein, ist
einfach. Was heißt das schon. Ich blockiere,
bin dagegen! Ich gehe nicht zur Wahl, nicht
ins Restaurant, zum Arzt. Ich schneide mein
Haar selbst. Ich respektiere
keine Frau, weil sie eine
ist. Ich achte, respektiere
Menschen – manchmal. Das
kommt auf den einzelnen
Moment und mein jeweiliges
Gegenüber an. Dann bin
ich authentisch und empfinde
Empathie. Eine zarte
Pflanze in meinem Biotop
für schützenswerte Gefühle
mit Seltenheitswert. Ich
missachte aufgezwungene
Regeln. Ich verachte
Polizei, begrüße Attentate
(unsere Lebensweise
kränkt, macht zornig und
verstört), gleich welcher
Motivation und beweine
den Täter anstelle der
„sinnlosen“ Opfer. Ich
erkenne mehr als genug
Sinn im Tod. Gewalt abzulehnen, scheint
mir der krampfhafte Versuch, sie plakativ
auszublenden. Ich verspüre keine Solidarität
mit anderen, nur weil sie Menschen
sind. Ich grenze mich ab. Ich bin gewaltbereit,
wann immer man mir auf die Pelle
rückt, riskiere meine Existenz, statt mich
anzupassen, wenn ich provoziert werde.
# Ich werfe die Gegenwart und jeden
zukünftigen Tag bewusst weg
Ich kann auf eine Zukunft verzichten. Das
bedingungslose Grundeinkommen habe
ich de facto, ohne es gewollt zu haben:
Tod, Nachlass, Streit und endgültiger
Bruch mit der Vergangenheit. Ich hätte
gern auf dem geerbten Land und für unsre
kleine Farm gearbeitet wie bisher. Familie
ist der kleine Tisch. Statt dem fetten
Steinbutt, der uns alle nährte, bedeutet mir
die eigene Scholle heute ein schmales Boot
und ist keinesfalls sättigend aufzuessen. Mir
bleibt als klügste Beschäftigung, im
Hof der selbstgemauerten Wallanlage
Kreise zu gehen. Da türmen sich
übrig gebliebene Brocken, die ich
nicht (auch noch) auf andere werfen
mag, und Frust ist der Zement. Ich
kreiere meine Kunst im isolierten
Kosmos. Anerkennung, entsprechend
meiner Lebensleistung, dem
geschaffenen Œuvre, ist weder zu
erwarten noch ernsthaft wünschenswert.
Dafür müsste ich viel weiter als
über den eigenen Schatten springen
und fühle mich dafür nicht nur zu alt,
entsprechend deprimiert, sondern im
überschaubaren Bereich zu Hause
vergleichsweise frei.
Kapitän auf eigener Leinwand, ein kleiner
König bin ich. Treffender wäre das Eingeständnis,
verkleidet als Farbterrorist durch
das Leben zu schippern. Zur Flucht nicht
mehr fähig, arbeitet hier ein vom Schicksal
unweigerlich eingefangener Sträfling,
welcher nun wirklich gern sämtliche Wände
seiner Zelle bekritzelt. Das ist mein Modell,
dieses Haus im Dorf und den Rest da draußen
zu verstehen, wo die Menschen scheinbar
leicht das Richtige tun. Meine Freiheit
ist die größere! Unbedeutend genieße ich
den Vorteil eines Übungsfeldes, die anderen
nicht zu beneiden, wenn sie wirklich gut
sind und amüsiere mich über unzählige
Spinner in der Szene. Meine Perspektive ist
mitnichten ein Aufbruch. Mich treibt der
Zorn, dicke Mauern stärker zu machen und
Gucklöcher
für
Spanner
zu lassen,
wo es mir
gefällt.
Widerlich
ist die
Verwandtschaft,
wenn
es zu
erben gibt.
Widerlich
hoch zwei
ist die
Politik. Das
ist meine
Meinung
bis vor das
Gericht,
über den Tod hinaus. Hass treibt mich, wenn
ich unter dem Meer fahre. In meinem Alter
ist zu einer noch romantischeren Liebe
suchend aufzubrechen ohne Sinn. Dass wir
ohnehin sterben und das ganz Tolle nicht
kommt, hilft den jeweiligen Tag wahrzunehmen.
Ich begreife mich, und für andere
genauso unser Selbst, in Bewegung – und
unsere aktuellen Möglichkeiten, den Weg zu
gestalten – mehr nicht. Eine Beziehung zum
Drumherum ist bindend hinzunehmen. Aber
nicht bedingungslos. Meine Bedingungen
definiere ich selbst. Damit riskiere ich auch
meine Gesundheit auf meine Verantwortung
hin. Das tun die anderen auch: Die einen
wissen, wie sie etwas tun, die anderen nicht.
Was wir tun, ist nicht so einfach zu bestimmen,
wie wir das machen schon.
Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 98 [Seite 97 bis 99 ]
# Dass Liebe die Welt zusammenhalte?
Die Einsicht mag uns zwingen und dahin
geleiten, etwas zu empfinden, das möglicherweise
gar nicht real ist wie etwa
Gewalt und Schmerz. Liebe entsteht im
Nichts zwischen den
Menschen, sogar denen,
die einander ablehnen
und ist deswegen nicht
fassbar. Manchmal wissen
wir das erst, wenn
alles nicht mehr im Hier
und Jetzt erlebbar ist.
Ein Bild ist geblieben.
Ich kann sehr viel Wut
bemerken und unsere
Schwierigkeit standzuhalten.
Mit offenen
Augen und Findigkeit
lässt sich manches vermeiden, was böse
enden kann. Gottes Liebe, wenn man daran
glaubt, kann in Beziehung zur Umgebung
bemerkt werden und hilft, individuelle Wege
zu gehen. Dass wir andere hassen, ist nur
logisch und sollte nicht verdammt werden.
Erst in der Reflexion findet sich die persönliche
Antwort.
Wenn der Wunsch nach Anerkennung unser
Motiv ist, kreativ zu sein, kann das abgelöst
werden vom Verstehen, dass eine Leinwand
nur die Bühne ist, auf der ein Maler sprechen
kann. Damit wird ein Bild zum Theaterstück.
Zu Ende überlegt, kann die Suche nach
romantischer Erfüllung in der Realität als
abgeschlossen gesehen werden. Der Kletterer
muss nirgendwohin, wenn ihm klar wird,
gerade vom Gipfel abzusteigen, weil da oben
nichts ist. Weiteres entscheide die Zukunft.
Malen wird zu einer Beschäftigung, durchaus
einer Suche nach dem gelungenen Ausdruck.
Kunst ist eine Erfindung und eine Vision
nur dann, wenn der Schaffende sich dessen
bewusst ist. Für Fantasten gilt, was der
Altbundeskanzler meinte: sich behandeln
lassen. Als Maler können wir selbst handeln
und ansonsten die Liebe vergessen – weil
sie nie existierte. Ein Wort treibt Menschen
in die Irre.
Wir sind modern und gut aufgestellt, die
Freiheit immer gerechter zu gestalten. Ratio
und die zu erreichende Sicherheit finden
dennoch Grenzen. Da hilft kein Unglaube,
mich von diesen alltäglichen Befürchtungen
zu befreien, etwa ein finsteres Virus könnte
mich vernichten, nicht die erste, zweite und
dritte Impfung, wenn ich in einem
kleinen Geschäft bedient werde
und nach einiger Zeit die verrotzte
Chefin ausschnaubend aus dem
Hinterraum dazukommt, die Maske
halbherzig zurecht zupfend.
# Es gibt keinen Helm gegen
Weltraumschrott
Es gibt keine Anleitung, wann
man am besten im Straßenverkehr
seinen Besorgungen nachkommt,
um Idioten zu entgehen, die drängen,
hupen oder überhaupt rasen. Weniges
hilft gegen Menschen, die nur renommieren
möchten. Nie wieder unterstütze ich eine
mit ansprechendem Gesicht oder weil sie
eine Frau ist. Ich muss die sozialen Parteien
ertragen und ihre Gerechtigkeit, von der diese
Leute reden. Es gibt so viele Augenblicke,
in denen Abgrenzung nötig ist im banalen
Alltag. Meine (liebste) Umgebung kann ich
nicht zum Verstummen bringen, wenn sie
mich, nachdem sie es gerade im Fernsehen
sah, telefonisch drangsaliert, ich müsste die
medizinische Maske auch in der Wohnung
tragen, um meine (geimpfte) Familie nicht
zu gefährden (als Impfverweigerer, der ich
sei) usw.
:)
Hass ist erlebbar. Auf die Zuneigung der Umgebung
bin ich angewiesen. Ich bin wirklich
glücklich im Moment. Liebe, alles hat seine
Zeit. Einmal war ich auf dem höchsten Berg
in der dunkelsten Nacht nicht allein – und
denke jeden Tag daran und Weihnachten
noch mehr.
Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 99 [Seite 97 bis 99 ]
Zu spät
für dich
Sep 16,
2021
Es gibt nur einen Papst auf dieser Welt, die
anderen Religionen sprechen mit den vielen
Stimmen ihrer jeweiligen Prediger. Hierhin
und dorthin weisen sie die Gläubigen, die
sich für einen Gott entschieden haben,
der ihnen gerade passt. Die Kirchen bei
uns klagen über Mitgliederschwund. Der
Missbrauch ist weiter das Thema bei den
Katholiken, und wenn Herr Bedford-Strohm
spricht, klingt er wie der Frank-Walter aus
dem Bellevue. Der Bindestrich verbindet beide
irgendwie. Als ich jung war, wurden wir in
der Schule vor Sekten gewarnt. Schon immer
hatte der Glaube diese gefährliche Seite,
dass Menschen bereit sind, sich religiöser
Führung unterzuordnen und andere es ausnutzen.
Kann der Mensch sich seinen individuellen
Gott maßgeschneidert designen? Es
scheint zu funktionieren. Das moderne Bild
vom lieben Gott, der gut in eine smarte Welt
passt, Frauenrechte und sexuelle Vielfalt bejaht,
hat sich erst mit den Jahren entwickelt.
Parallel zum differenzierten System unseres
Rechtsstaates formulieren moderne Prediger
angepasste Spiritualität, die jeden in der
Gesellschaft mitnehmen kann. Andernfalls
verlassen Ausgegrenzte diese Kirche wie einen
Verein. Die Gruppe derjenigen, die nicht
Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sind,
sich jedoch nicht zum beherzten Atheismus
durchringen können und weiter „irgendwie“
suchen, ist groß geworden.
# Kein Stress mehr mit dem Herrn Jesus
Der moderne christliche Gott scheint sozial
unterwegs zu sein, so beschreiben manche
das Wirken und Wollen, entsprechend unser
Sollen; prägend ist seine wohlmeinende Gesamtheit
– wie die demokratische Regierung,
die das Beste für uns alle will. In der Politik
ist nicht angreifbar zu sein empfehlenswert,
um gut voranzukommen. Dementsprechend
groß ist die Sehnsucht nach Menschen, die
noch klare Kanten aufweisen. Die Vereinigten
Staaten haben gezeigt, welche Risiken
das birgt. Ein Donald Trump kann nicht
Präsident einer demokratischen
und vielfältigen Gesellschaft
sein. Die uns alle betreffenden
Probleme werden dazu führen,
dass der kollektive Druck auf
einzelne zunimmt. Gerade die
Anführer der großen Kirchen
hätten die Möglichkeit, ihre
Stimme für den Gläubigen an
sich zu erheben und weniger
die geschmeidige Gesamtheit
als erstrebenswertes Ziel. In
unserer Zeit, wo sich zunehmend
Gruppen für manches
profilieren, sollte dem Einzelnen
ein Angebot gemacht werden,
sich besser zu verstehen.
Weil bekannt ist, wie diktatorische
Züge an der Spitze vom
Staat dazu führen, dass das
System in Schieflage gerät und
in der Folge das Unrecht, andere
auszugrenzen Staatsräson
ist, möchte die Kirche nicht ins
Hintertreffen geraten und stößt
ins soziale Horn: Was allen
diene, sei auch Gerechtigkeit
für jeden einzelnen.
# Fühle, wie es sich für alle
gleich gehört?
Wer bin ich denn, wenn die Schule aus ist
und das Erwachsenenleben beginnt? Zu
Moses Zeiten ein Familienvater, der seine
Leute durchbringen muss: ein Mann. So
formt sich die bekannte Großfamilie und hat
zwei oder drei Probleme. Beim Pharao ist es
scheiße, und der Weg durch
die Wüste in das gelobte
Land ist weit. Buchstäblich
eine Durststrecke. Kein
Wunder, dass der Anführer
ein paar Gebote für seinen
wandernden Wüstenstaat
ganz gut gebrauchen kann.
Sicher haben die Juden, die
nach dem Ersten Weltkrieg
das damalige Palästina
(nach der Balfour-Erklärung)
besiedelten und schließlich
den modernen Staat Israel
gründeten, ähnlich empfunden.
Auch der gewöhnliche
Amerikaner mag sich dran
erinnern, wie das Gebiet,
das heute die Vereinigten
Staaten von Amerika darstellt, besiedelt
wurde – und sich deswegen Israel verbundener
sehen, als manch’ anderer mit weniger
der Identität, irgendwo für einen Neuanfang
weggegangen zu sein. Was dem einzelnen
hilft, der im Land bleibt, aber von Menschen
umzingelt ist, die anders empfinden,
lehrte Jesus und wurde zum Begründer der
christlichen Religion. Die Homosexuellen
als Gruppe mit gemeinsamer Identität oder
die Menschen mit Migrationshintergrund
(in einem Ausland für sie) bei uns Lebenden
und die Jugend, die vom Verhalten der
umweltfeindlichen Erwachsenen in ihrer
Zukunft bedroht ist; das sind Beispiele für
moderne Großfamilien. Bleibt noch der
einzelne Mensch, der Zugehörigkeit zum
Ganzen sucht. Seine individuelle Perspektive
muss er erst entwickeln, wie eine Aufgabe
lösen. Sogar als Migrant unter anderen, die
hier pauschal Ausländer genannt werden, ist
jemand zunächst für sich selbst verantwortlich.
Wenn ich nicht durch Herkunft
oder Hautfarbe eine Schublade bekomme,
in die mich die Umgebung steckt, bleibt
die Herausforderung, die eigene Kiste, das
persönliche Boot für eine gute Reise erst
einmal selbst zu zimmern.
# Herr Rossi sucht das Glück
Beim Regattasegeln heißt es, wer die wenigsten
Fehler mache, gewinnt. Der Bildhauer
glänzt mit dem Spruch, er müsse nur alles
Falsche vom Block weghauen, das Pferd
(oder was es sei) wäre schon im Stein gewesen.
Und vom Schwimmenlernen wissen wir,
dass Anfänger zu viele Bewegungen machen,
bis nur noch welche ausgeführt werden,
die dem Vorgang tatsächlich nützen. Das
Leben gelingt also leichter, wenn jemand
weniger Fehler macht. Zu kommunizieren,
ist wesentlicher geworden. Wir stehen mehr
als früher im Austausch mit anderen. Es
erfolgt ein ständiger Abgleich, wie in einer
Partnerschaft oder zusammen mit Freunden,
Kollegen richtigerweise etwas unternommen
wird, das bereits methodisch erforscht
wurde. Das bietet unendliche Vorteile, da
eine unglaubliche Flut an Erfahrungen
geteilt wird, aber auch einige Nachteile, zum
Beispiel effizientes Mobbing.
Wir kannten, dass Feuerwehrleute und
Polizisten sich auf eine gestelzte Art und
Weise äußerten, wenn sie im Fernsehen
zu einem Unfall oder Verbrechen Stellung
beziehen mussten. „Der Verunfallte, die
männliche Person, ist in seiner Eigenschaft
als … unterwegs gewesen.“ So reden wir
unter Freunden nicht. „Dieser Typ arbeitet
bei der Firma dahinten, und da vorn hat es
gekracht“, beschriebe
uns ein Bekannter, was
passierte. Beamte und
Helfer sprechen eine
Berufssprache. Die
seit dem Aufkommen
des Fernsehens in den
Siebzigern bekannten
Floskeln erreichen mit
dem Genderstreit die
Politik und haben die
Sprache insgesamt
erfasst. Nie jemanden
auszugrenzen, vermeidet
verbale Angreifbarkeit,
wie früher nur
Polizei oder Feuerwehr
aufpassen mussten,
Persönlichkeitsrechte
Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 100 [Seite 100 bis 103 ]
zu wahren, Ermittlungsdetails geheimzuhalten
und dennoch zu informieren, nicht
für deplatzierte Äusserungen belangt zu
werden. Die Flut von Wortmeldungen wird
unsere Sprache noch mehr ändern. Da
können Menschen, die im geschlechterneutralen
Sprechen schlicht Blödsinn erkennen,
keinesfalls gewinnen. Nächste Generationen
finden nichts falsch daran, alle mitzunehmen
und werden sich auch unter ihresgleichen
äußern wie gegenwärtig die Offiziellen.
Ich käme wohl kaum auf die Idee, privat
von den Mitseglern und Mitseglerinnen auf
meinem Boot zu reden. Auf die Frage nach
meinem „Vorschoter“ sage ich: „Sie (oder
nenne ihren Namen) ist mein Mitsegler“
und empfinde das als normal. So war es
üblich. Das wird sich ändern. Sprache ist
selbst zu einem Instrument geworden, weil
wir häufiger als je zuvor eine technische
Apparatur dafür benutzen? Wir schreiben
hin, was wir sagen, und es bleibt. „Fasse
dich kurz“, war früher ein Hinweis, wie
korrekt zu telefonieren sei. „Wir sehen uns
morgen Nachmittag um drei“, sagte man,
und bis zu diesem Moment fand keinerlei
Abstimmung mehr statt. Den verabredeten
Treffpunkt musste man finden, ohne den
gesamten Weg bis zum letzten Meter auf
das Smartphone zu schauen. Während zu
kommunizieren nur einen Teil des Lebens
ausmachte, ist das heute eine andauernde
Beschäftigung geworden. Es ist ein nicht
mehr wegzudenkender Bestandteil unseres
Daseins und existentiell.
Damit hat die Sozialisierung Ausmaße
erreicht, die Ältere erstaunt, wenn sie denn
fähig sind, die Veränderung bewusst zu
registrieren und ihr Verhalten anzupassen.
Nur zu oft werden Unbewegliche mitgenommen,
ohne zu begreifen, wie es ihnen
geschieht. Wenn nun alle öffentlichen
Äußerungen – und durch die Digitalisierung
ist vieles öffentlich, das früher privat still
vonstatten gegangen wäre – dem sozialen
Abgleich der Korrektheit unterworfen
sind, muss die gruppenweise Bindung
individueller Standpunkte zwangsläufig
über banale Einzelmeinungen siegen. Es
sei denn, diese wären tatsächlich originell,
wirklich neu und auf eine intelligente Weise
zielführend. Mehr denn je sollte
die verbale Klugheit den Sieg über
dumpfes Mitlaufen erringen können,
wenn zu kommunizieren ständigen
Angriffen ausgesetzt ist. Jede wirklich
selbstbewusst vertretene Ansage, die
einem logischen Konzept folgt, muss
zwingend Follower auf den Plan
rufen. Eine Gruppe, die böswillig zum
Ziel hat, Einzelne zu beschädigen,
dürfte nach anfänglichen Erfolgen
durch alltägliche Fehler Schwierigkeiten
bekommen, weil Fakes mühsamer
zu installieren sind, als den
Weg eines Menschen zu gehen, der
redlich seiner Motivation folgt. Der
Unterschied zu früher besteht darin,
dass es mehr Gruppen gibt, sie sich
leichter bilden, wenn ungewöhnliche
Formen des Verhaltens und neue
Ansichten bekannt werden und diese
nun gern torpedieren. Egal ob derjenige
welcher polarisiert, es offen mitbekommt
oder eine klebrige Melange der Gegner verdeckt
unterwegs ist – entscheidend bleibt
das Selbstbewusstsein des Individuums, in
verbaler Welt zu überleben oder sogar zum
meinungsbildenden Anführer zu werden.
Gerade deswegen sollten wir Stimmen
begrüßen, denen es gelingt, dem kollektiven
Druck, was dem Gesamten nütze, mit einer
originellen Idee Widerstand zu leisten. Es
ist üblich geworden, mit der sozialen Keule
zu drohen. Die wohlmeinende Forderung,
das große System zu stärken (und dass es
uns gut ginge, beteiligten wir uns daran)
ignoriert schon mal, dass der Einzelne selbst
ein empfindsam fühlendes System ist, das
mehr als abstrakte Worte bedeutet. Jeder
Mensch ist eine kleine Ordnung. Was jemand
sagt und denkt, entspricht bestenfalls Ideen,
die derjenige untrennbar von den Gliedmaßen,
seinem Rumpf, Schädel und typgemäßer
Kleidung im Ganzen darstellt und lebt.
Ein nicht unerheblicher Teil der Menschen
verhält sich aber so, als würde (bildlich gesprochen)
Deutschland tun, was Dänemark
(resp. Frankreich, die
Vereinigten Staaten)
befiehlt; also sinnbildlich
fremdmotiviert ist
das Verhalten Einzelner,
die doch über ihr eigenes
System verfügen
könnten.
Das Wort vom Querdenker
war anfangs
nicht negativ wie heute,
wo Verschworene
einen Block formen, der
auf diffuse Weise gegen die breite Meinung
einen unklaren Gegenpol bildet. Wir sollten
darüber froh sein! Vergleichbar mit einem
Biotop, werden hier die neuen Meinungen
wachsen, die später wirklich belastbar sind.
Quatsch kann sich nicht behaupten.
Es mag so sein, dass geborene Künstler auf
die Welt kommen oder Manager, aber wahrscheinlich
ist es nicht. Kommen Schwerstkriminelle
mit einem Gen dafür und einer dementsprechend
vorgezeichneten Laufbahn
als talentierte Mörder zur Welt oder ist es
von Beginn an klar, das Dasein als psychisch
kranker Zeitgenosse fristen zu müssen; ich
glaube nicht daran. Es heißt, Autismus sei
erblich? Das zweifle ich an. Einige Beschreibungen
mögen skizzieren, was ich denke.
Da ist die Mutter einer entsprechend
diagnostizierten Tochter, inzwischen ein
Teenager. Das Leben dieser Familie wird
durch die Erkrankung des Kindes bestimmt.
Die in einer Doku anstrengenderweise
nervende, von sich mehr als nur überzeugt
auftretende Frau beherrscht den Film. Das
mag mein subjektiver Eindruck sein. Sie
hätte „vom ersten Moment an, schon gleich
nach der Geburt am Ausdruck der Augen
ihres neugeborenen Mädchens erkannt“, dass
dieses krank sei. Die Penetranz mit der sie,
zur Dauerpflegerin mutiert, alles darstellt,
was rund um dieses Sonderkind getan wird,
weckt in mir die Lust, die Frau sofort aus
dem Verkehr zu ziehen. Jedenfalls weg vom
beinahe erwachsenen Kind, so angewidert
bin ich. Für mich ist das eine Zuweisung
des Fehlers, der Störung ausschließlich ans
Kind, um keinesfalls selbst angegriffen zu
werden. Dazu kommt spürbar der Wunsch,
als barmherzige Pflegemutter geadelt und
anerkannt zu sein.
Ein Erwachsener kann sich dem sozialen
Druck der Umgebung entziehen. So jemand
kann einschätzen, wofür er bestraft würde
und sich entsprechend risikobereit oder
defensiv in die Gesellschaft einfügen. Ein
heranwachsendes Kind kann sich dem
Drängen, täglichen Forderungen an das
gewünschte Verhalten und der Strafe, falls
es den Eltern nicht genügt, nur stellen,
wenn es im nachvollziehbaren Verhältnis
Freiheiten, Grenzen und Liebe erfährt. Viele
meinen, es sei wie es ist und ein Charakter
bestimme. Und wenn nicht dieser, dann lege
ein Gen uns sowieso fest. Das ist gemein
und dumm. Die aus dem Boden sprießenden
Hundeschulen könnten uns lehren, dass
die blödesten Köter stets an der Hand von
frigiden und frustrierten Ziegen laufen. Ein
Babyersatz beißt noch zu, eine Kinderseele
schreit, bis ihr auch das verboten wird.
Ich kenne drei Frauen, die ein vergleichbares
Schicksal teilen wie diese Mutter in der
Dokumentation. Ihren Kindern wurde die
Diagnose Asperger verschrieben, nachdem
die Entwicklung einen schwierigen Verlauf
genommen hat. Meiner Auffassung nach
ähneln sich die Frauen im vergleichsweise
plakativen Ausdruck. Eher arm an Mimik,
präsentieren sie anderen ihr Gesicht schön,
aber auf individuelle Weise immer gleich.
Das wirkt erwachsen und beherrscht, ist
aber möglicherweise schwierig für ein Kind
zu verstehen, darin begriffen zu lernen
welche Bedeutung dahinter steht. Ich könnte
mir vorstellen, dass nun andere Prioritäten
vorherrschen, das Gehirn selbst zu
verwenden: Kinder also Dinge lernen,
die sich gut anfühlen, intelligent sind
und erst Schwierigkeiten machen,
wenn sich die Bedingungen ändern,
vermehrt andere Menschen auftauchen.
Damit erfolgt eine Anpassung,
die so lange effizient ist, wie die
Familie unter sich ist und formt ein
kleines Gehirn, das nachweislich
untypisch geprägt ist. Ich mag hier
als vollkommener Laie weit über das
Ziel einer hilfreichen Einschätzung
pauschal hinausschießen.
Außer dieser massiven psychischen
Störung gibt es eine Reihe von anderen,
welche die Entwicklung junger
Menschen beeinträchtigen, und
neben oft früh diagnostizierten Depressionen
oder selbstverletztenden
Erkrankungen wie das Ritzen, ist besonders
die manische Phase einiger Depressionen
bzw. die schizophrene Psychose in ihren unterschiedlichen
Formen ein Schock für alle
Betroffenen und Angehörige. Auch weil die
jungen Menschen bereits am Anfang eines
selbstständigen Lebens nach Abschluss der
Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 101 [Seite 100 bis 103 ]
Schule davon erwischt und aus der Bahn
ihres Lebens geworfen werden. Das geschieht
für die engere Familie überraschend,
während Außenstehende durchaus früh
bemerken könnten, dass etwas nicht stimmt.
Alle psychischen Krankheiten haben gemein,
dass sie soziale Störungen sind. Mal davon
abgesehen, dass wir uns über die Erblichkeit
streiten oder frühzeitige Erkenntnisse theoretisch
nützen würden, sollte im Vordergrund
stehen, was getan werden kann, wenn
„das Kind in den Brunnen gefallen“ ist. Dabei
ist kritisch zu sehen, dass die Spezialisten
insgesamt helfen mit Medizin und Therapie
selbst- und fremdgefährdendes Verhalten
zu minimieren, aber Menschen dauerhaft zu
Patienten umerklären. Diagnostizierte, die in
der Folge nicht selten ein Leben lang vom
Arzt begleitet werden.
Eine leistungsorientierte Therapie, die
den Anteil der Behandlung des Arztes zur
vollständigen Gesundung des psychisch
Kranken, dass er keinerlei Medikamente
benötigt und die Ziele
seiner Existenz durch diese
anfängliche Unterstützung bis
in eine Unnötigkeit, weitere
Hilfe zu brauchen, begreift
und erreicht, ist selten
erkennbar. Dazu kommt, dass
der überforderte Hausarzt
aufgesucht wird oder der
nächstbeste Psychiater. Im
glücklichen Einzelfall gelingt
es von psychischer Krankheit
Betroffenen, die Ausrichtung
an der Umgebung dahingehend
anzupassen, dass ihnen
ihr Selbst schließlich klar
erkennbar wird. Dann kann
noch vieles gut werden.
Wir haben jetzt die Möglichkeit
selbst zu wählen, was
wir lernen möchten. Können Wege gehen,
ohne dass es uns gesagt wird, was gut
sei, auf eigenes Risiko hin leben wie die
Gesunden. Unsere Fehler: Möglicherweise
vorausgegangene emotionale Wechselbäder,
von den Eltern (oder einem Elternteil) mal
gemocht zu werden und dann wieder nicht,
überfordert von den aufgezwängten Aufgaben,
mögen eine Reihe von Anläufen nach
sich gezogen haben, kurioserweise nach
ebensolchen Partnerschaften zu suchen.
Anderen nachzulaufen, welche zu begehren,
die wechselnd liebend oder manipulierend
Menschen für uns werden, unzuverlässige
Rahmen bilden (wie früher zu Hause) bedeutet,
in diesen Konstellationen zu kollabieren,
in toxischen Verbindungen zu scheitern.
Selbstbewusstsein meint nicht, damit
vertraut zu sein, was die anderen sagen
und es entschiedener als diese auszusprechen.
Das hieße Follower zu werden und ist
meistens dumm. Sich bewusst sein, bedeutet
allgemeine Thesen daraufhin zu prüfen,
inwieweit sie individuell verträglich sind.
Dazu ist Empfindsamkeit nötig. Sport, Kraft
und Ausdauer werden empfohlen, psychologisches
Training auf der anderen Seite,
aber Kraft oder Belesenheit führen kaum
zum Ziel, wenn wir uns nicht als individuelle
Einheit bemerken und ob uns etwas gut tut.
Was wir alles vermeiden sollen: die verkehrte
Ernährung, den zu großen biologischen
Fußabdruck, andere zu verletzen, die Liste
ist lang. Warum sollten wir uns an alle diese
Sachen halten? Individuelle Freiheit und
entsprechende Vitalität, natürliche Leistungsfähigkeit,
freiwillige Disziplin auf ein
selbstgestecktes Ziel hin, können nur unter
persönlicher Auswahl der vielen Möglichkeiten
und Regeln zu unserem eigenen Erleben
werden. Was ich möchte, unterscheidet sich
durchaus von dem, was ich tun sollte. Wenn
beispielsweise klar ist, dass eine Impfung
dem System Deutschland, Europa oder der
Menschheit insgesamt nützt, lohnt es kaum
das zu ignorieren. Da sollte ich dem Aufruf
folgen und das wird nutzen, die Pandemie
schnell zu beenden.
Ich bin aber nicht die Menschheit insgesamt,
empfinde zunächst einmal für mich ganz
allein; und dann möchte ich bocken: weil
ich mich als einzelner Mensch weit weniger
gefährdet sehe, als die Gesamtheit und
Funktionalität des Ganzen. Besonders, wenn
ich für mich bleibe und Kontakte gering
halte. Das Ganze wird durch die Leitung desselben
vertreten, und die sagt mir, was ich
tun sollte. Das macht durchaus Sinn. Wenn
Helge Braun, so habe ich den Sprecher der
Regierung vor wenigen Tagen verstanden,
mahnt, in diesem Herbst würden sich samt
und sonders die Ungeimpften infizieren
– dann müssten etwa dreißig Millionen
Menschen in wenigen Monaten an Covid
erkranken um alle miteinzubeziehen. Drei
Monate dauert der Herbst, das hieße etwa
zehn Millionen neu Erkrankte pro Monat.
Das wären dreihundertdreißigtausend neue
Infizierte am Tag. Und der Chef der kassenärztlichen
Vereinigung prognostiziert das
Ende der Pandemie zum Frühjahr, das passt
zusammen. Mit dieser Mathematik gehen
erwachsene Menschen in anerkannten
Positionen an die Öffentlichkeit. Tatsächlich
droht der Kanzleramtsminister nur damit,
dass die Geimpften nicht erkranken und deswegen
die Ungeimpften den Lockdown, falls
das nötig würde, verschulden. Da kann er
auf Nachfrage sagen, er hätte gemeint, nur
Ungeimpfte erkranken, und nicht, dass die
allesamt im Herbst die Krankheit erleiden.
Im Frühjahr werden wir keinesfalls mit der
Pandemie durch sein, wie viele Menschen
müssten erkranken, damit jeder es gehabt
hat oder wie massiv müsste der Anteil der
Impfungen zunehmen? Wir zählen nach
knapp zwei Jahren mit der Pandemie etwa
vier Millionen nachweislich Erkrankte.
Dabei sind zudem viele alte Menschen mit
eingerechnet aus der Zeit ohne Impfung.
Etliche dieser Senioren wären ohnehin aus
Altersgründen inzwischen verstorben. Wenn
es weiter pro Jahr (nur) zwei Millionen Erkrankte
mit Covid gibt, wird es noch dauern,
bis die rund dreißig Millionen Deutschen,
die derzeit (noch) nicht geimpft wurden,
betroffen sind.
# In fünfzehn Millionen Jahren ...
… ist es hier vorbei, wenn sich jährlich zwei
Menschen in Deutschland damit infizieren,
in fünfzehn, wenn es zwei Millionen von uns
pro Jahr erwischt wie aktuell. Wahrscheinlich
ist doch, dass wir diese Zahl senken können.
Gerade dann wird es eine Krankheit für
immer bleiben, weiter ausgedünnt, was das
Risiko betrifft, sie tatsächlich zu bekommen,
und natürlich schützt die Impfung
den einzelnen Menschen. Bleibt die Frage,
ob nicht auch ein Ungeimpfter viele Jahre
lang frei von einer Ansteckung bleibt, wenn
die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken
geringer wird? Die andauernde Mahnung,
die Ungeimpften würden sich alle infizieren,
wird bösartig in Kombination der daran
gekoppelten Behauptung, dass es kurzfristig
passiert. Dazu kommt, dass „Infektion“
nicht gleichzusetzen ist mit einer schweren
Erkrankung. In der Summe dieser Überlegungen,
bedeutet die asoziale Haltung, sich
einer Impfung zu verweigern, nicht dumm zu
sein, sondern ausschließlich egoistisch. Das
könnte ein forscher Gott gezielt bestrafen,
und wir sollten uns deswegen fürchten?
Jedem die seine Auslegung.
# So steht es geschrieben
Seis drum. Sich impfen zu lassen, bedeutet
zunächst, ein vergleichsweise soziales
Leben mit den anderen wie früher führen
zu können und dem Ende der Pandemie
insgesamt näher zu kommen. Die eigene Gefährdung
einer schlimmen Erkrankung kann
als sekundär begriffen werden, wenn man
Statistik als Maßstab nimmt. Das heißt nicht,
die furchtbare Realität dieser Krankheit zu
verleugnen, sondern sie in Kauf zu nehmen,
wie etwa versehentlich erschossen zu werden
am falschen Ort zur falschen Zeit oder
zufällig Opfer eines Verkehrsunfalls zu sein.
# Hier wäre unser Glaube gefragt ...
... stärker als die Furcht vor dem Zufall zu
sein. So darf kein Prediger öffentlich reden.
Wir laufen Gefahr, dass diese Spürbarkeit des
eigenen Organismus’ im Zusammenwirken
von Denken, Fühlen, Gefühlen und Handlungen,
die wir ausführen, verloren geht, wenn
es scheinbar befriedigt zu tun, was gesagt
wird. In einer Welt, die zunehmend auf den
Schultern früherer Generationen steht oder
in der Stärke der gesellschaftlichen Kollektivität
definiert ist, haben wir die Möglichkeit
zu überleben, ohne die Notwendigkeit zu erleiden,
unserer selbst bewusst zu sein. Dafür
zahlt der Einzelne einen hohen Preis. Viele
merken das erst, wenn eine potentiell tödliche
Erkrankung oder hohes Alter ihnen die
Endlichkeit ihres Daseins vor Augen führt.
Dann kann es zum Aufwachen und sich von
der Fremdbestimmung der Mehrheitsmeinung
zu befreien reichlich spät sein. Für
einiges, was man gern getan hätte – wozu
nötig gewesen wäre, damals zu wissen, sich
genau das zu wünschen, als die Zeit dafür
war – ist es nun zu spät.
Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 102 [Seite 100 bis 103 ]
Zu vermitteln, einen Platz für individuelles
Entdecken persönlicher Vorlieben zu finden,
der dem Druck der anderen gewachsen ist,
und zwar früh, wenn die eigene Persönlichkeit
noch Perspektiven entwickeln kann,
sollte wichtiger genommen werden, als uns
zu bedrängen, was gut für alle und deswegen
richtig sei. Die Schwierigkeit besteht
nicht darin, zu wissen, dass Kreativität oder
geniale Sportlichkeit befriedigen. Das Problem
ist ein individuelles Wunschbild, wer
man sein möchte zu entwickeln – und den
existentiellen Platz dafür zu finden. Finden
ist das Ergebnis von suchen und der Verzicht
auf einen unnötigen Kampf. Somit wäre
der Respekt anderer Meinungen erst die
darauf folgende Erkenntnis. Die modernen
Kirchen scheinen diese Reihenfolge, erst
merke ich, was ich möchte und schaue, wo
ich es finde, dahingehend umzukehren (wie
es vernünftigerweise jeder Staatsmann von
seinen Bürgern fordert), dass auch sie das
Allgemeinwohl über das Selbst stellen. Im
„Römer“ heißt es noch: „Stellt euch nicht der
Welt gleich“; aber das ist ja auch lang her.
Das kollektive, sozial bindende Anprangern
(und denunzieren) böser Nachbarn,
unredlicher Firmen usw. erklingt aus jeder
öffentlichen Stimme. Dabei wird ein ums
andere Mal vergessen, dass die Toleranz
anderer vernünftigerweise dem Selbstschutz
dienend anzuwenden ist. So herum wird
jemand als Egoist verschrien, aber wen
das nicht stört, der kann bemerken, dass
jede Existenz zunächst für sich selbst zu
sorgen hat und sich nur deswegen sozial
verhält, weil es dann eleganter läuft. Um
gekonnt durchs Leben zu schwimmen, wird
man nicht umhin kommen, anfangs auf das
Wasser einzuschlagen, bis man merkt, wie es
leichter geht. Sozialer Verhaltensdruck kann
Menschen (zunächst unbemerkt) zu emotionalen
Krüppeln machen. Sie probieren,
Auseinandersetzungen und jegliche Gewalt
zu vermeiden, so zu empfinden wie es
richtig gehöre. Man kann gut voran kommen,
funktionieren als ein Teil vom Ganzen, dabei
die eigene Funktionalität erst schmerzhaft
bemerken, wenn unverständlicherweise die
eigene Leistung einbricht.
# Burnout ist ein neues Wort für den späten
Kollaps
Der moderne Staat hat sehr gut gelernt, was
gut für die Menschen im Land ist. Unsere
Politik, die Kirchen und alle Gruppierungen
passen sich zur gemeinsamen Mitte hin an.
Gebote des Sollens werden lauter als die
des Wollens, Möchtens oder Könnens propagiert.
Die Kanten der Härtesten werden
scheinbar gebrochen. So darf der Einzelne
nicht vergessen, es den Größeren von uns
gleich zu tun und muss seinen individuell
gepflegten, autistisch und narzisstisch
verbrämten Egoismus lernen, ihm einen
salonfähigen Namen verpassen.
Der gesunde Mensch spaziert vernünftigerweise
bruchsicher kantig oder smart auf Teflonbasis,
dickfellig oder alternativ glibschig,
wendig wie unfassbar aalglatt nach Talent
und Naturell herum.
Sonst gibt’s immer Stress.
:)
Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 103 [Seite 100 bis 103 ]
Unter- und oberflächlich
Sep 19, 2021
Bevor ein großes
Bild gemalt werden
kann, müssen Kreative
wissen, wo genau
auf der Leinwand
die Inhalte des
Motivs dargestellt werden könnten. Dem
geht eine Entwurfsphase voraus, und dann
erarbeitet sich ein Maler für gewöhnlich
diese Basis mit einer „Untermalung“. Das ist
eine Konkretisierung der ersten Bleistiftlinien
auf der Leinwand mit dünner Farbe,
so etwa in der Form, wie es einmal werden
soll. Ein Motiv zeichnet sich durch unterschiedliche
Qualitäten aus, das Thema und
die Mittel, dieses zu kommunizieren. Exakte
Abbildungen unserer Umgebung sind keine
Kunst mehr. Man muss nicht Maler sein. Die
natürliche Wiedergabe der Realität, Farbe
und Helldunkel, die Perspektive, das wird mit
der überall verfügbaren Technik ganz leicht.
Sogar zu filmen ist einfach.
# Alle sind Künstler
Der im Ganzen künstliche Mensch ist noch
weitgehend Utopie, künstliche Intelligenz
entwickelt sich bereits, künstliche Details
bemerken wir überall. Sie bilden einen
Großteil alltäglicher Gegenstände, animieren
unser Tun und verändern das Denken,
weil ihre Verfügbarkeit unsere Erwartungen
beeinflusst. Wir tun ganz einfach Dinge,
die einmal sehr mühselig gewesen sind.
Aber was ein Künstler ist, und ob dafür
eine besondere Fähigkeit nötig sei oder
Talent, darüber streiten manche. „Alle sind
Künstler“, meinen welche. Sich selbst und
damit die eigene Natur genau zu erforschen,
wäre nötig, finden die anderen. Natur und
Künstliches sind miteinander verwoben
wie nie zuvor.
Das Privileg, die Natur und das Drumherum
festhalten zu können, ist längst
keines mehr. Heute machen alle Bilder.
Sie nutzen ihr Handy oder fotografieren
mit einer guten Ausrüstung. Als ich
Schüler war, bin ich durch manches
Fotoprojekt unterrichtet worden, konnte
Negative, Fotos in eigener Dunkelkammer
entwickeln. Anfangs ausschließlich
in schwarzweiß, erweiterte ich später die
Ausrüstung noch und traute mich auch an
farbige Abzüge ran. Dafür war es nötig, in
völliger Dunkelheit zu arbeiten, und die
Chemikalien mussten exakt temperiert sein.
Wenn die Aufnahme belichtet war, steckte
man das Fotopapier in eine spezielle Dose.
Nachdem man den Deckel verschraubt und
Entwickler hinein gegossen hatte, musste
sie eine Zeit lang bewegt werden. Das kennt
man ja auch beim Verarbeiten schwarzweißer
Bilder. Die dort genutzten flachen Wannen
hebt man (bei Rotlicht) immer ein wenig
am Ende an und setzt sie wieder ab. Die
Flüssigkeit soll gleichmäßig
über das Fotopapier laufen,
drüber gleiten und nicht nur
darauf stehen. Ich kaufte
mir eher zufällig einen
gebrauchten Vergrößerer, der
auch für farbiges Belichten
konstruiert war. Anfangs
dachte ich gar nicht daran,
diese Funktion zu nutzen.
Später kam das andere, für
Farbabzüge noch benötigte
Material dazu, es war dann
gar nicht so schwierig. Die
besondere Trommel für die
Farbfotos, extra lichtdicht
konstruiert, drehte sich in
einer Halterung angekuppelt
und angetrieben durch
den kleinen Motor hin und
her. Dabei durfte das Licht
wieder eingeschaltet sein. Als Dunkelkammer
war ein kleiner Raum im Keller meiner
Eltern von uns ein wenig umgebaut worden.
Die benötigten Chemikalien mussten eine
ganz bestimmte Temperatur haben und warteten
vorgewärmt in kleinen Zylindern auf
den Moment ihrer Anwendung.
Dafür gab es eine größere Box
aus rotem Plastik, so eine Wanne
mit Wasserbad, die hatte
einen Rand mit kreisförmigen
Löchern. Dort fanden die Röhren
ihren Platz und bekamen
ihr handwarmes Fußbad. Ich
hatte alles auf dem Flohmarkt
gekauft. Das war am Yachthafen
im Herbst gewesen, normal
ist dort gebrauchtes Bootszubehör
im Angebot. „Ob das
Equipment auch funktioniere?“,
fragte ich skeptisch den Verkäufer, weil ich
mich ja mit der Farbe nicht auskannte. „Ich
verkaufe doch keinen Schrott“, sagte der
Mann. Das habe ich geglaubt. Ich nutzte
ein Buch als Ratgeber, mir die Sache selbst
beizubringen.
# Gutgläubigkeit ist oft …
… der Anfang, sich auf etwas Neues einzulassen.
Es dauerte, bis ich die Methode
herausfand, einen immer wiederkehrenden
Fehler zu eliminieren. Das war ein kleiner,
bläulicher Strich auf fast allen Abzügen
etwa in der Mitte. Durch Zufall las ich
irgendwo in einer Zeitschrift in einem
Beitrag über Fotografie, dass einige die
Dose mit der Hand auf dem Tisch hin und
her rollerten. Das probierte ich, und dann
trat das Problem nicht mehr auf. Ich nahm
an, dass meine Maschine immer etwa drei
Umdrehungen machte, dann die selbe
Anzahl zurück – und weiter. Immer im selben
Moment wechselte das Ding die Richtung.
Meine Vermutung: Mit der Hand gedreht,
schwappt der Entwickler genauso über das
Papier wie gewünscht. Es bildet sich aber
kein konzentrierter Sud in der Pfütze unten.
Die Dose rollt dabei nie exakt an derselben
Stelle zurück. Da fließt das Zeug, wie milde
Brandung eines windstillen Tages den
Strand leckt. Das hat gedauert, bis ich diese
Lösung fand. Man muss Nerd sein dafür.
Ich kannte mich aus mit vielem und besitze
bis heute eine OM-2. Sie war zu meiner Zeit
damit zu fotografieren eine professionelle
Spiegelreflexkamera und hochmodern. Gut
wie eine Nikon, ist sie ein wenig kleiner und
nicht schwer. Viele Ältere waren es gewohnt,
einen Belichtungsmesser dabeizuhaben.
Wenn meine Mutter ein Bild mit ihrer
hochwertigen Sucherkamera machte, maß
sie vorher das Licht mit diesem Ding in der
Hand, steckte es wieder in die Tasche und
stellte anschließend Schärfe und Verschlusszeit
am Objektiv der Kamera ein.
Eine Spiegelreflexkamera war dagegen
etwas ganz besonderes. Nachdem inflationär
wenig geübte Menschen (als professionelle
Fotografen) in Scharen damit zu knipsen
begannen, wurden die handelsüblichen mit
Mittelpunktmessung angeboten. Dazu kamen
Ideen der Hersteller, die Schärfe schnell
und direkt nach dem Geschauten im Sucher
der Kamera
fixieren zu
können,
anstelle der
manuellen
Vorauswahl
im Ring vorn.
„Drei Meter
bis unendlich“,
was
heißt das?
Wir lernten:
Fotografieren
bedeutet,
Schärfe, Verschlusszeit und Blende – in
Relation zur Entfernung des Motivs – und
die Filmempfindlichkeit zu berücksichtigen.
Bei meiner Kamera stellte ich diesen Wert
ein, nachdem der Film eingelegt war. Damit
verstand die moderne Automatik zu denken.
Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 104 [Seite 104 bis 106 ]
Die OM-1 war noch rein manuell, ohne
Belichtungsautomatik gewesen, zu meiner
Zeit bereits ein Klassiker. Olympus eroberte
sich einen Markt dort, wo auf bestem
Niveau innovativ gedacht wurde. Viele
Profis nutzen diese Technik, und das war,
bevor das Zoomobjektiv zum Standard
wurde. Man rümpfte die Nase über nicht
vergleichbare Qualität und steckte lieber
um! Der Bajonettverschluss von Olympus
ist perfekt. Hat man einmal die Bewegung,
wie es vom Hersteller gelehrt wird, das alte
Objektiv zu greifen und gegen ein neues zu
tauschen erlernt, geht es schnell und sicher.
Meine einst neuartige, hochgelobte und
besonders raffinierte Kamera hat nun eine
Belichtungsautomatik, die wahlweise im
entsprechenden Modus, anstelle der manuell
definierten Kombination aus Blende und
Zeit, einen Scan maximal denkbarer Motive
vor der Aufnahme durchlaufen lässt. Das ist
ein blitzschnelles Rollo, bedruckt wie unsre
aktuell bekannten Quadrate aus schwarzweißen
Feldern, die nur das digitale Handy
lesen kann, ein QR-Code. Das war damals
das Beste an Automatik, was du kaufen
konntest – und kostete nicht einmal so viel.
Für die Mitnahme auf meiner Jolle, ein
kleines Boot, das schlimmstenfalls während
einer Reise auf der Ostsee auch kentern
könnte, baute ich mir eine wasserdichte
Box. Ich nahm eine große Majonäsedose,
so mit wulstigem Deckel in der Größe von
einem Schuhkarton, aber quadratisch. Die
war aus dem Großhandel für Lebensmittel,
wie meine Eltern sie im Geschäft hatten.
Vielleicht waren auch Gurken darin gewesen
oder eingelegte Heringe, so genau weiß ich
es nicht mehr. Dahinein kam die Kamera mit
den Objektiven, die durch eine Anordnung
von kleinen Sperrholzwänden ihren Platz
fanden. Heute gäbe es diese Dinge fertig
zu kaufen, damals möglicherweise genauso,
aber früher gab es auch mehr Leute, die
eigene Lösungen für manches fanden.
Ich fand es spannend, für mein astronomisches
Fernrohr diverse Adapter und
Stativkonstruktionen selbst zu erdenken. Ich
konnte den Mond oder die Sonne bei kurzer
Verschlusszeit direkt hindurch fotografieren
oder die seitlich befestigte Kamera mit
langer Belichtung nachführen, wenn mein
kleiner Refraktor von Quelle (etwa einen
Meter lang) parallaktisch ausgerichtet stand.
Mit ruhiger Hand musste man das Rädchen
am Ende der biegsamen Welle ganz
langsam drehen, um die Bewegung der Erde
auszugleichen. Damit sah ich die Monde des
Jupiter, die Ringe des Saturn und die kleine
Sichel des Abendsterns, der Venus. Ich zeichnete
Mondkrater auf Papier nach dem, was
ich im Okular erblickte. Ich fotografierte den
Nordamerikanebel im Schwan. Ich suchte
die Venus im Süden mittags am hellen Tag
und fand sie. Ich probierte, den Merkur zu
sehen, aber es gelang nicht. Ich fotografiere
den Halleyschen Kometen. Meine Oma hatte
ihn als Kind gesehen, behauptete, er wäre
damals quer über den ganzen Himmel gegangen;
sie machte eine ausholende Bewegung
mit der Hand. Wir fanden es schwierig,
das Ding im Dunst überhaupt zu lokalisieren.
Erst auf dem Foto war ein Schweif wirklich
zu erkennen, weil es etwas länger belichtet
immer mehr zu sehen gibt als mit bloßem
Auge. Lina ist einer der wenigen Menschen,
die den bekannten Kometen zwei Mal im
Leben sehen konnten und ist im selben Jahr
verstorben.
Ich war nur ein fasziniertes Kind, begriff
gar nichts vom Tod, obwohl ich schon das
Studium an der Armgartstraße angefangen
hatte. Zu fotografieren oder malen, mich
zu interessieren, bedeutete, von Onkel und
Tante, den Eltern und vom Lehrer gelobt zu
werden. Meine Bilder waren kaum besonders,
meine Versuche laienhaft, nur im Zeichnen
bin ich wirklich gut gewesen. Sich Dinge
selbst anzueignen, gefiel mir. Ich war darin
neugieriger als manche, die lieber erwachsen
wurden und endlich selbstständig sein
wollten, frei von ihren Eltern. Im Unterschied
zu den anderen, die sich in ihrer Altersgruppe
sozialisierten, blieb ich im
vertrauten Kosmos der Familie
und einigen, mir ähnlichen
Freunden. Wir begannen die
Boote zu segeln, die unsere
Eltern sich hatten neu bauen
lassen, als diese Klasse modern
gewesen ist.
# Meine Fotos?
Wir kannten kein Internet.
Heute, wo es unendliches
Zubehör gibt und Lifehack-
Videos noch obendrein,
interessiert es (vermutlich)
wenige, wie ich meine Zeit
verbrachte. Man löste seine
Probleme allein, das war
nicht ungewöhnlich. Ich
jedenfalls teilte meine Erfahrungen nicht. Es
war eine private Sache zu fotografieren, sich
am Sternhimmel auszukennen, eigene Bilder
zu entwickeln, sogar in Farbe – das hatte
keine soziale Komponente. Da lockte mich
nichts, es gab kein Netz; in keiner Weise kam
ich auf die Idee, mich deswegen mit anderen
auszutauschen. Dafür waren keine zwingenden
Anreize gegeben, jedenfalls nicht wie
jetzt mit Youtube und all dem. Ich verhielt
mich ganz normal? Obwohl es natürlich
schon immer Menschen gegeben hat, die
ihre Hobbys in reger Gemeinschaft pflegten,
na klar. Das ist für mich zu segeln. Das ganze
andere habe ich nur so getan.
Ich sammelte Bilder in Kartons, andere
klebte ich in Alben. Es kam vor, dass wir
im Winter mit einigen Freunden irgendwo
zusammen hockten, Fotos anschauten vom
Segeln, wenn wir etwa mit mehreren Jollen
in Dänemark Urlaub gemacht hatten. Auch
meine Eltern sahen sich die Bilder an, aber
insgesamt dürften es nur eine Handvoll
Menschen gewesen sein, die meine Alben
kannten. Als das digitale Zeitalter begann,
verlor ich das Interesse an der Fotografie,
aber nicht deswegen. Ich besitze kein
Smartphone. Ich habe noch ein Seniorenhandy
meiner verstorbenen Mutter, das ich
gelegentlich nutze und eine kleine Pocketkamera
mit einem Chip, den mein Rechner
lesen kann. Das genügt mir heute. Wenn ich
ein großes Acrylbild in Angriff nehme, ist der
Arbeit mit Farbe auf der Leinwand eine längere
Zeit des Entwerfens voraus gegangen.
Dazu nutze ich eigene Fotos dieser kleinen
Kamera und welche, die ich mit dem Pad
mache; zahlreiche ergoogelte Ausschnitte
aus dem Internet verwende ich zum komponieren
meiner ungewöhnlichen Ideen.
Ich liebe Porno, bin fasziniert von den
Mädchen, die ja irgendwo real existieren
und Nachbarn haben. So alte Esel wie mich
zum Beispiel. Wie mag es sein, von anderen
erkannt zu werden, sich’s bloß vorzustellen,
es könnte passieren? Im günstigen Fall
könnten wir alle davon lernen, es nicht so
wichtig zu nehmen mit der Scham. Unsere
Welt ist transparent, aber manche glauben,
wenn sie sich bildlich gesprochen eine Hand
vor das Gesicht halten, könnten wir anderen
sie nicht sehen? Wie Kinder sind die.
Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 105 [Seite 104 bis 106 ]
# So tun als ob, überzeugt doch heute niemanden
mehr
Um eine Figur anatomisch korrekt, entsprechend
meiner Idee hinzubekommen, benötige
ich oft einzelne Gliedmaßen als Vorlage.
Ich probiere auch vorab im Entwurf, den
Gesichtsausdruck selbst zu manipulieren. Ich
nutze verschiedene Details, verwende Nasen,
Augen oder den Mund aus einem anderen
Foto, kopiere Menschen, die ich mir suche.
Das treibe ich, bis mir ein individuelles Bild
gelingt, das es so nicht gibt. Die Elemente
montiere ich in Photoshop. Je nachdem,
ob es wichtig ist, jemanden Bestimmtes
nachzumalen oder gerade nicht, weil ein Internetbild
mir nicht gehört, passe ich meine
Fotovorlage an.
# Persönlichkeitsrechte?
Heute wird der verhasste
Nachbar gern polizeilich
verfolgt und wegen Bagatellen
angezeigt, genauso
andere Autofahrer oder ein
Fremder, der andere beleidigte.
Auch in der Musik,
wenn einige Takte beim Hit
des anderen geklaut wurden,
muss sich ein unliebsamer
Konkurrent schon mal
vor Gericht verantworten.
Beim Illustrieren von Infografik,
wenn es nötig war,
nach anderswo abgebildeten
Vorlagen zu arbeiten wie
alle Zeichner es tun, sagten
wir unter Kollegen und in der Herstellung
im Verlag, der „Eigenanteil (unserer Arbeit)
muss hoch sein“, damit niemand dem Grafiker
ein Plagiat unterstellt. Erfolgreich unterstellen
könnte, würde ich heute ergänzend
sagen, und bei der Malerei werden keine
Fotos montiert. Mein Eigenanteil der Herstellung
auf der Leinwand ist vollumfänglich
und komplett selbstgemacht. Neid und missgünstige
Mitmenschen werden nicht erst
seit Mozart und Salieri thematisiert als ein
Problem in der Kunst. Auch im Alltag hat die
Verklagbarkeit ihre Blüten in die Wiedergabe
anderer gemalt. Die unscharf gemachten
Gesichter der Menschen bei Aufnahmen aus
einem Prozess sind nachvollziehbar, aber
dass jemand online mit Bild gesucht wird
und dasselbe vom Tag seiner Festnahme an
nur noch verpixelt gezeigt wird, ist typisch
für eine Gesellschaft, die sich immer selbst
belügt.
# Mein Bild!
Dann wird gemalt. Den selbst
Schaffenden befriedigt der
Aufwand, eine Eisenbahnszene
wie die aktuelle, korrekt mit
Güterwagen, Puffer, Kupplung und
dergleichen zu kreieren – richtig
zumindest im Sinne einer überzeugenden,
technischen Anmutung
– und dass die Betrachter
des Bildes dies für gewöhnlich
nicht mitbekommen. Da man es
heutzutage gewohnt ist, mal eben
zu knipsen, schaut der Mensch nur
noch auf das gemalte Thema und
ekelt sich womöglich, weil sich
nicht gehört, was ich male?
Die kreative Leistung geht
dabei unter, denn ich muss ja lang dran
schaffen.
# Selfexecuties
Peng! Das ist einer der Gründe, hier ein
überspringendes Blitzlicht in das Selfie
der Mädchen knallen zu lassen und eine
Art festgefrorenes Foto zu malen. Eine
kurze Ewigkeit lang dauert die Szene auf
meiner Bühne. Es hat seinen Reiz, absurde
Realität zu gestalten. Porno? Die auf
diese Weise nicht zu erzielende Anerkennung
entlarvt meinen inneren Wunsch,
sie zu bekommen und führt mir sofort ihre
nichts bedeutende Leere vor Augen. Mir
gefällt gerade, wie oberflächlich die Leute
sind. Nun verordne ich mir, dass, würde ich
ansprechende Sachen malen und ausstellen,
das Lob der Menschen unehrlich wäre?
Obwohl ich
dann reichlich
davon bekäme
(und Geld).
# Christo
packt’s noch …
Nach dem Tod
berühmter.
Kunst ist nur
selten welche,
darin besteht
ja gerade das,
was ich gar
nicht mehr
versuche, aber
so genial ist.
Die Masse
der Kollegen
ist doch wenig aufregend und manche
blenden nur. Wir könnten zeigen, was hinter
den Masken ist, der Fassade, das ist unsere
Aufgabe. Auch selbst Theater zu spielen und
erst recht die Maske aufsetzen, kann der
Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Einer
drehte den Spieß noch ein weiteres Mal
um. Die große Plane wird noch vor unsere
gehängt, die wir bislang gar nicht als solche
bemerkten. Der umgekehrte Einfall, geschichtsbeladenen
Prunk von Staatsfassaden
wegzupacken: Eine unglaubliche Kunstaktion
passiert ja gerade in Paris! Posthum werden
der Künstler und seine Liebste Jeanne
Claude damit beglückt, das Lebenswerk mit
dem verhüllten Arc de Triomphe abzurunden.
Ich habe irgendwann gelernt, Christo zu
mögen, ohne mich all zu sehr damit zu beschäftigen.
Ich freue mich sehr über seinen
späten Triumph. Wie viele Menschen konnte
und musste der Großartige (wortwörtlich)
davon überzeugen, diese Sachen täten not
gemacht zu werden?
Ich sehe es schließlich ein: Jede diesbezügliche
Einbildung, ich selbst sei von Natur
aus irgendwie bedeutsam, ist verpufft. Mein
intellektueller Horizont ist viel zu eng für
Großes. Ist doch egal. Man ist nicht besonders,
niemand ist besser; man muss sich
den entsprechenden Platz auf einem Sockel
hart erarbeiten. Mir fehlt aber auch alles,
um in der Gesellschaft voranzukommen.
Kein Geschick ist mir gegeben, den Zeitgeist
wirklich zu treffen. Es mangelt mir am Fleiß,
schnell und produktiv zu malen. Der Wille,
Beziehungen zu nutzen und die Bereitschaft
mich anzupassen, fehlt mir. Ich könnte nicht
einmal einen kleinen Laden oder handwerklichen
Betrieb mit Gewinn betreiben.
Insofern habe ich mich gern entschieden,
einzusehen, dass ich früher ein Eigenbrötler
war, was Kunst betrifft und die späteren Jahre
mit brotlosen Versuchen, meine Bilder in
einer Szene zu etablieren, nachvollziehbare
bis unausweichliche Fehlschläge gewesen
sind, bezüglich echter Anerkennung und entsprechender
Existenz. Das interessiert mich
nicht mehr. Mein Erfolg ist nur das jeweilige
Bild selbst, das mir gelingt. Farbe dort wo
ich es will. Geld zu bekommen für ein Bild,
bedeutet mir heute gar nichts. Die damit
verbundene Anerkennung erscheint mir
inzwischen eine zweifelhafte zu sein, für die
es sich nicht unbedingt lohnt, mehr zu tun.
Nun bleibt noch Spott, wenn es mich mal
bekümmert – aber viele sind einfach so doof
und ich finde, sie bescheißen sich die meiste
Zeit selbst. Es geht ja auch anders. Ich bin
zufrieden.
:)
Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 106 [Seite 104 bis 106 ]
Gegensätze
Sep 24, 2021
Ich glaube, dass
viele Menschen unbewusst ein Korrektiv
der Welt suchen. Sie schöpfen Kraft daraus,
manches, das sie nicht bereit sind zu verstehen,
auszublenden und verdrängen es lieber.
Mit ihrem Intellekt beschreiben sie ein zur
Wirklichkeit alternatives Gebäude, in dem
sie aber auch gefangen sind. Sie möchten
besser sein? Es fällt ihnen leicht, schlechte
Dinge zu brandmarken, als wären diese nun
außerhalb vom Kosmos.
Nicht wenige verwechseln ihr kleines,
gefühltes Universum mit dem großen. In der
Verblendung unsere Gesellschaft insgesamt
zu korrigieren, wenn andere beschuldigt
werden, verdrängt es das wahre Bild der
Umgebung. Das Beschimpfen etwa von
Internetpornografie oder das Verwerfliche
der Prostitution anzuprangern, mag einige
darin bestärken, gute Menschen zu sein.
Unter Gleichgesinnten ausgesprochen, wirkt
Einbildung noch besser. Das wird kaum ändern,
dass viele, an einen bestimmten Platz
ins Leben gestellt, eklige Dinge tun. Penetrant
nehmen nicht wenige an, die anderen
könnten leichthin leben wie sie selbst – und
alles wäre gut.
# Follower der ‚guten‘ Partei
Mit einem Plakat beispielsweise Gewaltverzicht
einzufordern, ändert den Menschen
grundsätzlich nicht. Möglicherweise wird ein
neues Gesetz irgendwo Grenzen ziehen und
das Problem verlagern? Aggression an sich
kann nicht abgeschafft werden. Als Kreative
sind wir verpflichtet, Unverständliches und
absurde menschliche Empfindungen in uns
auszuloten, anstelle die Solidargemeinschaft
und das Regelwerk der Gesetze zu beschreien.
Ich komme aus Wedel, war dort
auf der Realschule. Um studieren
zu können, ist es nötig gewesen,
eine Art Abitur zu haben. Für mich
bedeutete das am Steinhauerdamm
in Hamburg zwei Jahre
dranzuhängen. Fachhochschulreife
hieß das damals. Die Lehrer an
dieser Schule standen mehrheitlich
politisch der SPD nahe
und ließen keinen Zweifel daran.
Sie waren grundsätzlich kritisch
gegenüber dem Staat eingestellt.
Der Deutschlehrer (den wir beim
Vornamen ‚Willi‘ nennen durften)
forderte uns beispielsweise auf,
die anstehende Volkszählung zu
verweigern. Man könne sagen,
man sei krank und etwa behaupten,
nicht fähig zu sein den
Fragebogen auszufüllen. Auf unsere
Frage, welche Krankheit wir
vorschieben sollten, wenn wir doch gesund
wären meinte der Lehrer, da könne man eine
erfinden: „Nabelsausen“, das würde er selbst
machen. Da haben einige gelacht.
Das damals neue, grüne Umweltverständnis
schlug sich auch im Unterricht nieder. Auf einer
Klassenreise stoppten wir an einem Bauernhof.
Ich würde sagen, dass es diejenige
war, die uns in das Hinterland der Oste führte.
Wir waren mit dem Fahrrad in Schulau
an Bord der Lühefähre gegangen. Dann sind
wir an einem schönen Tag bis halb nach
Bremen geradelt. Dort bezogen wir einen
renovierten Resthof, der extra auf solche
wie uns gewartet hatte. Etwa eine Woche
verbrachten wir dort? Vielleicht ist es nur
ein langes Wochenende gewesen. Ich
erinnere mich nicht mehr so gut daran.
(Ich spielte schlecht Tischtennis mit
Sandra und war ziemlich verliebt. Das
nütze mir nichts. Da waren anderswo
sportlichere Männer unterwegs, und
ich habe mir nur einiges eingebildet).
Ich glaube, dass das mit dem Biowindrad
auf der Rückreise war. Wir machten
einen Umweg zu einem besonderen
Hof, den der Lehrer kannte.
Ein nebliger Tag. Wir standen nahe
einer Scheune oder anderen landwirtschaftlichen
Schuppen und wurden
angewiesen, dieses Ding zu bestaunen.
Es war sehr groß. Der Bauer hatte es
selbst aus Blech zusammengenagelt.
Man stand davor, und der Himmel war grau.
Es nieselte ein wenig. Das Windrad ragte vor
uns auf wie ein tumber Riese, der gerade
Pause macht. Da drehte nix. Ein graues,
silbernes Alublechgeschleuder, das nicht
schleuderte. Norbert erklärte, wie großartig
es wäre. (Unser Englischlehrer war auch
Klassenlehrer). Seine Augen leuchteten grün,
als er behauptete:
„Das ist die Zukunft.“
# Auch Politik war eine wichtige Sache für
uns
Die grüne Politik war noch neu, und die
heutige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
etwa drei Jahre alt. Die Demonstrationen
gegen Atomkraft waren kraftvoll und
unübersehbar, die Sonne des Logos reckt
kampflustig eine Faust nach oben! Wirkliche
Furcht vor dem Klimakollaps kannten wir
nicht. Das würde irgendwann später sein.
Niemand hätte sein Kind Greta genannt:
Meine Mutter hieß Greta. Politik hatte
einen hohen Stellenwert im Unterricht.
Wir schauten den ganzen Tag fernsehen in
dieser Schule an dem Tag, wo Schmidt im
Misstrauensvotum gestürzt und Helmut
Kohl zum Kanzler wurde. Dieser Lehrer war
wirklich engagiert: Mein Politiklehrer K.
hatte in Wedel eine Freundin und kaufte
gelegentlich Fisch bei uns. Ich traf ihn bis
vor kurzem in der Stadt. Zum Schluss schien
er mir dement zu sein. Er erzählte, er hätte
eine Zeitlang in Schenefeld gewohnt, am
Parkgrund. Ich sagte: „Da ist ein kleiner
See.“ Und er meinte: „Ja.“ Dann kam anderes,
worüber wir sprachen, aber nach einiger Zeit
fragte er (wie anfangs), wo ich heute lebe?
Und ich sagte ein weiteres Mal: „Schenefeld.“
Da hätte er auch mal gewohnt, erinnerte er
sich (wieder).
„Am Parkgrund.“
„Gibt es da nicht einen See?“, wollte ich
wissen. „Ja“, bekundete er. Bald darauf ging
ich; frustriert – und fuhr später mit dem Bus,
traf ihn noch einmal.
Vom Café lief ich zum Bahnhof, um einzusteigen,
aber man hätte auch in die andere
Richtung gehen können, und tatsächlich: Wo
„Salamander“ gewesen war, stieg K. ein. Er
erkannte mich nicht? Ich saß gleich vorn auf
dem einzelnen Platz links. Mein alter Lehrer
ging im Gang an mir vorbei, sah mich direkt
an und schaute wie durch mich hindurch.
Ich verzog keine Miene, weil das irgendwie
besser gewesen ist. Am Galgenberg stieg der
Verwirrte aus, als wenn alles ganz normal
wäre. Das ist das letzte Mal gewesen, dass
ich ihn sah.
Es war noch
vor Corona,
aber sehr lang
ist es nicht her.
K. hat schon
damals gern
erzählt. Er
wäre in der Armee
gewesen,
im Rheinland.
„Da hatten
wir weibliche
Offiziere.“
Aus Großbritannien:
„Tolle Frauen!“, so erinnerte er sich noch
im Café; damit hätte man den gar nicht
in Verbindung gebracht. Ein kleiner Mann
mit Schnauzbart. Der trug ein abgewetztes
Sakko und wirkte immer wie ein verplanter
Junggeselle, das Haar schon mal zu lang und
ungewaschen fettig. Es stieß am Kragen auf.
Anders als die Kollegen, lief er immer im
Anzug herum – der aber schlecht saß. Die
Sep 24, 2021 - Gegensätze 107 [Seite 107 bis 109 ]
Ellenbogen erinnere ich glänzend, blank
gescheuert. Irgendwie schief hing dem
Mann eine Schulter. Der lief vom Gangbild
tatsächlich wie ein schlampiger Soldat,
aber mit einer Hand in der Hosentasche.
Solche gab es in den Achtzigern noch einige.
Das ist quasi lässige Zackigkeit; das kann
man einem jungen Menschen von heute
kaum begreiflich machen. K. wurde von uns
gesiezt. Versuche, ihn duzen zu dürfen, wie
das die „große“ Dagmar probierte (wir hatten
zwei), weil es bei Angelika (der Klassenlehrerin)
schließlich klappte, scheiterten.
Ingeborg (Mathe) schlug das „Du“ von sich
aus vor, ein Dammbruch. Beim Bockelmann,
der Bo-okelmann genannt werden wollte,
musste ein „Sie“ unbedingt sein. Da kam
man ja gar nicht auf die Idee, ihn deswegen
anzusprechen.
Die (echte) Freundin von K. war auch groß
gewachsen, überragte ihn deutlich. Die beiden
liefen Händchen haltend durch Wedel,
und es sah ein wenig drollig aus.
Ein überzeugter SPD-Wähler.
„Die anderen
kann man ja nicht
wählen.“
Im Studium ging
das weiter. Einmal
saßen meine Professoren
in einer
Bar mit uns Kommilitonen
rum, und
Tom Knoth fing an,
über das „Hamburger
Abendblatt“
zu spotten. „Die
haben ein „Wochenend-Journal!“,
meinte er und
half nach: „Wisst
ihr, was ,Journal‘
heißt?“ Aber er
fragte nicht in Richtung der Studenten. Und
sein Freund, mein Professor Otto Ruths,
nickte nur. „Erscheint täglich, wird täglich
geführt. Ein Journal ist dem Wort nach eine
tägliche Aufzeichnung“, meinte der Alte. „Ja“,
sagte Otto, und sie witzelten weiter über die
Springer-Presse und Kohl.
Was der alles falsch mache.
Otto ist inzwischen auch tot, wie so viele.
Und manchmal fehlt er ein wenig. Ich habe
mich so gefreut, als Gerd Schröder Kanzler
wurde! Da war Alsterpokal, und wir saßen
nach der Preisverteilung beim
HSC rum. Es gab Großbildviewing
in Ledersesseln. Auch das
Ende, die später sogenannte
„Elefantenrunde“ im Fernsehen
sah ich live. Das war nach dem
hauchdünn verlorenen Votum
und Abwahl mit dem Desolaten,
der meinte, weiter Kanzler
bleiben zu können und Angela
Merkel müsste unter ihm mitregieren.
Ich war fasziniert. Julien
(vom Dorfcafé) fand, Schröder
wäre betrunken gewesen und
nahm den Gestrauchelten in
Schutz. Schröder hatte Angela
Merkel nicht ernst genommen?
Zu dieser Zeit wohnte ich schon
nicht mehr in Bahrenfeld,
kann mich aber gut an junge
„Scholzplakate“ erinnern. Der sah so
sympathisch aus. Nach dem Auge
entschied ich auch, Christiane zu
wählen, unsere Bürgermeisterin. Die
Konkurrentin von der CDU war vergleichsweise
wenig attraktiv. Und
so etwas zuzugeben, als Schenefelder,
mag dumm sein. Ich habe
schon öfter zu viel geredet? Gerd
Manthei, unser rotes Urgestein hier,
erinnert mich gelegentlich daran:
„Man müsse nicht alles sagen!“ Eine
rückwärtsgemeinte Mahnung? Das
fand Kalle auch einmal (das ist der
Obelix hier, das Wildschwein vom
Dorf, aber der konspiriert mit den Römern),
und den mochte ich früher. Ein Fehler! Das
war bestimmt die viel größere Dummheit,
Menschen zu vertrauen, die dem Staat
(und Nachrichtendienst) nahe sind, familiär
und beruflich verbunden, als zu sagen, was
gesagt werden muss. Mir wird wohlmeinend
angedeutet, ich sprach aus, was „man“ nicht
sagt? Einige machten mich schon darauf
aufmerksam. Sie sagen aber nicht,
was genau es war, das ich so naiv
ausplapperte.
Auf Nachfrage biegen sie diese
Gespräche immer weg.
Ich verbrachte viel Zeit mit Christiane,
Umarmung und Kaffeetrinken,
lange E-mails schrieben wir
uns. Politik war immer wichtig.
Meine Fehler kenne ich nur zu
gut und lerne kreative Sachen
auf neue Weise zu tun, aber in der
Politik muss man Versagen
anders behandeln, als es für
uns Künstler notwendig ist.
Das ist das Gegensätzliche zur
Kunst. Es ist genau andersherum.
Ein Künstler entwickelt
sich menschlich weiter, lernt.
Ein Politiker definiert seine Vergangenheit
neu. Während wir Kreativen an uns
selbst arbeiten, ist die Tätigkeit des Parteimitgliedes
sinngemäße Neudeutung
zum Wohle der Genossen. Maler stellen
die Umgebung wie Theater dar. Politiker
sind Berufsschauspieler und rücken ihre
Maske besser zurecht. Wir lernen, Fassaden
wegzunehmen, Führungskräfte mauern sich
ein, reden volksnah vom Podest.
Der große Kollege in Hamburg macht es
vor. Ziele stecken und sie zu erreichen,
funktioniert je nach Berufung verschieden.
Ich male meine Ideen anders. Der
feige Abgang nach Berlin, die Unfähigkeit
Schwachpunkte menschlich zu kommentieren,
die Erkenntnis, dass der tatkräftige (und
heute selbstbewusste) Genosse Tschentscher
schon in Hamburg aktiv war, bevor er selbst
Bürgermeister wurde; Olaf Scholz wähle ich
nie wieder. Nach dem verkackten Gipfel war
und ist es aus mit meiner Sympathie.
# Dauerhaft.
Übermorgen ist Wahltag. Das wird das erste
Mal in meinem Leben sein, dass ich Nichtwähler
des Deutschen Bundestages bin.
Eine Entfremdung von der SPD hat schon
längst stattgefunden. Ich erkannte in Merkel
eine fähige Kanzlerin und wählte sie nach
der Flüchtlingskrise aus Überzeugung. Mir
gefiel gerade, dass diese Frau in der Lage
gewesen ist, ihre Richtung der Politik zu
ändern. Das Ende
mit Kabul und
ihr ständiges
Fortbleiben ist
erbärmlich. (Ich
habe in Schleswig-Holstein
Daniel Günther
gewählt, weil ich
es unmöglich
fand, den meiner
Auffassung nach
abgehobenen
und eingebildeten
Albig zu
unterstützen. Diese Wahl bereue ich nicht).
Sechzehn Jahre Merkel, ich war dabei. Ich
fand, Steinmeier und -brück, Martin Schulz
könne man nicht unterstützen. Keine Führungskräfte.
Politik?
Das Ende in Afghanistan ist beschämend.
Die in der Organisation des Rückzuges
eingebundenen Minister Kramp-Karrenbauer
und Heiko Maas bleiben?
Es macht nur fassungslos.
Was die Leute über Olaf Teflon sagen,
erfahre ich durch Christiane am eigenen
Leib: Kunst und Politik sind gegensätzlicher,
wie sie nicht sein können. Ich wähle nie
wieder eine Politik, egal welche Partei und
schon gar nicht die SPD. Die ganz bestimmt
nicht. Als Maler lernte ich zu malen. Eine
Bürgermeisterin versteht zu verwalten und
ihre Politik
als Handwerk,
alles
im für sie
nutzbringenden
Sinn
darzustellen.
Einfluss
nehmen, wo
der Glanz
des Amtes
suggestiv
wirkt, das
kann sie. Ein
empathisches Lächeln auf Knopfdruck reproduziert,
das manche Merker parieren lässt?
Sie hat es drauf: „Herzlichen Glückwunsch!
und noch einen schönen Tag“ (ein tolles
Leben).
Sep 24, 2021 - Gegensätze 108 [Seite 107 bis 109 ]
# Glatt ist die Kuh vom Eis
Damit will ich nie wieder etwas zu tun
haben. Man darf sich einer Wahl enthalten.
Das Wenigste ist, nicht auch noch dem Ruf
zu folgen, diejenige und ihre Partei zu unterstützen,
die dich später schlägt wie Mama
(die du dir nicht ausgesucht hast). Ich war
naiv wie ein Kind. Den Falschen habe ich
verhauen, das weiß ich wohl,
kann heute sagen, was ein
Netzwerk ist; eine Erfahrung!
Wer Deutschland regiert,
das ist mir doch ganz egal,
denke ich. Wenige glauben
daran, dass Armin Laschet
noch Kanzler wird. Aber nach
Scholz kommt dann was ganz
weit rechts.
Das ist meine Prognose.
:(
Sep 24, 2021 - Gegensätze 109 [Seite 107 bis 109 ]
Ratgeber kommen ungefragt, und schön ist
ja, wenn es überhaupt Resonanz gibt. Ein
Freund hätte sich dafür begeistern können,
riet, mehr ansprechende Aquarelle, aber
beliebte Landschaften, vielleicht Mallorca zu
malen? Oder das mit den drolligen Senioren
am Deich! Da sei doch
der Beginn einer Serie
erkennbar. Mein Weg ist
anders. Ich bin mehr als
verstört, was Kunst alles
bedeuten darf. Ich kann
mich beschäftigen, das ist
besser, denke ich.
Mein Schwager erkundigte
sich mittels der
Webseite bei einem
„Fachmann“ im Baden-Württembergischen:
„Der Mann ist zu gut“, resümierte
dieser. Das sollte heißen, ich wäre zu
engagiert für die seriellen Kunstkreise,
aber nicht zielgerichtet unterwegs,
meine Qualität an den entsprechenden
Markt zu bringen. Matthias
fand heraus, Künstler würden
„gemacht“.
Was einfach geht
Sep 28, 2021
Wenn ich heute male, ist das etwas ganz
anderes für mich als anfangs, etwa zur Jahrtausendwende,
mit den ersten Versuchen.
Zunächst war es ein Abenteuer, überhaupt
ein Bild zu beginnen. Durch die Ausbildung
begriff ich mich als Info-Grafiker, fing spätberufen
an, individuell zu arbeiten. Schade,
meine ich inzwischen. Da hätte man auch
früher drauf kommen können, eigene Sachen
zu machen. Wäre ich nicht besser ähnlich
der Illustration drangegangen und sollte
mich am Markt orientieren, auf ein Genre
beschränkt beispielsweise Landschaften
anbieten? Immer wieder bin ich dem Rat
ausgewichen, derartige Ansätze zu verfolgen.
# Meine
Aquarelle
verkauften
sich
Ich hatte im
Urlaub etwa
zwanzig
Stück gemacht,
bald
das Interesse
dran verloren.
Eine
Galeristin fand es nachteilig, die schönen
Dänemarkbildchen zusammen mit anderem
auf der Webseite zu zeigen. Entweder
persönliche Kunst oder nett hin gekleckerte
Dorfszenen, empfahl sie. Nicht beides rausstellen
nach dem Motto: „Seht mal, das kann
ich auch noch.“
Nur so vor sich hin zu
arbeiten, beinhaltet die Resignation,
es nicht geschafft
zu haben. Bei näherem
Betrachten bleibt das
Begreifen, die Bilder selbst
als das Wichtigste am
Malen hinbekommen zu haben.
Das motiviert weiterzumachen,
aber auf einer neuen Basis.
Meine Kollegen und ich müssen
einen inneren Antrieb erst zum
Laufen bringen. Wir haben
keinen Chef. Es beginnt diese
imaginäre Diskussion mit einem
eingebildeten Zuhörer, was
man mag und wie es wäre, stattdessen das
Richtige zu tun. Fleißige werden übersehen
und einige wollen gar nicht ins Rampenlicht.
Es fehlen kritischer Gegenpol und äußere
Bewertung. Wir machen nur halbe Sachen?
Das einzuordnen, bleibt welchen überlassen,
die sich dazu berufen fühlen.
# Gott stellt unsere Füße auf weiten Raum
So heißt es im Psalm. Er war so freundlich,
uns noch einen Fußboden in den Kosmos zu
nageln. Ich kann malen. Ob ich Kunst kann;
im Fokus der Öffentlichkeit stehen,
ich frage mich, ob ich das will? Möglicherweise
nicht, und das ist eine
gute Antwort für diejenigen, die mit
sich hadern, überhaupt zu malen. Es
geht auch einfach so.
:)
Sep 28, 2021 - Was einfach geht 110 [Seite 110 bis 110 ]
Mauern im Kopf?
Sep 30, 2021
Da habe sich viel aufgestaut,
heißt es oft, und
dann sei die Aggression
losgebrochen! Wir dürfen
skeptisch sein, wenn
diese Argumentation ins
Feld geführt wird. Wir
bemühen ein Bild, suchen
nach einem Erklärungsprinzip.
Ist unser Kopf ein
Haus mit Kammern und
Staudämmen? Wenn das
Gehirn eine Kommode mit
Schubladen wäre, müsste
man dieses mit zu vielen
Inhalten schnell an den
Rand der Belastbarkeit
bringen. Dann wäre der
Kopf, nach sagen wir der
dritten Fremdsprache, die wir lernten, voll,
wenn es ein kleines Gehirn ist, und zu musizieren
könnten wir nicht auch noch lernen.
Es sei denn, wir löschten unser Spanisch und
fänden so Raum, das Klavierspielen auszuprobieren,
schmissen anschließend, von der
Musik begeistert, weitere Fähigkeiten in den
geistigen Mülleimer: Nun hätten wir Platz
und könnten noch Trompete lernen?
Die Muttersprache auszulöschen und für
immer die Klappe halten, das wünscht sich
mancher, dem was sauer aufstößt. Den
Mund halten, ist möglich. Die Augen haben
Deckel. Was wir nicht sehen wollen, schauen
wir nicht an. Menschen haben die Wahl. Sie
müssen nichts riechen, das stinkt, kneifen
die Nase mit den Fingern zu. Der liebe Gott
erlaubt es: Man kann und darf schweigen,
schlafen, hält sich die Ohren zu, wenn es
laut wird. Das muss man nicht üben. Ein
Lebewesen wie unsereiner kann darüber
verfügen und wird sich gegebenenfalls
schützen, bestimmte Funktionen eine Zeit
lang auszusetzen. Warum müssen wir Luft
holen, wieder ausatmen? Essen und auf das
Klo gehen; der Zwang zu leben: Wir können
unsere Atmung nicht willkürlich pausieren
lassen, für viele Stunden, und anschließend
nach Gutdünken wieder aufnehmen. Nicht
mehr weiter atmen nach Belieben: Warum
geht das nicht? Selbstmord wäre einfach.
Das Leben sei ein Geschenk, heißt es. Eines,
das man nicht ablehnen darf. Vieles wird
gesagt, das bei näherer Prüfung ins Wanken
gerät und eine Kehrseite der Medaille zeigt.
Wie bei einer Mauer. Schöne Fassade,
hinten bröckelt der Putz. Einige möchten
wissen, wie es „drüben“ sein mag, andere
leben nur so dahin.
Das Leben sei „keine Errungenschaft“,
meint der Vater eines Freundes. Mit
siebenundneunzig beurteilt er vieles
anders. Atmen geschieht, ohne dass wir’s
uns vornehmen müssen. Die Freiheit,
ein Mensch zu sein, hat ihren Rahmen
und der begrenzt einiges: Wir können
Unangenehmes nicht vergessen, wie wir
den Müll im Haus raustragen und für
immer wegwerfen. Hätten wir als Gedächtnis
eine Kiste voller Sachen, könnte
man diese samt Erinnerungen anderen
verpflanzen wie die fremde Niere. So
einfach ist es nicht.
Der Wunsch, das Gehirn zu ändern, zumindest
seine Funktionsweise, ist möglicherweise
nachvollziehbar, und zwar immer
dann, wenn ein Mensch unvernünftigerweise
Dinge tut, die ihm schaden. Warum sollte
man gegen sich selbst handeln?
Trotzdem ist es nicht
ungewöhnlich, dass Menschen
sich, oft unbewusst,
Schaden zufügen. Psychisch
Kranke tun das. Nicht nur
die Jugendlichen, die sich
ritzen. Jeder psychisch
kranke Mensch macht genau
genommen dumme Sachen.
Statt dort, wo es nötig wäre,
auf den Putz zu hauen,
handelt ein Verstörter gegen
den eigenen Apparat. Davon
mal abgesehen, dass es
unendliche Spielarten dieser
Falschverwendung gibt und
entsprechend viele Diagnosen
und Behandlungsansätze,
hat diese Krankheit
mit ihren zahlreichen Macken einen
gemeinsamen Nenner. Könnte ein Arzt oder
sonst wer das Gehirn des Betroffenen zügig
direkt korrigieren, in die normale Funktion
eines gesunden Denkapparates nach dem
Motto „zurücksetzen“, wäre es bestimmt
eine medizinische Sensation, die durch alle
Medien ginge.
Der Denkfehler beginnt dort, wo gesunde
Normalität gegen kranke Disfunktion zur
Basis unserer Logik wurde. Es scheint einfach,
psychische Krankheiten zu bemerken
und ihnen
zahlreiche
Namen zu
geben. Auf
der anderen
Seite steht
dann immer
die eine
Normalität.
Oder eben
das Richtige,
das Gesunde.
Was
normal oder
gesund ist,
sollte zuerst
gefragt
werden. Die
Antwort
dürfte so
vielfältig
und individuell sein wie es Menschen gibt.
Ein Gesunder grenzt sich leichthin ab.
Dieser weiß nicht, dass er oft nur reflexartig
Situationen managt, indem er Störendes
beseitigt oder andere zurückweist. Jeder
von uns ist täglich unendlichen Ablenkungen
ausgesetzt. Nachdem zunächst die
Schwierigkeit, sich für eine Handlung zu
motivieren, aufgelöst wird, beginnen wir
mit einer Sache. Sofort ist eine gewisse
Konzentration unumgänglich und die ersten
Fehler passieren. Jede Tätigkeit gelingt nur
zum Teil. Wollte man in allem die vollständige
Perfektion erreichen, also auch bei ganz
alltäglichen Dingen, ist wohl anzunehmen,
schon deswegen verrückt zu werden.
Da gibt es welche, die nehmen vieles nicht
so genau. Andere finden es reizvoll, an
gewissen Beschäftigungen detailverliebt
herumzupusseln, dass man nur staunen
kann. Beides ist nicht mehr oder weniger
gesund. Man kann sich an bestimmten
Belästigungen stören und doch dieselben
bei anderen auslösen! Ohne mit der Wimper
zu zucken. Die Gesundheit besteht darin
und das Normale ist, dazwischen bildlich
gesprochen eine Mauer im Kopf zu ziehen.
Natürlich wissen wir heute viel über das
Gehirn an sich. Abgrenzungen zwischen
individuellen Sachverhalten und Emotionen,
Türen, die Gedanken wie Querverbindungen
erlauben; ein Problem ist, nicht erklären zu
können, woraus Zement und Ziegel sind, die
unser Denkapparat verwendet. Das löst das
Individuum individuell. Nicht wenige treten
anderen auf die Füße und schnauzen im
nächsten Moment einen Fremden
an, nicht zu schubsen. Das ließe
sich leicht mit einigen Beispielen
illustrieren.
# 1. Beispiel, Doofe beschuldigt
Doofere
Im Café sitzend, bin ich Zeuge
einer Unterhaltung am Nachbartisch.
Das ist unumgänglich, man
hört leicht mit, wenn man allein
ist und die Tische dicht stehen.
Eine kleine Familie, Tochter ungefähr
zwölf oder vierzehn Jahre alt
mit ihren Eltern, sitzt in meiner
Nachbarschaft. Die Mutter regt
sich auf. Sie war mit einer Sachbearbeiterin
irgendwo im Widerpart
gewesen, möglicherweise am
Morgen oder vor kurzem, jeden-
Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 111 [Seite 111 bis 114 ]
falls schimpft die Frau über ein Erlebnis und
probiert, Tochter und Ehemann begreiflich
zu machen, wie bescheuert diese Situation
war. Sie hat nur Unflätiges parat: „Die ist so
blöd!“, und dergleichen poltert sie über das
Erlebte, und die Angehörigen nicken.
So weit kennt man das ja, und wir alle würden
gern manchen Bürokraten los werden.
Ich sollte verschweigen, was ich denke, aber
mir ist diese Mutter vom Sehen her bekannt.
Die arbeitet in einem Geschäft. Ich mache,
wenn möglich, einen Bogen um diese
Frau. Ich empfinde sie in jeder Hinsicht als
hässlich, bin geradezu erstaunt, dass sie
verheiratet ist, die Tochter und der Ehemann
hier ansprechend und sympathisch dasitzen.
Hässlich ist die angestrengte Weise jeglicher
Kommunikation mit dieser, mir ansonsten
vollkommen Unbekannten.
Wenn ich als einkaufender Verbraucher in
dieses Geschäft gehe, registriere ich meine
innere Ablehnung, und nur deswegen halte
ich Abstand. Der optische Eindruck, die
penetrante Tonlage, das verkniffene Gesicht
und die unübersehbare Absicht, sich sowohl
zuvorkommend gegenüber dem Kunden zu
verhalten als auch dieser extreme Drang,
unbewusst Grimassen ins Gesicht zu zerren,
bösartig wie
einschleimend
– das
stößt ab. Woher
will so
eine wissen,
in einem Behördengang
unterwegs,
dass ihr
Gegenüber
„bescheuert“
ist, wenn
sie doch
selbst – so
denke ich
– penetrant
und dumm ist?
Das darf man hier natürlich nicht schreiben,
und deswegen komme ich gleich dazu,
weiteres zu petzen. Natürlich nur deswegen,
weil ich hehre Ziele verfolge.
# 2. Beispiel, die selbst kriminelle Polizei
Wenn man die Dinge in verschieden
Schubladen einlagert, kann ein und dieselbe
Sache ganz unterschiedlich beurteilt werden.
Wichtig ist, keine Querverbindungen
zuzulassen. Heute lese ich, dass es im Norden
zeitgleich etliche Hausdurchsuchungen
gab. Die Beamten waren Hinweisen auf den
Besitz von Kinderpornografie nachgegangen.
In Deutschland sei das Ausspähen von Personen
ohne Anfangsverdacht in dieser Sache
nicht erlaubt, schreibt das Tageblatt. Aber
in den USA beispielsweise wären Provider
verpflichtet, verbotene Inhalte zu melden.
Das Netz ist bekanntlich weltweit verwoben.
Auf diese Daten greift die deutsche Polizei
zu und geht zu Meyer in die Bude, nimmt
den Rechner mit, toll. So hilft man sich.
Das Problem der Ordnungshüter beginnt
damit, dass die Kriminellen so unordentlich
vorgehen, überhaupt kriminell sind. Die
halten sich nicht an das Gesetz. Wenn der
Beamte mit Uniform herumspazierte und
höflich wie Columbo sagte: „Entschuldigen
Sie, eine Frage hätt’ ich noch …“, kämen sie
nicht weit, meinen die Polizisten. Da hat
man den verdeckten Ermittler erfunden
und den großen Lauschangriff. Dem sind
im Anschluss aber gleich wieder Fesseln
angelegt worden, aus dem vermutlich guten
Grund, dass ein Verdacht, der sich später als
unbegründet herausstellt, bedeuten würde,
Unbescholtene auszuspähen. Das macht
die Hürden, so vorzugehen, dass wirklich
gar Niemand davon mitbekommt, hoch. Wir
dürfen nicht sagen, dass, wenn unsere Ordnungshüter
nicht hausdurchsuchen dürfen,
die Daten der Amerikaner in den Händen der
Deutschen eine Umgehung der Rechtslage
darstellen? Man wird argumentieren „weil
hier ja keine pauschalen Verdachtsfälle
inspiziert würden, sondern der Rechtsbruch
bereits dokumentiert ist“, und das ist raffiniert
gedacht.
Ich lese diese Berichte aufmerksam. Es ist
nicht verboten, nackte Kinder zu zeigen, das
müssen welche in einer FKK-Veranstaltung
sein und einfach hingestellt. Wäre das
verboten, müssten etliche Seiten vom Netz.
Verboten sind Kinder in sexuellen Haltungen.
Wenn also jemand ein Kind neben ein
anderes stellt, etwa für einen Contest und
ihm eine Nummer in die Hand drückt, nach
dem Motto „wenn die Sieben gewinnt, bist
du die Schönste“ und die nackten
Opas rundherum applaudieren, ist es
Naturdarstellung und erlaubt. Das
kann jeder leicht ergoogeln. Setzt du
dein Gör im Wald auf einen Ast und
fotografierst es in den offenen Schritt
hinein, kommen die Bullen zu dir nach
Hause. Und zu denen, die das Bild
sonst noch klickten. Wir werden diese
Menschen, die nicht nur ihre Currywurst
posten, die sie in einem Imbiss
bestellten oder ihr neues Auto, nicht
ändern. Wir können auch nicht den
größten Teil der Männer dahingehend
umerziehen, ausschließlich alte Muttis
geil zu finden.
# Polizei?
Ein Team wird weniger beraten, ob hier
jeweils ein Verbrechen begangen wurde.
Sie werden überlegen, ob der Besitz des
Bildes strafbar ist. Das heißt dem Wort nach:
„Kommen wir damit beim Staatsanwalt
durch und gewinnt dieser vor Gericht seine
Anklage?“ Da kann man sich noch streiten,
wie weit geöffnet diese Einblicke sein
müssen und ob da schon ein Busen ist? Nun
gehen die Kommissare nicht dran, diese
missbrauchten Seelen vor Ort zu retten. Das
wäre zu schwierig. Wo könnte das böse Bild
oder Film entstanden sein? Die Polizistin
aus dem Sachgebiet eins kennt die Kinder
nicht persönlich, wie
ich genauso wenig, der
sogenannte Nutzer. Den
sexsüchtigen Wichser
kann der Weltretter
dingfest machen, wenn
dieser einfach so surft.
Das ist doch schon mal
was. Gut, dass es verboten
ist, sich was anzuschauen,
was man nicht anschauen
darf. Sonst bliebe dieses
Arbeitsfeld unbeackert,
und die Verbrechensbekämpfer
müssten die finden,
die vor Ort quälten.
Zynismus hilft dem unter
Generalverdacht stehenden
Mann. (Ich weiß schon, dass diejenigen,
die sich das bloß anschauen, den gefährlichen
Pfad laufen, selbst Täter zu werden am
wirklichen Kind, und dass sie im günstigen
Fall eine Fährte legen für die Polizei). Der
Beamte entscheidet nach Augenmaß, wie
alt jemand ist und wie verwerflich das
Motiv. Verhandlungssache: Wie einfach muss
man denken, um hier verbal nach vorn zu
preschen, zu wissen was nötig tut? Dem
Staat obliegt nicht nur die Pflicht, Verbrechen
aufzuklären, sie zu verhindern, sondern
auch – anstelle nach dem Beuteprinzip
die Kriminellen erst anzuregen und dann
fertigzumachen – Bedingungen zu schaffen,
den Nährboden dafür zu begrenzen. Also zu
löschen was geht und eine Zensur zu probieren.
Das dürfte schwierig sein.
Ich denke, dass den Jugendlichen im Grenzbereich
zum Erwachsenwerden nicht klar ist,
dass es „alte“ Männer wie mich erregt, wenn
Heranwachsende hübsch sind und nicht
nur gleichaltrige Mitschüler.
Sittenwächter übersehen
gern, dass dieses an sich zu
bemerken, weder krank noch
kriminell ist. Ein Mann, der
zugibt Schülerinnen attraktiv
zu finden, ist kein Fall für
den Arzt. Den eventuell eifersüchtigen
Psychologinnen,
und das scheinen mir ältere
Frauen zu sein, denen unbewusst
klar wird, dass in einer
Galerie von Mädels vor der
Webcam die Mehrheit doch
sehr jung ist, unterstelle
ich gern Eigennutz, Männer
fertig machen zu wollen.
Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 112 [Seite 111 bis 114 ]
Die Kriminalität gegenüber der Pornoindustrie
dingfest zu machen, ist nicht
einfach. Ein „guter“ Markt für viele ist
entstanden. Das ist ein Geschäft. Eine
delikate Sache zunächst, die der Beamte
mit Augenmaß betreiben muss, um diesem
heute buchstäblich kinderleichten
Eingang in das Verbrechen zu begegnen.
Die Jugendlichen selbst sind fleißige
Täter in einer Welt, die schwarzweiß
keine Zwischentöne zum Opfer sehen
möchte. Es klingt zunächst toll, wenn
„diese Schweine“ belangt werden können.
Das ist aber weder toll noch einfach
für die Polizei. Es ist auch nicht toll für
neunzig Prozent der Männer, die bemerken,
dass junge Frauen nackt abgebildet, sie
mehr erregen als die gleichaltrigen Muttis,
wie etwa diejenige, mit der man verheiratet
ist. Bei so einem Satz explodiert jedes Opfer
sexuellen Missbrauchs vor Wut, hier würde
die Opfer/Täterrolle böswillig umgestellt,
na klar. Das mag sich nicht gehören, aber
Gefühle wahrzunehmen, macht möglich, die
eigenen Handlungen anzupassen. Wir waren
selbst alle einmal Kind.
Wenn zu denken und zu reden verboten
erscheint, lassen sich manche zum Kranken
erklären, aber andere setzen sich über jede
Menschlichkeit hinweg, wie die aktuellen
Verfahren gegen Berühmte zeigen. Hier
muss zunächst erlaubt sein, festzuhalten,
dass Mädchen früh geschlechtsreif sind und
aufgeklärt, aber erst sehr viel später eine
Beziehung mit eventueller Heirat gesellschaftlich
gewünscht ist. Dazu kommt, dass
sexuelles Lustempfinden nicht kanalisiert
und geordnet auf Gleichaltrigkeit gespürt
wird. Lebten wir noch wie die Tiere, ohne die
Regeln der Zivilisation und Verhütung, wäre
die natürliche Fruchtbarkeit das Maß für Sex
oder nicht. Dann endete die Kindheit mit
spätestens zwölf Jahren. Hätten wir weniger
Anstand vor der Verletzlichkeit unserer
Kinder, könnten Männer mit fünfzehn nach
Belieben loslegen. Würden wir uns nicht
darum scheren, dass Beziehungen mit
einem großen Altersunterschied erhöhten
Belastungen ausgesetzt sind, soziale Konflikte
provozieren, könnten auf diese Weise
Verliebte es mit sich allein ausmachen. So
ist unsere Welt aber nicht.
Wir vermuten, und die Beobachtung stützt
es, dass Erwachsene Einfluss auf Kinder
nehmen, aufgrund ihrer Lebenserfahrung
bevorteilt sind, unterschwellig Druck auszuüben.
Das begünstigt Missbrauch. Ältere
werden, in welcher Gesellschaft wir auch immer
leben, Einfluss haben, Macht missbrauchen,
manipulieren. Es muss erlaubt sein
nachzudenken, wieso Lust sich nicht an die
Konvention hält, ältere Männer müssten sich
gleichaltrig verlieben. In seiner Zelle noch
vor Prozessbeginn erhängt aufgefunden:
Als pädokriminell wird der Millionär Jeffrey
Epstein dargestellt, wohl um deutlich zu
machen, dass der Mann nicht krank war. Ein
guter Anfang, einzusehen, dass Therapien
ins Lehre gehen, wenn sie auf der Erfindung
von Diagnosen ihre theoretische Grundlage
haben. Dem Bösen hätte man nicht helfen
können im Sinne des leider Sexsüchtigen.
Asoziale Onkel im Wohnwagen behandeln
wir, weil es Psychologinnen gibt. Am Milliardär
mit stabilen Netzwerk für Missbrauch
prallt Gelaber ab. Er weiß zu gehen, muss
sich vor Gott verantworten. Die Gesellschaft
möchte Kinder schützen und wird begreifen,
dass Kindheit eine Definition ist. Der Rechtsstaat
entwickelt immer neue juristische
Sektionen, die dazu führen, die Motivationen
in der Gesellschaft zu kanalisieren. Das
kann nicht bedeuten, Straf- und Heilanstalten
größer zu bauen. Fußfesseln und
Medikamente sind ein hilfloser Versuch der
Integration, wenn es nicht gelingt, Übergriffe
zu verhindern. Das Klügste wäre einzusehen,
dass es kein normales Verhalten gibt. Uns
also weniger Krankheit gegenübersteht, bei
Missbrauch, wir insgesamt einsehen müssen,
neu zu bewerten, was ein Mensch ist, nicht
wie es sich gehört, einer zu sein. Die Mauern,
die wir aufstellen, müssen intelligente sein.
Sonst erschaffen wir einen gesamtgesellschaftlichen
Irrgarten (wenn wir es nicht
bereits getan haben).
Die moderne Aufklärung ist den Eltern
entglitten, weil es das Internet gibt. Insofern
bewegen wir uns sexuell in die Steinzeit
zurück. Wenn wir noch meinen, das eigene
Kind zu Hause schützen zu können, kann es
schon beim Freund zu Besuch einen Einblick
in die Auswüchse der Gewaltpornografie
bekommen, der Erwachsene verstört und
Kinderfantasien einer heilen Welt zerstört.
Es hilft nicht, den Kindern etwas vorzumachen,
das nicht existiert. So wie wir erleben,
dass die Jugend die Klimagefahren begreift,
wird sie uns, was Sexualität betrifft, bildlich
gesprochen rechts auf dem Standstreifen
überholen, und die von uns gewünschte
Rettungsgasse blockieren Gaffer. Wenn wir
Erwachsenen uns dieser Realität aufrichtig
stellen, wird es besser laufen, als dumpf
Rache üben zu wollen an Unsresgleichen.
Dem Rechtsstaat geziemt, ein hohes Maß
an Rechten für alle im Land zu gewähren.
Dabei darf der einzelne nicht glauben, dass
die so erreichte Gerechtigkeit auch gleich
für alle empfunden wird. Man muss ganz
klar begreifen, dass die moderne Justiz den
Gesetzesbrecher bevorteilt und eine immer
bessere Verteidigung ermöglicht. Wir, die
Zeitgenossen der jeweiligen Gesellschaft,
konnten in der Steinzeit Rache üben,
durften Jesus kreuzigen für sein aufrührendes
Gelaber, haben im Mittelalter Hexen
verbrannt und im Wilden Westen Selbstjustiz
geübt. Wir haben Sophie Scholl den
Kopf abgeschlagen, weil sie kein Nazi – wie
die Deutschen mehrheitlich – sein wollte.
Während Homosexuelle einfach hingerichtet
werden konnten, dürfen diese heute beinahe
richtig heiraten, um es böse und überspitzt
zu sagen. Das gilt für vieles und ist auch gut
so. Nur der einfache Nachbar ist noch nicht
gut genug dafür. Er möchte eine Bürgerwehr
im Verborgenen, um weiter Hexen und deren
männliche Gegenüber zu verbrennen.
# 3. Beispiel, dasselbe wie eben mit Schiffen
Weiter mit Widersprüchlichem: In Deutschland
ist der Standard verpflichtend, was
alles auf einem Frachtschiff sein muss,
Kapitän mit Patent, einige Offiziere und der
Bootsmann mit seinen Matrosen, diverse
Feuerlöscher und ein Rettungsboot nach
DIN-Norm in orange, was weiß ich. In
Liberia ist es anders, weil das ja in Afrika
liegt. Darum fahren etliche Schiffe diverser
Reedereien, die man zunächst historisch
verpflichtet und dem Namen nach bei uns
verorten würde, unter fremder Flagge rum.
Ist einfach günstiger.
# 4. Beispiel, der neurotische Hund bin ich
Oder: Ich sehe in einem Fernsehbeitrag eine
junge Frau. Die ist Hundeflüstererin. Das
ist eine, die kann auch mit bösen Kötern.
Die Hunde werden von früheren Besitzern
verrückt gemacht, beißen – und kommen
in das Heim. Dann erscheint diese Frau und
flüstert denen was. Nach einiger Zeit sind
die Beißer ganz manierliche Tiere. Die etwa
knapp dreißigjährige Trainerin hat schon
viel Erfahrung. Sie zeigt uns ihren Arm voller
Narben. Das wäre ein ganz lieber
Hund gewesen, meint die Hübsche mit
dem zusammengeflickten Arm, leider
passiert; bei diesem Tier durfte man
nur eine einzige Sache nicht tun: dem
Hund von oben, so dass er es nicht
gleich sehen konnte, von rückwärts
kommend etwa, mit der Hand auf den
Kopf fassen.
Gemetzel total!
Niemand hatte ihr das vorher gesagt.
Bei mir ist es nicht der Kopf. Das Auto,
und wenn man lieb zu mir ist, bin ich
freundlich. Mein neurotisches Problem beinhaltet,
dass die anderen anfangen müssen.
Man streichelt mir nicht den Hinterkopf,
wenn ich fahre. Manche möchten schneller
als ich fahren? Weil sie gewohnt sind, Menschen
zu scheuchen und sich sicher fühlen
im Blech wie ein Ritter in der Rüstung; die
Bürgermeisterin „immun im Turm“ (ihres
Panzers) sind sie. Ich komme drauf, weil:
Mich darf man mit dem Wagen nicht anhupen,
es müsse gerade mal schneller gehen.
Dann: Gemetzel total von mir, mindestens.
Ich kann das nicht leiden und dränge andere
Autofahrer selbst nie.
Ich denke übergreifend, was heißt übergriffig,
und wo beginnt eine Belästigung?
Erwachsene sollten den Bogen nicht
überspannen. Wer ist allein schuld, wenn uns
die Kontrolle schwindet, bessere Menschen
auf den Plan treten, bestimmen möchten?
Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 113 [Seite 111 bis 114 ]
Wehret den Anfängen. Wäre höfliche Distanz
gewünscht gewesen, sagtest du: „Wir bleiben
bitte beim ‚Sie‘, und natürlich – in Ihre
Ausstellung, Herr Bassiner – komme ich gern
einmal.“ In die Kunsthalle, aber nicht nachts
in den Club, wir hätten früh merken können,
dass wir zu weit gingen, vielleicht. Meine
Fehler – aber irgend etwas stimmt nicht bei
allem. Ein ganzes Dorf spannt
hinter der digitalen Gardine
und wartet nur auf den
krachenden Schlussakkord?
Bereit, nach Kräften die Sache
anzufeuern und schließlich
den Esel mit seinem Pinsel
gemeinsam durch die Straßen
zu jagen. Ha ha. So muss es
gewesen sein.
Persönlicher Einschub: „C.“
wirft mir vor „A.“ bedrängt zu
haben? Im Auto jedenfalls
dränge ich niemanden. Das
hilft mir zu verstehen? Nein.
Ich kann jahrelang Zweisamkeiten
mit meiner Kunstfreundin
belegen. Ohne, dass das Wort Liebe nur
einmal fiel. „Lieber John“, schrieb sie: „Hey,
wann wollen wir denn los? Ich habe schon
mal in den Fahrplan geschaut“, so in der Art.
Dann ist es eskaliert, warum? Abbruch jeglichen
Kontakts befohlen: „Ja, ich wurde beraten.“
Alle lassen mich wohlmeinend auflaufen.
Sie necken mich gönnerhaft, tröstend;
die weisen Alten sind so freundlich: „Die ist
doch viel zu jung für dich.“ Ich dann, Arschloch,
male sie nackt auf Leinwand. Das Ziel
ist Provokation. Niemand malt drei Wochen
unter den Augen der Lieben Schweinkram,
wenn das nicht dem nötigen Ziel geschuldet
ist. Wie im Märchen, die alte Hexe fragt:
„Wer ist die Schönste?“ Ich will der Kaiserin
neue Kleider machen, Transparenz erzwingen,
Panik
erzeugen,
wütend machen,
und
die Konfrontation
mit dem
Frechsten.
Das hätte
ich alles
ganz allein
verkackt,
meint „C.“ dazu. Schönen Tag auch! Heute
hasse ich Frauen, wenn sie alt und eingebildet
sind, ihre Schönheit verblasst. Mit einer
Blöden, in ihrer Blechdose Auto steckend,
kann man nicht diskutieren, und mit einer,
die sich hinter Pappe verschanzt, genauso
wenig. Ab einem gewissen Moment der
Versuche, etwas zu begreifen, ist kein Dialog
mehr möglich und die Einsicht, bereits
vorab von anderen – mit stillschweigendem
Einverständnis untereinander – verarscht
worden zu sein, unausweichlich.
Warum ich das hier zwischentexte: Ich bin
früher normal Auto gefahren. Ich hatte den
gesunden Menschenverstand dafür. Heute
halte ich mich exakt an die Vorschriften,
auch an die Geschwindigkeit – und bremse
alles aus deswegen. Ich dränge nie, und die
anderen kleben mir am Heck, schon weil ich
mich an das Tempo halte. Das hat sich so
nach und nach entwickelt, bin ich krank?
# 4. Beispiel (a.), Frauen sind (auch) scheiße
Das passende zum Thema: Ich muss stoppen,
weil vor mir am rechten Fahrbahnrand der
Paketdienst seinen Transporter parkt. Er
hat den Warnblinker eingeschaltet. Eine
lange, gerade Strecke, aber nicht sehr breit,
rechts Felder
und Baumschulgelände,
links
stehen Häuser.
Wir befinden
uns innerhalb
geschlossener
Ortschaft. Ein
Pkw nähert sich
entgegenkommend.
Es ist für
mich unumgänglich
anzuhalten.
Der Paketbote
hat die Türen geöffnet
und lädt
sich mehrere
Kartons auf, um
nach dem Auto die Straße zu überqueren. In
dem Moment, wo für mich frei wäre, um loszufahren,
checkt der junge Mann mit einem
kurzen Blick, ob er noch rüber könnte, ich
warte? Natürlich gebe ich ein Handzeichen.
Der Mann dankt und sprintet los. Da hupt
mich die Frau im Fahrzeug hinten an! Ich
lasse das Gemetzel ausnahmsweise, aber:
Ist es zu fassen? Das war nun eine „Dame“
hinter mir. „Dämlich“ ist als Schmähung wohl
nicht genügend, sie damit abzuwerten. Kein
Gegner unter Männern im Kampf, so ein
muskelbepacktes Arschloch. Ich bin ja nur
ein schwächlicher Zeichner aus dem Atelier,
das weiß ich schon. Nein, dieses zarte,
entsprechend zu schützende Geschöpf, ist
scheiße wie was.
# 5. Beispiel, Mauern zwischen den
Nachbarn
In einer Wohnanlage kommt es zum
Wasserschaden. Einem Eigentümer
ist erheblicher Mangel entstanden,
und der Mann führt an, das Wasser
wäre über Jahre hinweg laut Gutachten
von ganz wo oben geflossen und
ausgerechnet bei ihm ginge die Wand
in’ Dutt. Der Baumangel am Dach
sei schuld und betreffe das Ganze, ob die
anderen sich an den Kosten beteiligen? Auf
Nachfrage finden sich drei zufällig Angesprochene.
„Da haben wir nichts mit zu tun,
das betrifft das vordere Haus“, meint einer
und „Eigentum verpflichtet“, ein anderer. Der
Dritte führt noch ein persönliches Beispiel
an und stimmt dem Ersten
zu.
Zeit vergeht.
Einer dieser lieben Zeitgenossen
hat die „Rohrreinigung
Klaus“ im Haus.
Spirale in der Spüle, das
lange Bohrdings reicht meterlang
bis in die angrenzende
Kanalisation vorn an der
Straße. „Schon zum dritten
Mal!“, schimpft der Hausbesitzer, und es ist
einer von denen: „Eigentum verpflichtet!“,
der nun seinerseits ausführt, die Kosten
umlegen zu wollen. Er habe bereits mit der
Verwaltung gesprochen. Es stünde fest, der
Pfropf, der regelmäßig seine Küche verstop-
fe, stecke immer vorn an der Straße in der
Hauptleitung. Das sei das Rohr für mehrere
Kacklieferanten, und „keinesfalls wäre es
seine Schuld“, wenn es dort nicht weiterginge.
Der Ärger und die Kosten wären allein
bei ihm? und: „So ginge es nicht!“, schimpft
der Wüterich.
# 6. Beispiel, Freunde sind auch nur Menschen
Ich schreibe einen Blog, diesen hier. Immer
wieder stelle ich Bilder vom Segeln ein. Ich
frage schon mal, ob ich einen Freund zu
verpixeln hätte. Das führt stets zu lustigen
Mails: „Bloß nicht!“ schreibt Henning.
Piet, Kocki und Niels diskutieren die alten
Geschichten im wechselseitigen Austausch
mit mir, wie es damals war, mit dem Krebs
im Watt, dem Gewitter später oder dem
Feuerwerk an der Kugelbake. Karin erfreut
ein Foto von ihrem Laden, worauf ich sie per
Link verweise. Den Text kommentiert niemand.
Das muss man ja nicht lesen. Meine
Frau: „Das ‚kann‘ man ja nicht lesen.“ Anfangs
habe ich noch zu Ausstellungen geladen
und gelegentlich ein Aquarell verkauft. Die
Freunde brachten kleine Geschenke mit zur
Vernissage. Nach einiger Zeit wurde es nicht
einfacher, die immer selben Leute zu erreichen.
Ich vermute, sie zögern: „Diese Bilder.
Wenn wir wieder hingehen, müssen wir John
auch mal eines abkaufen.“
Das sagt man nicht.
Was ich meine ist, wie schafft es der Normalgesunde,
diese Mauern im Kopf zu bilden
und gleichwohl zu übersehen, je nach Lage?
Ein Arzt kann dich mit was benebeln, das
hilft nur in der schlimmsten Not.
Niemand kann Normalität lehren, aber jeder
gibt dir diesen Rat.
„Einfach leben.“
Das ist so individuell, wie unsereiner sich
abgrenzt, dass man einen, der es nicht
(mehr) kann, wohl nur schwer darin unterrichten
oder therapieren könnte, es aller
Welt gleich zu tun. Vielfalt, jeder Mensch ist
seine kleine Ordnung und eine feine Person,
bis das Kollektiv, alles gleich, fair und
gerecht haben zu wollen, uns den Stempel
aufdrückt – und nicht wenige erdrückt. Die
Retter retten; und trampeln dabei alles tot,
denke ich böse. Einen Allerweltsmenschen
bräuchten wir, vollständig geimpft mit diffuser
Solidarität für alle? Er würde uns fertig
machen wie der Mensch den Neandertaler.
Wie gut, dass der noch
nicht erfunden wurde.
:)
Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 114 [Seite 111 bis 114 ]
Das ist nicht komisch
Okt 10, 2021
Anfang der Achtziger erlebten Imke und ich
Gillian Scalici live in einem Hamburger Club.
Das war zu der Zeit, als Eric den Show-Shop
in der Spaldingstraße betrieb und bevor die
bald so bekannte Sängerin und Schauspielerin
die Stage-School leitete. Ich erinnere
Scalici als vielseitig und humorvoll. Wie Eric
Emmanuele, begeisterte sie uns durch ihre
Professionalität. Mich hat das geprägt, immer
ganz genau hinzusehen, wenn irgendwo
auf einer Bühne, im Film oder sonst wo kreativ
Geschichten dargestellt sind. Wir waren
mit „Musical-Projekt“ auf einem guten Weg
und hatten nach einigen Jahren erfolgreiche
Auftritte an verschiedenen Spielstätten. Eine
wunderbare Zeit.
# „An Evening With Gillian Scalici“
Ich weiß noch genau, dass wir aus einer Nische,
von einer erhöhten Ecke mit Tisch, auf
die kleine Bühne schauten. Es gab Bewirtung
am Platz. Ich meine mich zu erinnern,
dass diese kuschlige Location an einem
Fleet gelegen, mehr wie ein Restaurant
gewesen ist. Ein unscheinbarer
Eingang. Wir liefen durch einen
verwinkelten Flur, um hineinzugelangen.
Es war dort viel kleiner
als im bekannten Schmidts Tivoli.
Imke hatte den Auftritt ausfindig
gemacht, sie begeisterte sich
für alles im Showbusiness. Rote
Plüschsessel und der warme Ton
von orange und gelb im Bereich
der kleinen Bühne, wenn man von
oben auf die Dielen schaute. Diese
Bretter, die die Welt bedeuten
und ansonsten Dämmerdunkel
rundherum, schemenhaft Gäste erkennbar,
die nahe der Spielfläche
saßen, das weiß ich noch. Gillian
Scalici war ganz dünn und schien
kaum älter als wir vom Musical
Faszinierten im Séparée zu sein. Ich erinnere
ihre ausdrucksstarken, dunklen Augenbrauen,
fand sie wunderschön, und dass man
von unserem erhöhten
Platz recht gut in den
Ausschnitt ihres Kleides
schauen konnte, ist
mir tatsächlich noch
präsent. Das Kleid war
blau? Da werde ich
unsicher, aber es überrascht
mich selbst, wie
deutlich die Erinnerung
noch heute ist.
Nun ahnt man ja
nicht, wie es im Leben
weitergeht, und dieses
kleine Konzert hat nicht
gerade meine Zukunft
geprägt. Deswegen
skizziere ich diese
Episode auch gar nicht.
Meine gute Erinnerung
an vieles, die Fähigkeit bildhaft zurückzublicken,
ist das wesentliche Element meiner
Gestaltung. Ich arbeite nicht willkürlich.
Mich treibt, etwas so hinzubekommen, wie
es mir vorschwebt. Ebenso wichtig ist mir
auszuloten, was damit gemeint sein könnte.
Ich möchte von mir selbst wissen, warum
ich mich auf ein Thema einlasse. Geradezu
schockiert lese ich deswegen die immer
gleich daherkommenden Artikel zum Thema
Kunst im Tageblatt. Nun gut, es ist eine Dorfzeitung.
Und Pinneberg unsere Kreisstadt ist
kaum mehr als ein Provinznest, ein richtiges
Kaff. Mich stört, dass der weltweit verwendete
Begriff „Kunst“ verballhornt daherkommt,
in ein Händchen haltendes Netzwerk
vertrockneter Tanten geopfert wird, die mein
Steuergeld nutzen für ihren Scheiß.
# Leben und Tod
Die Künstler in China seien in Gefahr, sagt
man. Sie würden gelöscht und verfolgt. Das
wird das Ende der Volksrepublik sein! Die
Kirche, die Mafia oder die Kunst verbieten
zu wollen, muss letztlich das Schicksal
eines Staates besiegeln. Gerade ist der
österreichische Kanzler Kurz über seine
Eitelkeit gestolpert und zurückgetreten:
Keine Regierung ist unfehlbar, aber natürlich,
das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Darin
besteht das Risiko, abgewählt zu werden
oder eine Revolution anzufachen. Denn das
Monopol auf die Ordnung insgesamt zu
haben, bedeutet nicht, die Aggression des
Einzelnen abzuschaffen, sondern allenfalls
zu unterdrücken. Ein Sportler, kurz vor dem
Sprung über eine Hürde, benötigt sämtliche
Energie und darf keinen Zweifel haben oder
Schmerzen ignorieren, wenn eine Bestleistung
gefordert ist. Ein Konkurrent mag
leichter drübersegeln, weil dieser fest dran
glaubt, es zu schaffen und nichts in sich
unterdrücken muss, weil alle Muskeln und
die ganze Motivation bereits in dieselbe
Richtung wirken. So auch beim Tanz und
Theater, in der Musik oder bei einer guten
Federzeichnung (die man nicht radieren
kann). Wer lernte, sich voll einzubringen,
respektiert Störungen.
# Sie nahm nicht die Jogginghose für ihr
Date
Ein Dorn im Fleisch, der Stein im Schuh, das
sollten wir nicht ignorieren. Nach sieben
Stunden Tanga in Kombination mit Hotpants,
hat ein Teenie den wunden Popo, lese ich.
Dann Bakterien in der Ritze, Sepsis, Intensivstation.
Wenn’s beginnt weh zu tun, ist es
wichtig zu handeln. Kunst muss nicht
teuer sein, sie muss uns berühren.
Mit diesem intellektuellen Bogen hinein
ins Thema: Gegen die Kunst in Pinneberg
und drumherum gibt es keinen
Widerstand. Das ist so unbedeutend,
dass niemand diese Armseligkeiten
wahrnimmt. Eine Kunst, die nicht juckt.
Kreationen, die nirgendwo eine Ritze
schneiden. Keine Haut, die sich rötet
bei diesem Quatsch, so blutleer ist der
Körper der Skulpturen und Flachwerke,
denen wer weiß was zugeschrieben
wird. Eine glatte Ästhetik für Liebhaber des
gewichtigen Wortes mit ernstem Bezug zur
schlimmen Gegenwart. Niemand stört sich
daran. Dann können wir unbesorgt sein? Es
geht uns gut, und Corona hat noch finanzielle
Reserven übrig gelassen.
Okt 10, 2021 - Das ist nicht komisch 115 [Seite 115 bis 116 ]
Ursula Wientapper“, erfährt der
geneigte Leser. Zusätzlich sehen
wir zwei Bilder. Die hilflosen
Kleckereien von Laureen-Zoe
Ulka untertitelt das Käseblatt
mit wohlmeinender Wichtigkeit.
Es sind nicht nur Bilder, sondern
Exponate. Das hört sich doch
schon mal nach was an. Anfang
Oktober beklagt Uschi: „Wir
suchen dringend junge Künstler,
die sich in unserem Verein
engagieren. Hauptaufgabe ist es,
neue Maler oder andere Kreative
für unsere Ausstellungen zu
akquirieren und diese dann zu
organisieren und umzusetzen“,
appelliert Wientapper. Haltet
lieber Abstand, denke ich böse,
und was im Himmel inspiriert
beim unnötigen Kram?
Ein dickes Ei, so scheint es, wurde noch
nicht ganz verspiesen, das ist der Kulturetat.
Ich kenne mich schon aus. Der Kuckuck
schlüpfte und saß im Nest, so war das. Ein
Kunstverein westlich von Hamburg und der
aus Wedel über Bahrenfeld ins Dorf hinein
geschneite Quiddje kamen zueinander.
Bei einer netten Rotweinrunde im Vorstand
werden Eitelkeiten und Moneten wie Trümpfe
ausgespielt. Tatsächlich einer der Gründe
vor einigen Jahren, dem örtlichen Kunstkreis
wieder zu kündigen, war dieser Einwurf von
Ingrid „da wären noch ein paar Tausend Euro
für ein Projekt zu bekommen“, sollte man
nicht ein Bildhauersymposium ausschreiben?
Dann könne man
sich um diese Summe
bewerben. Was für ein
Quatsch!
Die Woche drauf kommt unser
Kunsthaus an die Reihe, das
neuerdings von Anne Immig
geleitet wird, wie wir erfahren.
Die von Kindern gemalten Blumenbilder
unterscheiden sich
in Nichts von Ulkas Klecksen.
Wie schön, wenn die Kleinen beschäftigt
sind. Auf der Seite geht es nahtlos
in Rellingen weiter. Die glückliche Cäcilie,
eine übrigens äußerst aktive und sympathische
Person, hat es geschafft, ein Live-
Painting mit verschlungenen Ringformen für
immer ins Rathaus vor das Standesamt zu
nageln. Glückwunsch! Das tut ja niemandem
weh, und besser als die langweiligen Klinker
ist blaue Deko allemal.
Weh tut der Artikel von gestern. Diesmal
Pinneberg, die Hauptstadt quasi. Da muss es
schon was kosten. Unter der Rubrik „Lokales“
findet sich diese Headline: „Ach, du dickes Ei:
Was es mit der Skulptur nahe der Drostei auf
# Das hat nichts mit
Kunst zu tun
Dem Kunstverein in
Schenefeld fehlt es
an Nachwuchs? Kein
Wunder. Es steht in der
Zeitung, unser Käseblatt,
wer liest das schon.
Mehr als zwanzig Mal
wird Kunst in Verbindung
mit Personen
und Galerien genannt,
aber: Das ist keine
Werbung. Eine ganze
Seite im Tageblatt! Die
Schenefelder Kunstwelt in Person einer
ehemaligen Kunstlehrerin, gekonnt in der
Pose einer Kennerin fotografiert, erläutert
die Probleme, während der Pandemie mit
Ausstellungen am Ball zu bleiben. „Malt
bevorzugt maritime Motive in Acryl: Die
Vorsitzende des Schenefelder Kunstkreises,
sich hat“, und den Artikel lese ich gar nicht
erst. Mir genügt die untere Zeile: „Das neue
Kunstwerk in Pinneberg ist eine Gemeinschaftsarbeit,
die mit zehntausend Euro gefördert
wurde.“ Blechei auf Sockel. Das Foto
davon zeigt beuliges Metall, auf dem ein
ungeübter Niroschweißer einige verklumpte
Nähte fabrizierte. Es ist nicht schön. Es ist
uninteressant. Es hat keine Aussage. Es war
sehr teuer.
Das ist nicht komisch.
:(
Okt 10, 2021 - Das ist nicht komisch 116 [Seite 115 bis 116 ]
Ganz einfach!
Okt 20, 2021
Jetzt ist es wieder passiert,
ein Amoklauf erschüttert uns.
Kongsberg, Norwegen – vor ein
paar Tagen hat ein Mann mehrere
Menschen getötet. Mit Pfeil
und Bogen bewaffnet war der
Verstörte unterwegs, auch Messer
kamen zum Einsatz, als er
zufällige Opfer für seine Attacke
fand. Es dauerte, bis die Polizei
zugriff und den Täter festgenommen
hat. Schnell verordneten Fachleute
die Bluttat als islamistisch motivierten Terrorakt.
Dann korrigierten sich die Behörden.
Der in Norwegen lebende Däne wäre seit
Jahren in psychologischer Behandlung, und
man ginge nun von einer Krankheit aus, die
zur Tat führte.
Wie immer in so einem Fall, stehen die
offiziellen Sicherheitsdienste anschließend
in der Kritik. Wenn ein polizeibekannter
Mensch zuschlägt, kommt die Frage auf, ob
das nicht verhindert werden konnte, voraussehbar
gewesen ist? Dem liegt die Problematik
zugrunde, dass die breite Masse einer
Gesellschaft diese Täter wegsortieren möchte,
am Besten rechtzeitig. Sie sind anders,
gefährden: Gestörte raus! Nun können wir
die Menschen nicht dahingehend belehren,
dass ein psychisch Kranker zunächst einer
der ihren ist. Der Normale nimmt diese Sicht
nicht an. Ihm ist egal, wie und warum es
kommen konnte, dass ein Mensch die anderen
nach einem zufälligen Muster auswählt
und scheinbar wahllos abschlachtet. Der einfache
Passant in seiner Heimat unterwegs,
möchte nicht angegriffen werden. Schließlich
gibt es die Polizei. Wir leben in der
Zivilisation. Ein Stadtbewohner denkt nicht
über seine Sicherheit nach, überquert eine
Straße, wenn das grüne Männchen leuchtet
und checkt mobile, was sonst noch wichtig
ist. So einer ist damit beschäftigt einzukaufen.
Ein Verbraucher nimmt nicht an,
mit Pfeil und Bogen angegriffen zu werden,
während er eine Unterhose auf Passgenauigkeit
prüft. Allenfalls Taschendiebe sind Teil
seiner Bedrohungskulisse, und dafür gibt es
den Kaufhausdetektiv.
Die Masse ist dumm und weiß es nicht; weil
ihr Leben funktioniert? Mit dieser These
macht man sich keine Freunde, enthält die
Ansicht ja einen pauschalen Vorwurf, die Gesellschaft
habe insgesamt eine Macke, von
der sie nicht wüsste. Trotzdem scheint es mir
sinnvoll, einige Belege für die Dummheit der
Normalen anzuführen. Wir können freundlicherweise
den Begriff mit Unwissenheit tauschen.
Unwissenheit ist gut an dieser Stelle
zu verwenden. Jeder kennt den Ausspruch,
sie schütze nicht vor Strafe. Die Logik, nach
der ein Amok funktioniert, wird regelmäßig
als nicht nachvollziehbar gebrandmarkt:
Warum kann der Normale nicht einsehen,
dass sein integriertes Verhalten für manche
unerreichbar scheint und solche Menschen
gute Gründe darin sehen, pauschal Rache zu
nehmen? Wäre dies ein Ansatz mit breitem
Konsens in einer Gesellschaft, wüssten wir,
dass allein unsere Normalität und unser
zivilisiertes Verhalten ausreichen, manche
so zu reizen, uns dafür zu bestrafen. Wenn
wir ausblenden, dass in einer
Stadt um uns herum welche
unterwegs sind, die ganz anders
empfinden, greift dieser
Satz „Unwissenheit schütze
nicht vor einer Bestrafung“ so
herum interpretiert, dass diese
uns strafen, weil wir sie nicht
respektierten. Empörung wird
daran nichts ändern.
Wir erwarten, alle
könnten sich leicht an
die Regeln halten, denen
wir gern bereit sind zu
folgen? Wenn wir uns
(naiv) auf die Sicherheitsbehörden
verlassen,
können wir das Opfer derjenigen werden,
die ihr eigenes Gesetz über das
der Allgemeinheit stellen. Im (blinden)
Vertrauen auf das Gewaltmonopol des
Staates und seine alleinige Berechtigung
zu richten, wird uns die nicht
haltbare Illusionen einer vollständig
geregelten und sicheren Umgebung
ein ums andere Mal als solche kalt
erwischen. Dass einer anschließend lebenslang
einsitzt, ist weniger Strafe, sondern die
hilflose Reaktion, das Zucken einer Justiz
und die Blendung der Masse, die es nicht
wahrhaben will, übertölpelt zu sein. Und
dumm ist diese Gesellschaft und eingebildet.
Zivilisation ist oft nur der intellektuelle
Rahmen. Er kann bedrohlich unzuverlässig
sein, wenn der Strom ausfällt oder sonst
wie die Natur zurückkehrt. Natürlich sind
wir angreifbar, was ist so schwer daran einzusehen?
Die hasserfüllten Äußerungen im
anonymen Netz zeigen doch nichts anderes
als die Wahrheit unseres Menschseins, sind
mitnichten vermeidbar und können durch
bessere Systeme höchstens eingedämmt
werden und rückverfolgt. Den Hass schaffen
wir nicht ab. Das geht nicht.
Kinder werden bestraft, um zu lernen.
Irgendwann sind diese erwachsen, und den
Eltern fällt nichts ein, als zu sagen: „Wenn
es dir nicht passt, zieh aus.“ Erwachsene
durch Gericht und Urteil mit Gefängnis zu
bestrafen, nimmt diesen die Selbstverantwortung.
Die Gesellschaft vertraut auf die
abschreckende Wirkung und nimmt an, dass
die Haft Verurteilte erziehen kann? Manchmal
geschieht es. Immerhin, das Gefängnis
schützt die normale Allgemeinheit vor den
weggesperrten Tätern.
# Stellen wir uns ein überspitztes Bild vor
Ein Mensch läuft in einer Blechrüstung herum.
Das ist aber kein sportlicher Ritter mit
der Lanze in der Hand, der gerade sein Pferd
im vollen Galopp dem Gegner präsentiert,
bereit ihn aus dem Sattel zu stoßen. Nein,
unser Typ in seiner Dose fühlt sich sicher,
und das ist eine Täuschung. Zur Navigation
gibt es höchstens ein kleines Guckloch. Damit
schaut dieser moderne Rittersmann auf
sein Handy, hält den Kopf dauerhaft geneigt
und es nicht für nötig, diesen frei bewegen
zu können. Wenn jetzt ein nackter Irrer von
schräg hinten angerannt kommt, muss der
Dosenmann den aufgezwungenen Kampf
verlieren. In diese Richtung sondiert keiner,
der fest auf die Sicherheit seiner Schutzkleidung
baut und die Navigation seiner Wege
dem Internet aufgibt.
Wenn das unsere Realität wäre, und ich bin
fest davon überzeugt, dass wir mehrheitlich
ausblenden, wie gefährlich zu leben
noch immer ist, so mag diese Skizze helfen
gegenzusteuern. Was könnten wir tun? Nur
der einzelne ist in der Lage zu handeln, zum
einen für sich selbst, indem vermeintliche
Sicherheit aufgegeben wird, wir lernten
unser Gegenüber zu bemerken und darüber
hinaus wäre es möglich, die Ansätze unserer
Fachleute, die mit der Ordnung, Stabilität
und der geistigen Gesundheit der Bürger
beauftragt sind, auf eine realistische Grundlage
zu stellen. Das hieße an erster Stelle
dafür zu sorgen, dass psychisch Kranke
gesund werden durch die ihnen angebotene
Behandlung. Das wird bislang kaum
versucht, obwohl dieses Thema einen hohen
Stellenwert hat. Es genügt uns, Kranke aus
gesamtgesellschaftlicher Sicht zu betrachten.
Wer sich und andere gefährdet, wird
behandelt, beobachtet und gezwungenermaßen
betreut. Medikamente möchten den
Kranken betäuben, und ihm wird gesagt, das
helfe. Das hilft dem Arzt. Regelmäßig kommt
es dazu, dass die entsprechenden Spezialisten
eine Situation verantworten müssen, die
ihnen in dieser Konstellation hinzuschauen,
Okt 20, 2021 - Ganz einfach! 117 [Seite 117 bis 118 ]
einzuschätzen und denjenigen zu therapieren
entglitten ist. Würde ein psychisch Kranker
in überschaubarer Zeit gesund gemacht,
also repariert wie ein Auto und könnte
anschließend sicher im Verkehr, beziehungsweise
im Umgang mit den anderen allein
unterwegs sein, gäbe es keine Probleme. Die
Bemühungen diese Menschen vollständig
frei von Arzt und Medikament in eine normale,
integrierte Lebensweise zu führen sind
jedoch viel zu unspezifisch und konkret ist
auch nicht nachweisbar,
wodurch die Gesundung
gekommen ist, wenn
es gelingt, dass jemand
seine Schwierigkeiten
los wird.
# Die Nachbarn des
Attentäters werden
befragt
In solchen Beschreibungen
erkennt man das
immer gleiche Muster.
Verschlossene, grimmige
Menschen oder eben
introvertiert, gehemmt,
jedenfalls ohne soziale Kontakte, sind das
Männer, häufig arbeitslos. Da ließe sich
leicht ein Forderungskatalog hinschreiben,
was wir ändern müssten.
Vorsicht!
Hat es sich herum gesprochen, dass ein
gefährlicher Spinner im Dorf ist, sollten
wir unser Verhalten anpassen. Wir könnten
Gruppen bilden und chatweise Sicherungen
erdenken für mögliche Opfer. Begegneten
wir dem Beknackten, raunten wir einander
ermahnend zu: „Nicht anschauen!“, aber ganz
leise, dass er’s nicht merke. Sonst heizten wir
eine „Situation“ nur unnötig an?
# Wir tun am Besten, als wäre alles ganz
normal
Normal zu sein ist ganz leicht. Wir brächten
es am Besten gleich allen bei, so zu sein, wie
wir es (ohne zu üben) können. Wir sollten
bemerken, dass wir uns selbst vor Verrückten
fürchten und damit aufhören, es zu tun. Wir
täten gut daran, diese Spinner nicht extra
zu verarschen und sie zu mobben. Kranke
fürchten andere und werden gegebenenfalls
aggressiv, weil ihnen normale Mittel der
Abgrenzung fremd sind. Statt diese kranken
Menschen weiter in die Rolle von Sonderlingen
zu drücken, müssten sie sich in humorvolle,
unterhaltsame Zeitgenossen verwandeln,
denen es leicht fällt, Freundschaften zu
finden und mit denen wir anderen gern als
Kollegen im Arbeitsverhältnis wären.
der Coronatoten. Sie beteiligten sich an gewaltfreien
Gegendemonstrationen. Sie sind
schließlich gegen das Dagegensein, und Aggression
ist ihnen fremd geworden. Politisch
engagiert, unterstützten sie eine kraftvolle
grüne Gesellschaftsumwandlung auf stabiler
wirtschaftlicher Basis mit sozial gerechter
Grundkomponente. Sie genderten divers
und pflanzten Blühwiesen für Wildbienen.
Der Therapeut solcher Sonderlinge könnte
probieren, aus ihnen innovative Unternehmensgründer
zu machen,
und wir sollten
Psychiater
ausbilden, denen
das zuverlässig
gelingt.
# Perspektive?
Diese Menschen,
die nicht ins
Bild passen.
Sie könnten
zu beliebten
Kreativen im
Dorf werden,
deren sexistische Kunst nicht länger als irre,
sondern als berechtigte Kritik interpretiert,
Teil des erweiterten Erlebnishorizontes einer
bislang uniformen Allgemeinsicht sind, die
gelernt hat, dekorative Banalität von engagierter
Ästhetik zu unterscheiden.
Oder, die Einzelgänger sollten dahingehend
geändert werden, ein sozial integriertes
Hobby mit anderen zu teilen.
Alternativ: Unerwünschte erotische Fantasien
trieben wir den Kranken am besten ganz
aus. Dafür wird eine Sondereinheit „Sex in
der Stadt“ gegründet, die entsprechende
Schulungen durchführt. Dann müssten diese
Menschen sich gern verlieben können, und
ewige Treue ist ihnen ein Muss. Selbst Liebe
zu geben, sollte ihnen leicht fallen, und sie
werden zufrieden in stabilen Beziehungen
leben, bis dass der Tod sie schließlich einmal
trenne.
Ganz einfach.
:)
Als Chef eines Unternehmens fänden wir
bald, wenn unsere Bemühungen erfolgreich
gewesen sind, leistungsorientierte
Angestellte in ihnen. Sie ernährten sich nun
gesund, rauchten und tränken nicht, konsumierten
keine Drogen und konvertierten
nicht in eine bösartige Religion. Sie bemühten
sich um ein Ehrenamt, engagierten sich
in der freiwilligen Feuerwehr. Sie machten
nun gern mit. Freudig ließen sie sich gegen
ein Virus impfen und dächten nicht diesen
Quatsch wie bisher. Aus verstockten Hatern
machten wir bestenfalls tolerante Mitmenschen.
Ihnen fällt nun leicht, andersartige
Sichtweisen zu respektieren. Abends stellten
sie eine Kerze ins Fenster und gedächten
Okt 20, 2021 - Ganz einfach! 118 [Seite 117 bis 118 ]
# Elbsegelgeschichten
Blankenese
Okt 22, 2021
3Sat vielleicht, ich
bin nur reingezappt,
inzwischen unsicher,
wo das lief. Phoenix
und Arte kommen
genauso in Frage. Sie war so am Schimpfen,
ein empörter Rohrspatz! Ich habe gar nicht
zugehört, war fasziniert, brauchte Zeit, die
Vergangenheit wiederzuerkennen. Thema:
Reichelt, das Schwein. Dann stand der Name
drunter. Mit einer intellektuellen Brille
ausgestattet, kam sie mir nun doppelt so alt
vor wie ich selbst. Eine kleine Matrone, aber
aus dem Häuschen vor Zorn. Das Kinn verschwand
ganz spitz, dünn. Tatsächlich faltig,
trat ihr schmales Gesicht unterhalb der Nase
insgesamt nach hinten zurück. Emotional
und voller Drang war sie am Reden wie
früher. Sie müsste bis zu zehn Jahre jünger
sein? Etwa wie Anke, Uli.
Ich traf sie das erste Mal, da war sie quasi
Teenager, segelte mit Claas den neuen
Heinpirat, nachdem er G3619 verkauft hatte.
Damit waren wir unterwegs, bevor mein Vorschoter
das Boot
übernahm. Weil
mein Freund
noch zur Schule
ging, lief alles
über Inge und
Fiete, er zahlte
Raten ab.
Dieses Geld nahm ich
für den „Globetrotter“,
bezahlte Dieter, und
Peter Knief sanierte
mir die 331 noch. Die
späten Achtzigerjahre:
Auf dem Sand sind
große Felder gewesen,
fünfzehn H-Jollen und
bis zu dreißig Piraten.
Claas und sein Mädchen
waren so jung! Wir
haben uns zunehmend
weniger gesehen, weil ich schließlich kaum
noch Regatten mitgefahren bin. Während
damals der BSC und Ponton meine zweite
Heimat waren, bin ich heute nur selten dort.
Schönes Wetter auf dem „Mühlo“, erster Pirat
an der Luvtonne? Ich sehe es vor mir, wie sie
sich raushängt bei Wind (und ganz dünn ist),
nichts wiegt, aber voller Ehrgeiz kämpft. Sie
will jede Wettfahrt gewinnen. Im Hintergrund
der Süllberg, Blankenese. Es weht,
aber der Himmel ist blau.
:)
Okt 22, 2021 - Blankenese 119 [Seite 119 bis 119 ]
Gretabedingt
Okt 25, 2021
Selbst sei der Mensch, egoistisch und gut!
Wer sich nicht wehre, „käme an den Herd“,
lehrt die moderne Frau. Was ist mit denen,
die sich krankhaft nicht wehren können?
Und wieso überhaupt kämpfen, wenn alle
divers und tolerante Gutmenschen sind?
Mitnichten ist diese Welt freundlich. Die
Lüge als bessere Wahrheit: „Meine Waffe
ist das Wort“, scheinen viele zu denken. Auf
der anderen Seite haben einige Probleme.
Psychisch erkrankten Männern wie Frauen,
unfähig, sich zu sozialisieren, fehlt es schon
deswegen an einer starken Lobby. Sie sind
das Kanonenfutter einer Gesellschaft, die
munter andere abschießt und dabei frech
das Beste von sich sagt. Bloß nicht ausrasten.
Überwachung, mit Medikamenten gängeln,
Betreuung: Niemand hilft dir, wenn du
eine psychische Krankheit hast! Man nutzt
dich aus. Die Leute fürchten sich davor, und
Ärzte verdienen daran. Für Straftäter gibt es
Polizei, Gericht und Gefängnis. Für Kranke
ist der Psychiater zuständig, und der schafft
ein imaginäres Gefängnis um den Kranken
herum. Der Spezialist stützt das latent
vorhandene Misstrauen der Gesellschaft,
das sie gegenüber diesen Sonderlingen hat
und baut es noch aus, indem er ein Stigma
verewigt. Aus einem Menschen macht der
Arzt den Patienten.
Wer mehr als einmal in eine Klinik eingewiesen
wurde, bekommt anschließend Probleme
einer neuen Qualität. Zusätzlich dazu,
das Leben zu meistern, mit dem Handicap
erneut psychisch zu erkranken, entwickelt
sich neben der eingebildeten Bedrohung die
wirkliche, von anderen gemobbt zu werden.
Darin steckt eine verkappte Bosheit, die das
einfache Fertigmachen von Mitschülern
oder Arbeitskollegen, die genügend Angriffsfläche
bieten, bei weitem übertrifft. Wenn
es im Dorf einen Sonderling gibt, scheint es
lohnend zu provozieren, bis in der Gemengelage
aus Aktion und Reaktion postuliert
werden kann, nicht nur ein Spinner laufe
rum, sondern der stelle eine Gefahr dar. Nun
finden sich alsbald Menschen, die glauben,
die Polizei sei ihr willfähriges Spielzeug,
die Sache unter Dach und Fach zu bringen,
einen Mitmenschen dauerhaft des Ortes zu
verweisen. Die Grenzen zwischen Nachbarn,
Leuten die nur vom Hörensagen informiert
sind, Familienmitglieder, die Geld wittern,
das sie ihrem Verwandten abspenstig
machen können und die Barrieren zwischen
Ärzten, die Schweigepflicht haben sollten
sowie zwischen der Polizei und Politik, weichen
gern auf, wenn die Anerkennung winkt,
einen Gefährder dingfest zu machen.
Leben in der Zivilisation? Es bedeutet
klug zu sein, um es innerhalb
der anderen zum anerkannten Platz
zwischen ihnen, möglicherweise
über der Masse zu bringen, und klug
ist ein Verhaltensgestörter gerade
nicht. Das sagt man nicht, aber
psychisch krank zu sein, ist eine
Form von Dummheit. Man sollte es
so formulieren: unklug sein, das ist
treffender. Sonst gäbe es keine Therapie.
Denn was anderes ist das, als
Schule? Natürlich sind Schüler nicht
per se dumm oder nicht intelligent.
Therapie ist der (oft hilflose) Ansatz,
manipulativ Intelligenz bei anderen zu
entwickeln. Anders ausgedrückt: Intelligente
Menschen verhalten sich nicht klug, das
ist der Grund für ihre Probleme. Ohne über
Begriffe streiten zu wollen, hilft es, die Worte
Intelligenz und Klugheit gegeneinander
auszuspielen, um deutlich zu machen, dass
jemand nicht weiß, wie er gegen sich selbst
handelt.
Geboren zu werden, bedeutet nicht automatisch
willkommen zu sein. In jedem Fall ist
ein neu dazugekommener Mensch, ein Baby,
durchaus ein Problem. Wir berechnen Kindheit
über die Jugend bis zum Erwachsensein
mit heute achtzehn Jahren. Die Gesellschaft
erwartet, dass diese Zeit von Eltern,
Verwandten und Lehrern genutzt wird, den
jungen Dazukömmling zu integrieren. Eigenverantwortlichkeit,
das Streben nach gesicherter
und befriedigender Existenz des nun
Erwachsenen, sind eine gute Basis, ihn zum
nützlichen Mitglied der Welt zu machen. Wir
nehmen an, dass einer sowohl den anderen
dient, als auch sich selbst Gutes tut. Leider
entwickeln nicht wenige die ungesunde
Schieflage, ihr Selbst dabei problematisch
zu vernachlässigen. Auch ein Narzist oder
Egoist handelt nicht klug. Das Ideal wäre ein
Zeitgenosse, der in stabilen Beziehungen tut,
was ihm gefällt. Ein egomanischer Typ wird
kaum befriedigende Partnerschaften haben,
und ein der Anerkennung nachlaufender
genauso wenig. Abteilungsleiter wird nur,
wer sich als selbstbewusster und stärker
erweist (als der bisherige Vorgesetzte).
Durch Fleiß in der Arbeit allein gelingt keine
Karriere. Die Aufgabe eines Therapeuten
wäre, Selbstbewusstsein so zu lehren, dass
jemand, dem es daran fehlt, weiß, wie es zu
entwickeln sei. Mit Psychopharmaka, Gesprächen
und kleinen Aufgaben für die Patienten
erreicht dieser das Ziel, seine Zöglinge stark
zu machen, nur selten.
Man weiß schon, dass Sport und Entspannungsübungen
irgendwie gut tun. Genauer
darauf zu achten, wie das geschieht, könnte
hilfreich sein. Zwei Fehler macht der Therapeut
mindestens. Allein, dass er leitend Teil
des Lebens anderer wird, stellt das Problem
auf feste Beine, unselbständige Kranke an
einen Führenden zu binden. Dazu kommt
das Gespräch mit dem Patienten; die zweite
Schwierigkeit liegt im verbalen Umweg dieser
Hilfe. Kommunikation durch das gesprochene
Wort steht im Weg. Missverstandene
Anteilnahme, verdeckt durchschimmernde
Manipulation und Ratschläge, die ihr Ziel
verfehlen, sind nicht ungewöhnlich. Da das
bereits bekannt
ist, werden gern
Medikamente
eingesetzt. Das
kann in Notlagen
wirklich helfen,
auf lange Sicht
verewigt die
Medizin ihre
unbedingte
Notwendigkeit.
Droge Arzt; sich
vor dem Leben
ohne Therapeut
zu fürchten,
schafft eine alternativlose Symbiose. Und
keine Alternative zu haben, macht Angst. Das
ist ein Teufelskreis. Reden allein hilft nicht.
Dem Depressiven zu raten, dieses oder jenes
zu tun, haben auch die Angehörigen bereits
erfolglos probiert. Würde der Therapeut, der
lieber eine Art Trainer sein sollte, die Muskulatur
des psychisch Kranken in sinnvoller
Weise dem Betroffenen nutzbar machen,
könnten Abhängigkeit und missverständliche
Kommunikation zurücktreten. Selbstverständnis
stünde an erster Stelle beim
Patienten, dazu die Aussicht, wieder Mensch
zu werden.
Die Probleme beginnen mit der Eingrenzung
auf eine Diagnose. Anstelle den ganzen
Menschen vor sich zu bemerken, hilft sich
der Arzt, ihm eine Krankheit auszusuchen.
Das ist im Sinne des Fehlers, ein Pferd von
hinten aufzuzäumen, beim Symptom zu
beginnen, dies mit den Macken anderer
abzugleichen. Das mag beim Internisten gehen,
beinhaltet beim Psychiater die Gefahr,
den Kopf vom Rumpf zu trennen und sich in
Begrifflichkeiten verlieren. Ein Mensch ist
unterwegs wie eine Kutsche mit Passagie-
Okt 25, 2021 - Gretabedingt 120 [Seite 120 bis 123 ]
ren, ein Taxi mit Fahrgästen, aber deren Ziele
sind nicht dieselben. Dem Fahrer obliegt, die
beste Lösung zu finden, alle an ihren Bestimmungsort
zu kutschieren. Dabei darf der Kutscher
nicht die Nerven verlieren. Der Verkehr
drumherum ist anstrengend. Seine Fahrgäste
weisen ihn an, wo es hingehen muss, jeder
möchte als erster ankommen. Dazu kann das
Auto (resp. die Kutsche) Probleme bereiten
als ein System, das verstanden und gewartet
werden muss.
# Der Notbremsassistent
In diesem Zusammenhang mögen Beispiele
aus dem Bereich „Künstliche Intelligenz“
nützlich sein, unser Verständnis vom
Menschsein zu erweitern. Der Orthopäde
versteht den Körper als funktionierende
Mechanik, will sich gern laienhaft in den
Bereich Stress tasten. Der Spezialist kann
trotzdem nur selten erklären, wie Funktion
und Denken mit Emotionen, dem Fühlen
und Berühren zusammenhängen, einen Menschen
ausmachen. Ein kleiner Umweg in das
Thema „Mensch und Maschine“ mag dafür
herhalten, anschaulich darzustellen, wie ein
angetriebenes System bestenfalls gelenkt
wird. Die Idee dahinter ist das Modell eines
Kapitäns an Bord, die Leitung vom Apparat
auf seinem Weg. Das macht den Zusammenhang
von Körper und Geist anschaulich.
Zunächst eine Episode aus der bemannten
Raumfahrt. Warum wurde Neil Armstrong
dazu auserkoren, sein Raumschiff auf dem
unwegsamen Mondboden zu landen? Man
war seinerzeit der Auffassung, Astronauten
wären besser dazu geeignet als vollautomatische
Lander. Tatsächlich übernahm der Berühmte
die letzten Meter des Landeanfluges
als verantwortlicher Pilot selbst. Armstrong
schaltete den Autopiloten ab. Der militärisch
trainierte Flieger erkannte im vorausberechneten
Terrain eine ungeeignete Gesteinsformationen,
herumliegende Brocken, in denen
die Landfähre vermutlich beim Aufsetzen
umgekippt wäre. Er entschloss sich, etwas
weiter zu fliegen, als geplant, und setzte
den Adler sicher auf, als eine glatte Ebene
erreicht war. Der Bodenstation stockte der
Atem, denn der Wagemutige verfeuerte den
vorhandenen Treibstoff für dieses Manöver
komplett. Ein nur wenige Meter längerer
Landeanflug, durch
den nach gutem
Gelände suchenden
Armstrong, hätten
bedeutet, nicht genügend
Reserve für
den späteren Start
an Bord zu haben.
Ein kleiner Schritt
für einen Menschen,
ein großer für die
Menschheit; ganz bestimmt!
Bevor Corona die Nachrichten beherrschte,
gab es andere Themen. „Kampfhunde fallen
Passanten an“, oder Busunfälle wurden
wochenlang diskutiert. Wenn irgendwo ein
Reisebus verunfallt, ist das Entsetzen groß.
Manchmal brennt es, und in diesem Zusammenhang
wird überlegt, ob die Polster der
Sitze aus einem anderen Material gefertigt
werden müssten? Gelegentlich stürzt das
Fahrzeug eine Böschung runter, und dann
fragen die Medien, wie es dazu kommen
konnte? Nicht selten ist zu geringer Abstand
der Grund für einen Unfall. Der Bremsweg
hat nicht ausgereicht. Wie die Medizin den
Menschen besser und belastbarer, langlebiger
machen möchte, chirurgisch und mit
Vorsorge in das System eingreift, probieren
wir insgesamt, unsere Technik sicherer zu
machen. Was genau der Gesellschaft nun
Verbesserung eigentlich bedeutet, wird
immer neu definiert.
Es ist schon eine Weile her, dass in einem
Beitrag Busfahrer sich dazu geäußert
haben, warum der für den Notfall gedachte
Bremsassistent, eine technische Raffinesse
moderner Fahrzeuge, vom Unternehmen
gern abgeschaltet würde. Das sei erlaubt,
und nicht wenige nutzten diese gesetzliche
Freiheit, warum? Der Fahrer, der lieber unerkannt
sein wollte, meint dazu, das System
verhalte sich stumpf nach der kameragesteuerten
Abstandsmessung. Es bremse
ständig das Fahrzeug in Momenten, wo der
geübte und aufmerksame Lenker den Wagen
einfach laufen lasse. Das sei der Fall, wenn
man auf der Autobahn unterwegs wäre
und ein Pkw überhole den Bus. Da gäbe es
nicht wenige, die scherten haarscharf vor
dem Reisebus ein, wohl, weil sie sich vor
dem nachfolgenden Wagen auf der linken
Spur fürchteten. Die seien im Zwiespalt,
den langsamen Bus überholen zu wollen,
hätten dabei aber das Gefühl, auf der linken
Spur nichts verloren zu haben. Sie möchten
das Manöver möglichst schnell hinter sich
bringen. Wenn ein kleines Fahrzeug knapp
rüberzieht, erkennt der Busfahrer, dass weiter
vorn nichts ist, der Pkw in Kürze Abstand
gewinnen wird. Er bremst also nicht, obwohl
der Sicherheitsabstand unterschritten wurde,
und nach einem Augenblick ist tatsächlich
wieder Platz zum Vordermann, der nun Gas
gibt. Lässt man den Automaten sein segensreiches
Werk tun, würden die Senioren
auf ihrer Kaffeefahrt seekrank. „Wir wollen
nicht mit ,dem‘ fahren, lieber mit ,Soundso‘,
da schaukle es nicht“, erklärten diese. Das
schade dem Geschäft.
# Damals, als die Erde noch flach war …
Als der liebe Gott den Menschen konstruierte,
dauerte das, anders als in der Bibel
dargestellt, länger. Über den Affen und
Neandertaler entwickelte sich das kleine
Arschloch weiter, bis es so wurde, wie heute
überall anzutreffen. Das Feuer nicht mehr
zu fürchten, selbst welches anzünden zu
können, hat viele Jahre in Anspruch genommen.
Damit einher ging die Möglichkeit,
Fleisch zu braten, das vorher nicht auf dem
Speiseplan stand. Gekochte und gebratene
Tiere sind weich und besser verdaulich.
Mit dieser neuen, erweiterten Möglichkeit,
andere essen zu können, wurden die
Urmenschen kräftiger und ihre Gehirne
wuchsen, bis sie die Größe eines heutigen
Denkapparates erreichten.
Sollte ich dies als Satire kennzeichnen?
Eine beunruhigende Perspektive: Wir dürfen
also befürchten, dass, wenn sich die vegane
Ernährung gretabedingt durchsetzt, unsere
Gehirne zukünftig wieder schrumpfen? Das
aktuelle, zeitgeistige Unwesen – wie manche
in der rechten Partei kritisieren oder der
Kirche – moderne Frauen z. B. und Schwule
überall, die ernst genommen würden, sei
nicht weniger bedenklich, als der grüne
Verbotewahn für uns, finden welche. Die
menschgemachte Klimakatastrophe wäre
unwahr, ein Fake der Medien, weil es auch
in grauer Vorzeit schon recht warm gewesen
sei, behaupten diese weißen, alten Männer.
Das ließe sich kaum bestreiten, bedeute
aber nicht, eine rasche Erwärmung des
Planeten zu begrüßen, hält die Wissenschaft
farbig und flexibel dagegen. Das Artensterben
ist unbestritten gefährlich für uns, und
auf Dauer können die Ewiggestrigen nur
verlieren.
Damals war es besser? Das kann sein,
aber heute ist es eben anders. Früher war
unsere Arbeitsteilung: die Männer jagten
und kämpften, dazugehörende „Mädels“,
welche ihre Kinder ja auch austragen,
hätten sich drum zu kümmern. Sexismus war
kein Schimpfwort oder die Rechtfertigung
einer Anklage. Es gab in der Steinzeit keine
Frauenquote im Management einer Sippe,
und das war auch gut so: Sonst hätte man
gemischte Gesellschaften erdacht und nicht
das Patriarchat. Das seinerzeit Bessere hatte
sich durchgesetzt. Zum brachialen Kämpfen
ist der Mann geeignet. Mit der Waffe in der
Hand tötet er die Gegner. Er bildet eine
stärkere Muskulatur aus. Anschließend fällt
der Krieger über die Frauen und Mädchen
im besiegten Dorf her und vergewaltigt nach
Lust und Laune. Das ist unsere menschliche
Geschichte. Gut möglich, dass diese Vergangenheit
zur Gegenwart wird! Niemand sollte
sich blind auf den Segen geordneter Verhältnisse
in seiner zivilisierten Umgebung
verlassen. Unsere Natur ist bis heute die
Basis: Frauen sind einen Großteil der Zeit
damit beschäftigt, sich um ihre Kinder zu
kümmern. Wir betrachten die Vergangenheit
aus der Höhe unseres Intellektes. Die Standbeine
dieses Rahmens sind aber imaginäre.
Sie tragen uns nur, wenn alle mitmachen.
Heute denken wir gern anders darüber, wie
es früher richtig gewesen ist. Nur Barbaren
möchten Homosexuelle abschlachten und
Frauen versklaven. Tatsächlich schlummert
der böse Mann im zivilisierten bis heute.
Während also der liebe Gott hunderttausende
an Jahren benötigte, uns den Weg
in die Moderne zu zeigen und dabei seine
Schöpfung modifizierte, erleben wir einen
ähnlichen Prozess beim Automobil, das ist
meine heitere These, unser Denken zu beflügeln.
Die Fahrzeuge änderten sich mit der
Zeit: Künstliche Intelligenz, selbstfahrende
Fahrzeuge (und Raumfahrt ohne Pilot) sind
bereits Realität. Wir können davon lernen,
uns als ein Stück der Natur noch besser zu
verstehen. Alternatives Denken kann Brücken
bauen, wenn wir zulassen, ein wenig zu
spinnen.
# Die Schöpfung des Menschen ist das Auto
Einige Parallelen sind erkennbar. Die Affen
waren nicht in der Lage zu sprechen. Der
Neandertaler konnte es möglicherweise,
und irgendwann jedenfalls in der langen
Zeit unserer Entwicklung, lernten wir’s zu
tun. Dann kam noch das Schreiben hinzu,
das Protokollieren menschlicher Ideen und
Erfindungen. Der Siegeszug, alles platt zu
machen, nahm unaufhaltsam seinen Lauf.
Wie lange mag das gut gehen?
Wir Menschen sind wie „Karius und Baktus“.
Einige werden sich an dieses Kinderbuch
erinnern. Das Schlaraffenland der kleinen
Zahnzerstörer und Bewohner einer Mundhöhle
endet im Abfluss. Als der Doktor (und
schließlich Jens selbst mit der Zahnbürste),
sämtliche Errungenschaften wie einen
„Balkon am Backenzahn“ oder aufwändige, in
das Weiß gemeißelte Treppen und prunkvol-
Okt 25, 2021 - Gretabedingt 121 [Seite 120 bis 123 ]
le Eingänge im Gebiss brutal fortfegt (wie
die wütende Ahr angrenzende Gebäude), ist
Schluss. Wir sind eine Krankheit der Erde,
machen alles kaputt, denke ich. Die Natur
kommt böse zurück.
Nichtsdestotrotz wollen, ja müssen wir leben.
Ein Paradox, dass wir nicht gern, leicht
und selbstbestimmt den Laden hier verlassen
können. Das liegt vor allem an unserem
automatischen Überlebenswillen. Was ist ein
Wille zum Weiterleben genau? Wer in uns
möchte nicht sterben, etwa das Herz, wie es
schlägt oder die Muskulatur zum Atmen, die
unentwegt arbeitet, ohne dass wir das mal
abstellen könnten, das sind Fragen. Und hier
kommt die Parallele zu unserer künstlichen
Schöpfung, dem Auto, als gelungenes Beispiel
dran, uns den menschlichen Organismus
zu erklären. Wie wäre es, einen Wagen
zu fahren, dessen Motor nicht abstellbar ist,
und ein Fahrzeug zu lenken ohne Bremse:
Was müssten wir tun, dem Auto Intelligenz
zu lehren? Das könnte auch anderswo
helfen, neu zu denken. Wir könnten größer
denken. Statt zu bemerken, der Lenker eines
Systems, beim Menschen also sein Gehirn
(oder der Busfahrer im Reiseverkehr) müsse
geändert und behandelt werden, sollten wir
beobachten und untersuchen, wie dieses
Gebilde insgesamt fährt und woraus es
besteht.
Eine Kutsche zu
verwenden, hieß
mit den Pferden
als ihr Antrieb
eine natürliche,
lebendige Maschinerie
einzusetzen.
Unter Umständen,
wenn dem Lenker
das Missgeschick
passierte, dass
ihm seine Gäule
durchgingen, erlebte
der Hilflose (und die
entsetzten Fahrgäste), dass zu bremsen nicht
genügte, das schleudernde Fahrzeug zu
stoppen. Im Gegenteil, ein kundiger Fahrer
würde gut daran tun, zu lenken, anstelle
krampfhaft am Bremshebel zu reißen. Mit
einem passenden Kurs konnte seinerzeit
möglicherweise das Schlimmste verhindert
werden. Dann beruhigten sich die Pferde
irgendwann. Damals wusste man, Natur und
Technik zu beherrschen, etwa dem Segelschiff
durch Sturm zu verhelfen, das eigene
Leben und die Fracht an Bord im unabänderlichen
Wetter zu führen. Der moderne
Kapitän kann glauben, sein monströses
Stahlungeheuer trotze jedem Sturm und
halte den digital errechneten Fahrplan ein,
ja der Reeder wird überlegen, ob das Schiff
überhaupt einen Kapitän benötigt? Das
selbstfahrende Schiff ist (noch) Utopie, Autos
und Bahnen fahren bereits vollautomatisch.
Der automatische Mensch ohne individuelle
Fantasie, mit entsprechenden Problemen
oder zumindest der systemrelevant, perfekt
integrierte, würde manchen gut in den Kram
passen. Spediteure, Reeder nutzen eine Flotte
von Lastwagen oder Schiffen, erwarten
billige und ungestörte Abläufe. Der Anbieter
eines sozialen Netzwerks im Internet möchte
Nutzer binden, ein Staat wünscht sich das
kontrollierte System. Jeder einzelne Mensch
ist dem Bindungswillen der entsprechend
übergeordneten Instanz unterworfen, wird
sich besser fühlen, wenn ihm das große Ganze
genügend Raum lässt. Das gilt umgekehrt
auch für jeden selbst. Wir lenken uns mit
dem Gehirn: Die größere Gesundheit erfährt
derjenige, dem angemessene Funktion
gelingt, Befindlichkeiten seiner Extremitäten
und inneren Organe spürt, wahrnimmt.
# Die gute Nachricht
Eine moderne Psychiatrie. Bald werden
Frauen in Massen diesen Beruf zu ihrem
machen. Es gibt bereits Anzeichen. Ich quatsche
ständig junge Mädels an, kenne mich
aus! (Das hat schon Ärger gegeben). Immer
öfter möchten sie Psychologie studieren,
toll. Psychiater und -innen könnten noch an
Intelligenz gewinnen. Letzte Hoffnung ist
die junge, moderne, farbige Frau. Wie die
bunte Kunst: Vielfarbiges Fabulieren und
fröhliches Therapieren gefallen mehr, als
alte, weiße Kittel, benebelte Schädel und an
das verkotete Bett geknotete Knebel.
Ein Mensch hat, als Erbe seiner Vorfahren
oder Einfall vom Schöpfer eingebaut, in
entsprechenden Situationen, die erkennbar
seine Existenz oder zumindest seine nächsten
Schritte gefährden, Angst. Wenn gerade
wenig davon spürbar ist, geht es uns gut,
beziehungsweise besser – ein klein wenig
Furcht wird uns dauerhaft zu eigen sein,
sonst – Narren fühlen nicht. Ein psychisch
Kranker weiß nicht, mit seiner Furcht umzugehen.
Nehmen wir an, der
Mensch begriff in
grauer Vorzeit, was ihm
jeweils Angst bedeutet?
Es gab noch keine
Atombomben. Anderes
wird den Urmenschen
geängstigt haben. Auch
wenn wir kein steinzeitlicher
Experte sind, sollte
jeder die bekannten
Fakten nutzen können.
Die frühen Vorfahren
lernten den aufrechten Gang. Sie begannen
zu sprechen. Sie verstanden schließlich
Waffen herzustellen, Feuer zu machen und
vieles mehr. Ganz sicher musste ihr Erfinder,
der allerliebste Gott, ihnen die Lernfähigkeit
als besten Wesenszug einbauen. Das, was
wir Intelligenz nennen, bedeutet eigentlich
die Fähigkeit auszuwählen. Der Gesunde
erkennt die gute Richtung, das nützliche
Produkt. Der psychisch Kranke erkennt es
weniger gut. Schlimmstenfalls wünscht sich
so einer den Tod, sucht also ganz bewusst
den schlechten Weg.
Es ist offenkundig, dass Angst wahrzunehmen
überlebenswichtig ist. Das bedeutet,
gemäß der Bibel: „Der Kluge sieht das
Unglück und verbirgt sich, die Einfältigen
laufen weiter und erleiden Strafe“, dass zu
bremsen, überhaupt langsamer zu handeln
und erst nachzudenken, eine bekannte
Qualität ist. Bremsen heißt, Muskeln zu
kontrollieren. Kein psychisch krankes
wie gesundes Gehirn existiert ohne den
dazugehörigen Körper. Manche spannen
sich täglich gewohnheitsmäßig, dass selbst
Laien gelingt, dies bei anderen zu bemerken.
Fremden beizubringen, sich zu ändern, ist
schon schwieriger. Angst lähmt, kann aber
auch die Basis einer spontanen Aggression
werden oder der Antrieb davonzulaufen.
Angst macht feige? Gleichwohl kann Angst
dazu führen, einen beherzten Befreiungsschlag
auszuprobieren. Der Angriff auf einen
Feind, der uns bedroht und wegen dem wir
uns fürchten, kann sinnvoll sein. In die Konstruktion
Mensch wurden diese Verhaltensweisen
bereits bauseitig integriert. Und zwar
in die Muskulatur.
Nur muss der Moderne lernen, damit umzugehen,
wie der Busfahrer mit dem Auto.
Das moderne Auto denkt, und nicht jedem
gefällt das. Der Apparat Mensch handelt in
manchem autonom. Das kann sich auf eine
Weise verselbstständigen, die weit über
das (vom Erfinder gesetzte) Ziel, ein in der
modernen, bedrohlichen Umwelt überlebensfähiger
Mensch zu sein, hinausschießt.
Was wäre ein automatischer Bremsassistent,
der fehlerhaft eingestellt, die Kontrolle im
Reisebus an sich reißt, selbstständig Gas
gibt, vollbremst? Wie kommt es, dass ein
Mensch so vieles macht, von dem er gar
nicht weiß wie? Obwohl der Vorgang „Essen“
eine komplexe Angelegenheit ist, kann kaum
jemand erklären, welche inneren Vorgänge
von dem Moment an, wo die Nahrung im
Mund ist, bis zum Ende vom Prozess auf dem
Klo übermorgen geschehen.
Nehmen wir an, der Affe unserer steinzeitlichen
Vergangenheit ist gerade im Begriff,
sich zum Neandertaler zu mausern. Es mag
so gewesen sein, dass die damaligen Primaten
in den Bäumen lebten und die neue
Sorte drunten herumgelaufen ist. Damit wird
sich, was ihnen als jeweils gefährlich galt,
geändert haben. Angst stecke uns in den
Knochen, heißt es, und in den Muskeln merken
wir Furcht. Sie krümmt uns oder macht
uns stocksteif; manche ignorieren diese
Tendenzen, latschen, als wär das scheinbar
locker, mache Eindruck. Unser Körperschema
bei Angst – aber jeder reagiert individuell
darauf.
# Etwas bemerken
Erst habe ich nur so gemalt. Als Künstler
wurde es mir bald wesentlich, mich genau
kennenzulernen. Andere scheinen sich in
dem was sie tun nur zu wiederholen. Mir
würde das nicht genügen. „Wenn ich merke,
da ist keine Entwicklung mehr, stoppe ich“,
sagt Trompeter Chet Baker im Interview.
Der eine
Trucker fährt
problemlos
mit der neuen
Technik,
andere regen
sich auf,
deswegen das
Beispiel, als
Anreiz drüber
nachzudenken.
Kein moderner
Fahrer
hat noch die
Wahl, vom
Chef einen
alten Büssing
von vor dem Kriege zu fordern und in der
Spedition seinen eigenen Oldtimer zu fahren.
Und kein moderner Mensch kann sich
der natürlichen Systematik entziehen, als
helfe eine neu gekaufte Jacke, eine Beauty-
OP, oder eine Medizin gegen emotionale
Probleme, würde effektiv als Impfung gegen
Furcht das Beste rausholen. Instinkte und
Angeborenes sind bis heute Teil des Menschen,
meint man, und noch mehr prägen
viele erlernte Muster, sich öffentlich zu
Okt 25, 2021 - Gretabedingt 122 [Seite 120 bis 123 ]
geben. Gehen zu können, mag dem Primaten
eine gewisse Zeit zu lernen bedeutet haben,
neue Gefahren am Boden könnten an Wichtigkeit
gewonnen haben, nachdem die Affen
zum Menschen wurden. Auch der moderne
Mensch muss den aufrechten Gang lernen.
Jeder läuft auf seine Weise, muss das sein?
Erfahrungen prägen uns. Ganz sicher fand
der Urmensch es recht umständlich, immer
über alle Details nachzudenken. Automatismen
der Angst wurden eingefleischte
Reflexe bis heute. Der Notfallbremsassistent
im Lkw ist unser vergleichendes Bild, das zu
begreifen.
Bei den komplexen Tätigkeiten, die ein
Mensch in Angriff nimmt, kann dieser nicht
die ganze Zeit handeln, wie wenn er gerade
eine Festung erstürmt. Der dosierte Einsatz
von Risikobereitschaft, Verstand, Gefühl,
Fühlen und Erfahrung, seine offensive Einstellung
dazu, Probleme zu lösen, sind eine
Mischung aus bewusstem und unbewussten
Handeln. In diesem Sinne verstehen wir
auch den leicht abgelenkten Busfahrer, dem
der technische Bremsassi hilft.
# Der Mensch und sein Angstassistent?
Der moderne Therapeut täte gut daran, dem
psychisch Kranken und in diesem Sinne von
seiner Intelligenz abgelenkten Patienten,
dabei zu helfen, Angst und Aggression gegen
die gefürchtete Umgebung wahrzunehmen.
Im Körper eines jeden sind eigene und
geerbte Muster, die uns Aufschluss darüber
geben, wie es uns gerade geht. Ein Gesunder
nutzt seinen Leib wie das Hirn in guter Kombination.
Der Psychiater sollte dahingehend
arbeiten, diese Kräfte zu integrieren, statt
Betroffene pharmazeutisch zu binden. Das
tut der Arzt aber nicht. Der Psychiater denkt
auch an sich selbst. Ein Gestörter, der nun
beginnt, auch noch wütend zu werden, das
ist nicht sein Ziel.
Dabei könnte Gas zu geben, anstelle fremdbestimmt
zu bremsen, durchaus überlebenswichtig
sein, wie Armstrong auf dem Mond
bewiesen hat. Astronauten, nur Passagiere
an Bord, und ein anderer hat’s programmiert:
Wer heute kommerziell mitfliegt, wird wissen
warum – oder nicht, was soll das? Ein
Vergnügungspark nach dem Vorbild von Walt
Disney, das ist für einige unser einmaliger
Planet; die Realität einer dem Truman (aus
dem Film) gemäßen Welt könnte wie eine
Seifenblase platzen. Im Großen wie im Kleinen:
Ein Mensch steuere seinen Kahn nach
eigenem Ermessen.
:)
Okt 25, 2021 - Gretabedingt 123 [Seite 120 bis 123 ]
Merkur
Okt 29, 2021
Merkur ist der sonnennächste Planet: Es
ist dort sehr heiß. Der Planet ist klein, ein
wenig wie unser Mond mit Kratern übersät.
Es gibt keine Atmosphäre. Niemand könnte
in dieser lebensfeindlichen Umgebung
existieren. Würden wir dennoch auf eine
besondere Weise geschützt auf dem Planeten
wohnen und könnten die Sonne an
seinem Himmel anschauen, wäre diese etwa
zweieinhalbmal größer, als bei uns zu sehen.
Während einige Planeten gut am Nachthimmel
gefunden werden können, bemerkt man
den Merkur nicht so leicht. Mars, Jupiter und
Saturn, die weit entfernt ihrer Bahn folgen
und, innerhalb der Erde zur Sonne, die Venus
als Abend- oder Morgenstern, können gut
beobachtet werden. Noch weiter draußen
als der Ringplanet Saturn gehören Uranus,
Neptun und Pluto zu uns. Sie sind nur mit
Teleskopen zu sehen. Merkur in Sonnennähe
ist klein, aber vergleichsweise nah dran.
Beim Merkur ist weniger das Problem, kein
Fernglas zur Hand zu haben, sondern der
richtige Zeitpunkt für eine Beobachtung. Natürlich
kann der winzige Planet gerade ein
schwaches Licht sein, und ein Feldstecher
würde helfen. Wichtiger zu begreifen ist,
dass dieser Himmelskörper stets in Sonnennähe
am Firmament steht. Damit kann man
ihn nur in der Dämmerung finden. Schon
kurze Zeit später, wenn es eine Morgensichtbarkeit
ist, geht die Sonne auf. Gibt es
den Planeten am Abend zu sehen, geschieht
es kurz nach Sonnenuntergang. Auch dann
steht er tief unten, knapp über dem Horizont
und wird bald verschwinden, weil dieser
Wandelstern gleich nach der Sonne schon
wieder untergeht.
Nachts ist er nie zu sehen. Wie bei der Venus
muss man sich den Ort, wo sich der Merkur
befindet, links oder rechts relativ in der
Nähe zur Sonne denken. Die Sonne fährt
von der Erde aus betrachtet wie auf einer
Bahnlinie über den Himmel. Wenn sie nicht
so hell strahlte, sähen wir neben und hinter
ihr die bekannten Sterne, die dann des
Nachts scheinen, wenn sich unser Zentralgestirn
woanders aufhält. Nach einem Jahr
ist die Sonne scheinbar einmal durch alle zu
ihrer Spur gehörenden Sternbilder gelaufen.
Das sind diejenigen, die wir als Sternzeichen
unserer Geburt kennen. Wir können Widder
sein, Löwe oder Zwilling. Niemand ist Bootes
oder Kassiopeia, und Orion, das schöne
Wintersternbild, kann genauso wenig unser
Geburtszeichen sein. Dort ist die Sonne nie
zu sehen. Die Linie der Sonnenbahn nennen
wir Ekliptik.
# Woher ich das alles weiß?
Mein Opa Heinz, der eigentlich
gern Großvater genannt werden
wollte, kannte sich aus mit den
Sternen und Planeten. Er ist
Kapitän gewesen, und ich erinnere
mich noch gut an viele gemeinsame
Stunden. Als mein Opa 1991
gestorben ist, war es ihm noch
gelungen, mich mit verschiedenen
Partnern bekannt zu machen, mit
denen er Bücher produziert hat,
so etwa Grafiker Uwe Jarchow
oder die Bürogemeinschaft vom
Kabel Verlag. Das brachte mir den Auftrag
für einen Buchtitel „Aufbruch in die weiße
Wildnis“ (Christine Reinke-Kunze) ein, und
mit Uwe habe ich mehrere Projekte
zusammen gemacht. Ich kenne Heinz
nur als Rentner. Er war vorher am
Deutschen Hydrographischen Institut
beschäftigt, die Seewarte an den Landungsbrücken
in Hamburg mit Blick
auf den Hafen.
Zur Konfirmation bekam ich 1980
einen Sextanten von ihm geschenkt.
Das ist ein Winkelmesser, wie er an
Bord verwendet wird. Genau genommen
habe ich einen „Schinkenknochen“
bekommen, so genannt, weil die
Minutenanzeige zur Feinablesung in
einem kreisrunden Ableseteller am
Ende der Alhidade
daran erinnert. Er
hat kein Fernrohr
wie üblich, sondern
eine runde Platte
mit einer Bohrung,
durch die man
schaut. Im Sommer
habe ich mir den
noch rausgekramt,
um die Sonnenfinsternis
(im Juni)
zu beobachten. Ein Sextant hat verschieden
stark getönte Blenden, die das möglich
machen. Nichtsdestotrotz sagte man bei der
Marine, wenn man eine Bagatelle dem Kapitän
besser verschwiegen hätte: „Da hättest
du den Kieker ja auch an das blinde Auge
setzen können.“ Das hieß ein Objekt (an der
Kimm) auszulassen,
um keine Arbeit mit
etwas Unbequemen
zu haben und
erinnert daran, dass
Seeleute auf dem
zur Sonnenbeobachtung
bevorzugtem
Auge schlecht
sahen.
Für Maritimes,
das Wetter und
Navigation habe
ich mich immer
begeistern können. Tatsächlich verstehe ich
nur Grundsätzliches. Ich habe zwar einige
Prüfungen gemacht, um die entsprechenden
Segelscheine zu bekommen und auch
zahlreiche Fachliteratur illustriert, aber ein
guter Nautiker bin ich keinesfalls. Wenn Piet
und ich im Sommer Dänemark besegelten,
zeichneten wir den Kurs mit Bleistift in die
Karte und steuerten entsprechend. Um mit
einer Jolle auf der Ostsee, die meiste Zeit in
Landsicht, korrekt anzukommen, war es nie
nötig Abweichungen hineinzurechnen. Ich
habe etliches begreifen müssen, um meine
Autoren zu verstehen, wenn Fachliteratur
mit meinen Zeichnungen gestaltet werden
sollte. Aber Rechnen ist keine Stärke von mir.
Ich war in den letzten Schuljahren recht gut
in Mathematik, habe alles wieder vergessen!
Kopfrechnen kann ich beinahe gar nicht.
Die Logik einer Kartenaufgabe macht mir
aber schon Spaß. Auf einer Sommerreise mit
meinem kleinen Boot hatten Kocki, meine
Mitseglerin und ich, einen besonders schönen
Urlaub. 1995 war es nicht eine einzige
Nacht bedeckt oder regnete. Wir ließen das
Persenning immer ein wenig offen, lagen
lange wach nebeneinander in den Kojen
und schauten in den Nachthimmel. Ein ums
andere Mal probierte ich, ihr Sternbilder
oder den Lauf vom Mond zu erklären, mit
nur mäßigem Erfolg. Meine Freundin hatte
Okt 29, 2021 - Merkur 124 [Seite 124 bis 126 ]
damals ein Studium
im Bereich
Vermessung begonnen,
das sie
nie beendet hat.
Es erinnert mich
gern daran, dass
meine Mutter
wollte, ich solle
Zahntechniker
werden, warum
bloß?
An dieser Stelle
wird es Zeit, den
Bogen noch ein
wenig größer zu
spannen. In einer
Art Umlaufbahn,
das Thema
einkreisend wie
bei den Planeten, muss diese Geschichte
erzählt werden, damit alle wesentlichen Elemente
enthalten sind. Wie ein Busfahrer, der
auf seiner Route keine Haltestelle auslassen
darf, möchte ich Vergangenheit mit der
Gegenwart verweben. Jetzt ist es also nötig,
nachdem der Planet und meine maritime
Vorgeschichte mit dem Großvater skizziert
sind, den Philosophen Karl Popper zu Wort
kommen zu lassen. Es gefällt mir, ihn noch
einmal zu zitieren, wie bereits in einem
anderen Beitrag. Popper stellt die Theorie
richtig, räumt mit der Überzeugung auf, wir
sähen etwas und reagierten. Der kluge Autor
macht deutlich, dass der Spaziergänger den
Wald vor Bäumen nicht bemerkt. „Oh wie
schön die Tanne“, sagt er, aber ein Förster
sieht anderes.
# Dass die
Wissenschaften,
wie schon die
griechischen Philosophen
sahen,
vom Problem,
von der Verwunderung
über
etwas ausgehen,
das an sich
etwas Alltägliches
sein kann,
aber für den
wissenschaftlichen
Denker eben zur Verwunderung,
zum Problem wird, das habe ich schon am
Anfang angedeutet. Meine These ist, dass
jede wissenschaftliche Entwicklung nur so
zu verstehen ist, dass ihr Ausgangspunkt
ein Problem ist oder eine Problemsituation,
das heißt, das Auftauchen eines Problems
in einer bestimmten Situation unseres
Gesamtwissens.
Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die
ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie
lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt
der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung
oder die sinnliche Beobachtung
ist. Das klingt zunächst durchaus vernünftig
und überzeugend, ist aber grundfalsch. Man
kann das leicht durch die folgende These
zeigen: ohne Problem keine Beobachtung.
Wenn ich Sie auffordere: „Bitte, beobachten
Sie!“, so sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch
gemäß, fragen: „Ja, aber was? Was
soll ich beobachten?“ Mit anderen Worten,
Sie bitten mich, Ihnen ein Problem anzugeben,
das durch Ihre Beobachtung gelöst
werden kann; und wenn ich Ihnen kein
Problem angebe, sondern nur ein Objekt, so
ist das zwar schon etwas besser,
aber keinesfalls befriedigend.
Wenn ich Ihnen zum Beispiel
sage: „Bitte, beobachten Sie Ihre
Uhr“, so werden Sie noch immer
nicht wissen, was ich eigentlich
beobachtet haben will. Wenn
ich Ihnen aber ein ganz triviales
Problem stelle, dann wird die
Sache anders. Sie werden sich
vielleicht für das Problem nicht
interessieren, aber Sie werden
wenigstens wissen, was Sie
durch Ihre Wahrnehmung oder
Beobachtung feststellen sollen.
Als Beispiel könnten Sie das
Problem nehmen, ob der Mond
im Zunehmen oder Abnehmen ist; oder in
welcher Stadt das Buch, das sie gegenwärtig
lesen, gedruckt wurde. (Karl R. Popper, Alles
Leben ist Problemlösen, Piper 1996).
Nun habe ich, was Popper ausführt, gerade
selbst erlebt! Der besondere, wissenschaftliche
Denker, von dem der kluge Analyst
berichtet, bin ich gerade selbst gewesen. In
dieser zufälligen Situation, geadelt durch
die persönliche Erinnerung, konnte ich
genießen, was jemand anderes nicht wahrgenommen
hätte. Geprägt durch das Wissen
meiner Jugend, aber unvorbereitet, damit
konfrontiert zu werden, trottete ich in den
Tag. Das war am Montagmorgen. Ich stehe
gern früh auf. Es ist also kurz nach halb
sieben, als ich mit einem frisch gekochten
Becher Kaffee noch im Bademantel die Treppe
rauf ins Atelier komme. Ich betrete unser
Dachgeschoss, wie es auf etlichen Bildern
der Webseite online
abgebildet ist (und
deswegen unnötig,
meine unordentliche
Arbeitshöhle weiter
zu beschreiben). Ein
schöner Morgen
deutet sich an. Es
ist noch dunkel, und
als Erstes öffne ich
das Westfenster,
um zu lüften und
einen Blick auf die
Sterne zu genießen.
Der Mond hängt im
Westen rum und
versaut die Nacht mit seinem Licht. Der Winter
ist am Himmel um diese Uhrzeit bereits
am Davonlaufen. Orion hat den Meridian
schon überquert, noch bevor Weihnachten
überhaupt ein Thema ist. Es kommt eben
immer auf den Zeitpunkt der Betrachtung
an. Ein Wintersternbild am Abend ist keines
im Herbst am Morgen. Jetzt klettert vor der
Sonne bereits der Frühling hoch, und der
Löwe beherrscht den Südosten.
Da gehe ich nun hinüber,
mache auch das Velux der
Gegenseite auf. Zwischen dem
Giebel oberhalb vom „Lindos“
mit seinen beiden Fenstern,
der Satellitenschüssel darauf
und dem Hochhaus links, ist
eine breite Lücke zwischen
verschiedenen Gebäuden
drumherum geblieben. Das
freie Ende gestattet einen
weiten Blick zum östlichen
Horizont. Hier beginnt, hinter
niedrigen Bäumen versteckt, nach wenigen,
davon verdeckten Häusern, dem alten Dorfkern
von Schenefeld, gleich die Weltstadt
Hamburg. Es fängt an, hell zu werden. Die
Morgendämmerung kündigt sich an, und
genau in der Mitte dieser kleinen, frei bis
ganz nach unten gebliebenen Himmelsstrecke
im Osten, steht ein magisch funkelnder
Lichtpunkt. Nicht besonders hoch über den
Bäumen und einem Wohnhaus an der Bushaltestelle
Dorfplatz, hinter dem Flachdach
der Bäckerei.
Ein startendes Flugzeug von Fuhlsbüttel,
denke ich. Ich kann mich noch gut daran
erinnern, meinen Eltern einmal (stolz auf
meine Kenntnisse), die Venus am Himmel
präsentiert zu haben. Etwa dreißig Sekunden
hielt diese Vision stand, und mein Vater
staunte: „Die ist aber hell!“ Dann bog „sie“
links ab, nahm noch Geschwindigkeit auf
und bald kamen rot und grün die Seitenlichter
raus.
Das war Montag anders. Das musste ein
bekannter Stern sein oder ein Planet? Dazu
gibt es doch das Internet, Fragen dieser
Art zu klären, denke ich und finde heraus,
dass da eine gute Morgensichtbarkeit vom
Merkur just dieser Tage erwartet wird. Aus
verschiedenen Beiträgen wird klar, dass der
unscheinbare Planet ausnahmsweise so
hell scheinen wird wie ein gut erkennbarer
Stern!
Das ist der Moment an Popper zu erinnern,
der uns darauf hinweist, wir gingen nicht
primär von einer Beobachtung aus, um eine
Forschung zu beginnen. Es liegt ja eigentlich
nahe. Zunächst sehe ich das Objekt am
Himmel, dann beginne ich nachzurechnen,
mache kleine Skizzen, ein Foto vom Himmel,
drehe an meiner Kosmossternkarte, suche
die Ephemeriden raus und prüfe, ob das
wirklich unser kleiner, sonnennächster
Planet Merkur ist, der dort so schön im
Morgenlicht funkelt? Nein, es ist tatsächlich
anders. Nur ich, als besonderes Individuum
mit persönlicher Erfahrung und speziellen
Interessen, habe dieses „Problem“ mit dem
Lichtpunkt. Ich wecke meinen Sohn: „Schau,
komm schnell mit ins
Arbeitszimmer!“, fordere
ich aufgekratzt. Der
ist nur genervt, hätte
noch eine halbe Stunde
schlafen können,
bis er los muss: „Der
Merkur, das ist aber toll
Papa.“
Ich denke an meinen
Opa Heinz. Ich weiß
noch genau, dass wir
darüber sprachen. So lange ist es her. Er
wäre auf „Milwaukee“ oder einem anderen
Schiff der Hapag gefahren als dritter Offizier
Okt 29, 2021 - Merkur 125 [Seite 124 bis 126 ]
oder so. Da hätte er tatsächlich einmal den
Merkur gesehen und wäre sich auch ganz
sicher gewesen, da er die entsprechenden
Tabellen zur Hand hatte, es nachzuprüfen.
Der kleine Punkt im Auge des Sextanten,
und das war der kleine Planet, ganz sicher.
Nur einmal im
Leben käme so
etwas vor, wenn
man nicht sehr
darauf aus wäre.
Oft sei das Wetter
ungeeignet, dann
die Nähe zur Sonne,
die bekannten
Probleme.
Das meint Popper, wenn er
beschreibt, dass wir mit einem
Problem beginnen und nicht
mit dem optischen Erlebnis.
Sind das reine intellektuelle
Haarspaltereien? Das denke
ich nicht. Es sind auch keine
Erkenntnisse ausschließlich für
Wissenschaftler, die sich gerade
mit einer Relativitätstheorie
2.0 herumschlagen. Das kann
auch dem gewöhnlichen Hansdampf
beim Einkaufen zum
Grübeln bringen, wenn eine Packung Müsli
ins Auge sticht? Ich glaube, die Antwort ist:
ja. Wir sollten lernen, uns als Individuum zu
sehen, das ist definitiv gesund. Ein Mensch
kann lernen, Dinge wichtig zu nehmen, die
faszinieren und Spaß machen, obwohl andere
gar nichts damit anfangen können.
Es hat mehrere Tage gebraucht, bis ich ganz
sicher sagen kann, mein Opa und ich, wir
haben den Merkur gesehen! Ich habe alles
nachgerechnet. Dafür benötigte ich einige
Blatt Papier, musste eine Karte aus Google
Maps ziehen und die genaue Richtung nach
Osten ermitteln. Mit dem Sonnenstand, den
man ebenfalls für Hamburg erfragen kann,
wusste ich, wo genau diese aufgehen würde.
Damit ergab sich ein Winkel zur Ostrichtung,
und es ist bekannt, dass die Sonne 15° in einer
Stunde vorankommt. Sie muss für ihren
rechtzeitigen Auftritt auf der Weltenbühne
am nächsten Tag, nach 24 Stunden (entsprechend
360°), scheinbar um uns rundherum
gewandert sein.
Die Deklination(en) von Merkur und Sonne
waren schnell gefunden, der Neigungswinkel
des Himmelsäquators musste relativ
zur Breite von Hamburg sein. Diese Linie
beginnt genau in diesem Ausschnitt, den
ich anvisierte; eine gute Möglichkeit für
eine Konstante. Die relativ in der Nähe dazu
verorteten Objekte erlaubten es mir, fand
ich, einen geraden Strich parallel
davon zu ziehen. Vereinfacht,
aber nicht unzuverlässig, ergab
das quasi die Fahrtrichtung des
Ganzen.
Dann konnte noch die Rektaszension
von Sonne und Merkur
genutzt werden, um in ihrer Differenz
den Abstand der Gestirne zu
prüfen. Schließlich vervollständigten
Arktur im Bootes und Denebola
im Löwen, die gut erkennbar
weiter oben sichtbar waren, das Bild,
den kleinen Planeten als in
der Jungfrau zu begreifen.
Folgebeobachtungen bei
gutem Wetter halfen noch,
und dann erst entdeckte ich
eine Webseite, die unseren
Nachthimmel in Echtzeit
abbildet, inklusive des
Planeten. Kein Zweifel blieb,
ich habe den Merkur gesehen.
„Na und?“, sagt mein
Sohn. „Ach ja, wie interessant“,
meint meine Frau, und
dann haben sie Wichtiges
zu tun. Die Geschichten
meines Opas „seien ihnen
bereits bekannt“, bremsen
die beiden mich aus.
„Na und?“, sage auch ich.
:)
Okt 29, 2021 - Merkur 126 [Seite 124 bis 126 ]
I Cover the Waterfront
Nov 2, 2021
Die „keiner liebt dich“ Theorie, kurz
zusammengefasst, ist so blöd gar nicht.
Eine totale Enttäuschung bleibt am Ende,
und so schlecht ist auch das nicht. Diese
alte Schallplatte der Allotria Jazzband mit
Vohwinkel kommt mir in den Sinn. Die
habe ich mal auf einem Flohmarkt gekauft.
Der Trompeter hatte Hamburg verlassen,
mit Papa Bue in Dänemark gespielt und
schließlich viele Jahre mit der Münchner
Band Musik gemacht. Aus dieser Zeit stammte
die Platte, und als ich sie Anfang der
Neunziger vom Grabbeltisch erwarb, waren
die Aufnahmen schon über zehn Jahre alt.
Das 1979 eingespielte „Jazz aus dem Radio“
entsprach dem Empfinden der Generation
meiner Eltern. Gerd ist im selben Jahr wie
mein Vater geboren.
Diese Zeit nach dem Krieg zu beschreiben,
die meine Eltern prägte und von mir aus
dem Fenster meiner Jugend betrachtet werden
kann, wird als das „Wirtschaftswunder“
bezeichnet. Meine Oma kochte für uns noch
leidenschaftlich gern Steckrübeneintopf. Ich
mochte das, ein fetter Kram; mit Speck und
Senf zu essen. Es war in den späten Sechzigern
und beginnenden Siebziger Jahren
aber verpönt. Man schaute abfällig auf diese
Speisen aus der schlechten Zeit, die daran
erinnerten, wie es war, als es nichts anderes
gab.
Nicht nur das Essen wurde vielfältig, bald
konnten wir sogar Fernsehen empfangen. In
den Achtzigern hörte ich Radio, und das Bemerkenswerteste
ist wohl, dass es schließlich
neue Anbieter gab. Mit dem neuen, privaten
Sender aus Schleswig-Holstein startet
für mich so deutlich wie nie die heutige Zeit,
die in allen Bereichen das breite Angebot
von Leistungen kennt. Es ist unnötig, vollständig
aufzuzählen, was sich noch änderte.
Die Post trat vom Telefondienst zurück oder
den Stromanbieter wechseln zu können,
wurde möglich. Statt einer Tube „Elmex“
fanden wir zwei derselben Marke im Regal.
„Aronal“ kam dazu; sollten wir morgens und
abends verschiedene Zahnpasta verwenden?
Das sei besser, warb der Hersteller. Während
die Musik im Radio die Bandbreite des
gesellschaftlichen Geschmacks abzudecken
versuchte, erkannten die Sender bald, sich
thematisch zu spezialisieren. Eine nicht
aufzuhaltende Entwicklung, warum auch?
Es lohnt eine kritische Einschätzung, Betrachtung
der modernen Vielfalt. Im Radio
liefen zunächst Musik und Wortbeiträge
gemischt. Es gab Nachrichten zur vollen
Stunde. Die Moderatoren brachten eigene
Schallplatten mit, die Musik war entsprechend
vielseitig. Die Zusammenstellung
der Titel entsprach viel weniger
einer exakt austarierten Strategie
am Markt auf den zum Sender
passenden Hörer. Nicht dass
früher alles besser gewesen wäre,
ist hier das Thema, sondern die
Überlegung, was es mit uns macht,
Teil einer Gruppe zu sein, mit auf
unsere Bedürfnisse zugeschnittenem
Angebot. Ich kann mich gut
an den Hamburger Jazzsender
erinnern, den ich eine Zeit lang
probierte, ohne dass es wirklich
Sinn gemacht hat. Der ironische Dixieland
von Gerd erinnert an die auslaufende Zeit
dieser Musikrichtung, die immer seltener
werdenden Momente einer Gelegenheit, Jazz
im Radio zu hören. Mit dem Aufkommen der
privaten Sender gab es die ersten Versuche,
speziell auf bestimmten Geschmack ausgerichtete
Stile zu etablieren.
# Noch einmal Merkur
Heute ist wetterbedingt und wegen seiner
Bewegung um die Sonne die beinahe letzte
Möglichkeit, den Planeten Merkur zu sehen,
bis eine neue Gelegenheit kommt. Während
ich einen Rest vom Mond durch schmierige
Schichtwolken erkennen kann, schafft es
der kleine Planet heute Morgen nicht mehr,
mein Auge zu erfreuen. Den täglich näher an
den Merkur rückenden, abnehmenden Mond
als aktuelle Findehilfe zu nutzen, empfehlen
mehrere Webseiten. Ich sehe den Mond.
Das bestätigt mir meine Beobachtung der
letzten Woche! Aber das Wetter selbst kann
ich leider nicht wählen und muss auf den
funkelnden Lichtpunkt darunter verzichten.
Hätte ich meinen Text in einem Forum für
Sternenfreunde gepostet, gäbe es vermutlich
Kommentare und Beschreibungen anderer.
Ich finde bereits Fotos vom Planeten dieser
Tage. Die sind natürlich qualitativ besser
als meine und erleben entsprechende
Beachtung. Ich interessiere mich dafür nur
am Rande.
Das führt zu weiteren Überlegungen. Der
Jazz, die Kunst oder das Segeln sind Themenbereiche.
Mit ein wenig Engagement
wäre es leicht, sich in entsprechenden
Gruppen den Austausch mit Gleichgesinnten
zu ermöglichen. Ich gehe tatsächlich bewusst
einen anderen Weg. Meine Arbeit, so
wie ich diese definiere, besteht seit Jahren
darin herauszufinden, was allgemein kränkt
oder zumindest enttäuscht. Ich möchte eine
grundsätzliche Antwort auf diese Frage. Es
ist wie bei einer Impfung. Durch Konfrontation
mit einem Problem, das zunächst
maskiert auftritt, soll deutlich werden, worin
exakt die persönliche Not besteht.
Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 127 [Seite 127 bis 129 ]
Sich eine passende Umgebung auszusuchen,
die eigene Bedürfnisse stützt, ist ein Prinzip,
angenehme Dinge durch diese Wahl einer
individuell platzierten Aufnahmeposition
erst möglich zu machen. Das verbirgt den
riskanten Denkfehler intellektueller Inzucht.
Zunächst eine feine Sache: Für alle meine
Interessen kann ich heute den entsprechenden
Gegenpol
finden. Selbst
ohne Reflexion der
Gleichgesinnten,
bietet mir (unangemeldet)
bereits
das gewöhnliche
YouTube beinahe
alles an Material,
was einer sich nur
denken kann. Eine
Suchmaschine wie
Google ersetzt das
Lexikon, wie wir
es kannten. Dazu
kämpfen noch
verschiedene dafür,
dass andere Anbieter
außerhalb des
Mainstream Chancen
haben, toll. Diese Vielfalt überfordert
einige, und das sind wohl diejenigen, die
dem Ganzen unterschwellig mit Misstrauen
begegnen.
# Täuschung und Selbsttäuschung?
Ein gutes Beispiel für ein verzerrtes Wirklichkeitsbild
liefert die Betrachtung der Corona-Pandemie
durch die Medien. Es kommt
darauf an, wo man sich informiert, um
objektiv Bescheid zu wissen. Objektivität als
solche darf bestritten werden, besser wäre
zuzugeben, wir wären mehr oder weniger
subjektiv darin, etwas korrekt einzuschätzen.
Die 7-Tage-Inzidenz für Indien heute wird
mit 6,0 angegeben (Website: Corona-in-
Zahlen-Global am 2.11.2021). Nachdem
sich die Werte in den Vereinigten Staaten
anschließend des Sommers verschlechterten,
bessert sich die Situation seit September
dort deutlich. Genauso, wie über die
guten Zahlen Indiens in den Nachrichten zur
besten Sendezeit nicht berichtet wird, seit
einer dramatischen Notlage im Mai, erfahren
wir primär, wo es gerade bedrohlich zugeht,
in Russland etwa würde Putin Urlaub für
alle verordnen. Die besseren Werte der USA
thematisiert das Fernsehen kaum. Die Menschen
in Indien können nicht von sich sagen,
die Pandemie durch eine gute Impfquote zu
beherrschen. Nicht einmal ein Viertel der
Bevölkerung dort ist vollständig geimpft.
Amerika; Präsident Joe Biden mag in den
heimischen Nachrichten behaupten, seine
Politik habe die Lage im Herbst gebessert.
Dem deutschen Fernsehen ist dies nicht
einmal einen Beitrag wert. Um die Situation
so stark wie möglich in die gewünschte
Richtung zu lenken, verzichtet man darauf,
jede Störung, die unsere Impfbereitschaft in
der Bevölkerung schmälern könnte,
zuzulassen.
Der Lockdown als größte Bedrohung
steht wieder im Raum,
und nur die Impfung stärkt die
Gesellschaft. Alle, die in irgendeiner
Weise fachlich qualifiziert
sind, äußern sich Druck ausübend
in Richtung der Ungeimpften. Die
Impfquote kann ihnen gar nicht
hoch genug sein. Fraglich bleibt,
wie eine Herdenimmunität zu erreichen
ist? Das Schlimme am nicht
geimpft sein, wäre die Gefahr böse
zu erkranken, denn hauptsächlich
diese Ungeschützten lägen nun
im Krankenhaus, wiederholen die
Politiker und Ärztepräsidenten. Das
ist nur logisch, kann aber nicht verbergen,
dass insgesamt das Risiko, intensiv
an Covid zu leiden, geringer geworden ist.
Wir wissen, dass es dieses Virus gibt. Der
einzelne kann Abstand halten, eine Maske
tragen und sich impfen lassen. Es gibt
bessere Möglichkeiten in allen Lebensbereichen,
volle Innenräume zu meiden oder sich
dort entsprechend zu schützen. Trotzdem
wird die Lage, was nun zu tun sei, je nach
Person ganz unterschiedlich bewertet.
Ein Bild der Wirklichkeit entsteht
durch die Information, die wir nutzen.
Die Vielfalt der Informationsquellen,
die uns zur Verfügung stehen
und das tatsächliche Erleben
auf der Straße im Gespräch mit
anderen, zeigen Wahlmöglichkeiten
auf, uns der überzeugendsten
Auffassung zuzuwenden. Bei näherer
Betrachtung wird, wie überall,
wenn andere uns umwerben,
deutlich, dass sie ihren Motiven
folgen und den Anschein erwecken,
diese seien mit unseren gleich. Der
Gesundheitsminister „liebt“ den
einzelnen nicht, möchte ihn nicht
schützen, sondern er beschreit zunächst
eine Gefahr, schneidert sie
breit bedrohlich zu, um dann die
Welt retten zu dürfen. Da kommt
es nicht auf die Person im Amt an,
das täte jeder von uns dem Minister gleich,
so zu handeln.
Es wird über eine geringere Kapazität von
Intensivbetten berichtet. Das liegt nicht
daran, dass im Vergleich zum Vorjahr einige
dieser technischen Wunderwerke kaputt
gegangen sind.
Tatsächlich haben
nicht wenige Pflegende
dem Beruf
inzwischen den
Rücken zugekehrt.
Wir verfügen über
noch weniger qualifiziertes
Personal als
ohnehin schon. Ganz
offensichtlich sind
die Gehaltsvorstellungen
der in Frage
kommenden Personengruppe in Relation
zu den Anforderungen nicht konform zu
alternativen Angeboten anderswo. Daran
ändert sich wenig, und das lässt nur einen
Schluss zu: Wir sind in Deutschland nicht in
Not, was die Lungenkrankheit betrifft. Unser
Wirtschaftssystem steht an erster Stelle und
diese Zahlen, nämlich wer wo wie viel Geld
bekommen kann. Die Furcht schwer krank zu
werden, tritt hinter kommerzielle Überlegungen,
ob unser System funktional bleiben
wird, zurück.
# Man geht zur Impfung, um Freiheiten zu
genießen
Auf der Basis einer visionären Show
überwiegt die Funktionalität des Systems
gemäß der alten Idee „Brot und Spiele“ im
modernen Gewand. Bereitwillig suchen wir
uns die Befriedigung unserer Motive selbst
aus. Speziell unterwegs oder breit gefächert
ist für jeden etwas dabei: Die allgemeinen
Medien haben einige Buhmänner. „Der Krieg
in Eurasien“ war ein vergleichbares Thema
im bekannten Roman von Orwell. Das
genügt als Feinbild für einfach gestrickte
Zeitgenossen. Man trifft diese Bösen nie
beim Einkaufen oder am Gartenzaun persönlich.
Trump hat ausgedient? Der beliebteste
Unmensch ist derzeit der Brasilianer Bolsonaro.
Nicht nur in der Pandemie ist er ein
böser Falschmacher. Gerade gab es Indigene
zu sehen, die ihren Präsidenten anklagten,
Schuld an einer Umweltkatastrophe zu sein.
Brasilien zerstöre die grüne Lunge der Erde,
und die Menschheit stirbt bald seinetwegen.
Gut möglich. Schlimm ist auch, Putin und
der Chinese haben „Glasgow“ geschwänzt,
stimmt. Was nützt es mir? Mein Einfluss
auf Brasilien ist
einigermaßen
gering.
# Schimpfen als
Ersatz für Selbstbewusstsein?
Die Medien
füttern uns mit
dem vermeintlichen
Versagen
der Menschen
dieser Welt.
Abstrakt entsteht
eine Realität vom
Ganzen, die wir
vermeiden, vor
Ort nachzuprüfen.
Das ist eine Droge
für welche, die
sich selbst nicht wahrnehmen mögen. Wer
die Fehler der anderen aufzuzeigen wichtiger
nimmt, als eigene Dinge auf die Beine
zu stellen, blendet sich schließlich daran.
Greta Thunberg ist tatsächlich nach Amerika
gesegelt, hat Donald Trump getroffen, ihm
die Meinung gesagt! Sie ist so unglaublich
anders und mutiger als
die Masse. Wer sich selbst
nicht mag und traut, hat in
dieser Welt verloren, bevor
er aufbricht, seinen Platz zu
behaupten. Reflexion wird
immer nur partiell sein.
Ich muss danach suchen
oder bereit sein, auf Lob zu
verzichten. Mit dem Blick auf
Applaus kann niemand befriedigend
schaffen. Ankläger
und investigative Journalis-
Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 128 [Seite 127 bis 129 ]
# Bleibt noch, einfach mitzulaufen
ten stehen
im Roman
und in der
Doku gern im Rampenlicht. TV-Kommissare
beherrschen unsere Unterhaltung? Die Aufgaben
eines Detektivs zu übernehmen und
Ankläger oder Richter zu sein, ist die vermutlich
schwierigste – besonders, wenn die
Ermittlungen mit einer Strafe abgeschlossen
werden. Künstler sind wie Polizisten, aber
ohne Gericht und Gefängnis im Hintergrund.
Wahrheit versus Behauptung: Wir sollten
mehr leisten als pöbeln (wie alle). Als
Mensch unter anderen ihnen die Fehler aufzuzeigen,
belastet. Das macht sich mancher
nicht klar, der leichthin meckert und hofft
mit Bewunderung, Freundschaft oder gar
Liebe belohnt zu werden. Wer fleißig einer
Leidenschaft folgt, scheitert, wenn diese
ihm als solche nicht genügt. Die Umgebung
liebt uns nicht. Sie wird immer mehr oder
weniger feindselig dastehen.
Wenn ich einen Blogbeitrag über den Planeten
Merkur, den ich zufällig gesehen habe,
auf meine Webseite stelle, erfahre ich so
gut wie keine Resonanz, etwas Besonderes
erreicht zu haben. Kaufte ich mir ein gutes
Teleskop, fuchste mich in die Materie, könnte
ich mit den modernen Möglichkeiten ein
schönes Foto des Planeten selbst machen.
Sogar am Tage fotografierte ich seine halbe
Sichel, und die Bewunderung einiger Sternenfreunde
im entsprechenden Forum wäre
mir sicher. Postete ich meine Kritik an der
Corona-Politik im dafür geeigneten Kanal,
könnte ich Anerkennung der quer denkenden
Szene bekommen. Schriebe ich über
das „Radio früher“, dürfte ich nostalgische
Reflexionen genießen. Aber nur, wenn ich
mir gezielt die damaligen Hörer auf einer
passenden Plattform suchte.
Fazit kann nur sein, um mich – den „ganzen
John“ mit allem Drum und Dran: von Malerei
über Segeln, bis zu soziologisch motivierter
Kritik – schert sich niemand; außer
möglicherweise meine allerliebste
Frau. Diese hat aber auch einigen
Nutzen davon. Sie ist mit einem
ganzen Mann verheiratet und
besitzt (mit mir) ein halbes Haus.
Ihr vernünftigerweise sie liebender
Gatte finanziert die andere Hälfte
und repariert mannhaft eventuelle
Schäden.
Mir bleibt heute nur wenig vom
vertrauten Gefühl, lieben zu können
und geliebt zu werden. Allein im
Weltenraum ohne Sterne über mir!
Ich schaue auf die Kimm, und dort
fährt kein Schiff. Auch an Land: Ich
müsste selbst los ziehen, Anerkennung
zu bekommen – das hieße, sich
Wald anpflanzen, hineinzurufen und
am wohlmeinenden Echo Freude
finden. Liebe ist zum „wie du mir, so
ich dir“ verkommen und funktioniert
wie der Oma ihr Steckrübeneintopf.
:)
Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 129 [Seite 127 bis 129 ]
Der Egoist
Nov 7, 2021
Ich glaube nicht mehr an Europa. Die Klimaziele,
dass wir sie erreichen, daran glaube
ich genauso wenig. Ich habe keinerlei
Vertrauen in die Zukunft, dass sie positiv
verlaufen wird, und ich lebe noch ganz gut
damit. Ich bin nicht depressiv, denke ich. Ich
bin maßlos enttäuscht, das ist es. Ein klarer
Blick hinter die eigene Fassade ist nichts
Schlechtes. Ich langweile mich beinahe nie.
Ich kann mich beschäftigen, erfülle Pflichten,
zahle Steuern. Aber da ist keinerlei Empathie
für unser Land, die Welt, die mir doch das
Dasein ermöglicht. Sie zwingt es mir ja auch
auf. Ich möchte weg, nur noch weg. Ganz
weit weg möchte ich, dorthin wo es besser
ist, aber es steht nirgendwo ein Wegweiser,
wie das zu machen sei. Hier kenne ich mich
einigermaßen aus, und deswegen bin ich
davon überzeugt, dass mein Hierbleiben
alternativlos ist. Mir gefällt dieses Land,
und der Wohlstand ist toll, man sieht ja,
wie die Menschen anderswo leben. Meine
Heimat ist hier. Ich habe ein Problem mit der
Zukunft. Sie erscheint mir frei geräumt von
den bekannten Träumen und Hoffnungen,
ein dürres Ende. Mein Problem liegt in der
Unfähigkeit, noch auf andere zugehen zu
können. Die Schwierigkeit ist, Unterschiede
wahrzunehmen, wer freundlich ist und wer
nicht. Der Weg in den Egoismus erscheint
mir als der bessere? Tatsächlich: Ich habe
mich vollkommen verändert, weg von den
Menschen, mache beinahe gar nichts mit
anderen mehr. Meine Freunde sind zahlreich,
aber man müsste diese Beziehungen auch
pflegen.
Ich gehe allen aus dem Weg, selbst wenn ich
offen fröhlich bin. Oft laufe ich hasserfüllt
in den Tag, bin fast enttäuscht, wenn die
anderen freundlich sind. Ein Schwätzchen zu
halten ist nicht schwer! Ich erwarte Feindseligkeit,
weil sich mein Weltbild dahingehend
entwickelt hat. Ich war überzeugt von
der Demokratie, sie ist mir heute wurscht.
Schenefeld, die oberen Zehntausend? Der
vollkommene Bruch ist innerlich vollzogen.
Es gefällt mir, dass ich Christiane nicht mehr
sehe. Gelegentlich erscheint ein Foto im
Tageblatt, Würdigung einer ehrenamtlichen
Häkelgruppe oder dergleichen. Sie wechseln
sich ab, stellvertretend Gudrun, schielt an
der Kamera vorbei. (Sie ist semiprofessionell,
aber tapfer in stumpfer Einfalt, stark
am Platz). Ich bin angewidert von jedweder
Eitelkeit im Amt. Unsere Bürgermeisterin, die
ich als fröhliche Frau regelmäßig radelnd im
Dorf kannte, traut sich noch zum Wahlkampf
auf den Wochenmarkt, bleibt ansonsten
unsichtbar. Ist besser
so – und klug, denke
ich. Politik ist verlogen
und sie hat ihren Beruf
nun gelernt. Respekt
dafür. Danke, dass ich
dabei mithelfen durfte.
Kunst schaut von der
anderen Seite: Eine
verlockende Vorstellung,
dass die Ampelkoalition
irgendwie
doch nicht zustande
kommt. Voller Hohn
beobachte ich die
Lage mit dem siegesgewissen
Olaf, hoffe
auf Probleme. Den hätte
ich niemals gewählt. Als Nichtwähler des
deutschen Bundestages bin ich glücklich im
Trotz. Der Designierte ist ein Operettenkapitän
für laue Luft. Zieht ein Sturm auf, steht
der Mann stark schauend an Deck, während
seine Segel zerfetzen, Matrosen aus der
Takelage stürzen, die Masten brechen. Mit
dem ersten Rettungsboot schippert er bei
Schiffbruch feige davon, um anderswo eine
neue Bark zu besteigen und sein schönes
Kapitänsgesicht feilzubieten.
Vielleicht ein Spiegel unserer Selbst? Die
soziale Güte der Gemeinschaft ist eine gute
Maske, der glatte Kandidat lebt es vor, und
wir finden uns im besten Darsteller wieder
wie im Heldenkino. Skepsis am Gutsein
der Masse ist nicht mehr erlaubt? Einzelne
gewinnen an Stärke, wenn sie zusammen
halten und den Block der Vernünftigen
bilden. Die Pandemie belastet uns. Das
Unvernünftige dieses Argumentes, alle
sollten, was das Impfen betrifft solidarisch
mitmachen, ist, dass diese Mehrheit immer
einen Rest haben wird. Die Spaltung der Gesellschaft
ist derzeit ein Thema, wir dürfen
gespannt sein, ob es gelingt, die Menschen
friedlich zu stimmen. Als Mutti der Nation
haben manche Angela Merkel bezeichnet.
Und jetzt kommt Papa Olaf? Das mag nicht
einfach sein für den Scholzomaten. Die
Pandemie solidarisch zu meistern, ist eine
Herausforderung. Wie sollen die noch ins
Boot geholt werden, die gerade massiv außenbords
gedrängt werden? Der Druck auf
Ungeimpfte wird mit dem Argument geführt,
diese gefährden andere und dem kann nicht
allzu viel entgegengehalten werden, außer,
mit dem Vorwurf leben zu können. Jedem
das eigene Schiff.
Verstört.
Manipuliert, Vertrauen zerstört, was heißt
das? So denke ich auf meinem bösen Irrweg:
Unsolidarisch aus Überzeugung! Ich lasse
mich nicht impfen aus demselben Grund,
möchte nicht aus Loyalität zur Allgemeinheit
Sinnvolles tun, dem Apparat lieber schaden
durch Passivität. Nur mit einer hohen
Impfquote bekommen wir die Pandemie in
den Griff, natürlich. Aber gerade deswegen
mache ich das nicht. Ich trage Maske, gehe
auf Abstand, das muss genügen. Es gibt noch
andere Gefahren. Ich setze keinen Helm auf
beim Radfahren, trinke Alkohol. Wer weiß,
vielleicht habe ich Krebs? Keine schlechte
Sache, so eine tödliche Krankheit. Das würde
meinen Abgang beschleunigen, alle freuten
sich, mich Miesepeter los zu sein. Und ich
selbst wäre der Zufriedenste, es geschafft zu
haben, endlich tot zu sein. Ich gehe nie zum
Arzt, auch wenn es sinnvoll wäre, weil ich
lieber Schmerzen habe und eine ungewisse
Zukunft. Das erscheint mir besser, als mich
fremden Weisungen anzupassen.
# Keine Beziehungen!
Die minimale Verbindung zur Gesellschaft:
Ich zahle Steuern (steht eingangs), das muss
genügen. Ich wiederhole es wegen seiner
Unbedingtheit. Dagegen kann man nichts
machen, außer eindeutig in das Lager der
Kriminellen umzuziehen. Damit kenne ich
mich nun wieder nicht aus, und deswegen
wird nichts draus. Zum Anarchisten tauge ich
nicht, religiöser Fanatismus ist mir fremd,
verrückt oder quer denke ich nie, das ist
blöd. Mache ich Fehler, hilft mir der Anwalt.
Ich kann das bezahlen. Auf eine Demo kriegt
mich niemand, das hieße ja, mit anderen
zusammen „dagegen“ mitlaufen. Zwischen
allen Stühlen allein auf meiner Insel, das ist
mein Ideal.
Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet
eine Impfpflicht, um gegen das Virus endlich
Fortschritte zu machen, heißt es. Schwierig
bis unmöglich umzusetzen? Ich glaube, es
war Bodo Ramelow, der Ministerpräsident
von Thüringen, der dazu sagte: „Wie wollen
Sie jemanden impfen, der meint Covid gäbe
es nicht und der Staat wolle ihn mit der
Spritze vergiften?“ Die flächendeckende Meinung
entwickelt sich zunehmend dahin, alle
müssten begreifen, das Richtige zu tun. Dies
ist gefährlicher zu denken, als Widerstand
zuzulassen und hinzunehmen. Der allgemeine
Mensch ist noch nicht erfunden worden.
Davon, dass so getan wird als sei es einfach,
normal und richtig, im Sinne des Ganzen zu
denken, wird man das Gegenteil erreichen.
Europa erlebt starke Fliehkräfte. Der Brexit
oder die polnische Sicht auf das System
machen im Großen deutlich, was dem Einzelnen
geschieht. Die Mitte der Gesellschaft
verlassende Menschen seien egoistisch,
heißt es von denen, die leicht begreifen, was
nützt und gern dabei sind. Der Konsens ist
ihr billiger Kompass. Eine Lösung dafür, alle
im gleichen Sinn geschlossen voran gehen
zu lassen, gibt es aber nicht. Der einzelne
Gedanke eines jeden Individuums zählt. Die
scheinbar irrationalen Abweichler des Kollektivs
(der systemischen Bewegung) müssten
integriert verstanden werden. Ausgrenzung
stärkt die Aussätzigen. Man sieht, dass
ganz verschiedene Gruppen sich zusammen
tun, wenn das gemeinsame Ziel unscharf
der Widerstand ist. Zorn ist weit mehr als
die böse Gewalt, die endlich verschwinden
müsste. Das ist unser persönlicher Antrieb
und für einige das reinste Vergnügen, mit
diesem Kraftstoff Gas zu geben.
:)
Nov 7, 2021 - Der Egoist 130 [Seite 130 bis 130 ]
Jungfrau
Nov 10, 2021
Ein strahlender Morgen, aber nun
ziehen Wolken auf. Ich bin gern
früh aus dem Bett. Mit dem ersten
Kaffee in der Hand schaue ich wieder
aus dem Ostfenster. Heute ist
der Merkur nicht mehr aufzufinden.
Es gelingt im Ausschlussverfahren
nachzuweisen, dass ich mich Ende
des Monats nicht täuschte! Ich sah
den sonnennächsten Planeten an mehreren
Tagen, weil genau dort am Himmel heute
nichts mehr zu beobachten ist. Das vertraute
Bild steht leicht in die Höhe verschoben:
Der helle Arktur strahlt über dem Hochhaus,
aber weiter oben als im Oktober um diese
Zeit. Das Sternbild Löwe erklimmt rechts
den Morgenhimmel, dass es schon schwierig
wird, Denebola an der Spitze überhaupt zu
sehen, ohne den Kopf aus der Dachluke zu
recken.
Zum ersten Mal sehe ich Spica ganz bewusst.
Der Hauptstern in der Jungfrau ist
nicht gerade ein typischer Kandidat, sich
auffällig in den Vordergrund zu drängen.
Auch jetzt funzelt sein Licht nur schwach,
wo etwa letzte Woche der kleine Planet
zu sehen war. Dieser Fixstern zeigt mir mit
Hilfe der aktuellen Angaben im Internet
(unterstützt von Arktur, der oben prächtig
herauskommt), wo Merkur heute nicht ist.
Dieser flinke Wandelstern mag gerade erst
aufgehen? Er ist unten hinter den Gebäuden
versteckt. Sein Licht ist so schwach, dass die
Suche in der Dämmerung zwecklos ist.
Gleich geht die Sonne auf.
Die Zeit, den
Merkur leicht am
Morgenhimmel
in der Jungfrau
zu finden, ist erst
einmal vorbei. Die
Sternbilder bilden
verlässlich eine
wandernde Kulisse.
Die Planeten,
Kometen, Sonne
und der Mond
schippern verspielt
in immer neue Positionen, bilden spannende
Konstellationen. Mein astrologisches Bild,
die Jungfrau, stand gerade Pate für den
kurzen Auftritt des eiligen Planeten. Ein
schöner Zufall, ihn dort so hell zu sehen
und das seltene Schauspiel zu verstehen für
einen Laien.
# Jungfrau
Ich bin am 27. August geboren. Mein Vater
erinnerte, wie er mit dem Fahrrad entlang
der Holmer Straße gestrampelt sei:
Am Nachmittag wäre (mit auf der Elbe
einsetzender Tide) ein schweres Gewitter
niedergegangen. Etwa zu dieser Zeit kam ich
im Wedeler Krankenhaus auf die Welt. Ich
hätte nicht geschrien als ein besorgliches
Zeichen, das Leben eventuell zu verweigern
und von der Hebamme einen Klaps auf den
Hintern bekommen. So wurde es erzählt.
Das finde ich nicht komisch; jede Erinnerung
wird zur Anekdote verändert. Die Aufklärung
der Kinder, überhaupt das Ende der Jugend,
sollte aufgeschoben werden? Wir rechnen
astrologisch die Jungfrauen vom 24. August
bis zum 23. September. Für meine Mutter
problematisch. Greta erklärte mich zum
Löwen um, als ich fragte. Es dauerte, bis ich
herausfand: „Wir wollten es dir nicht sagen,
weil du zu klein warst zu verstehen, was
eine Jungfrau ist.“
:)
Nov 10, 2021 - Jungfrau 131 [Seite 131 bis 131 ]
Nur ein Traum
Nov 13, 2021
Bei einem Seminar
der Feuerwehr warnt
der Seelsorger: „Die
Posttraumatische Belastungsstörung
kann
jeden treffen!“ Er will
deutlich machen, dass
es hier nicht um Weicheier
geht, die es gäbe,
und härtere Kameraden.
Ob es stimmt? Der
Referent steigt selbst
ein wenig in seiner eigenen
Wichtigkeit auf,
weil er allen auf einmal
drohen kann, nicht nur
den „Mädels“. Es lässt
sich kaum beweisen,
wenn nach dem Einsatz der geschockte Kollege
Meyer ausfällt und Krüger nicht, dass
es diesen gleichwohl getroffen hätte, wenn
– ja, was wäre der Grund? Typisch Psychiater,
sie möchten Bescheid wissen und können
nichts belegen. Auch Zwillinge erleben die
Tage verschieden, machen eigene Erfahrungen,
kommen in der Summe der Erkenntnisse
nie beieinander an.
Das Katastrophentrauma, auf jeden Fall
eine schöne Sache für den Betroffenen
und seinen Psychiater. Hier ist ein Mensch
gekommen, der kann zunächst einmal nichts
dafür zu leiden, weil ein bestimmtes Ereignis
Schuld am Problem ist. Das befreit Therapeuten
und Patienten gleichermaßen vom
Stigma, in der pathologischen Psychoecke zu
manövrieren, sagen zu können, keine auf die
Person bezogene Schwäche wäre der Grund.
Das ist das beste Arbeitsfeld. Der Kranke ist
wirklich krank, es gibt einen bekannten (und
anerkannten) Auslöser des Leidens. Er kann
nichts dafür, weil es anderen schon genauso
passiert ist. Ganz gewöhnliche Helfer haben
das manchmal. Das trifft nicht nur Spinner,
Frauen und Zartbesaitete: Selbsthilfegruppe?
Derbe Schale, weicher Kern. Der starke
Feuerwehrmann ist normal, obwohl er zum
Psychodoktor muss. Doku im Fernsehen, die
Krankheit ist erforscht. Wie eine Jacke kann
sie jedem angezogen werden. Da kommt
es nicht drauf an, was derjenige drunter
trägt, bereits mitgebracht hat. Interessierte
werden im Netz informiert.
# Die Begriffe Posttraumatische Belastungsstörung,
Posttraumatisches Belastungssyndrom,
Posttraumatisches Stresssyndrom oder
das englische Posttraumatic Stress Disorder
(PTSD) werden gleichbedeutend verwendet.
Die psychische Erkrankung wird gemäß der
internationalen Klassifikation ICD-10 den
Reaktionen auf schwere Belastungen und
Anpassungsstörungen zugeordnet. (Neurologen
und Psychiater im Netz, Informationsportal
zur psychischen Gesundheit und
Nervenerkrankungen, herausgegeben von
Berufsverbänden und Fachgesellschaften für
Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde
und Neurologie aus Deutschland und
der Schweiz).
Da kann der Fachmann richtig auf die Kacke
hauen, was da alles untersuchtt wurde. Wie
viel Studium und Theorie hinter diesen
Krankheiten steht: Genau bezeichnet, eingeordnet
und welche Pille wie hoch
als Dosis im speziellen Fall die
richtige sei; das ist echte Medizin.
Sie gründet auf langjähriger Forschung
und kann ihre Wichtigkeit
entsprechend aufplustern. Patienten
sind gern bereit mitzumachen?
Anders sieht das Ganze aus,
wenn alle im Dunkeln tappen. Die
Diagnose wird schwierig, wenn
ein Verrückter nicht weiß woher’s
kommt und der Arzt zunächst
Detektiv spielt.
Es könnte einfacher sein. Wir
könnten behaupten, die Probleme
kämen immer von außen und
seien untrennbar vom ganzen
Betroffenen, seinem Körper, den
persönlichen Erfahrungen. Dann
müssten wir den Menschen
insgesamt ernst nehmen. Die
Erkrankung wäre nicht statisch der
Begriff, die Diagnose, ein einziges, momentan
zu bezeichnendes Ding. Da hätte, würden
wir realistisch sein und die Sache als solche
zugeben, eine Entwicklung stattgefunden
und schreitet noch fort. Die Krankheit wäre
nicht mehr allgemein die von jedermann,
sondern viele Faktoren infizierten den Menschen,
durch die persönliche Einschätzungen
der Umstände, die der Patient auf seine
Weise bewertet. Andere kämen
mit derselben Situation klar, die
ihn aus der Bahn wirft. Vom Arzt
und der Gesellschaft respektiert,
wäre so jemand krank, ohne
eine Krankheit zu haben. Wir
sollten uns dazu durchringen,
einzusehen, dass weder eine
bauliche Macke, etwa ein Gen
oder eine Beschädigung in der
Kindheit Schuld daran ist, die
das Normalsein für immer amputiert
hat, noch eine Krankheit
diagnostiziert werden müsste,
weil es symptomatisch anderen
ähnlich geht.
Wir könnten die Theorie der Verhaltensauffälligkeiten
insgesamt neu formulieren. Statt
die Störungen in einem Buch zu sammeln
wie Dosen im Regal und diese dem Kranken
zuzuordnen, verstünden wir zu leben als
dynamisch. Eine Diagnose neigt dazu,
psychisches Leid als schuldhaft ertapptes
Übel – vergleichbar dem Tumor, den es zu
behandeln gilt, bis dieser Feind eliminiert
wurde – dinghaft festzunageln. Das möchten
wir gern: wegschneiden, was kränkt? Die
Vergangenheit annehmen und zu integrieren
wird gesagt, sei wichtig, aber wie es zu
machen sei, sich zusammenzureißen, können
nur wenige uns beibringen. Vielleicht wäre
es hilfreicher, Psyche und Körper als ohnehin
zusammenhängend mit gemeinsamer
Erfahrung zu begreifen? Anstelle von psychosomatischen
Krankheiten zu reden und
diese nur als weitere Gruppe zu benennen:
Dann hätte jeder das Werkzeug, sich zu
einen bereits in der Hand, und das Gerede
von der gespaltenen Persönlichkeit wäre
keine dumme Worthülse mehr. Die Anleitung
zur Selbsterforschung könnte geschrieben
werden, statt nach „Borderline“und „Burnout“
zukünftig weitere, moderne Begriffe zu kreieren,
definieren. Das Dumme im Verhalten
der prinzipiell Intelligenten dürfte ehrlich
aufgedeckt werden, statt zu bemerken, emotionale
Intelligenz gäbe es auch noch und
etwa positiven Stress.
Die bessere Sicht auf uns wäre nicht statisch:
„Ich bin halt so“, sondern variabel mit
der Perspektive einer Entwicklung. Und statt
das Ziel zu fixieren, den Tag zu erreichen
an dem alles gut sein wird, könnte die
Gegenwart beweglicher sein. Eine Erzählung
dieses dynamischen Lebens wären Erlebnisse,
aber kein Roman. Die Geschichte dazu
müsste geschrieben werden. Alle Elemente
zusammen machen krank; worin besteht die
verbindende Erfahrung? Was passierte, wird
erst spät klar. Der Betroffene spürt es nicht,
und wird von Gefühlen übermannt. Der Arzt
scheint Bescheid zu wissen, da er einen Namen
dafür hat und andere genauso reagieren?
Ein Fehler, so zu denken! Die Krankheit
ist ein vielfältiger Gegner, der sich aufspaltet
und immer neue Visagen präsentiert. Das
ist ein Eindringling, der sich schließlich vermehrt,
ein visionäres Virus der Fantasie. Ein
intellektuelles Problem infizierte den Armen,
hat sich im System eingenistet. Die Angst ist
an Bord! Ratten sind in jedes Schapp und
sämtliche Backskisten gekrochen. Das Übel
hat Gehirnzellen, Körperteile, Organe und
Extremitäten befallen.
Dann kommt noch der Psychiater an Bord:
schwere Schlagseite! Der Fachmann für
geistige Probleme stellt seine Einschätzung
über die Erfahrungen des Patienten. Der Arzt
kennt vergleichbare
Fälle. Man
lehrte ihm, was
es alles gibt. Wie
die Muskulatur an
den Rippen seines
Kunden hakt, während
dieser atmet,
bemerkt der Psychiater
nicht. Er
konzentriert sich
auf seine Diagnose
und was im Fall
übereintreffender
Verhaltensweisen
mit bekannten
Fällen empfohlen wird. Der Schizophrene
bemerkt Spannungen im Leib genauso wenig.
Dann beginnt die Reise mit dem neuen
Lotsen an Bord, die bekannten Therapien.
Der Arzt begleitet seinen Patienten oft ein
Leben lang. Manche Kranke wechseln noch,
bis sie zufrieden sind. Andere verschleißen
mehrere Fachärzte im Laufe der Zeit, weil
diese Rentner wurden, ohne dass die Patienten
genesen sind.
Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 132 [Seite 132 bis 134 ]
Warum kann die Psychiatrie nicht begreifen,
dass ihre Krankheiten Erklärungsprinzipien
sind? Eine Diagnose mag angehen, wenn ich
Internist bin. „Sie haben Gürtelrose“, sagt der
Hausarzt etwa. Das will der Psychiater auch
können. Er möchte Anerkennung und so tun,
als wäre er ein richtiger Arzt. Er entdeckt:
„Der Patient hat eine X-Z1-Paranoia nach
Kategorie 4“, verschleiert das noch gemäß
dem Rat, niemand zu überlasten und drückt
sich entsprechend aus. Das Prinzip, die
Krankheit sei wie ein Ding an sich und
erforscht, behält er bei. Das ist vollkommen
falsch, aber es stört diese Fachrichtung
nicht, weil man es
eben so macht. Die
Behandlung kommt
um das Mittel der
Manipulation nicht
herum? Das wird
dem latent paranoiden
Patienten
nicht helfen und
kann durch perfide
Alltagsverarsche
noch getoppt werden.
Seitdem der
Aufmerksamkeit
heischende Begriff
des „Profilers“ Allgemeingut geworden ist,
können wir uns vorstellen, wie ein Netz um
den Auffälligen gespannt werden könnte
(und der kann es sich selbst auch ausmalen).
Psychiatrische Gutachten und das Entwickeln
eines Profils, wie ein Sonderling sich
entwickeln wird, entsprechen den Problemen
der Wettervorhersage. Eine Krankheit,
kaum mehr als einen Begriff dafür, der aufgrund
von Beobachtungen, Symptomen und
Diagnose dem Kranken zugeschrieben wird,
sollte dieser nicht „haben“. Ich kann, um das
Beispiel von oben aufzugreifen, eine Jacke
besitzen, ein Auto haben, aber eine Ehefrau
werde ich wohl kaum „haben“ (obwohl es
umgangssprachlich schon mal gesagt wird),
weil diese sich nicht in meinem Besitz
befindet, ein Eigenleben darstellt. Ein Grippe
zu haben, weil sie im Menschen bekannte
Veränderungen wie Fieber, Kopfschmerzen
und Schnupfen auslöst, macht Sinn. Einen
Minderwertigkeitskomplex kann ich nicht
haben, weil das dem einen dies bedeutet
und anderen jenes. Wenn der eine Schizophrene
gewalttätig wird, andere katatone
Verkrampfungen ausleben, ist die Ausgangslage
warum es geschieht kompliziert
genug. Mit dem jeweiligen Menschen selbst
zu beginnen, anstelle Krankheiten aus dem
Lehrbuch zu diagnostizieren, wäre besser.
Wenn ein Grippevirus den Menschen außer
Gefecht setzt, laufen ähnliche Prozesse bei
jedem Betroffenen ab und der Arzt kann
zielgenau therapieren. Das Verhalten der
Kranken wird als rational und mehr oder
weniger klug nur ausnahmsweise einbezogen.
Wer mit hohem Fieber noch arbeitet, ist
dumm aber nicht krank im Geiste. „Bleiben
Sie zu Hause im Bett!“, ist eine Anweisung,
der man folgen kann. „Bleiben Sie zu Hause,
bis die Psychose aufhört“, wäre ein kaum
umzusetzender Rat (wenn der Kranke von einem
zum nächsten Moment nicht weiß, was
er tut). Könnte sichergestellt werden, dass
die nötige Dosis passender Psychopharmaka
eingenommen wird, ist die Möglichkeit, eine
Krise in der Wohnung allein abzuwettern,
theoretisch gegeben. Die Medikation ist
nur bedingt zuverlässig, wenn der Patient
unzuverlässig reagiert. Das kann auf seine
Konstitution und sein Krankheitsbild bezogen
eine Unsicherheit bedeuten, die unsere
Gesellschaft allgemein und seine Angehörigen
im Besonderen an die Belastungsgrenze
bringen. Deswegen wird das Umfeld dazu
neigen, Druck auszuüben. Verantwortliche
stellen Sicherheit über das Bestreben, den
Kranken risikoreiche Wege gehen zu lassen,
mit dem Ziel, auf zukünftige Behandlungen
zu verzichten. Zu oft enttäuscht, bestätigen
weitere, unkontrollierbare Vorfälle die Begleitpersonen,
den Rahmen enger zu ziehen
und das entwürdigende Schicksal, jemanden
dauerhaft zu betreuen, als das Beste zu
wollen.
Psychisch krank zu sein wurde anerkanntes
Problem, schuf eine medizinische
Fachrichtung. Diese will sein,
wie die Kollegen in der richtigen
Medizin. Wir messen oder probieren
zu analysieren, was im Gehirn eines
Kranken passiert. Die Ergebnisse
werden mit denen anderer Kranken
verglichen. Eine Liste der Erkenntnisse
kann in Relation zum Verhalten
strukturiert werden. Nun möchte
eine grundsätzliche Einordnung
oberhalb und die jeweils differenzierte
Untergruppe zur Diagnostik formuliert
werden; beispielsweise der schizophrene
Formenkreis. Dann entwickelt man eine
Medikation und redet, entwickelt Aufgaben
und Verhaltensmaßnahmen. So werden Äpfel
mit Birnen verglichen: Nehmen wir an, wir
wüssten genau, was im Gehirn bei einer
Psychose falsch läuft beim Dopamin. Dann
entspricht diese Beobachtung der vom Wirken
des Fiebers bei einer Infektion. Während
wir dort unterscheiden können, ob Bakterien
ursächlich sind oder ein Virus, weiß kein
Psychiater die genaue Ursache einer Psychose
einzugrenzen, das auslösende aktuelle
Geschehen in Relation zum Erlebten, eine
nicht auszuschließende erblich bedingte
Komponente. Da sind individuelle Motive,
und diese können nicht ein greifbares Ding
sein, wie ein Gedächtnis zwar lokalisiert
wird, aber seine Inhalte nur ungefähr beschreibbar
sind. Eine individuelle Benutzungsweise
des Gehirns, unter Verwendung
unbekannter Inhalte am gemessenen Ort
sind eine dürftige Bestandsaufnahme. Ein
krankes Gehirn mag Fehlfunktionen aufweisen.
Deswegen kennen wir die Dinge, die
dort abgespeichert wurden, noch lange nicht
und können nicht voraussagen, zu welchen
Kombinationen der Patient neigen wird, wie
er reagiert, wenn weitere Ereignisse relativ
zu seinem Handeln geschehen.
Der gut behandelbare Traumakomplex
sollte nachdenklich machen. Eine Vergewaltigung
oder das Dabeisein am Flugzeugabsturz
zeigen, dass Befürchtungen die
Fantasie beflügeln. Diese visionäre Kraft
kann anschließend unbeherrschbare Wege
einschlagen. Menschen werden handlungsund
arbeitsunfähig,
wenn entsprechende
Erlebnisse verstören.
Die Gründe,
Angst nicht zu
erkennen, weil keine
Vergewaltigung
beschreibbar ist und
die Auswirkungen
auf das eigene System
nicht spüren zu
können, weil Furcht
sich maskiert, könnten
am Besten gelöst werden, wenn wir Mittel
nutzten, individuelle Muster zu erkennen
und selbst auflösen. Natürlich kann es eine
Hilfe sein zu reden. Nachts im Bett ist man
aber allein mit sich und der Furcht.
Menschen neigen dazu, sich auf das zu konzentrieren,
was sie tun. Das ist nicht selten
ein fixierter Tunnelblick, nur wie durch ein
kleines Guckloch informiert, eilig voran zu
machen. Obwohl unsere Informationen vom
Drumherum immer eine Selektion sind, die
so vieles gar nicht miteinbeziehen kann, weil
wir schlicht nicht wissen, was unsretwegen
passiert und was nicht, wählen wir je nach
der momentanen Einschätzung eine Version
der Realität, die augenblicklichen Erwartungen
entspricht. Das Wirklichkeitsbild kann
nur so gut sein wie unsere Kommunikation
und Reflexion der Umgebung, in Relation
zur Erwartungshaltung, was alles bedeutet.
Statt nun der Einbildung zu folgen, etwas
begriffen zu haben, wäre es möglich wahrzunehmen,
wer und wo wir sind und wie sich’s
anfühlt, innezuhalten, neu abzuwägen. Das
kann jeder Gesunde.
Anstelle sich mit dem Arzt, seiner Medizin
und der zugeschriebenen Diagnose zu beschäftigen,
würden Kenntnisse des eigenen
Empfindens nützen. Diese spürbar zu machen,
wäre die Aufgabe eines Trainers. Eine
Krankheit als solche anzunehmen macht die
Lage kaum gut. Ein Stigma ist nicht hilfreich.
Die eigene Intelligenz wieder nutzen zu
können, könnte wirkliche Besserung bringen,
individuelle Wertschätzung möglich machen.
Diesen Weg muss ein Betroffener selbst
finden, und das ist nach rund hundert Jahren
seit Freud traurig.
Niemand kann Gott verprügeln oder der
Welt selbst einen Tritt verpassen nach einer
unfassbaren Katastrophe. Das mag der Kern
eines Traumas sein, hilflos und überfordert
waren wir. Einem Vergewaltiger gegenüber
hätten wir uns wehren können; die Frage
nistet sich ein, warum taten wir’s nicht? Als
Kind waren wir dem Einfluss des Elternhauses
ausgesetzt und dieses war schlecht, hat
uns überfordert und verwirrt, das kommt vor.
Niemand kann in die Vergangenheit reisen
und sie korrigieren. Das mag ein Problem
sein? Menschen werden durchgängig nach
einer OP, das ist wie eine Psychose. „Delir“
ist ein modernes Wort dafür, „rallig“ sagt die
erfahrene Schwester der Anästhesie. Eine
Schwangerschaftsdepression nimmt schon
mal dieselben Züge an. Eine einmalige
Episode meistens, während der geübte Schizophrene
sein Leben lang Wiederholungstäter
werden kann, Täter gegen sich selbst und
gegen andere.
Gewalt ist zunächst einmal ein Teil dieser
Welt. Insofern ist sich zu wehren legitim. Die
Zivilisation verlangt uns einiges an Stil ab,
das zu tun. Verfügbare Mittel gegen Gewalt
und Überforderung sind, den eigenen
Angriff zu wagen oder voller Körperspannung
zu warten, bis es vorbei ist.
Schließlich kann uns gegeben sein
wegzulaufen, statt sich zu wehren.
Dreimal selbst Gewalt resp. Kraft
stehen dem Gesunden zur Verfügung,
wenn Angst das beherrschende Gefühl
ist: Spannung im Leib erzeugen,
Muskeln zur Flucht in Höchstleistung
versetzen oder selbst schlagen,
treten, kratzen, beißen.
Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 133 [Seite 132 bis 134 ]
# Der ganze Mensch
Funktional und von der Struktur ähneln sich
Menschen ziemlich. Sie unterscheiden sich
durch individuellen Erfahrungen. Das Wissen
prägt sich nicht nur in die „Rinde“ seines
Gehirns ein, der Mensch lernt insgesamt. Wer
ein Tennisspiel gewinnen kann, weiß seinen
Körper entsprechend zu verwenden, wie in
jedem Beruf spezielle Bewegungen nötig
sind. Modernes Homeoffice macht deutlich,
dass ergonomische Arbeitsplätze nicht
grundlos entwickelt wurden, um orthopädische
Beschwerden am Arbeitsplatz zu
vermeiden. Nett zu Hause arbeiten, ist nicht
jedermanns stressfreie Zone.
Die Idee eines Daseins nach dem Tod
übersteigt unsere Vorstellungskraft schon
deswegen, weil wir uns in der Summe nicht
außerhalb vom Körper, seinen Extremitäten
und ganzheitlicher Erfahrungen begreifen,
untrennbar ein Individuum sind. Wer möchte
als Rind wiedergeboren sein?
Noch dazu krank, heilig zwar,
aber mit Wahnvorstellungen aus
früheren Episoden des Lebens
durch Mumbai strolchen. Diesen
Vorteil gäbe es: Eine psychisch
kranke Kuh könnte andere nicht
mit einer Axt angreifen. Wie aber
fühlt sich’s an, das Jenseits im
Zustand der Demenz ewiglich zu
erleben? Darüber müssten Rentner
im Seniorenstift nachdenken,
denen der baldige Tod gewiss ist.
Das Beste inklusive Jungbrunnen
erwarten manche da oben im
Himmel.
Körper und Geist getrennt
darzustellen, ist eine Abstraktion.
Obwohl es vertraute Begriffe
sind, helfen sie gerade nicht,
Menschen und Verhalten zu
kennen. Wir spalten die Person.
Damit verzettelt sich mancher
mehr als gut ist. Der Titel einer
intelligenten Theorie lautet
im Original: „Body and Mature
Behaviour“ und nicht „Weg zum
reifen Selbst“, wie die deutsche
Übersetzung. Ärzte sind
spezialisiert und handeln isoliert.
Der studierte Weißkittel einer
geschlossenen Station glaubt
nicht selten an den kranken Geist
für sich genommen. Ohne Konzept lässt man
Desorientierte basteln und malen, weil das
in der Regeln gut tut und bietet Entspannungseinheiten
nach Jacobson oder als
billigen Abklatsch Feldenkrais für (geistig)
Arme an. Ärzte überhöhen sich, ohne Erfolge
belegen zu können. Wenn es dem Patienten
besser geht, bleibt der exakte Grund, warum
ihm das gelungen ist, dieser nicht wirklich
zu entschlüsselnde Multikomplex aus
Faktoren; wie schon bei der Suche nach der
Ursache einer Erkrankung das Übel vielfältig
gewesen ist. Keinesfalls wird der behandelnde
psychiatrische Arzt etwas in der Art
seiner Kollegen aus den anderen Fachbereichen
gemacht haben, das nachweislich wie
ein neues Hüftgelenk operativ Besserung
bringt, wenn etwa der orthopädische
Chirurg seinen Auftrag bekam. Wir sollten
die Spürbarkeit der menschlichen Struktur
nutzen, ihre Funktionalität zu bessern und
Verstörten die Ordnung im Körper lehren,
der Angst einen individuellen Rahmen zu
setzten. Das hieße therapeutisch auf die
Intelligenz der Kranken zu setzen und dürfte
gesellschaftlich schwierig zu etablieren sein.
Je nach Schwere der Verhaltensauffälligkeit
müssten auch neue Ansätze an bekannte,
unüberwindbare Grenzen stoßen. Immerhin,
es wurden Fortschritte gemacht; es könnte
aber besser sein in der Psychiatrie. Besonders
der Allgemeinheit nützte klügeres
Denken anstelle stereotyper Darstellungen
der Presse.
# Es gibt keine psychischen Krankheiten
Es gibt keinen kranken Kopf, der nicht seine
Beine zum Laufen nimmt oder die Arme
schwingt, mit denen er Aktivitäten startet.
Krank ist immer der ganze Mensch, wenn
wir vom „Geisteskranken“ reden. Spannung,
Fluchtkräfte, Angriff: Diese drei Funktionen
setzt ein psychisch Kranker unkontrolliert
frei, gegen andere, und ein selbstbeschädigender
Angriff auf die eigene Person ist
auch denkbar. Der Einsatz von Psychopharmaka
möchte
diese Energien
zu vermeiden
helfen. Das gewohnte
Prinzip
der Maßnahmen,
zusammen
mit einer auf
Mäßigung
hinwirkenden
Therapie, wird
die Probleme
oft genug verewigen.
Warum
genügt es der
Gesellschaft,
ihre kranken
Mitglieder auf
vielfältige Weise
auszusortieren?
Nach wie vor
diktiert die
Hilflosigkeit
gegenüber den
Problemen unser
Handeln.
Amok wird zur
alltäglichen
Bedrohung. Ein
ums andere Mal
entsetzt die zur
Schau gestellte
Fachlichkeit der
Verantwortlichen, die in Wirklichkeit nicht
wissen, was sie tun. Einen anderen kennen,
hieße sich selbst kennen, sagt man. Bei psychisch
Kranken eine Höchstanforderung für
diejenigen, denen solche quasi an die Hand
gegeben sind. Berufsbezogen übernehmen
nicht wenige die Aufgabe zu helfen. Das
ist in der Realität viel schwieriger, als man
sich’s normalerweise vorstellt.
Wir wollen gut sein, nicht strafen, stattdessen
helfen. Man möchte wegsperren, aber
Schuldunfähigkeit feststellen. Es klingt wie:
„Wir waschen unsere Hände in Unschuld“,
und „das ist kein Gefängnis.“ Würde die Psychiatrie
ihre Behandelten in überschaubarer
Zeit dauerhaft gesund machen, könnte sie
als anerkannte Fakultät einen Ehrenplatz in
der Gesellschaft haben. Sie sperrt in erster
Linie weg, doktert weiter herum wie man’s
kennt. Das verschriebene Medikament, die
Fußfessel am Bein der frei herumlaufenden
Sexualstraftäter sind weitere Einfälle, die
erdacht wurden, anstelle echter Integration
moderne Käfige um diese Menschen herum
zu basteln. Das macht die Betroffenen zornig
und listig, nun gerade Rache zu nehmen, wie
es immer wieder passiert. Gelehrt werden
müsste die dosierte Anwendung unserer
Kräfte, wie die Gesunden sich einen Platz
in der Gesellschaft ja auch erst erkämpfen.
Es ist bekanntlich noch kein Meister vom
Himmel gefallen.
Manche Tante nimmt an einer Friedenswerkstatt
Teil und verschrobene Langbartonkel
möchten Frieden schaffen ohne Waffen, aber
diese Leute erträgt die Gesellschaft als Spinner.
Wenn sie sich wenigstens gegen Corona
impfen ließen, meinen viele und nicht etwa
radikal für den gewaltfreien Frieden ihre
Steine schmeißen.
Und genau hier beginnt das Problem:
Niemand möchte Gewalt erleben. Kein
Psychiater will die Verantwortung übernehmen,
wenn ein Patient ausrastet. Wenn die
Gesellschaft nicht wahrhaben mag, dass
Aggression in ihrer brutalsten Form wie im
dosierten Gebrauch, sich effektiv im Leben
durchzusetzen, das Ergebnis von Angst und
Überlebenswillen ist, werden wir weiter
im Dunkeln tappen. Wir müssen größere
Gefängnisse und Psychiatrien bauen. Wir
verspotten weiter Querdenker aller Art,
können sie aber nicht verhindern, und vieles
wird bleiben, wie es ist.
:)
Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 134 [Seite 132 bis 134 ]
Volkstrauertag
Nov 18, 2021
Früher habe ich gern gelesen. Ich bin oft
im Kino gewesen. Das fing wohl mit „Homo
Faber“ an, von Max Frisch. Wir lasen es
gemeinsam in der Schule, mussten das Buch
analysieren und Referate halten. Thorsten
und ich bekamen die Aufgabe, den im Buch
thematisierten Ödipus-Komplex ausfindig
zu machen und darüber zu sprechen. Wir
wussten gar nicht, was das ist. Es gab kein
Internet damals, und es dauerte ein wenig,
bis wir unser Thema skizzieren konnten. Die
anderen in der Klasse erhielten paarweise
zugeteilt andere Aufgaben, den Roman
betreffend, und nach einiger Zeit ging es
schließlich los mit den Referaten. Anschließend
begann ich mich für Literatur zu
interessieren und las bis in die Mitte meines
Lebens hinein unzählige Romane und Sachbücher,
gab es dann auf.
Mir genügt mein eigenes Leben und sein
schon erkennbares Ende.
Es ist anders gewesen. Ich probierte zu
verstehen und war fasziniert von allen
Geschichten. Ich sah als Jugendlicher „Spiel
mir das Lied vom Tod“ mit Bronson im
Kino, einige Male sogar, bis die Handlung
verständlich wurde, die vielen Details. Eine
ganz wunderbare musikalische Inszenierung
ist Teil dieses großartigen Films. Es ergreift
und berührt den Zuschauer unweigerlich,
nimmt mit, wenn die Kamera über das
Bahnhofsgebäude nach oben schwebt und
das wunderbare Thema wie eine Welle
anhebt, uns in die staubige Westernstadt
geradezu hinein spült. Die düsteren Klagen
der Mundharmonika und das wiederkehrende,
einfache Motiv der klopfenden, wie
Hufe eines Pferdes im Takt angeschlagenen
Töne, kann ich noch heute jederzeit abrufen.
Natürlich schaute ich mir Robert de Niro als
„Noodles“ im bald folgenden Monumentaldrama
an, probierte, alles zu begreifen. Ich
sah viele Filme und gehe heute nie mehr ins
Kino; Ausnahme: „Star Wars“ (mussten wir
sehen, unbedingt).
Meine Bilder, die Malerei; ich glaube schon,
dass Erzählungen und selbst zu erzählen
mich fasziniert. Darum habe ich auch so
vieles gelesen? Mit Karl May ging das los.
Winnetou, der Anfang beim Büchsenmacher
Henry, die ersten Seiten hatte mir meine
Mutter noch vorgelesen. Dann meinte sie,
wie es weiterginge sollte ich
selbst herausfinden. Nach Max
Frisch ab den Achtziger Jahren
fand ich immer neue und anerkannte
Autoren und besonders
erinnere ich, wie es mit
John Irving losging. Ein kleiner
Buchladen irgendwo in Hamburg,
ich weiß gar nicht mehr, wo
das gewesen ist und warum ich
dort so viel Zeit vertrödelte. Es
war außer mir nur ein weiterer
Mensch, ein fast zierlicher und
muskelloser, dünner Mann in
schwarzer Kleidung, der Besitzer
womöglich, vor Ort, keine anderen
Kunden, und dieser beschäftigte
sich am Schreibtisch eines
Hinterraumes oder im Bereich der Ladenkasse.
Das Ambiente entsprach einer privaten
Altbauwohnung im Erdgeschoss. Der Laden,
schon von der Lage irgendwie versteckt,
winkelte sich drinnen weiter; weiße Wände,
hohe Räume und dicke, hölzerne Türfüllungen
an den Durchbrüchen, in mehrere,
mit Büchern geradezu gefüllte Räume. So,
als wäre man bei einem Bibliophilen zu
Hause. Ich fing an, in einem Roman zu lesen,
während ich vor einem der Regale stand. Ein
weißes Taschenbuch, nicht eben dünn, mit
kleiner Schrift. „Lasst die Bären
los!“, was konnte das bedeuten?
Der Autor war mir unbekannt. Das
Buch wurde auf der Rückseite
als „Erstling“ vorgestellt. Ich ließ
mich schon im Laden ein wenig
drauf ein, begann den Anfang
interessiert zu lesen. Das mit dem
Salzstreuer, den der neue Freund
vom Erzähler mitgehen lässt?
So steht das dort gleich vornan,
glaube ich.
Der Verkäufer schaute mich
prüfend an, während ich meinte,
es gefalle mir, darin zu lesen und
deswegen möchte ich das Buch.
Ich bezahlte also und war dann noch mit
der Hochbahn unterwegs. Ich las gleich
weiter, weil es so glaubwürdig daherkam,
wie alles beschrieben wurde. Später kam
ich ins Stocken mit dem dicken Ding. Es
wurde ein Roman, den ich nicht in wenigen
Tagen schaffen konnte. Es nervte, wenn es
dem Erzähler wieder einmal eingefallen
war abzuschweifen. Viele Male stellte ich
diesen ersten Irving weg, nahm „Lasst die
Bären los!“ aber bald immer wieder neu auf,
zur Hand, las weiter – weil ich doch magisch
eingefangen davon war.
Wie das wohl zu Ende gehen würde?
Dieser „John“, ein Namensvetter, wurde eine
Zeitlang zum Lieblingsautoren von mir.
Dabei habe ich gar nicht alles gelesen. „Zirkuskind“
fing ich mehrfach an und brachte
es nie zu Ende. „Die vierte Hand“ gab es
mal zu Weihnachten. Dieses Buch ist direkt
in unser kleines Eckregal im Wohnzimmer
eingezogen und steht dort ungelesen. Auch
schwierig: Den „Wassertrinker“ brach ich
einige Male ab. Für diesen vergleichsweise
schmalen Band benötigte ich, das blöde
Buch ganz zu lesen, vermutlich mehr als ein
ganzes Jahr (oder mehrere), weil ich immer
wieder von vorn anfing damit, wenn ich
entnervt aufgegeben hatte. „Piggy Sneed“,
da konnte man herausfinden, dass eine alte
Ausgabe 1984 den Namen mit „Schweini“
eingedeutscht hatte, während es später
(1995) original belassen war. Wir können
englisch. Schnelle Bücher von Irving? „Das
Hotel New Hampshire“ legt man nicht weg.
„Garp“ konnte ich sofort durchlesen. Das mit
Homer und Larch genauso: Mache dich nützlich.
„Owen Meany“ las ich an zwei Tagen
komplett oder sogar an nur einem Tag? Es
ist dick dafür.
Das Konsequente an diesem Buch ist der für
Owen feststehende Schluss.
Demgegenüber stehen die Zweifel des
Erzählers, nicht nur an seinem Glauben, auch
insgesamt staunt der uns diese Geschichte
präsentierende die ganze Zeit. Er grübelt
und hinterfragt das eigene Leben und gibt
seine Unsicherheiten preis.
853 Seiten, die letzte davon unbeziffert.
Vor kurzem telefonierte ich mit einem
Freund. Ein gelegentlicher Mitsegler auf
meinem Boot und langjähriger Begleiter
– seit der Jugend sind wir befreundet,
seine Eltern hatten wie meine ein Geschäft
in Wedel – hat sich ein Motorrad gekauft.
Den Führerschein machte Henning erst
kürzlich, und mein Freund dürfte etwa so
alt sein, wie ich selbst. Ganz schön spät, sich
noch aufs Rad
zu trauen und
nicht unbedingt
klug, finde ich.
Er läuft schon
mal untrainiert
einen Marathon
mit, um dann
anschließend
Blessuren zu
beklagen, die das
am Körper anrichtet.
Ich habe
ihm (am Telefon)
einige kurze Passagen
aus „Lasst
die Bären los!“
zum Besten gegeben, aus der Erinnerung.
Das konnte ich, obschon ich diesen Roman
mit zwanzig Jahren las und dann nie wieder
anfasste. Motorrad zu fahren ist für mich
ausschließlich Theorie. Nur ein einziges Mal,
als Schulfreund Jens sein „Kleinkraftrad“
ganz neu hatte, nahm dieser mich hinten
drauf mit.
Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 135 [Seite 135 bis 137 ]
Ich kam nie auf die Idee, selbst eins besitzen
zu wollen, den entsprechenden Führerschein
zu machen. Prägend war auch, einmal einen
Unfall als Augenzeuge miterlebt zu haben.
Ein Paar auf starker Maschine donnert
vorbei, ein junger Mann mit Freundin, zum
Überfluss noch in Jeans unterwegs; das soll
man ja nicht. Dieser erschreckend nicht
blinde Fleck
in meiner
Erinnerung:
Es ist schon
vierzig Jahre
her. Sie fliegen
durch die Luft,
das Motorrad
hat sich in ein
Auto verbissen,
dann liegen
die beiden auf
dem Asphalt.
Alles vermischt
sich. In
meinem Kopf,
das ist alles
nur in meinem
Kopf, und bei
den anderen
ist anderes
drin. Auch diese Geschichten. Irgendwie
geistert der Irving noch rum im Hirn. Mal
scharf, dann wieder verschwommen, aber
final endgelagert bleibt die Erinnerung an
lange Passagen aus der Familiengeschichte
vom Freund, der Salzstreuer klaut und Tiere
befreien will. Und dann Owen Meany; das
Leben auf’s unweigerliche Ende hin zu leben
und keine Zweifel zu kennen, wie fühlt sich
das an?
Als ich noch mit Alexandra befreundet war,
schrieb ich Rundmails an „Kunstfreunde“,
wenn es galt, zu einer Ausstellung einzuladen.
Manchem schickte ich gelegentlich
ausufernde Gedanken. Das passiert mir heute
kaum noch, eine lange Mail zu versenden.
Andere Menschen sind mir komplett egal,
wie meine eigene Existenz, die ohnehin bedeutungslos
ist. Ich vertreibe mir die Zeit, bis
ich endlich gehen kann. Alex’ Freunde haben
mich andere Wege gelehrt zu erzählen. Das
hier drängt sich nicht auf, muss niemand
lesen, wird nie kommentiert, von anderen
reflektiert. Niemand dürfte dabeisein. Mein
eigener Kosmos, mit einer Tür in den Äther
der anderen. Dagegen Ungeimpfte: Vorsicht,
kreative Aerosole!
# Vor kurzem war Volkstrauertag
Ich habe von oben aus dem Atelier zugesehen
wie etwa Gerd, Kalle, Christiane und
Rinja ins „Lindos“ gingen. Da bin ich froh,
nicht mehr dazuzugehören. Mit dem Staat,
gleich welcher Art, kann ich „der Künstler“
wie sie’s mir spottend nachrufen, nicht
befreundet sein. Das lernte ich. Erinnerung
beflügelt: Opa bekam Schwierigkeiten, weil
er nicht in „die Partei“ eintrat. Es gab ja nur
eine, und bald gehörte es dazu. Jeder wurde
automatisch damit konfrontiert: „Du büst
nich’ inpedd, Heinz?“ So kam man beruflich
nicht voran. Der andere Großvater saß im
Lager ein, weil er ein loses Mundwerk hatte
und das einigen nicht gefiel. Für mich nicht
mehr als Anekdoten der Kindheit. Konsequenzen:
Ich ignoriere jede Kunst anderer,
gehe in keine Ausstellungen, lese kein Buch,
schaue keinen Film. Es tut weh, dran zu
denken, dass ich mich für manches begeistern
konnte. Ich darf nicht daran denken. Es
macht zornig auf die Politik, die Polizei, die
Ärzte und die von ihnen Instrumentalisierten
– samt und sonders Arschlöcher. Das ist
meine Meinung, und sie ist als solche noch
erlaubt.
# Der Rechtsstaat, daran glaube ich (und
seine Grenzen)
Jetzt kommt
Totensonntag.
Bald ist Weihnachten.
Nicht
nur dann
denke ich zurück,
wie’s war
mit meiner
Kunstfreundin,
die immer
nur Liebes
sagte, bis sie
ermahnt, angewiesen
und
kontrolliert
abgezogen
wurde, vom
mutmaßlich
gefährlichen
Mann? Ich
bin kein Heiliger, es gibt keinen Johnstag.
Der Rumms, ein Schlusspunkt im Leben,
das Ende einer Geschichte; was bedeutet
das? Ein Meteor sei, zunächst unbemerkt,
in die Arktis, in das eisige Wasser gestürzt
und hätte die Kraft einiger Atombomben
entwickelt, damals genau an diesem
finsteren Dezembertag. So steht es im Netz.
Da ist wohl Energie übergesprungen: „Den
hätte ich auch verkloppt“, meint eine alte
Schenefelderin dazu, zu mir, und das tut gut.
Diese Grenze habe ich gezogen
und Gnade erfahren. Das Ende
sollte uns bewusst sein. Beamte
und Politiker sind ersetzbar,
reine Automaten. Nicht selten
missbrauchen sie ihre Macht.
Die Zeit zum Feiern und Buße
tun. Vor kurzem hatten wir den
Martinstag. Ein Freund heißt
wie der. Er ist geduldig und
freundlich zu meinen Texten,
schreibt selbst. Er durfte diese
Mail unten lesen, das passt ganz
gut zum erwähnten Irving.
# Martin Luther, der vorne ja
heißt wie du, wollte selbst gar
keine neue Kirche. Wir hören:
„Du magst keine anderen Götter
haben neben mir“, und insofern
bedeutet jede weitere Religion,
dass sich Gott mit neuer Auslegung verändert.
Die Kritik daran ist, ob sich der Mensch
einen ihm gemäßen Gott selbst schaffen
kann oder der eine sich entwickle, wir die
Dinge anders verstehen, weil wir eine längere
menschliche Geschichte kennen?
Warum gibt es keine Bibel zwei, der Klassiker
hat keine Fortsetzung, warum?
Der Briefträger und Hausmeister (das könnte
er sein, weiß ich ja nicht) vom Rathaus
glaubt, er habe Krebs bekommen, als Strafe,
weil er zwei weitere Beziehungen zu anderen
Frauen aus Chorfreundschaften einging,
während er doch verheiratet gewesen ist,
behauptet er wenigstens mir gegenüber.
Vielleicht ist er gar nicht in einer Kirche, das
wäre möglich – und verfolgt anderes, mich
zu bequatschen; aber als nächstes schimpft
der Mann regelmäßig auf den Islam. Das
finde ich nun wieder nicht nachvollziehbar,
weil ich so glaube, dass da ein Rahmen für
uns alle ist, inklusive Pflanzen, dem Getier
und natürlich sämtlichen Menschen, auch
denen aus anderen Religionen, weil es eben
so ist, wir nicht weg können, an Grenzen
stoßen – und nicht weil wir beschließen wie
sich’s gehöre.
Wenn ich das bekannte Foto von Mohammed
Atta anschaue, der ein Flugzeug in
das WTC lenkte, weiß ich, dass ich diesen
Blick nicht reproduzieren kann, obschon ich
genauso Mensch bin. Und würde ein Film
gedreht, fände sich schwerlich ein Schauspieler,
der mal so eben auf diese Weise
schauen könnte. Dem Mann war bewusst,
wohin seine Reise gehen würde, das drückt
dieser Blick aus, finde ich; wie etwa Sophie
Scholl mehr als nur ahnt, dass sie in aller
Kürze hingerichtet wird, unschwer zu spüren,
auf dem bedrückenden Dreifachbildnis, das
man leicht googeln kann. Für den Henker
galt Sophie als tapfer, und der Mann mit
dem Fallbeil machte seine Arbeit für das
aktuelle Regime. Für Atta war das WTC
und damit Amerika, unzählige Zivilisten
anzugreifen eine Pflicht, nichts anderes ist
es für Sophie gewesen, diese Flugblätter zu
verteilen, welche die Gesellschaft aufrütteln
sollten, Adolf Hitler zu stürzen. Wenn
auch heute niemand bereit sein wird, diese
beiden als auf dieselbe Weise motiviert zu
sehen, so lässt sich kaum bestreiten, dass
sie eine starke Motivation für ihr Handeln
fanden und konsequent zu Ende, buchstäblich,
ihren Weg gegangen sind. Als Maler und
auf den Blick, Gesichtsausdruck anderer Spezialisierter,
denke
ich viel weniger
darüber nach, Atta
zu verachten und
Sophie auf den Sockel
der Geschichte
zu stellen, damit
selbst ein wenig
besser wirken zu
wollen als die
Bösen, sondern
weine mit denen,
die bereit waren,
selbst zu sterben
für ihre Überzeugung.
Ganz egal,
wie das allgemein
bewertet wird. Das
bringt mir Unverständnis
ein; und
doch sind wir alle
nur Menschen.
Dazu bin ich ganz fest davon überzeugt,
dass negative und als „nieder“ besetzte
Gefühle zu haben, wie Neid und schlimmere,
zum Menschsein dazugehören. Gott
kann mitnichten den Hass verbieten. Das
musste er bereits mit der Sintflut und bei
der Geschichte mit Sodom und Gomorrha
einsehen, dass seine Schöpfung genügend
Eigenleben entwickelt, welches er nicht dauerhaft
bestrafen kann. Er gibt uns – selbst
einsichtig, dauerhaft eine Beziehung mit
dem sich ändernden Menschen zu haben –
vielmehr die Möglichkeit, daran zu wachsen
und schenkt Gnade.
Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 136 [Seite 135 bis 137 ]
Nicht selten ist es der einfache Mensch, dein
Nachbar und Nächster, der dich dafür abstraft,
wenn du auffällig bist, zornig, neidisch
oder sonst wie negative Gefühle zeigst, und
der schließlich doch selbst an eine Grenze
stößt, die ihn überrascht.
Weil dein anonymer Widersacher annimmt,
ein besserer Mensch als du selbst zu sein,
heißt das ja noch nicht, dass es ihm
leicht gelingt, dir eine Strafe aufzubrummen.
:)
Der Martinstag, auch Sankt-Martins-
Tag oder Martini genannt, ist ein
christlicher Feiertag am 11. November.
Sowohl die katholische als auch
die evangelische Kirche feiern diesen
Tag.
Von meinem iPad gesendet
Re: Heute ist dein Tag
Am 11.11.2021 um 15:25 schrieb
Martin (E-Mail).
So was niederes wie Neid hätte ich
Dir nie zugetraut ...
Habe ich das vor einem Jahr schon so
geantwortet?
Vergesse das immer, bin ja Spalter und kein
Kathole!
Füati,
Martin
Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 137 [Seite 135 bis 137 ]
Der Mensch ist
Arschloch
Nov 22, 2021
Wer jung ist, glaubt
noch. Nicht religiös
gemeint, allgemein.
Glaube reift mit dem
Alter, wir müssen den
Kinderglaube aufgeben,
dass Gott grundsätzlich
alles Böse gut macht und realistisch
sein. Nur Naive beharren auf den Idealen
der Jugend, beschreien diese, damit sie ihre
Einbildung behalten können. Enttäuschung
hat den Vorteil neuer Erkenntnis. Wir lernen,
alles ist andersrum, wenn wir die glänzende
Medaille wenden: Kein Staat der Welt nimmt
Geld von den Bürgern in bester Absicht, für
das Gemeinwesen zu investieren. Überspitzt
dargestellt, ist es wie beim Telefonbetrug:
„Sie haben gewonnen! Bitte zahlen Sie.“ An
erster Stelle steht die effektive Finanzbeschaffung
für das eigene Ressort. Man kann
es so sehen: Jede Regierung prüft, was man
besteuern kann. Wozu sind die Leute bereit,
wie viel zu geben, wenn ihnen suggeriert
wird, es täte Not? Das ist der vernünftige
Ansatz eines Entscheidungsträgers (mit
anschließender Verantwortung beim Bürger).
Der Mensch löst Probleme nach dem Prinzip:
„Erkenne die Möglichkeiten!“ Gehen wir
wohin mit einer Forderung oder Frage,
entsprechen Antworten und Lösungen der
Weisheit: „Wer viel fragt, bekommt viel Antwort.“
Suchende werden nie vollumpfänglich
befriedigt von anderen.
Wir müssen einsehen, kein Arzt „hilft“ seinem
Patienten, er überlegt, was er anbieten kann.
Kein Polizist ist dein Freund und Helfer:
Die Gerichtsbarkeit geht nicht gegen das
Verbrechen vor, sie prüft, was strafbar ist. Da
ist kein Politiker, der nicht die ihm zugeteilte
Macht probiert auszuweiten, für gerade
seine Interessen. Das ist mitnichten unser
Volksvertreter, sondern der an einen Platz
strebende Karrierist. Er möchte seinen Einfluss,
die Bezahlung und seine Anerkennung
weiter steigern. Er vertritt nicht allgemein
das Volk, sondern speziell seine Interessen,
die in manchem übereinstimmen können
mit denen eines Teils der Gesellschaft. Gut
möglich, dass diese annehmen, begriffen zu
haben, was allen gut tut. Andere sehen das
anders.
Das Gute an unserer Welt ist nicht, dass es
bessere Menschen gibt und man meint zu
ihnen zu gehören. Lebenswert ist unsere
Umgebung durch den Rahmen, der uns
Halt gibt, und dieser ist für den Menschen
heute die Zivilisation. In ihrem Wohnzimmer
kennen wir uns besser aus als in der Natur.
Die Demokratie ist von unseren Eltern und
Großeltern in Deutschland mit Hilfe der
Alliierten geschaffen worden. Im Geflecht
der Regeln kann der Einzelne einen Platz
erobern, der seinem individuellen Vorlieben
gemäß eine Spielwiese ist. Dort wird
ein Mensch die Grenzen finden, die andere
gegen sein Handeln
installierten.
Und das ist auch gut
so.
Besonders in der
öffentlichen Politik
erkennen wir, wenn
ein Sprechender unter
Druck den bemühten
Eindruck zur Schau
stellt, sein Handeln
sei alternativlos großartig.
Gestern Abend
in „Berlin Direkt“; ich
sehe ein Interview mit
dem Gesundheitsminister
Jens Spahn. Die
Fragen stellt Shakuntala
Banerjee. Im „Update
am Morgen“ kann man das Video heute
abrufen. Dort sagt der Minister: „Wer nicht
geimpft ist, wird sich in diesem Winter ohne
Schutz infizieren.“ Ich habe diese Zahlen verwendet,
um das nachzurechnen: 70 Prozent
der Deutschen sind vollständig geimpft. In
Deutschland leben 83 Millionen Einwohner.
Das bedeutet, 25 Millionen davon sind nicht
gegen das Corona-Virus geimpft. Abzüglich
der bereits erkrankten bleiben demzufolge
knapp zwanzig Millionen Menschen nach,
die „ohne Schutz“ sind, wie Spahn meint. Ein
Winter dauert drei Monate. Das sind 90 Tage.
Da müssten sich also im Schnitt pro Tag gut
200.000 Menschen (drei Monate lang) mit
dem Virus neu infizieren. Dann wären wir
Ende Februar mit dem Winter und dem Virus
gleichzeitig fertig, toll.
# Im Moment wird der Egoismus
der Ungeimpften beklagt
Pro Tag kommen z. Zt. 285
Patienten neu auf eine Intensivstation
(Statista), und etwa
3.500 Fälle, die intensivmedizinisch
behandelt werden, haben
wir in Deutschland aktuell.
Wir dürfen annehmen, dass
einige davon ohnehin intensivpflichtig
geworden wären, weil
sie alt sind oder bereits andere
Krankheiten haben. Wir haben
erst ein Viertel der Inzidenz
erreicht, die es für die vom
Minister an die Wand gemalte
Katastrophe bräuchte. Es geht
steil hoch? Mit diesen Horrorzahlen
müssten wir dann
drei Monate konstant oben
bleiben, damit alle „ohne Schutz“ vom Virus
weggeballert würden und die Gutmenschen,
die sich impften, nicht länger gefährdeten.
Die Regierung möchte ich sehen, die keinen
Lockdown verhängt in dem Fall.
Bis zu 65.000 Neuinfektionen, Stand 18.
November sind derzeit täglich zu erwarten,
am heutigen Montag liegt diese Zahl näher
bei 30.000, weil es am Anfang der Woche
aus verschiedenen Gründen immer niedrigere
Werte gibt, die das RKI vorlegt. Das
heißt, wenn ich an so einem vergleichsweise
günstigen Montag losmarschiere und knapp
dreitausend Menschen treffe, wird möglicherweise
einer von denen, die sich gerade
infizierten, unter ihnen sein. Als aktiver,
umtriebiger Stadtbewohner, beruflich viel
mit Menschen beschäftigt und dem Hang
zu abendlicher Kieztour ist es zu schaffen.
Kommen noch ungünstige Nähe mit dem
Zufall, so einem zu begegnen dazu, wir
umarmen uns, tragen keine Maske in einem
kleinen Raum oder der Typ rotzt mir in das
Gesicht, werde auch ich infiziert sein. Am
schlechten und gefährlichen Wochentag genügt
es, gut eintausend Menschen zu treffen,
um recht sicher einen der positiv getesteten
dabei zu haben.
Um mich selbst anzustecken, reicht es nicht
aus, so jemanden in der Ferne zu sehen. Aber
die Zahl, dass über tausend Menschen vielleicht
einen Überträger mit Covid unter sich
haben, sollte helfen einzuschätzen, wie oft
man jemanden trifft, der ansteckt. (Einer von
hundert ist schizophren). Selbst schließlich
mit dem Virus angesteckt zu sein, bedeutet
nur bedingt krank zu werden. Gut möglich,
dass ich, wenn ich infiziert bin, symptomfrei
bleibe oder mit einem Schnupfen davon
komme. Weniger als dreihundert Menschen
von über 80 Millionen Einwohnern in unserem
Land müssen täglich neu dazukommend
auf einer Intensivstation behandelt werden.
Mein persönliches Risiko an der Covid-Grippe
schwer krank zu werden, ist minimal.
Das scheint in der Gesellschaft eine weit
verbreitete Annahme zu sein. Anders ist
die Sorglosigkeit von Menschenmassen,
die wir auf Straßenfesten oder auf dem
Kiez täglich zu sehen bekommen, nicht zu
erklären. Das macht auch deutlich, warum es
zu Demonstrationen gegen eine Impfpflicht
kommt. Obwohl es heißt, eine Mehrheit der
Bevölkerung begrüße diese, zeigt sich, dass
Nov 22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch 138 [Seite 138 bis 139 ]
es in erster Linie die Geimpften sind, die
annehmen, auf diese Weise schnell mit der
Pandemie fertig zu werden. Das stelle man
sich so einfach nicht vor; da wird immer
ein harter Kern Ungeimpfter
nachbleiben, der sich lieber
auf eine Geldstrafe einlässt
als mitzumachen.
# Theoretisch eine feine
Sache, alle lassen sich impfen,
und fertig sind wir
Die Inzidenz für Indien ist
etwa fünf. Es heißt, dort wäre
gut ein Viertel der Menschen
vollständig geimpft. (Coronain-Zahlen).
Wir erinnern uns,
die sogenannte „Delta-
Variante“ des Virus startete in
diesem Land ihre verheerende
Aktivität. Heute ist die
Welle zu uns gekommen. In
Indien scheint es besser: Die
sind gerade im Tal? Man sollte
vorsichtig sein mit diesen Begriffen. Die
Inder schauen weniger genau hin, glaube
ich. Andere Länder, andere Sichtweisen?
Bei denen geht es von allein weg.
Egoismus, warum? Ich empfinde keinerlei
Solidarität mit anderen und denke nur an
mein eigenes Wohl. Einer lernt es vom anderen:
Mir gefällt zu blockieren, durch erlaubtes
Nichttun, was die Impfung betrifft. Ich
kann pauschal Politiker nicht leiden, möchte
hier leichthin Schaden anrichten, spotten,
nicht mitmachen. Ich fühle mich persönlich
vorgeführt und verarscht von einer
Leistungsträgerin der sozialen Partei, sehe
die Gelegenheit zur smarten Abrechnung.
Ich gestalte die Demokratie nicht mehr mit.
Der selbsterklärte Wohnzimmeranarchist
John bleibt fein zu Hause, stört den Frieden
durch Nichtstun. Die Wohlstandsgesellschaft
ist mir suspekt, mit der Mehrheitsmeinung
und der breiten Masse kann ich mich nicht
identifizieren. Ich finde es ganz einfach,
anderen aus dem Weg zu gehen und eine
Maske im Edeka zu tragen. Ich habe keinen
Drang, unter Leute zu gehen und etwa zu
feiern. Ich mag Menschen nicht und kann
mich gut allein beschäftigen. Ich kann mir
vorstellen, die Verwaltungsstrafe der möglicherweise
kommenden Impfpflicht zu zahlen
(aus Trotz). Beim unvorstellbaren Impfzwang,
kann ich mich in die Vision verlieben, dem
Arzt die Spritze aus der
Hand zu reißen und mit
aller Macht in sein Gesicht
zu rammen. Bis er tot ist.
(Ich trete noch nach).
Das kann ich.
Zusammengefasst: Es ist
wenig wahrscheinlich, dass
sich in diesem Winter alle
Ungeimpften infizieren. Der
noch amtierende Gesundheitsminister
Jens Spahn rechnet bewusst
falsch vor. Natürlich würde eine hundertprozentige
Impfquote die Pandemie kurzfristig
beenden. Deswegen haben vor allem alte,
dicke und vorerkrankte Menschen (wie auch
die Verantwortlichen des Gesundheitssystems)
ein Interesse daran. Weiter möchten
viele, die sich bereits impfen ließen, andere
motivieren, es ihnen gleich zu tun. Das ist
logisch, aber nicht, weil deren Geimpftsein
so großartig ist. Diese Menschen wollen
damit angeben, dass sie’s begriffen haben,
weiter nix. Sie irren sich an nur einem Punkt
(natürlich beendete vollständig Impfung
unser Problem) – Menschen gehen nie
geschlossen in eine Richtung. Das sehen
immer mehr ein: Deswegen werden Überlegungen
zur Impfpflicht konkret.
Das Ganze ist ein Lehrmodell für welche,
die den Unterschied „Einzelempfinden
versus Gemeinwohl“ studieren möchten.
Wir können der Frage nachgehen, was sich
besser anfühlt: wie alle anderen dabei sein
oder individuell nachspüren,
wie viel Trotz nötig ist,
um das Gefühl der Freiheit
auszuleben. Mir ist dies
viel weniger Religion oder
gar querdenken und echte
Überzeugung, als ein Sport
und ein wenig Russisches
Roulette. Ich hacke auch
nicht auf der Politik rum,
ich veralbere die da oben
und andere unten gleichermaßen
(genau genommen
aus Frust). Hier ist mitnichten
die Politik schuld an
was. Das handelt sich um
dynamische Entwicklungen
mit teilweise kollektiven Handlungen vieler
und dem Widerstand anderer. Je nach Nation
und auch ihrer Lage im weltweiten Reiseverhalten,
sowie Gebräuchen von Staatsfolgsamkeit,
individuellem Schicksal läuft der
Prozess ab. Länder, die bereits katastrophale
Erfahrungen mit kollabierender
Intensivmedizin machten handeln
anders.
# In Schenefeld ist „Covid“ keine
gesundheitliche Katastrophe
Es gibt Schlimmeres. Wirtschaftliche
Interessen und das „jetzt
komme ich“ oder „bin geimpft
und kann’s mir erlauben“ stehen
klar im Vordergrund. Ein gutes
Beispiel aus dem Alltag ist der
winzige, abgeschlossene Automatenraum
der Haspa. Während es in der Woche ganz
gut läuft, weil der Bereich als Teil des
Verkaufsraumes betrachtet wird und zwei
Möglichkeiten bestehen, diesen Ort zu betreten,
beziehungsweise wieder zu verlassen,
seitdem man Anweisungen entfernte, wie
viele Menschen hier zulässig sind, erlebt
man am Wochenende Wildwest.
Anfangs sollten wir lernen, nicht in der
Eingangsschleuse zu warten? Wir übten
Schlange stehen auf der anderen Seite. Dort
sind Pfosten und eine Girlande trennend
zum Weg aufgestellt. Erfahrene Dörfler
ermahnten Fremde und diejenigen, die so
getan haben als wüssten sie’s nicht, richtig
abzuwarten. Ein Typ mit Warnweste kanalisierte
in Stoßzeiten die Massen. Nun können
wir allein Schlange stehen, nach zwei Jahren
des Lernens, meint die Filiale? Jetzt wurden
alle Schilder „Nur eine Person in diesem
Bereich!“ entfernt. Man verzichtet auf den
Ordner, der ein Jahr lang den Schenefeldern
sagte, wo sie zu warten hätten, und dass nur
einer hinein dürfe.
# Arschlöcher überall
Am Wochenende ist die Filiale geschlossen.
Natürlich können wir trotzdem Geld
abheben. Dann ist dieser Raum mit einigen
Kontoauszugsdruckern und zwei Geldautomaten
auf fünfzehn Quadratmeter
begrenzt. Die Filiale ist geschlossen, aber
die Selbstversorgung steht: Ein kleiner
Innenraum mit Maskenpflicht wie im gesamten
Einkaufszentrum. Inzwischen, nachdem
alle Hinweise, wie sich hier zu verhalten sei,
abgenommen wurden, ist sich jeder selbst
der Nächste?
Wir haben die höchsten Infektionszahlen der
gesamten Zeit.
Aber: Es ist nicht
möglich, in dieser
Kammer allein
seine Auszüge
zu ziehen, Geld
abzuheben?
Das wird vom
jeweils nächsten
Interessenten an
dergleichen Vorgängen
beinahe
grundsätzlich
ignoriert. Das ganz
normale Arschloch
ist überall und
kann nicht warten.
Wo kein Schild ist, darf der Deutsche alles.
Bis zu vier Personen drängen nicht selten
hinein wie früher.
Und daran ist die Regierung schuld?
Die Ungeimpften?
Der Mensch.
:(
Nov 22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch 139 [Seite 138 bis 139 ]
Musterklage
Dez 2, 2021
Vielleicht haben wir
Glück und wachsen
behütet auf? Bald
müssen wir uns der
Realität stellen: Die
Welt ist chaotisch
und feindselig. Je
nachdem, wo wir
groß werden, zu wem
wir uns entwickeln
und geworden sind,
entstehen Probleme,
die wir durch Ordnung
lösen möchten. Sich
angemessen zu organisieren,
ist wichtig. Ein Tischler findet seine
Existenz auf andere Weise als die Polizistin.
Der Handwerker muss gerade sein Fach verstehen
und benötigt entsprechende Kunden.
Im Management einer Firma gelten andere
Regeln als in der Kunst; selbst bei grundsätzlicher
Übereinstimmung aller Strukturen,
bedeutet Ordnung etwas Individuelles. Die
Übersicht behalten, Dinge zu kontrollieren,
von denen wir mehr oder weniger verstehen,
ist überlebenswichtig. Man muss nicht alles
begreifen, um komfortabel leben zu können.
Gut zu wissen, wo genau der Lichtschalter
ist, wenn Helligkeit helfen würde: Wie Strom
physikalisch zustande kommt, ist dabei
nicht von Bedeutung. Jedes Bedürfnis zu
befriedigen oder eine Pflicht tun müssen,
heißt kleine oder größere Schwierigkeiten
zu überwinden. Das erleben wir, wenn eine
Krankheit oder anderes die gewohnten
Tätigkeiten beeinträchtigt. Ohne Widerstand,
wenn ein Lebewesen sich für eine Aktivität
motiviert, ist nichts vorstellbar. Uns selbst
lernen erst wir nach und nach besser kennen.
Was ist der Mensch, wer sind wir selbst?
Ein Senior beschreibt anderen, wie es
ihm nach einer Operation geht. Der Mann
berichtet, dass er schon wieder Treppen
steigen kann. Da sind Verwandte und einige
Kinder mit ihm spazieren. Ich höre nebenbei:
„Kannst du krabbeln, Opa?“ Das
fragt ein Kind mehrmals, bis
der Alte schließlich antwortet,
eigentlich mit den Erwachsenen
redet, die Lage erörtert. Ist es
ihm peinlich oder unsinnig? Was
der Mann leise zum hartnäckigen
Jungen sagt, bekomme ich nicht
mit. Da bin ich bereits vorbei in
meinem Tempo. In Richtung Einkaufszentrum
unterwegs, habe
ich zu Fuß eine Familie überholt,
die an der Seite rechts (beim
Geländer) dazugestoßen ist.
Kriechen geht immer, denke ich;
mein Knie mit dem degenerierten
Meniskus schmerzt. „Wir
können punktieren“, hatte K.
angeboten – als er begriff, ich
würde mich nicht operieren lassen – „wenn
es dick wird.“ Es gibt gute und schlechte
Tage. Oft bemerke ich’s nicht. „Ein rothaariges
Mädchen, Bassiner. Sie reißen unbedacht
den Kopf rum, was weiß ich, um ihr nachzusehen.
Dann haben Sie’s wieder.“ Zeit ist vergangen.
Keine noch bedeutsame Rothaarige
kam vorbei, die mit – (der, von der irgendwie
alle wissen) konkurrieren könnte. Es tut weh,
geht wieder weg: Ein Auf und Ab. Mal habe
ich beim Doktor angerufen; Weiterleitung
in fremde Praxis, ein diffuses Tonband.
Ich probierte es gegenüber, wo das MRT
gemacht wurde. Die
Sprechstundenhilfe
musste überlegen: „K.
gibt’s nicht mehr.“ Tot?
Ich bekam es nicht
heraus. Das klang so
endgültig. Wahrscheinlich
Rentner, nun
doch. Mein Orthopäde
hat mit Montgomery
studiert, und der ist ja
auch alt.
In Wedel früher waren
wir (alle von unserer
Familie, wenn nötig)
bei D. gewesen, der
M. nachfolgte. Diese Praxis in der Nachbarschaft
hatte einen guten Ruf. Sie ist erst
vor kurzem geschlossen worden, weil der
aktuelle Orthopäde (nach dem ebenfalls
verrenteten D.) ins Ärztehaus am Bahnhof
abgewandert ist. Ich kann mich an die
Anfänge erinnern, bekam Einlagen und
musste zur Gymnastik. Das sollte meine
kindlichen Plattfüße korrigieren. Der alte M.
hörte bereits auf, als ich noch Jugendlicher
war. Ein Respekt heischender Doktor und
doch freundlich: „Da bist du wohl gerast? Du
bist sicher zu schnell gerast? Da kann das
Knie schon mal weh tun!“ Der hagere, große
Mann beugt sich zu mir runter, und ich sehe
es noch vor mir, höre diese schnarrende
Stimme – obwohl es beinahe fünfzig Jahre
her ist.
M. gab meinen Eltern Spritzen ins Knie oder
Schulter, wenn sie vor Schmerzen nicht
arbeiten konnten. Damit wurde es sofort
besser. Das war ein Problem zu Weihnachten,
Sylvester, wenn unentwegt geschlachtet
wurde. Lachs in feine Scheiben säbeln,
Karpfen schlachten, Forellen oder Schleie
aus dem Bassin fischen und totschlagen,
aufschlitzen und fachgerecht zerteilen; meine
Eltern mussten immer im Kalten stehen
und mit der Hand eine Schere führen, Fische
fertig zu machen im Verkauf. Sie standen
den ganzen
Tag, eilten
durch das
Geschäft ohne
Pause. Das
tat weh im
Arm, Knie, den
Füßen, und in
einer Schulter
knirschte es
vielleicht, als
wäre Sand
darin und
brannte bei jeder
Bewegung.
Diese Spritze
beim Orthopäden
tat
Wunder. Der
gute Doktor
war nur hundert Meter entfernt, immer bereit
zu helfen. Aber nach einiger Zeit gab es
auch damit Probleme. Später durfte M. diese
Supermedizin nicht mehr verwenden: Die
Spritzen, die so gut gewesen waren, hätten
nicht erlaubte Inhaltsstoffe, hieß es.
Abhängig vom Zentrum einer Art Rampe,
umgeben von individuellen Faktoren, dem
Platz, wo wir ins Leben starten, werden
wir mit Liebe versorgt, mit Anforderungen
konfrontiert. Das fängt schon damit an, wie
schnell Mama kommt, wenn’s kratzt oder
der Hunger nagt, und ob da Geschwister
sind, kann eine Rolle spielen. Der Kindheit
wird eine gewisse Spanne eingeräumt, dann
erwarten alle, dass wir uns selbst kümmern.
Wir sollten mit unserem Apparat Mensch
soweit klar kommen, diesen nun allein durch
die Umgebung navigieren. Und wenn wir
Schaden erleiden gibt es den Arzt. Gegen
das Böse hilft die Polizei. Damit alles toll
bleibt, wählen wir eine gute Politik usw. –
fleißig sollen wir sein, und manche gehen
noch Sonntags in die Kirche. So weit die
Theorie. Die Zivilisation hat andere Tücken,
als das Leben im Mittelalter oder Überleben
in der Wildnis. Ich bin nicht im Armenviertel
groß geworden; eigentlich konnte nichts
schiefgehen, 1964 in Wedel anzufangen.
Es kam anders – zunächst irritiert besonders
ein Erlebnis, wenn ich daran zurück denke.
Die Welt ist gut eingerahmt und stabil?
Kleinere Beschwerden hat jeder mal. Die
Blinddarm-OP wurde nötig, und das betreute
meine Hausärztin. Zu der ging meine Mutter
mit mir, seitdem ich ein kleines Kind war.
Bei HNO-Beschwerden wählten wir den
Facharzt an der Ecke, wo einmal Johs.
Schmidt sein Geschäft hatte. Die Zahnärztin
unserer Familie ist im Riesenkamp gewesen.
Wedel ist überschaubar. Mir wurde ganz gut
geholfen von diesem Orthopäden D. um die
Ecke – trotzdem, ein Beginn späterer Probleme
findet sich hier. Damals wurde das gar
nicht gesehen. Heute denke ich: Eine falsche
Weichenstellung lenkte meine Zukunft von
der Hauptstrecke ab.
Die moderne Welt ist spezialisiert und
fährt die größten Erfolge der Zivilisation
ein. Jedes Fach entwickelt seine Ökonomie.
Handwerkszeug macht Sinn in Form eines
Hammers, wenn ich nageln möchte. Der
Dez 2, 2021 - Musterklage 140 [Seite 140 bis 143 ]
Hammer erkennt quasi den Nagel, aber
eben nicht die Schraube. Schrauben, vom
einfachen Schlitz über den Kreuzschlitz
zum Torx. Professionell sind Torx vielem
überlegen. Ein passendes Arrangement, der
richtige Bit und Material, die Umgebung und
spätere Nutzbarkeit, die Verbindung wieder
lösen zu wollen oder nicht, wo das Werkzeug
seine Anwendung findet, ist unabdingbar.
Spezialisierung: Beim Bau vom Carport nützlich,
im Falle der großartigen Operationen,
die Menschen wieder gehen machen, hilft
die moderne Medizin. Aber manchmal zielt
der Doktor vorbei, gerade weil er fachlich
isoliert handelt. Diese
Erfahrung machen alle,
die mit wenig spezifischen
Beschwerden
losgehen und eine Odyssee
beginnt, bis ihnen
geholfen wird.
Der Facharzt als solcher
war in den Sechzigern
bereits anerkannt. Wir
nutzten beste Produkte
„made in Germany“,
ein Auto. Nun forderte
der Normalbürger, sich
selbst reparieren zu lassen
wie jede technische
Errungenschaft. „Homo
Faber“ im bekannten
Roman von Max Frisch;
wir lasen in der Schule: „Der Mensch als
Konstruktion denkbar, aber das Material ist
verfehlt. Fleisch ist kein Material. Fleisch ist
ein Fluch.“
# Meine eigene Baustelle
Psychisch krank zu werden beruht auf dem
Fehler, sich nicht effektiv durchsetzen zu
können, eine soziale Störung. Das haben
Menschen, die sich vor anderen fürchten.
Sonst könnten alle in unsrer von Regeln
dominierten Welt einen Platz finden, der
ihnen gefällt. Der Planet wäre groß genug,
böte Lebensraum auch für diejenigen, die
sich den Weg zum Wohlfühlort verbauen.
Viele Menschen müssen in bitterster Armut
leben und sind nicht krank im Kopf. Zu Glück
und Existenz kommen wir von überall oder
scheitern. Gewalt, dem Hunger oder einer
Naturkatastrophe zum Opfer zu fallen, mag
traumatisieren, macht aber nicht zwingend
krank. Normalgesund sein, heißt effektiv
Probleme zu lösen. Psychisch krank handeln
bedeutet, sich unbewusst selbst zu schaden.
Weltweit ein Prozent der Menschen erkrankt
mindestens einmal im Leben psychotisch,
ein hoher Prozentsatz. Moderne Medizin
hat sich einiges einfallen lassen, denen zu
helfen, die selbst erheblichen Anteil daran
haben, sich in Gefahr zu bringen und andere
mit. Erschwerend kommt bei jenen, die
eine Problematik haben, selbst in Richtung
Abgrund zu laufen, hinzu, dass Helfende ihr
spezielles Motiv nicht kennen wie sie selbst.
Man kann die These vertreten, die Gesellschaft
sei krank, bösartig, und die Auffälligen
hier wären in Wirklichkeit die Sensiblen,
die es bemerkten? Damit kommt man nicht
weit. Die Masse behält Macht und Überblick
in der von ihr geschaffenen Umgebung. Sie
lässt sich nicht zuweisen, insgesamt krank zu
sein, da der Normale wie alle anderen in der
Lage ist, das System zu nutzen und der Kranke
nicht. Der Verkehr auf der Straße macht
anschaulich, dass die Mehrheit ihre Ampeln
bei grün passiert und erst bei rot anderen
ihr Recht gestattet, hält. Ärger bereiten uns
diejenigen, die trotz rotem Licht fahren.
Probleme haben Menschen, die bei grün anhalten,
ohne farbenblind zu sein. Dieses Bild
meint welche, die in der Firma gern bereit
sind, anderen den Weg in die Führungsposition
zu gestatten, aber sich insgeheim für
besser halten. Solange dies bewusst mit
der eigenen Psyche ausgetragen wird oder
wütend unter Kollegen, besteht die Chance,
noch Erfolg zu erzielen. Krank wird, wer
sich fürchtet, neidet und das selbst nicht
mitbekommt, weil ihm negative Gefühle
nicht erlaubt sind.
Wer kann ihnen
das Fühlen und
Gefühle verbieten?
Dazu, wie man
das anstellt, sein
eigenes System
Mensch kaputtzuspielen,
dass man
es selbst nicht
spürt wie, fällt mir
die angedeutete
Geschichte beim
Orthopäden ein.
Das Problem ist
physisch? Bei den
meisten treten
hin und wieder
Verspannungen, eine steife Schulter oder ein
Hexenschuss auf. Ich meine etwas anderes.
Ein schleichender Prozess. Menschen, deren
spätere, psychisch behandlungswürdige
Leiden mit mechanischen begonnen haben.
Man kollabiert erst wirklich, wenn die Sache
psychisch wird, und dann ist es zu spät. Spät
allemal, denn der Spezialist für die Psyche
weiß nicht, wann und wo vor Jahren der
orthopädische Kollege den Schalter umlegte,
die Weiche stellte – mit seiner irreführenden,
vereinfachten Erklärung – auf das
psychische Abstellgleis,
neben die gesunde
Masse. Hier arbeitet
der eine Spezialist auf
fatale Weise dem anderen
zu. Das wäre ein
gutes Beispiel dafür,
wie krank, fehlleitend,
spezialisiert unsere
Welt ist, aber wie
effektiv, gesund und
selbst bestätigend sie
sich darstellt.
Man spricht von
einer gespaltenen
Persönlichkeit? Die
Welt insgesamt ist
widersprüchlich und
durchaus unordentlich
zerspalten. Die
Ordnung, sich das
auszusuchen, was zu
uns passt, müssen wir selbst finden. Viele
suchen, aber Gott ist nicht Katholik oder
in der evangelischen Kirche. Er ist weder
Muslim, noch Buddhist. Ist er selbst Atheist?
Manche treten enttäuscht aus der Kirche
aus. Aus der Welt gehen sie damit nicht, sind
Gesetzen unterworfen, die nicht nur von der
Regierung bestimmt werden. Naturgesetze
und -katastrophen bilden den größeren Rahmen.
Das soziale Verhalten folgt in diesem
Sinne ebenfalls der Natur und nicht nur dem
Gesetz. Viele Menschen brechen Regeln. Sie
sind nicht unbedingt der Strafe durch die
Gerichtsbarkeit ausgeliefert, aber jeder muss
sich insofern verantworten, dass die Zukunft
schwer zu verstehen ist und was kommt,
weil man aktiv war. Erklärungsprinzipien
erweisen sich oft als trügerische Krücken.
Besser ist wohl, fest zum eigenen Selbst zu
stehen. Und das gelingt nur mit Akzeptanz.
Empathie geben wir nach dem Motto: „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst“, je mehr
du dir selbst vertraust, desto eher gelingt es,
anderen ihren Weg zuzugestehen. Zuversicht
erlangt, wer sich selbst annehmen kann wie
andere.
Davon sind wir in der Regel so weit weg,
dass manche es gar nicht wahrhaben wollen.
Verdrängen ist nicht ungewöhnlich, gibt
Schutz, wie die Hand vor Augen zu halten,
um das Gefährliche der Welt nicht sehen zu
müssen. Menschen behandeln sich selbst
wie einen Dreck, fordern die ganze Zeit
andere und halten sich für gut. Sie tun mir
weh. Der Allmächtige selbst hat es nicht
nötig zu glauben. Er ist einfach nur da. Oder
nicht, das spielt keine Rolle: Viele möchten,
dass die Welt sich nach ihrem Bild, das sie
sich davon machen (oder dem ihrer Gruppe),
verhält. Damit ist zu scheitern unausweichlich.
Das eigene Wirklichkeitsbild kann
nicht vollständig sein. Wenn die Dinge eine
unerwartete Richtung nehmen, müssen wir
neu denken.
Da sind einige, die sich schiefes Grinsen
angewöhnen? Hochgezogene Augenbrauen
überzeugen nicht, wenn man es die ganze
Zeit macht, unfähig, gegebenenfalls auch
zornig zu schauen. Mit der Einbildung, Ironie
könne wie Stärke wirken, kommen manche
weit. Nicht alle werden krank. Es gehört
mehr dazu. Eine gute Maske zur Schau zu
stellen, hilft scheinbar? Es ist aber auch
keine Empfehlung für einen guten Job. Emotionen
im Gesicht von Barack Obama haben
gezeigt, dass ein Spitzenamt mit flexibler
Mimik zu schaffen ist;
möglicherweise die
beste Methode überhaupt.
Konkurrenzfähig
ist man nur mit
angemessener Stärke.
Selbstbewusstsein
wird nicht mit zweierlei
Maß gemessen.
Ich kam zu früh
zur Schule, weil es
meinen Eltern, meiner
Mutter gefiel. Kinder
sind abhängige
Lebewesen. Anders
als vom angeleinten
Hund, erhoffen
sich Eltern eine
leistungsorientierte
Entwicklung des
eigenen Sprösslings.
Es gibt Hundeschulen
für die Halter:innen; aber keine für Mütter.
Ich sollte ein Abitur schaffen und flog nach
einer Klasse Rist mit drei fünfen. Meine Mutter
prügelte mich mit Kleiderbügeln, dem
Schullineal und ihrem Rechenschieber. Man
hat ja nur die eine Mutter und ist zur Liebe
verpflichtet. Die Plattfüße korrigierten sich
nicht durch die Einlagen und das Füßeturnen
beim Orthopäden. Ich war leicht, mit
dünnen Ärmchen und schwächlicher Muskulatur.
Meine Brust hielt ich flach, eingefallen.
Trichterbrust; eine Lunke bildete sich,
Dez 2, 2021 - Musterklage 141 [Seite 140 bis 143 ]
wo das Brustbein den harten Bereich der
Rippen beendet. Darunter wölbte sich das
Bäuchlein vor, meine Haltung war schlecht
schon mit zehn. Ich stand verbogen wie ein
Fragezeichen. Und dann bekam ich Schmerzen,
wohl vierzehn
Jahre alt? Es tat auf
der rechten Seite
weh, am Rücken und
vorn gleichzeitig;
Verspannungen,
meinten die Eltern.
Beim Termin
erinnere ich meinen
Orthopäden
fröhlich: „Wie eine
Schublade, die
klemmt“, erklärte
der Doktor. Heute
würde ich sagen,
das Zwerchfell kam
an den Rippen nicht
vorbei. Aber was
das ist, und dass es
beim Atmen von Bedeutung
ist, wusste
ich als Jugendlicher nicht. Verspannungen
oder einen Hexenschuss betrachtete man
mechanisch. Später war von Stress die Rede.
Was ist Stress? Davon, dass es ein Wort gibt,
versteht man nichts. Damals war die Chiropraktik
das Neueste, D. konnte es. Er hatte
eine Ausbildung gemacht und bewarb seine
Griffe, sprach von Sportmedizin und musste
täglich dicke Seniorinnen betreuen. Sie füllten
reichlich das Wartezimmer. Chiropraktik,
jede Anwendung wurde einzeln notiert, 1
x Doppelnelson für dreiundzwanzigfuffzig,
2 x effektives Handschütteln im Gelenk für
je fünfzehn Mark (rabattiert) zusammen
achtundzwanzig? Die Helferin notierte auf
Zuruf jeden Griff in die Kladde, wenn der
Doktor ansetzte.
D. war nicht groß, ein wenig korpulent und
kräftig. Ich musste mich vor ihm hinstellen,
schaute aus dem Fenster. Der Arzt trat
von hinten an mich heran und rief den
Fachbegriff, was er nun renken würde, der
Sprechstundenhilfe zu. Er griff unter meinen
Achseln durch, und tatsächlich, wie beim
Ringen umschlossen seine kraftvollen
Arme meinen Oberkörper vorn. Fest in der
Zange vor dem dicken Bauch des Doktors
stand ich wie ein schwacher Hering. Dann
„Zack!“, wippte der schneeweiß gekleidete
aus der Hüfte, sich ins Hohlkreuz werfend,
und ich Knabenwurm flog kurz hoch, dass
meine Füße in die Luft kamen und es in mir
knackte. Ich wurde wieder abgestellt wie ein
Pappsoldat, wog kaum mehr als nichts, glaube
ich. Ein leichter „Wippnelson“ oder wie
auch immer die kleine Übung heißen mag,
für den Onkel Doktor. Wir scherzten immer,
ein freundlicher Mann.
Geheilt entlassen?
Es wurde wirklich besser für den Moment.
Langfristig hat sich eine hartnäckige
Biegung meiner Wirbelsäule etabliert, die
niemand als behandlungswürdig erkannte.
Geschweige denn einen Zusammenhang mit
Arztbesuchen beim Neurologen zu sehen.
Ich war früher (nach dem Studium) jahrelang
in Therapie. Heute gehe ich nie zum
Arzt! Angewidert: Mein Vertrauen ist durch
einiges, das hier nicht nötig ist aufzuschreiben,
grundsätzlich zerstört, nicht nur in die
Medizin. Ich gehe Menschen aus dem Weg.
Nicht, dass ich nicht Spaß am Schnacken
habe. Ich gehe keine inneren Bande ein.
Ich empfinde kaum Empathie, das hat sich
entwickelt, schafft Abgrenzung. „Lass die
Leute reden“, wie es im Lied
heißt, ist meine Devise,
„und hör’ ihnen nicht zu.“
Für die Liebe bin ich nicht
bereit. Wer diese nicht
spürt, kann keine geben;
schade. Ich fand mit den
Jahren heraus, dass orthopädische
Beschwerden mitnichten
nur mechanische
sind. Stress ist für mich
kein Wort. Ich benötige
keine Pillen, um gut zu
schlafen. Eine Notfalldose
Tavorreste und Packungen
mit abgelaufenen Risperdal
verstauben im Atelier
zwischen Pinseln und dem
Foto von Alex neben mir.
Ich reagiere mich ab, wenn
ich übervorteilt werde,
erhole mich anschließend. Ich kenne meine
Deformation. Ein individuelles Muster, das
ich, bestens erforscht, weiter prüfe. Da muss
kein Nelson mich richten, ich entspanne
mich tatsächlich. Mit dem, was ich lernte,
kann ich Widerstand merken, wo ich früher
nicht einmal ahnte, Muskeln zu haben.
# Eine Liste
Ich ziehe links meinen Mundwinkel zum
Auge hoch. Ich hebe die Schulter dort, jeden
Tag, immer. Ich schiebe sie vor. Dadurch,
dass ich links höher bin, ist – zwingend
– rechts alles tiefer im Oberkörper. Sei es
dahingestellt, ob es mir wichtig ist, links
oben zu grinsen oder rechts unten die Brust
einzuschnüren. Insgesamt ist der Bereich
verdreht, verklemmt und lateral krumm. Das
Bewegen des Zwerchfells, ein Kolben im
verbeulten Zylinder bei mir, geschieht auf
behinderte Weise trotzdem. Mutmaßlich
hat dieses Muster einmal (anfangs meines
Daseins) Hilfestellung leisten können, Angst
nicht wahrzunehmen?
Ich denke, ja.
Es wird empfohlen, die Zähne zusammenzubeißen,
bei Problemen und zu lächeln,
wenn’s auch schwerfällt. „Halt die Luft an!“,
sagt man und: „Reiß’ dich zusammen!“, –
sich anzustrengen, bringt Lob ein. Dumme
Erwachsene kommen klar im Leben, zwingen
Schwächeren ihren Rat auf. Blöde bemerken
nicht, dass ihr eigenes Leben armselig und
emotional verkümmert verläuft. Besonders,
wenn sie Stärke anstelle von Bewusstheit
setzen, bewundern manche ihre Willenskraft.
Geschickte Menschen amüsieren sich über
unnötigen Kraftaufwand anderer, bei jeder
Sache, die ihnen selbst leicht gelingt.
Fakt ist, dass mein Brustkorb immer rechts
ein wenig eingeklemmt ist, und das bedingt
eine widerständige Atmung, Magenbeschwerden,
weil das Sternum halbseitig
draufdrückt. Das erschwert, die Trompete zu
blasen (Malen kann jeder). Ich spiele täglich
Etüden und Tonleitern, Stücke, die mich
reizen, sie zu können, nicht mit der Absicht,
Musik mit anderen zu machen. Der Grund
ist, Verspannungen zu bemerken, für den
Moment Besserung zu erreichen.
Wenn ich irgendwo stehe, habe ich die
Angewohnheit, das rechte Bein durchzudrücken,
es zu belasten und die linke Seite als
„Spielbein“ locker im Kniegelenk zu knicken.
Die Verschiedenartigkeit meiner Hüften,
was deren Beweglichkeit betrifft und hier
nur äußerst schwierig beschreibbar wäre,
ermuntert meine Beine dazu, es immer so
herum zu tun. Natürlich kann ich mir das bewusst
machen und während ich auf den Bus
warte oder die freie Ampelschaltung, tue ich
es. Dann lockere ich mich soweit, dass die
andere Seite (links) mich trägt, stelle rechts
entspannt ab. Wieder macht es nicht so viel
Sinn, den Beinen die Schuld dafür zu geben,
dass sie meine Hüften einseitig zwingen
oder dem Becken, das verhindere, wie die
Beine eingehängt sind. Es ist eine systemische
Frage genereller Einstellung und mit
der Kausalität nach dem Ansatz „wer hat
schuld“ weniger gut lösbar, als Beziehungen
auszuprobieren. Abhängigkeiten zu akzeptieren,
in denen beide Seiten, etwa Bein wie
Hüfte und entsprechend Oberkörper, Hals,
Schultern, Arme und Kopf zusammenhängen,
ermöglicht integrative Antworten darauf
zu finden, wie der gesamte Mensch besser
harmoniert. Das ist (hier nur skizziert) die
Methode vom Physiker, Publizisten und Verhaltenstrainer
Moshe Feldenkrais („Body and
Mature Behavior“), die ich anwende, etwas
zu bemerken, das eigentlich allen Lebewesen
selbstverständlich bewusst sein könnte;
aber offensichtlich ist das nicht der Fall.
Sollte ich der Vollständigkeit halber sagen,
dass ich auf der rechten Seite meine Lippen
zusammenpresse und die Zunge drückt,
wenn ich gerade meine, nichts zu tun, von
unten gegen den Gaumen? Früher, als
das schlimmer war, mahlten links meine
Backenzähne ineinander, bis es schmerzte;
Migräne. Der Zahnarzt wiederum sah nur
den Zahn: „Da sei ein Schmerznerv gereizt“,
das käme vor. Klar, dass meine Hüften recht
unbeweglich sind und Plattfüße zwingend.
Das ist nun alles viel besser geworden, und
diese Dinge zu bemerken und täglich damit
arbeiten zu können, lernte ich größtenteils
aus Büchern allein.
# Wenn überhaupt Zukunft Sinn macht, dann
damit, das zu tun
Meiner Auffassung nach klemmt niemand
seine Rippen ein, weil er falsch hebt. Ich
glaube, dass ein individuelles Haltungsmuster
– wie oben beschrieben – eine Art
imaginäre Rüstung formt, eine Ganzkörpermaske,
um Emotionen unter Kontrolle zu
behalten. Übermäßige Kontrolle führt in der
Diktatur zur Revolution. Das Land kann nicht
mehr, sinngemäß der psychisch Kranke. Wir
wären fortschrittlich, Patienten zu helfen
und nicht nur für Ordnung zu sorgen, wenn
einer spinnt.
Ein langer Weg, den ich benötigte, zufrieden
zu sein. Zu lang, um noch etwas aus dem
Leben zu machen mit fast sechzig Jahren.
Ohne Vertrauen in andere, nicht mehr zur
Wahl gehend, keine Solidarität mit der
(durch Corona angegriffenen) Bevölkerung
empfindend, bin ich degeneriert. Ich verachte
den Staat, Polizei, Psychiatrie, Politik und
die Pürgermeisterin.
# P = Panik?
Dez 2, 2021 - Musterklage 142 [Seite 140 bis 143 ]
Ich habe alles und alle
provoziert, vielleicht kommt
es deswegen? Psycho ist allgegenwärtig:
Schwarmintelligenz,
das Leben der Lemminge.
Sie sind stark, kommen klar
und sind doch so blöd dabei.
Hauptsächlich „junge Städter
wählen die Grünen“, klagt eine
Jägerin, die nie im Supermarkt
Fleisch oder Fisch kauft. Die
attraktive schießt sich’s Essen
selbst, angelt. Sie „bekomme
täglich Hassmails“, sagt sie,
von Leuten, die mutmaßlich
niemals in der Natur unterwegs
sind.
Ich denke, die anderen machen
einzelne krank. Ein soziales
Trauma. Deswegen ist die
Gesellschaft gesund: Die
Menschen halten zusammen,
stoßen die raus, die nicht
mitmachen können, dabei zu
sein. Schuld ist die Umgebung,
wenn Menschen psychisch
kollabieren. Das fand ich
heraus im Selbstversuch.
Einige Jahre studierte ich in
einem kleinen Dorf westlich
von Hamburg gezielt, was die Leute machen,
wenn man ihnen gegenüber Angriffsflächen
zeigt, Schwächen zugibt. Fertig damit, fertig
mit anderen. Ich fühle mich frei, glaube aber
nicht, es zu sein; pariere heute besser …
:)
Dez 2, 2021 - Musterklage 143 [Seite 140 bis 143 ]
Das Problem
Dez 5, 2021
Warum querdenken?
Kurz gejammert, schnell geheilt,
könnte das Motto dieser kleinen Erfahrung
sein, die ich hier erzähle. Was ist eigentlich
Freiheit heute, wo immerfort von Solidarität
mit den anderen gesprochen wird? Die
individuelle Entscheidung und Tragweite
müsse jeder der Pandemie hintenanstellen,
verantworten. Das wird verlangt. Wir sollen
einheitlich, vernünftig und exakt geradeaus
denken! Endlich begriffen? Ich vermisse
diese Stimme (in der Politik), die uns sagt:
„Einen Teil der Gesellschaft nehmen wir mit.“
Und zwar breit definiert. Wir nehmen Alte
mit und schützen diese so gut wie möglich.
Wir arbeiten für sie. Das versteht sich von
selbst. Wir ermuntern die Menschen zur
Impfung. Je höher die Quote, desto besser.
Es fehlt eine deutliche, allgemein verständliche
Mahnung, die uns daran erinnert, der
Impfung Unwillige (auch) zu akzeptieren.
„Die nehmen wir mit, wie die Alten“, das
höre ich nicht mehr. Es gilt die Schwachen
zu schützen, aber es ist nötig, die Vielfalt
der Befindlichkeiten ernst zu nehmen. Die
Ansage, jeder könne sich impfen lassen,
dann wäre es gut für alle, beinhaltet Probleme
glattzubügeln. Da wundert man sich
über Gewalt, ich wundere mich nicht. Eine
fehlerfreie Masse könnte geschlossen voran
machen, aber nur in der Theorie.
Keiner geht hundertprozentig sicher und
geradeaus seinen Weg. Genauso ein Land als
Ganzes. Als ließe sich Dummheit verbieten,
könne Egoismus abgeschafft werden,
argumentieren viele, wie sehr sie verstanden
hätten, was wir bräuchten? Gut möglich –
aber selbst, wenn das alles richtig ist: Wir
sehen überall diese Tendenz,
Unbelehrbare auf Linie zu
bringen. Das ist falsch. Die
Zuweisung, hier erwachsene
Menschen wie uneinsichtige
Schüler vor sich zu haben
und die Vorstellung, fehlende
Intelligenz herbei prügeln zu
können, als drohe der Lehrer
mit dem Rohrstock, übertrifft
diese primitive Schule noch.
Anderen die kluge Einsicht
in das Nötige abzusprechen, ist mindestens
dumm, wenn nicht überhebliche, verbale
Gewalt. So wird fleißig Wind auf die Äcker
verstörter Gehirnrinden ausgesät, der
schließlich zum Sturm anwachsen kann.
Man scheint unisono darin übereinzustimmen,
dass, wer gewalttätig handelt ein
Problem habe und sich zu ändern. Das ist
aus verhaltenstheoretischer Sicht falsch.
Die Welt ist nicht gewaltfrei und wird es nie
sein. Das Anprangern und Denunzieren vermeintlich
falsch Handelnder hat Hochkonjunktur.
Verklemmte, angepasste Mitläufer
entwickeln einen stumpfen Block gegen
diejenigen, die spürbar Erfahrungen
machen und die eigentlich Kreativen
der Gesellschaft sind.
Zorn entspringt Angst. Das staatliche
Monopol auf die Gewalt in Stellung
zu bringen, heißt einen Bürgerkrieg
begreifen und niederschlagen zu
wollen. „Er könne keine Spaltung
der Gesellschaft in der Frage der
Impfung erkennen“, meint der designierte
Kanzler Scholz, sondern eine
Mehrheitsempfindung. Wer mit einer
Axt umgehen kann und schon einmal
Anmachholz auf dem Haublock
zerkleinerte oder jemandem dabei
zuschaute, weiß, dass
eine Spaltung nie
exakt in der Mitte
verläuft. Eine Hälfte,
Drittel oder Viertel
sind brauchbare Teile
zum Feuer anmachen
und selbst ein
schmaler Span, den
der Geschickte mit
dem Beil abteilt, kann
einen Nutzen bringen,
um eine kleine
Flamme zum Leben
zu erwecken. Ein
Arzt amputiert den
kranken Fuß, wirft
diesen weg. Bedeutet
unsere aufgewühlte
Gesellschaft und eine
durch die Pandemie
verstörte Haltung,
dass Unbelehrbare
als latent gewalttätig
(und deswegen
dumm) abgespalten
werden können? Sind
diese wie der nicht
zu rettende Fuß oder
wird es Splitter schaffen,
der die Flammen ihrer Wut anfacht; das
wird sich zeigen. An die Idee von Integration
im Sinne von innerer Reparatur glauben nur
wenige. Es stünde der sozialen Partei gut zu
Gesicht. Blasierte Überheblichkeit ist nicht
die ruhige Hand sicherer Führung, auch
wenn es einigen so vorkommt, sondern die
Maske des geübten Scholzomaten.
Existenz bedeutet, ein Mensch muss für
vieles aktiv werden. Manches erledigt sich
jedoch auf eine Weise, die wir nicht so genau
verstehen; ist doch überlebenswichtig.
Das Herz schlägt, wir atmen und das passiert
auch unordentlichen, arbeitslosen und
schlecht organisierten Zeitgenossen. Eine
zu erbringende Leistung wird zum Leben
selbst nicht benötigt. Wir müssen Nahrung
heranschaffen, natürlich. Einen sicheren
Wohnort finden, bezahlen. Körperpflege ist
eine Willensentscheidung, aber die Wundheilung
geschieht automatisch, warum ist
das so? Banale Dinge, von denen jeder weiß:
Normalerweise denken wir nicht darüber
nach. Es sind die kleinen Überraschungen
des Lebens, welche einen Denkanstoß
bedeuten können.
Viele haben von Entropie gehört, in der
Schule vielleicht oder zur Studentenzeit,
während wir jung und in der Ausbildung
gewesen sind, zusammen saßen, philosophierten.
Da gab es jemanden, der erklärte,
alles würde von selbst unordentlich, und
das sei Entropie; die verlorene Socke. Ganz
so einfach scheint die Sache nicht zu sein.
Nur mit fremder, dem System hinzugefügter
Energie, ist es möglich gegenzusteuern.
Umgangssprachlich wäre es das Aufräumen
des Zimmers durch eine neue Kraft. Wer
räumt den Menschen auf? Das System führt
sich Nahrung zu, atmet. Kleinere Verletzungen
und ein leichter Schnupfen bedürfen
kaum unserer Aufmerksamkeit, um nach
überschaubarer Zeit zu verschwinden. Um
anderes, nicht nur die Ordnung in der Wohnung,
muss sich jeder kümmern. Die Tür wird
abends sicher verschlossen. Manche setzen
einen Helm auf, tragen die gelbe Weste,
bevor sie mit dem Fahrrad zu fahren wagen;
man lässt sich gegen das Virus impfen und
tut viel, damit die Inflation
das angesparte Geld
verschont. Wir schließen
Versicherungen ab und
hoffen auf spätere Rente,
medizinische Versorgung
und ein langes, gesundes
Leben. Wir haben nicht
die Wahl, auf das Essen
oder Atmen verzichten zu
können, aber inwieweit
wir angemessen gekleidet
sind und darauf achten, geschickt
die Füße zu setzen,
dürfte interessieren. Und
was passiert, wem egal ist,
wie’s ihm geschieht?
# Eine kleine Geschichte
Beim Einkaufen wird mir
klar, als ich diese Frau in
der goldenen Jacke, den
kurzen Haaren wiedersehe,
dass ich mich täuschte. Ich
spreche die Unbekannte im
Supermarkt einfach an: „Sie
sind nicht Frau K.“, stelle ich
fest. Wir waren draußen parallel
der Straße unterwegs
Dez 5, 2021 - Das Problem 144 [Seite 144 bis 146 ]
gewesen. Dabei habe ich mehrfach hinübergesehen,
unsicher, möglicherweise ist es
eine Bekannte? Es beginnt ein freundlicher
Gedankenaustausch beim Brotregal. „Der
Bart steht ihnen nicht“, sagt sie unvermittelt,
als rutsche es ungeplant heraus. Wir sind
uns schließlich fremd? Sie kenne mich vom
Sehen, fährt sie schnell fort. Es zeigt sich,
dass sie mir in dieser Sache etwas voraus
hat. Ich hatte die Unbekannte mit Manuela
verwechselt. Ich
laufe täglich in
das Einkaufszentrum.
Schon möglich,
dass ich sie
früher bemerkte?
Ich bin mir einigermaßen
unsicher.
Das Gespräch
nimmt einen
eher amüsanten
Verlauf, dem ich
die Richtung
gebe, mir gefalle
der Bart selbst
auch nicht. Es sei eben ein Coronabart,
entsprechend der Frisur, erkläre ich. Meine
ungepflegte Matte, dazu passend der
Zottelbart. Bis Weinachten würde ich grau,
eventuell weiß. Da bekäme ich den Job des
Geschenkeonkels und dann passe es, scherze
ich. Zum Haareschneiden könne ich nicht,
als Impfverweigerer: „Sieht scheiße aus der
Bart“, behaupte ich einfach, und das wäre mir
egal. Sie bewundere meinen Mut, mich nicht
impfen zu lassen, aber das könne tödlich
enden, meint die Frau.
Olaf Scholz habe ein Problem, genügend
Frauen in sein Kabinett zu holen und deswegen
sei nicht sicher, dass Karl Lauterbach
Gesundheitsminister würde, hieß es anfangs.
Tatsächlich ist der frischgebackene in der
Notlage gewesen, sich gegen den Kollegen
Kubicki zu verteidigen, der einmal behauptete,
in seiner Stammkneipe gelte der Gesundheitsexperte
als Spacken. Norddeutsch: Das
ist kein (richtiger) Mann. Seit einigen Jahren
wird die politisch korrekte Frauenverteilung
zum Problem, weil mit dem jeweiligen Amt
auch eine Qualifikation verbunden ist. Während
die Männerriegen der Wirtschaft ihre
Bastion verteidigen, da hier Geldverdienen
Pflicht ist und insofern geprüft, ob Leistung
erbracht wird, bleibt die Wirkungskraft der
Politik diffus. Eine Firma will verdienen
und Politik will mehr. Das Erste ist einfach
zu kontrollieren. Politik schießt prinzipiell
mit der Nebelkanone, da werden Frauen
gebraucht. Klar, wir sehen grobes Versagen
im Amt. Wähler und Wählerinnen begreifen,
ob sie jemanden mögen und können dieses
Kriterium nutzen, nicht näher hinzuschauen,
was eine für das Land erreicht. Wie viel
Politik exakt leistet, bleibt wenig konkret
(wie etwa die Arbeit des Psychiaters, da
weiß man, wenn’s besser wird auch nicht
weshalb).
Wir leben
gegen die
Natur, das
ist der
Mensch: Wir
gestalten
die
Umgebung.
Lösen wir
ein Problem,
schaffen
wir damit
neue. In einer steinzeitlichen Welt dürften
Frauen ihre Daseinsberechtigung mit der
Menopause verwirkt haben. Damals beendeten
Männer mit
spätestens fünfzehn
die Kindheit, auch
die der Mädchen
drumherum, und ihre
Familien bildeten
sich in der nicht
regulierten Natur.
Der Mann begreift
seine Sexualität
in diesem Sinne
natürlich bis heute,
die Frau belügt
sich effektiv besser.
Frauen möchten
sich beschäftigen
und nicht merken;
Männer sind
Schwein seit je.
Ob mir ein Zottelbart
gut zu Gesicht
steht, ist mir insofern
wurscht wie eine
Frau in meinem Alter
keine mehr für mich
ist; jedenfalls nicht
attraktiv in sexueller
Hinsicht, was auch
immer diese mit sich
anstellt. Mir ist es
möglich, noch Kinder
zu zeugen, dafür benötige
ich keine Pille.
Die Gesellschaft ist
nicht nur in Geimpfte
und die anderen gespalten, sondern auch in
Geschlechtern. Begeistert von sich und dem
Geschaffenen, dem modernen Toleranzverständnis,
darf der Mensch die Natur nicht
übersehen. So gesehen haben die Grünen
als Partei mehr Substanz als die Idee von
Gleichheit. Unsere Zivilisation hat unendlich
viele intellektuelle Rahmen geschaffen.
Das müssten Geländer an Steigen sein, sich
zurechtzufinden, nicht Gitterstäbe einer
Zellentür,
die unser
Dasein
gegen die
Natur sperren.
Nach
wie vor unterscheiden
wir uns von
Frauen, dass
diese Kinder
bekommen
und Männer
nicht. Selbstverwirklichung sollte kein
Selbstbetrug sein. Ich lebe ja in der Heutezeit
und muss (mich zivilisiert artikulieren,
will es aber nicht) Saskia Esken, Manuela
Schwesig oder Frau Giffey ertragen. Man
stelle sich vor, Gerd Schröder heiratet noch
ein weiteres Mal? Dann wird es
nicht Saskia sein, so viel steht
fest.
Ich gehe nach Hause und denke
nach über den Tod. Menschen
sind so viel mehr als geimpft
oder nicht. Eine Vielzahl von
Motivationen, etwas zu tun oder
langfristig auf den Weg zu bringen,
steckt in jedem von uns. Der
einzelne Mensch ist nur bedingt
bereit, sich gängeln zu lassen.
Scheinbar uniforme Mitläufer, wenn sie sich
auf ein Thema reduzieren lassen, sind viele
am Start, für eine rettende Idee zu werben,
die gerade alle beschäftigt.
Bald kommen neue
Befürchtungen auf und
die Richtung wechselt,
zersprengt diese Gruppe,
schafft andere. Dazu
kommt, der Mensch
versteht sich selbst
und das Leben nur im
Ausschnitt. Ein kleines
Guckloch ist unser Fenster
nach draußen, gering
ist unsere Information
von der wahren Realität.
Persönliche Motive, mit
denen wir bereit sind
loszugehen, zu handeln,
sind oft kaum mehr als
ein ungeprüfter Anstoß.
Groß ist unser Unwissen
vom inneren Zusammenhalt,
all dem, was
innerhalb der eigenen
Haut geschieht. Wir
navigieren unser Schiff,
ohne die Mannschaft
und Fracht an Bord
wirklich zu kennen.
Niemand handelt mit
dem freien Willen
oder aufgrund einer
Entscheidung, die autark
begriffen wird. Alle sind
aufeinander angewiesen.
Der Rudergänger
lenkt, wie vom Kapitän befohlen, und wir
sind sein Lotse. Unser Kahn schippert durch
eine dunkle See. Dieser Ozean ist vielleicht
nur ein Meer, jene durch Riffe gesäumte
Enge, von der wir nichts haben, als ein
vergilbtes Pergament, das kaum eine Karte
bedeutet, sondern vom Hörensagen zusammengetragene
Information. Aber tatsächlich
fliegen Menschen damit bis ins Weltall und
schauen nebenbei noch auf das Telefon. Wir
sind immer schlauer als frühere Generationen,
meinen wir, und verweisen auf
die Erfolge der Geschichte. Ob das für
den einzelnen stimmt, der Amerika ja
nicht selbst entdeckt hat, muss sich erst
erweisen.
Amerika, da ist die Pandemie ja auch.
Ich war länger nicht drüben. Möglicherweise
ist Covid ein deutsches Problem?
Jedes Land findet eine eigene Lösung,
sich dem Virus entgegenzustemmen. Ich
habe gar nicht diese Furcht, krank zu
werden. Einige tausend von mehr als achtzig
Millionen Deutschen hat das Virus aktuell so
schwer getroffen, dass sie behandelt werden.
Das sind nicht so viele in Prozent. Die
Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren und
anschließend entsprechend zu leiden, ist
klein. Ich halte Abstand, das muss genügen.
Mein Egoismus und die fehlende Empathie
für Menschen, die mir persönlich nicht
bekannt sind, gereichen mir zur Rechtfertigung.
Niemand zwingt mich zur Impfung,
überhaupt einen Doktor aufzusuchen, weil
ich Ärzte nicht leiden kann.
Verschiedene Geschichten könnten hier
Platz finden und meinen Vertrauensverlust
in die Medizin illustrieren. Einmal habe ich
mir den Fuß gebrochen. Der Durchgangsarzt
riet zu einer Operation. Mit vierzehntägi-
Dez 5, 2021 - Das Problem 145 [Seite 144 bis 146 ]
ger Wartezeit wurde eine Behandlung im
Krankenhaus angesetzt. Da die Sache unter
Vollnarkose stattfinden würde, musste ich
über das Risiko der Anästhesie aufgeklärt
werden und eine Einwilligung unterschreiben.
Zunächst erläuterte die Ärztin mit
mahnenden Worten, dass die Operation
meine Gesundheit verbesserte, weil sonst
die Gefahr bestünde, der Knochen könne
schief zusammenwachsen, vergipste man
den Fuß konventionell.
Eine
kleine Schiene,
die nach einiger
Zeit mit einer erneuten
Operation
entfernt würde,
sei die Garantie
dafür, dass die
Dinge während
der Heilung wie
gewünscht liefen.
Aber man dürfe
auch Bedenken
haben, da eine
Narkose ebenfalls
ein Risiko bedeute.
Sie fing an,
diese Gefahren
plastisch zu
beschreiben wie
im Beipackzettel
eines Medikamentes,
der manche
schließlich
davon abhält, die
Medizin noch
einzunehmen.
Das wüsste ich
alles, meinte ich
und wollte zügig
unterschreiben.
Ich wäre nicht in
ein Krankenhaus
gegangen, um
nach dem Vortrag
über Operationsrisiken,
der von
Gesetz wegen
verpflichtend
sei, beizudrehen und die Sache eine halbe
Stunde vor dem Termin abzublasen. Ich
hätte zwei Wochen drauf gewartet, sagte
ich, es wäre nicht mein erster Aufenthalt in
einem Krankenhaus. Außerdem sei ich mit
einer Intensivkrankenschwester verheiratet,
da bekäme man einiges mit, forcierte ich
ihre Belehrung.
Ich sagte also: „Wie hoch ist denn die
Wahrscheinlichkeit, dass ich durch die
Anästhesie blöde werde oder sterbe, was
weiß ich – geben Sie mir einen Prozentsatz,
bitte.“ Das sei ihr nicht möglich und auch die
falsche Herangehensweise, fand die Ärztin,
denn ich könne gerade der Eine mit dem
hypoxischem Hirnschaden sein, dann nütze
mir die Wahrscheinlichkeit nichts. „Was für
ein Unfug“, sagte ich, „nach Ihrer Logik dürfte
ich das Haus prinzipiell nicht verlassen, bei
den möglichen Gefahren draußen.“ Es kam
zum Streitgespräch direkt vor dem Eingriff
mit dieser Anästhesistin. „Wollen Sie mich
denn nun davon abhalten, diese Operation
zu machen“, was der Sinn ihrer abstrusen
Diskussion sei, wollte ich wissen. Gestände
sie ein, dass es fifty-fifty wäre, zur Hälfte
misslänge, was dieses Krankenhaus anböte,
wäre klar, dass ich tatsächlich nach Hause
ginge mit diesem Fuß und anderen die
Gelegenheit gäbe, ein Versuchskaninchen
für Quacksalber zu sein. Dann habe ich
dem dummen Weib die Zettel aus der Hand
genommen und unterschrieben.
Jeder hat seine Ängste und Schwierigkeiten,
Covid ist meine Sorge eher nicht. Mein Problem
sind Frauen in Deutschland, und (das
darf man ja gar nicht sagen) es könnte mehr
sein: ein deutsches Problem.
Das ist zu querköpfig
überlegt: Vielleicht hilft
das Bild mit der Ampel zu
sagen, was ich meine?
Wir haben diese Baustelle
hier im Dorf. Jeden Morgen
überquere ich die Straße. Es
ist nicht schwer, man wartet,
bis das grüne Männchen
kommt und geht los. Genau
genommen ist es durch die
Buddelei einfacher geworden,
weil keine Autos mehr
fahren. Inzwischen hat man
die Anlage abgeschaltet.
Sonst wäre es zu schwierig
für die Wohlstandsgewohnte,
selbst zu entscheiden,
und ausnahmsweise das
rote Licht zu ignorieren?
Mit ein wenig Photoshop
habe ich eine Szene
nachgestellt, die ich am
Morgen der Sperrung erlebt
habe, und das ist typisch
deutsch. Frauen – und ja,
Männer tun es ihnen nach,
begreifen, sich besser zu
schützen gegen was auch
immer (und können später
länger im Seniorenstift
durchhalten). Das sind keine
Genießer auf dem Rad. Sie
fahren nicht im Regen, um
die Welt besser zu machen,
sondern weil sie nun als
grün und bewusst ihrer
Solidarität mit den anderen
anerkannt sind. Sie wollen
dabei geschützt vor diesen
fahren, denen sie doch gefallen möchten?
Voll betüddelt mit Helm und Warnweste
sind sie unterwegs. Es sind keine Alien, sondern
Einheimische. Sie beachten jede Ampel,
ermahnen andere. Und scheinen doch
darunter zu leiden, dass manche einfach so
durchs Leben gehen.
Sicherheit geht vor, natürlich.
Aber kompliziert dürfen diese
Regeln, die in erster Linie Mütter
den Kindern lehren, nicht sein.
Ich glaube, die Bürgermeisterin
hat verstanden und die Lichtzeichen
eigenhändig abgeschaltet.
Solidarisch mit denen, die wissen
wie’s geht; ich habe damit ein
Problem – und diese Follower:innen haben
ihres. Ihre Ängste entspringen weiblicher
Logik und haben viele Facetten. Wir müssen
alle mitnehmen …
# Gewalt hat ihr Gutes
Manchmal tut es nur weh zu leben: Anschließend,
nach diesem Einkauf zu Hause,
während der Vorbereitung zum Kochen,
die im Markt besorgten Lebensmittel in
schmackhaftes Essen zu verwandeln, schneide
ich mir versehentlich in den Daumen!
Eine kleine Unachtsamkeit. Tut weh, so
dumm. Nicht zum ersten Mal reagiere ich
heftig über, trete den Schrank. Ich bin gerade
allein, Strohwitwer für zwei Wochen. Einige
Tage haben die Wohnung bereits in einen
Zustand wohliger Unordentlichkeit versetzt.
Bis Dienstag muss ich klar Schiff machen
und die gewohnte Sauberkeit wiederherstellen.
Ich krame ein Pflaster aus dem Schrank.
Während ich unflätigste Beschimpfungen
gegen Gott (persönlich) und die Welt an sich
raushaue, das Leben und Sinnhaftigkeit in
Frage stelle, wie immer in Hasstiraden, die
ich abspule wie eine bekannte Platte, stelle
ich diese verzweifelte Frage: „Warum muss
ich leben?“ Ich behaupte, während ich auf
mein Dasein fluche, dass eben angekratzt
ist am Daumen, ich wolle nur noch weg: „Warum
geht das nicht?“
Ich käme aber nicht ansatzweise auf die
Idee, mir das scharfe Messer in den Leib zu
rammen. Darin steckt mehr als Ironie. Ich
muss nun eine eingetretene Schublade reparieren,
blöd. Die Wohnung putzen, aufräumen,
sonst gibt es Ärger mit der Regierung
Dienstag. Wie ein Schlag vor den Kopf wird
mir das klar –
… und ich begreife, dass ich zur Heilung des
Daumens nichts veranlassen muss.
Selten habe ich so gern Chaos verbreitet,
fröhlich einen Wein geöffnet und mir das
Rumpsteak schmecken lassen. Um mich
herum zahlreiche Aufgaben. Mehr als sonst
achte ich nicht darauf, während der Zubereitung
die Übersicht zu wahren und Gebrauchtes
wie empfohlen wegzuräumen. Ein paar
Schraubzwingen, etwas Ponal, immer zu tun!
Leimen, Staubsauger raus. Ich denke: Eine
Henkersmahlzeit ist’s nicht gerade, ich lebe
ja noch. Mit Spinat und viel Knoblauch lässt
sich’s aushalten.
Da freut „Mann“ sich wirklich auf das Putzen.
Und es muss
nicht einmal
perfekt sein.
:)
Dez 5, 2021 - Das Problem 146 [Seite 144 bis 146 ]
Die gute
Nachricht
diagonal
Dez 15, 2021
„Weniger
Verkehrstote“,
lautet eine
Überschrift
heute. Die Nachricht hat es auf die Titelseite
vom Schenefelder Tageblatt geschafft. Nachdem
erläutert wird, wie geringes Verkehrsaufkommen
pandemiebedingt mitgeholfen
hat, die Unfallzahlen zu bessern und vor allem
weniger Menschen starben, betonen die
Statistiker, dass „weiterhin täglich im Schnitt
mehr als 800 Menschen verletzt würden.“
Das regt zum Vergleich an, parallel auf
die Corona-Statistik zu schauen. Nicht, um
die Krankheit quer zu leugnen, keinesfalls.
Der ungewohnte Blick, schräg durch alle
Tabellen zum Autoverkehr, verdeutlicht
die individuelle Gefahr einer Ansteckung
und mögliche Folgen, relativ zu anderen,
bekannten Risiken und deren Häufigkeit
im Alltag. Es schafft ein Moment gegen das
Bedrohungsszenario und dem gefühlten
Zwang zur Solidarität mit Fremden, nicht
anders handeln zu können, als sich impfen
zu lassen und wiederholt nachzuboostern
bis in alle Tage. Wer individuelle Antworten
sucht, beurteilt die Risiken relativ zum eigenen
Selbst und wird mit dieser Randnotiz
ermuntert, „diagonal“ zu denken, auf Distanz
zu gehen – in jeder Hinsicht.
# Geduld beweisen: „Maske auf und durch“,
ist so dumm nicht.
In der KW48 finden sich unter „Hospitalisierte
Fälle“ 6.043 Personen, „im Schnitt also
mehr als 800 Menschen täglich“, zufällig
gleich mit der Zahl im Verkehr verletzter
Autofahrer (wenn die Statistik die neu
aufgenommenen Patienten meint). Zunächst
unabhängig von der Schwere ihrer Verletzung
betrachtet, kommen wir zahlenmäßig
auf wöchentlich etwa gleich viele Menschen
mit körperlichen Blessuren, die sich diese im
Verkehr zugezogen haben und mit dem Virus
hospitalisierten Patienten. Mal davon abgesehen,
dass im Sommer kaum Menschen
mit Corona krank waren und die vierte Welle
ihren Scheitelpunkt Ende November hatte,
fehlt die Vergleichszahl auf das Jahr gesehen.
Ich vermute, dass die durchschnittliche
Rate der Hospitalisierung geringer ausfällt,
da wir momentan eine Welle durchreiten. Es
werden weniger krank, als es uns vorkommt,
weil Inzidenz nicht gleichbedeutend mit
Krankheit ist. Wen es erwischt, nicht nur
positiv Getesteter zu sein, sondern wer
Symptome entwickelt, darf noch auf einen
milden Verlauf hoffen.
# Wer tatsächlich im Krankenhaus landet, ist
nicht zu beneiden.
Tatsächlich sterben mehr
Menschen an Corona als es
Verkehrstote gibt, etwa 3.000
jährlich im Auto, und in den
zwei Jahren der Pandemie
beklagen wir über 100.000
durch oder mit dem Virus
gestorbene Personen. Es mag
erschrecken, dass deutlich
mehr als hundert Menschen
am Tag dran sterben. Das
persönliche Risiko ist aber
statistisch gesehen klein,
wenn diese Zahl den vielen
Menschen der gesamten Bevölkerung
gegenübergestellt
wird. Viele Menschen sterben
ohnehin jeden Tag. Alte und
vorerkrankte Menschen
besiegt Corona bevorzugt,
die Verkehrstoten bilden
altersmäßig gesehen alle ab. Wer auf einer
Intensivstation mit dem Virus liegt, hat den
Ort erreicht, wo zu sterben wahrscheinlich
ist. Aber das hängt doch sehr von der Lage
im Bundesland ab und was man tut oder
nicht, um dieses Schicksal
zu erleiden. Die öffentliche
Debatte fokussiert die
Gefährlichkeit des Virus’,
als verstünde inzwischen
jeder, was Not tut. Das ist
aber nicht der Fall, wie die
zunehmend aggressiven
Entwicklungen am Rand von
Demonstrationen zeigen.
Wer will hier Haare spalten?
Die einen sind lange krank,
andere erholen sich schnell. Vom Auto touchiert,
beeinträchtigt mich das einige Tage,
und wenn ich im zusammengequetschten
Wrack gerade mit dem Leben davonkomme,
länger. Diese Zahl von gut 800 Verletzten
pro Tag mal sieben zu nehmen, ergibt wohl,
dass in jeder Woche an die 6.000 Menschen
unter den Folgen eines Autounfalls leiden,
zumindest davon betroffen sind. Das entspricht
der aktuellen Zahl derer, die im Krankenhaus
mit dem Virus kämpfen. Wer würde
sich gegen die Gefahren durch Autofahrer
impfen lassen, falls eine geschäftstüchtige
Firma das anbietet? Vorsicht im Verkehr, einen
Gurt anlegen, die Regeln einhalten, genügt
uns normalerweise. Autofahren richtet
vielerlei Schaden an und bleibt uns doch als
Teil dieser Welt. Die Menschen steigen nicht
geschlossen auf das Fahrrad um, und nicht
alle impfen sich gegen das Virus; nachteiliges
Verhalten ist normal. Sicher wären
Inzidenzen und Hospitalisierungen höher,
impften wir nicht und legten Maßnahmen
fest. Es werden trotzdem weiterhin Menschen
sagen: „Da mache ich nicht mit!“ Diese
sind deswegen weder verschworen, noch
pauschal dumm. Erst, wenn in unmittelbarer
Nachbarschaft und Familie unzählige Bekannte
schwer erkrankten, wären alle bereit,
ihr Leben umzustellen. Dann ist es weiterhin
nicht die vielbeschworene Solidarität oder
gebotene Menschlichkeit, die zum Umdenken
führte. Wenn die Gesundheit erkennbar
gefährdet ist, handeln auch die Letzten aus
Eigennutz.
Viele misstrauen den Medien. Eine fassungslose
Krankenschwester zitiert Patienten, es
sehe ja hier „auf der Intensivstation wirklich
aus wie im Fernsehen“, dann kämpften sie
und die Kollegen, das Leben dieser Kranken
zu retten – nicht selten gelänge es nicht.
Dazu kämen Anfeindungen außerhalb der
Arbeit durch Fremde, sogar von Freunden,
die wüssten, dass sie Krankenschwester ist.
Das enttäuscht eine Helferin? Gut so, denke
ich mitleidlos, das ist dein selbstgewähltes
Lernfeld. Es gibt noch andere Berufe. Mich
haben schon einige im Stich gelassen, und
es fällt mir nie ein „weil man es sollte“
hilfsbereit zu sein, sondern nur, wenn ich
persönlich berührt bin. Menschen sind nicht
empathisch, sie behaupten es nur. Kluge
halten Abstand, weil es ohnehin geboten ist,
anderen wenig Vertrauen entgegenzubringen,
noch welchen zu folgen, weil es Mode
ist. Mit der Abwertung, ein Egoist zu sein,
lebt sich’s aus Überzeugung gut.
Covid schaffte es, die ganze Welt lahmzulegen
und ist deswegen eine Gefahr. Unsere
Gesundheitssysteme wurden nicht dafür
gemacht, zwei Jahre lang Überstunden
zu leisten, sind ohnehin unterbezahlt und
überbelastet. Virologen und Ärzte bestimmen
die Medien. Die Impfstoffe mögen für
sich genommen nur ein minimales Risiko
beinhalten. Das wird betont. Mit dem Virus
infiziert zu sein, kann dagegen
tödlich enden. Wer will das
bestreiten? Sich anzustecken,
ist dennoch vergleichsweise
schwierig. Das sagt niemand,
im Gegenteil. Alle Ungeimpften
infizierten sich kurzfristig,
heißt es bedrohlich. Dabei
verschweigt diese Darstellung
die große Zahl der Menschen,
die nicht krank sind und
vergleichsweise entspannt. Die
Zahl der täglichen Neuansteckungen
auf die Masse der Ungeimpften
hochzurechnen, relativiert die immer wieder
gemachte Drohung, weil sie schlicht zu niedrig
ist, uns kurzfristig zu durchseuchen.
Es ist wenig wahrscheinlich, schwer oder
tödlich zu erkranken, wenn man die gesamte
Bevölkerung dem Einzelnen gegenüberstellt
und zum Maßstab persönlicher Risikoeinschätzung
nimmt. „Hochansteckend“ ist der
Begriff, den wir inflationär zu hören bekommen.
Was bedeutet das? Wenn zehn Leute in
einem kleinen Raum einen HIV-Positiven unter
sich haben und einen anderen mit Covid,
ist es hochwahrscheinlich, dass alle krank
werden oder zumindest positiv getestet,
aber nicht mit der bekannten, tödlichen Immunschwäche.
Insofern ist Covid hochansteckend,
ja. Dabei kann man leicht übersehen,
dass weitere Faktoren eine Rolle spielen
Dez 15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal 147 [Seite 147 bis 148 ]
und letztendlich nur ein Teil der Menschen
ernsthaft leidet. Deutlich belastet sind
Pflegende, Angehörige, Politiker, denen der
Vorwurf gemacht wird, nicht angemessen zu
reagieren, und einige Wirtschaftszweige sind
mehr betroffen als andere. Damit erleben
viele Ungerechtigkeit und eine nie geahnte
Veränderung ihrer Erwartungen. Aber böse
erkrankt quälen sich weniger, als man uns
glauben machen will. Wir kennen Beschreibungen
von anderen, sehen das in den
Nachrichten, wie schlimm es kommen kann.
Das bleibt oft medienbezogen, abstrakt. Die
direkte Bekanntschaft mit Schwerkranken
ist regional begrenzt. Deswegen verhält sich
eine träge Masse
unbeeindruckt.
Nicht wenige
Sympathisanten
der Radikalen
finden sich, eine
neue Parallelgesellschaft
streckt
fröhlich ihre
Fühler aus: Der
Frisör kommt zu
dir ins Haus, der
Impfpass wird
gefälscht und was
weiß ich. Das dramatische
dieser
Krankheit wird
überbetont, weil aktuell keine vergleichbare
gesundheitliche Bedrohung bekannt ist. Es
täuscht über viele Faktoren hinweg. Zusammengenommen
gibt es etliche Bedrohungen
unserer Existenz. Der fokussierte Blick
verblödet.
Die neue Variante ängstigt, weil wir nicht
wissen, wie sich das entwickelt und macht
doch Hoffnung auf tendenziell mildere Verläufe.
Hospitalisierte zahlenmäßig im Auge
zu behalten und so die Gefahr, selbst schwer
vom Virus erwischt zu werden, relativ zum
„Alltagsrisiko Auto“ einzuschätzen, bietet
uns eine Landmarke der Orientierung. Werte
von wenigen hundert täglich bedeuten, dass
mehr Menschen irgendwo in Deutschland
gerade durch ein Fahrzeug lädiert wurden.
Jeder darf sich fragen, ob dergleichen häufig
im Umfeld vorkommt? Ein Maßstab für moderne
Egoist:innen, lieber Abstand zu halten
oder mutiger zu kuscheln. Der Rest hat keine
Wahl und muss sich so oft wie möglich spritzen
lassen und die Maske mit den Ohren
vernähen. Diejenigen, die Wert darauf legen,
alle Aktivitäten wie gewohnt zu genießen,
sind ohnehin schlau genug, die geforderten
Nachweise parat zu haben. Sie haben keine
Probleme. Wer zu viel merkt, hatte es schon
immer schwer. Aber wer sagt denn, dass ein
leichtes Leben einfach zu erreichen wär’
und überhaupt erstrebenswert? Am Besten
fühlt sich’s doch an, wenn selbstgefasste
Entschlüsse glücklich machen. Wir segeln
flott daher, ohne die schnelle Konkurrenz zu
bemerken, die ohnehin mehr versteht. Hier
findet sich der Schatz, die eigene Relativitätstheorie
zum Glück anzuwenden.
Was nützte, den Ball flach zu halten und
keine Panik aufkommen zu lassen, ist der
Blick auf die Hospitalisierungen. Das Impfen
zu forcieren, hat den Zweck, das Ende der
Pandemie herbeizuwünschen und Normalität.
Das ist das Allheilmittel derjenigen,
denen es dafür nutzt, eines zu sein. Es hilft
auch welchen, die unbeeindruckt eigene
Wege gehen, wenn viele die Aktionen
mitmachen. Die Ungeimpften sind häufiger
schwer erkrankt, die Impfung wirkt. Es
bedeutet aber, den gewünschten Schutz
halbjährlich aufzufrischen. Dieser Treue zum
einmal eingeschlagenen Weg mag, wem es
gefällt, gern konsequent folgen. „Vollständig
geimpft“ hieß anfangs, zweimal zu impfen.
Nun wird „geboostert“, das macht drei, und
mit Omikron beginnen wir wieder bei Null?
Man darf noch fragen. Wir anderen sind, als
Egoisten gebrandmarkt, latent solidarisch
miteinander und amüsieren uns noch über
den Kinderarzt, der mit falschem Impfpass
aufgeflogen ist und spotten sogar, bei gewalttätigen
Attacken zorniger Staatsfeinde,
wir hätten es kommen sehen? Klammheimliche
Freude über das Versagen der
Offiziellen, die ohne ihre Bürger zu verstehen,
zwei Jahre lang Druck ausübten
und sich von der Gewalt der Radikalen
überrascht zeigen, ist das allemal.
# Vor der Erkrankung schützt man sich
am Besten durch Distanz!
Das muss in Erinnerung gerufen werden,
hilft zielführend und bedeutet, weniger
Druck auf Menschen auszuüben, als
Zögerliche zu nötigen, sich ein Serum
injizieren zu lassen, dem sie nicht
vertrauen. Donald Trump wurden seine
alternativen Wahrheiten zum Verhängnis.
Ein Staat, der nur eine Wahrheit
kennen will, wird genauso scheitern, wenn
es bessere Lösungen gibt. Das Ziel ist nicht
die Impfquote. Wir möchten unsere Freiheit,
gesund sein. Alternative Wege werden nicht
zur Sackgasse, weil sie der Mehrheit nicht
passen. Menschen, die hinein laufen, müssen
umkehren, weil kein Weiterkommen ist. In
so einem Fall gibt es nur eine Wahrheit und
nicht „viele Wege führen nach Rom“. Es stirbt
nicht der Leugner einer Krankheit an ihr,
sondern einer, der sich irrt (und Corona nicht
wahrhaben will). Das ist schlimmstenfalls
ein Irrer, ein Narr und ein Teil dieser Welt
wie das Böse an sich, das schlechte Wetter.
Wir können ein Gewitter nicht belehren, es
leugne die Sonne und möge sich deswegen
verziehen. Letztlich ist
„Covid“ nur ein medizinischer
Begriff. Wir
sterben nicht an diesem
Wort, das leichthin
jeder im Munde führt,
sondern am Organversagen.
Lügen kann
nur derjenige, der die
Wahrheit kennt und
nicht jemand, der anderen
nicht glaubt. Ein
unbelehrbar dummer
Mensch ist verstört.
Dieser lügt nicht wie
viele, die nur behaupten,
etwas begriffen zu
haben, Macht ausüben,
eitel sind oder anderen ungeprüft folgen,
plappern. Der Mensch bleibt ein suchender
Kundschafter. Hier stehen keine Wegweiser,
die uns die Zukunft voraus sagen; Feiglinge
schimpfen.
Die Pandemie, das ist zunächst ein Begriff.
Dazu gehören die Impfgegner als ein
eigenes Problem dazu. Möglicherweise
gibt es diese auch in China? Sie gelten als
unsolidarisch und schadeten dem Ganzen,
meint man. Wenn das so ist, gefährden Ungeschützte
zunächst sich selbst, besonders
wenn sie krank werden. Ein nicht geimpfter
Mitbürger schadet niemandem, solange er
nicht krank ist, sondern liefert ein Argument
für den Lockdown, wirtschaftlichen
Zusammenbruch. Das ist zu kompliziert für
viele, denen der eigene Leib an erster Stelle
steht. Es sind Menschen, die nicht durch
aufgezwungene Medizin bedrängt werden
möchten. Diese glauben, sich effektiv gegen
Äusseres abzugrenzen, wehren sich und sind
gern bereit, anderen Erklärungen zu folgen
und in sich aufzunehmen wie alternative
Medizin. In einem freien Land wird dieses
zum kenternden Rettungsboot, wenn der Kapitän
sich in der Not nicht behaupten kann
für einen harten, aber richtigen Kurs. Das
Mittel der Schiffsführung ist Besonnenheit
nach dem Motto: „Menschen nehmen, wie
sie sind.“ Andere haben wir nicht.
Nach wie vor sind viele Ungeimpfte nicht
erkrankt. Wenn sich täglich etwa 30.000
Menschen infizieren, sind das 10 Mio in
einem Jahr. Bislang aber „nur“ 6,7 Mio
Infizierte verzeichnet Deutschland nach
zwei Jahren mit Corona. Teilt man diese Zahl
durch entsprechend 730 Tage, hatten wir im
Schnitt unter 10.000 Infektionen am Tag. 60
von 83 Millionen sind vollständig geimpft.
Der Begriff „vollständig“ hat bereits gezeigt,
wie schwach die Virologen tatsächlich
aufgestellt sind: Das ist eine Vollständigkeit
mit Ablaufdatum. Je nachdem, ob bereits
Geimpfte mit in diese Schätzung einbezogen
werden, bleiben abzüglich Genesener und
deswegen weniger Gefährdeter etwa zwanzig
Millionen, die stärker davon bedroht
sind zu erkranken. Unter Berücksichtigung
von Impfdurchbrüchen und nachlassender
Schutzwirkung bei Mutationen ist die
Behauptung, alle Ungeimpften infizierten
sich, nur seriös, wenn betont wird, dass sich
der Prozess (jahrelang) hinzieht. Es sei denn,
wir tolerierten extrem hohe Inzidenzen, ein
Vielfaches der bisherigen Werte, und das
scheitert an den schon jetzt kollabierenden
Intensivmedizinen.
# Ein langer Weg
Geduld könnte helfen.
Die Impfpflicht
umzusetzen, dass sie
uns wirklich voranbringt,
gestaltet sich
schwierig. Es wird
dagegen vor Gericht
geklagt werden. Das
Virus mutiert. Die
Impfwirkung muss
ständig nachgebessert
und geboostert
werden, die Impfgegner
radikalisieren
sich, und eine
Parallelgesellschaft
entsteht in unbekannter
Qualität. Das ist
unsere Zukunft. Es sei denn, das Virus macht
allmählich schlapp, und die Inzidenz mutiert
zu einer Zahl, die niemanden interessiert.
:)
Dez 15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal 148 [Seite 147 bis 148 ]
Kein Fisch an Heiligabend
Dez 22, 2021
Schon einmal habe ich das gemacht, einen
bereits veröffentlichten Text überarbeitet.
Ich korrigiere ohnehin alles, habe immer
Revisionen. Als studierter Grafiker bin ich
weder zum Künstler noch Journalisten
ausgebildet, als Wissenschaftler oder gar
Schriftsteller besonders befähigt, aufgrund
erworbener Kenntnisse zu glänzen. Ich
lernte nie, in einer Schule fachbezogen zu
schreiben und skizziere Inhalte, für die ich
nicht extra qualifiziert bin. Das ist keine
Entschuldigung; niemand muss es lesen,
finde ich. Hier steht in erster Linie für mich
selbst festgehaltenes Material. Ich probiere,
mir über Dinge klar zu werden, die mir
beharrlich im Kopf herumgehen. Ich möchte
etwas über den Zusammenhang von Körper
und Psyche schreiben, mit persönlichen
Erfahrungen gespickte Inhalte, die unsere
untrennbare Einheit anschaulich machen. So
ist dieser Text „Neid, dazwischen“ im November
zustande gekommen. Beim Wiederlesen
fehlt mir der rote Faden in den eigenen
Worten. Es wurde nötig, noch einmal dranzugehen.
Zu viele Episoden und abschweifende
Umwege? Keine Linie, der man bereitwillig
folgt. Trotzdem wollte ich die Anekdoten
gern retten, besser verknüpfen. Ich bin weiter
davon überzeugt.
Was treibt uns an? Persönliche Motive!
Inzwischen ist ein weiterer Tag vergangen.
Heute hat Alexandra Geburtstag, morgen
ist Weihnachten. Unzählige Änderungen hat
das hier allein seit gestern noch erfahren.
Unnötig sich vorzustellen, dass andere
zwischendurch lesen und man später Fehler
findet. Zunächst die eigene Einschätzung
und meine Sache, zu entscheiden, ob etwas
stehenbleibt. Liest überhaupt jemand, was
ich schreibe? Das weiß ich nicht, und es darf
nicht wichtig werden.
# Der neue Maßstab
Kunst im Hof der Hexenküche. Wenn
Christiane, die aus dem Turm, etwas
verbockte, ja „-kackte“, um ihre eigenen
Worte zu verwenden, dann zementierte sie
die Unmöglichkeit, Schuld einzugestehen.
Zündelnd aus schützender Deckung erzwang
die Eingebildete Stille, schuf verstrahltes
Gelände. Gegen diese Mauer gibt man auf.
Jede Annäherung hieße, Arschlöcher auf den
Plan zu rufen. Das Recht zu beugen, konnte
mich nicht verbiegen. Erzwungene Integrität:
Als Hofnarr will ich nicht durch den Kakao
und über das Spiel- und Schenefeld
gezogen, von Schmeißfliegen verfolgt
werden.
***
Im Kescher gemeinsamer Historie
gefangen, spielen wir heute nach den
neuen Regeln. Meine Kunst lehnt den
Staat ab, riskiert Leben, verweigert Solidarität.
Bockig und voller Hohn finde
ich Wege, böse sind meine Scherze.
Zukunft fehlt, die verbliebene Motivation
unterscheidet sich von allem, was
ich mal dachte.
# Neid, dazwischen
Wenn Menschen psychisch krank werden,
scheint es angesichts einer Vielzahl möglicher
Diagnosen unangemessen, zu pauschal
gedacht, nach dem grundsätzlichen Übel zu
suchen, das allen Störungen zu Grunde liegt.
Aber genau das fragen sich die Erkrankten,
warum passiert es gerade mir? Was kann
ich dafür, nicht normal zu sein, was ist der
Grund? Der Arzt muss die detaillierte Lehrmeinung
– entsprechend seiner Ausbildung
– mit der Erwartungshaltung der Allgemeinheit
in Einklang bringen.
Ein Wunder möge geschehen: Patienten wird
der Therapeut mit einer These helfen, die
eine Erkrankung zugänglich beschreibt wie
etwa Krebs. Jeder glaubt ja zu wissen, was
das ist, und insofern hilft es, ein Erklärungsprinzip
vorrätig zu haben. Im Einzelfall
entwickelt sich die Suche, woran es liegt,
aber weiter. Wir Kranken denken: Wüsste ich,
woher das bei mir kommt, könnte
ich’s selbst abstellen. Der psychisch
Kranke erlebt Dysfunktion. Dem Arzt
genügen Abnormität der neuronalen
Systeme und Hinweise auf die spezielle
Verhaltensstörung, die Abgrenzung
zu genetischen Abweichungen
oder pathologischer Degeneration,
um seine Unterstützung anzubieten.
Einigen Patienten reicht das. Zufrieden,
wenn ihnen jemand zuhört, sind
sie bereit, betreut und mit Pillen
versorgt, in einem eigens für sie gebaggerten
Kanal parallel zum Mainstream der
normalen Gesellschaft im Schlepptau ihres
Arztes zu fahren. Anderen reicht die Einordnung
zum Menschsein zweiter Klasse nicht.
Immer wieder brechen sie aus der Behandlung
aus, teilweise mit fatalem Ergebnis.
Die normale Gesellschaft fremdelt mit
psychisch Kranken. Wer Schaden anrichtet
und nicht weiß, wie ihm geschieht, dem
kann man schlecht das gleiche Strafmaß
aufdrücken wie demjenigen, der sich Vorteile
verschafft. Wir erkennen eine Krankheit
dann, wenn Menschen sich selbst schaden,
wo sich andere klug oder sogar illegal zum
Gewinner machen und unterscheiden dieses
Verhalten von der Dummheit. Einen dummen
Dieb sperren wir ein. Einen kranken
Einbrecher werden wir therapieren; was ist
der Unterschied zwischen ihnen? Zunächst
einmal erkennen wir die Normalgesundheit
daran, dass Menschen sich integriert verhalten.
Sie sind klug genug, Erfolg zu erzielen,
ohne die Regeln zu verletzen. Dumme
Menschen begreifen wir als gesund, ordnen
diese als unnötigerweise begriffsstutzig ein.
Im Spruch „Genie und Wahnsinn lägen dicht
beieinander“, drücken wir aus, dass psychisch
krank zu sein nicht Einfalt bedeuten muss
oder es jemandem an Intelligenz mangelt.
Wir unterscheiden den Verrückten vom Blöden:
dem dummen Menschen. Was ein Einfältiger
zu Tage bringt, therapieren wir nicht.
Soll der doch selbst machen, wie er’s glaubt?
Wer nicht stört, kann eine simple Arbeit tun
zum Mindestlohn, wenn überhaupt. Mit dem
kann man „es“ machen, denken viele, wenn
jemand einfach gestrickt ist. Kranke sind anders,
möglicherweise unkontrollierbar? Das
Wichtigste ist der Gesellschaft die Sicherheit.
Der Arzt führt seine Praxis mit der erklärten
Absicht, für die Patienten da zu sein.
In erster Linie hilft der Psychiater aber der
Gesellschaft insgesamt. Wir brauchen einen
Spezialisten, der Verantwortung übernimmt,
wenn die Patienten dazu nicht in der Lage
sind. Obwohl es die unterschiedlichsten
psychischen Abnormitäten gibt, jedenfalls
die verschiedensten Verhaltensweisen
und entsprechende Diagnosen – was doch
suggeriert, man kenne sich aus – gelingt
es oft nicht, die Betroffenen zum dauerhaft
normalgesunden Verhalten richtigzustellen.
Tatsächlich können auch andere Erkrankungen
zu einem nicht lösbaren Problem für
Leidende werden, falls der Anspruch erhoben
wird, ganz gesund zu werden. Alzheimer
kennt nur eine Richtung. Parkinson ist nicht
heilbar. Multiple Sklerose verläuft schubweise.
Krankheitsaktive Phasen können heftig
sein und bedeuten, sich schrittweise vom
normalen Leben verabschieden zu müssen.
Die Krankheit entwickelt sich alternativ
milde, kommt zum Stillstand. Warum das
mal so oder anders geschieht, ist offen. Eine
erfolgreiche
Heilungsmethode
wird nicht
angeboten.
Verschiedene
Ansätze lindern
die Symptome.
Eine Vielzahl
von Missbildungen
begrenzen
die Normalität
des Menschseins.
Wir müssen hinnehmen, dass es diese
gibt und wissen nicht, warum es einige trifft,
die nun ihr ganzes Leben beeinträchtigt
sind. Manche Krankheiten bestehen von
Geburt an und bleiben. Einige treten irgendwann
auf und sind nicht heilbar. In vielen
Fällen kann die Medizin für Erleichterung
sorgen, ohne das Versprechen vollständiger
Gesundung abzugeben. Insofern darf auch
der Anspruch, psychisch Kranke – vor allem
unter Berücksichtigung der unterschiedlichen
Ausprägungen und Verläufe – restlos
zu heilen, nicht erhoben werden.
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 149 [Seite 149 bis 156 ]
Das ist aber weiterhin der Wunsch derjenigen,
die nicht verstehen können, warum
sie in einer Therapie besseres Verhalten
lernen müssen ohne erkennbares Ziel am
Ende. Das bleibt so vage wie die Normalität
ja ohnehin ein dehnbarer Begriff ist. Nach
einem grundsätzlichen Ansatz zu suchen,
psychische Krankheiten von den anderen zu
unterscheiden, wie den Fisch vom Landtier,
obwohl man weiß, wie verschieden diese
Störungen jeweils daherkommen, scheint so
abwegig nicht. Schließlich weckt die Therapie
Hoffnungen, man müsse nur folgsam
lernen, um irgendwann gesund zu werden?
Bei manchen ist ihre psychische Krankheit
so eindeutig, das Verhalten gezwungenermaßen
behandlungwürdig,
dass wir es doch schaffen
müssten, geistige Gesundheit
zu definieren. Könnten
Anfangspunkt und
These falschen Verhaltens
exakt definiert werden,
bewegte man sich in die
Richtung weg davon.
Es könnte jeder „facing
backwards“ navigieren,
wie es beim Fliegen heißt
und Fortschritte messen,
Etmale wie in einer Karte
eintragen.
Spezialisten gelingt in den
meisten Fällen, Krankheiten
wie Krebs, Infektionen
und organische Dysfunktionen
von denen abzusondern,
die einer gestörten Psyche mit den
unterschiedlichen Ausprägungen Depression,
Psychose oder Neurose, Zwangsstörung
zugeordnet sind. Nun sollte möglich sein,
Therapieziele zu formulieren und Fortschritte
zu prüfen. Patienten müssten zum
Training finden, dürften nicht beim Hausarzt
oder praktischerweise beim Psychiater um
die Ecke landen.
Es gibt, um das Beispiel weiter zu verwenden,
Menschen, die mögen keinen Fisch. Sie
weigern sich, die unterschiedlichen Gerichte,
Zubereitungen der allerverschiedensten
Wasserlebewesen auszuprobieren. Diese
schmeckten ihnen nicht, sagen sie. Dem
Gourmet ist es ein Rätsel, bei der Vielfalt
an Geschmacksnuancen, die ein guter Koch
hervorzaubern kann, wenn Fisch auf der
Karte steht. Es gibt sie aus Fluss und Teich,
die Süßwasserfische. Wir fangen Fisch aus
dem Meer, Ozean und der Tiefsee inklusive
der Krabben, Krebse und Austern, Muscheln
und was weiß ich Oktopussen. Wir können
dünsten, köcheln, braten und gratinieren,
Salate machen, Sushi essen: Die schmecken
doch alle verschieden, die Fische. Es gibt
Vegetarier aus Überzeugung, aber manche
mögen fettes Fleisch, kümmern sich um
keinen Rat, wie es sich gehöre, gesund zu
essen. Die kleine Abschweifung mag illustrieren,
dass Haarspalterei in den Diagnosen
möglich und gelegentlich schwierig zu
sagen ist, worin eine psychische Erkrankung
besteht, aber auf der anderen Seite eine rote
Linie verläuft, die den geistig Gesunden von
demjenigen trennt, der zum Psychiater muss.
Fisch ist nicht Fleisch.
Und genauso, Luxus der Einbildung, wie
sich’s ein Hypochonder einredet, meint
wiedergeboren, im falschen Körper gefangen
zu sein oder mit aufgespritzten Lippen sei
es gut, gibt es den kranken Kopf wie den
gebrochenen Fuß. Die Grauzone aus Lebensüberdruss,
Langeweile, Desorientiertheit
eines im Wohlstand verlorenen Millionärs
oder der arbeitsunwilligen Person, die den
Gang zum Arzt als Zeitvertreib aufsucht,
endet dort, wo ein Mensch zwangsweise
eingewiesen wird, weil es nicht anders
geht. Neben den eindeutig pathologischen
Fällen finden sich etliche Menschen, deren
Normalität als grenzwertig anzusehen ist,
obwohl sie mit einem Verhalten aufwarten,
dass umgangssprachlich als bescheuert
bezeichnet wird. Als Spinner abgewertet,
können sie trotzdem auf individuelle Weise
integriert leben. Krank ist in erster Linie, wer
zum Arzt muss und nicht wer mal hingeht,
weil’s gefällt.
# Genie und
Wahnsinn, verrückte
Künstler
Nicht wirklich
ein neues Thema;
vom Spinner
ist es nicht weit
zum kultigen
Typen, der
irgendwie dazugehört.
Da stellt
sich die Frage,
warum gibt es
Künstler, und
wozu braucht
die Gesellschaft
ihre Objekte,
die Malerei und
den vielfältigen Kram, der zwar gelegentlich
hochwertig gehandelt wird, aber nicht
unbedingt nötig erscheint?
Das sind weniger verschiedene Themen,
sich näher als Fisch und Fleisch. Der normale
Mitbürger, auf der anderen Seite die
Kunst und die Suche nach dem Grund für
psychische Krankheit; warum gibt es das?
Es geht um die Existenz: Die individuelle
Antwort zum Lebensentwurf ist so verschieden
wie der Mensch an sich. Das Einfachste
wäre wohl, alle machten nur nutzbringende
Sachen. Die Handwerksberufe, die Ebene
der Führungskräfte, die Sicherheit im Staat,
Medizin, Politik, es gäbe ja genug.
Warum beginnen Menschen mit Malerei,
beschränken sich nicht wenigstens, wenn es
unbedingt sein
muss, darauf,
die Köter und
Enkelkinder der
Verwandtschaft,
die Brandung vor
Sylt oder die Porträts
der Kanzler
anzufertigen?
Warum sind Menschen
so blöd,
im Wahn einen
Amok zu starten,
anstelle einfach
zu arbeiten und
anschließend zu
chillen, ficken, was weiß ich? Warum lassen
sich nicht alle endlich gegen das Coronavirus
impfen usw. – das sind diese Fragen, die
sind so unmöglich zu beantworten, wie die
nach dem Grund, warum es uns überhaupt
gibt. Nichtsdestotrotz ignorieren nicht
wenige diese Tatsache und halten verbal
auf alles drauf, das ihnen nicht geheuer ist.
Besonders, wenn etwas nicht nutzt, sondert
Schaden anrichtet. Nicht wahrhaben wollen,
das manches zum Dasein auf diesem Planeten
dazugehört, ist ihre Haltung. Glücklich
sind diese – wie sie betonen – Klügeren
nicht und motzen, mobben, lynchen wo’s
geht.
Ein neuer Ansatz, Spinner, Geisteskranke,
Querdenker und Künstler, Andersdenkende
schlechthin zu begreifen, wäre, ihnen pauschal
Neid vorzuwerfen. Wer nicht mitmacht,
einfach normal dabei zu sein wie’s die Masse
hinbekommt, ist neidisch auf diese Fähigkeit
und Duldsamkeit, unter dem sozialen Druck
kein Unwohlsein zu spüren?
Eine Masse Mensch folgte Adolf Hitler
begeistert in das Naziregime. Eine breite
Menge trägt die Demokratie, und das sehen
wir überall: Eine Mitte der Gesellschaft ist
soweit zufrieden, dass sie als normaler Block
verstanden werden kann. Ob nun freiheitlich
und demokratisch streitend oder uniform in
der Diktatur, zunächst einmal gibt es immer
den größeren Kern eines Systems. Den Rand
bilden einzelne Sprenkler oder gruppierte
Andersdenkende, unter Umständen zum
Widerstand bereit. Der Innenminister unterscheidet
gern den Terrorist vom kranken Einzeltäter
im Falle von Attacken, aber zunächst
einmal können wir sagen, dass Amok, Geisteskrankheit
und dem System keinen Nutzen
bringende Menschen den Rand bilden.
Neid als Ausdruck darin zu sehen, würde ein
Handlungsfeld bedeuten, wenn wir diese
Haltung beschreiben könnten. Durch Zufall,
und weil ich als Jugendlicher etwas las,
fand ich einen Hinweis darauf, den Neid als
Körperfunktion zu isolieren und weniger
verbal zu begreifen. Neid gehört zu den unerwünschten
Gefühlen. Für viele Menschen
finden psychische Krankheiten im Kopf statt.
Im Gehirn, das messbar entgleist, finden sie
ihren wissenschaftlichen Halt, diese Störung
einzuordnen und vergessen gern, dass
jeweils ein Körper zum entsprechenden Kopf
gehört, der mit seinen Armen und Beinen
all diese absurden Dinge macht, die ein
Verrückter anstellt.
Die meisten Gesunden laufen einigermaßen
normal. Die wenigsten psychisch Kranken
erwecken den Anschein entspannter Bewegung,
aber es gibt auch Momente, in denen
sie uns alle übertreffen, manisch aufdrehen,
mitreißen und sich
besser bewegen als
Ottonormal. Sich
mit der Bewegung
und überhaupt den
Spannungen in der
Muskulatur auseinanderzusetzen,
könnte
helfen, psychische
Krankheiten als dem
ganzen Menschen
innewohnend zu
begreifen.
Was haben Körper
und Verhalten
gemein? In der Regel verstehen wir den
Umgang mit anderen als entweder normal
oder zu therapierende Fehlleistung. Dass der
Körper eines Verhaltensgestörten anormal
funktioniert, wird gern übersehen, wenn es
darum geht, diese Störungen in alltägliche,
die Existenz verbessernde Handlungen zu
ändern. Das ist nicht klug. Leicht kann sogar
der Laie den guten Sportler erkennen, den
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 150 [Seite 149 bis 156 ]
verkrampften Neurotiker. Ein disziplinierter
Berufssportler wird sich zudem keine Manie
erlauben. Er muss alltäglich funktionell
agieren. Daran sollte sich die Psychiatrie
orientieren, tut es aber nicht.
# Ein anderer Ansatz
Das schöne Leben der Gesunden? Sie gehen
ab wie die Raketen von Bazos. Schon in der
Schule starten welche durch, sind schöner.
Zu leben fällt ihnen scheinbar ganz leicht.
Das möchte ich auch; kann man’s lernen?
Wir könnten anders handeln. Wir könnten
auch anders behandeln, wüssten wir, Gefühle
aus dem intellektuellen Begriff hinaus zu
nehmen. Denn wenn ich zu jemanden sage,
er sei wohl ärgerlich,
ängstlich
oder neidisch,
wird allein diese
Zuweisung Zorn
hervorrufen.
Angenommen,
dem einen bedeutet
zu neiden eine
Gänsehaut und
anderen, dass sie
schwitzten, würde
es helfen, sie
wüssten davon.
Eine psychische
Erkrankung ist
schwer fassbar,
weil der Betroffene
Gefühle
nicht zuordnen
kann. Während
Psychopharmaka ihre emotionale Stabilität
zum Preis geistiger Beschränktheit bieten,
könnte ein besserer Ansatz die Intelligenz
der Kranken anregen. Wer mehr merkt,
handelt flexibel und wird konkurrenzfähig
mit denen, die er zu kopieren probiert, aber
scheitert, weil er nicht weiß, wie und wo er
sein System blockiert. Hier müsste die Psychiatrie
nicht demontiert werden, sondern
erweitert. In dramatischen Fällen ist der
moderne Apparat gut aufgestellt. Man hat
wirklich Erfahrung. Im Vergleich zum Grusel
damaliger Anstalten, wird in der Not auf
menschliche Weise mit guter Wirksamkeit
der Medikamente geholfen. Es fehlt vielmehr
daran, einzusehen, dass allein Leben
zu retten nicht genügt. Es muss lebenswert
sein. Niemand müsste anderen den Erfolg
neiden, könnte er handeln wie diese.
Wüssten wir, wo wir unbewusst hemmen,
könnten wir damit aufhören. Das ist schwieriger,
als etwas zu tun, denn wir müssten
etwas lassen, von dem wir nicht wissen, dass
wir es tun. Folgten wir dem Therapeuten, bewegten
wir uns weiter von uns weg. Wir sind
nun keinesfalls innovativer Unternehmensgründer.
Niemand schließt sich uns gern
an. Wir reißen andere nicht mit, sind dumpf
versteift und unsere Schwierigkeiten, angepasst
im Team zu funktionieren, werden fortdauern.
Wir sind nicht verrückt, immerhin,
aber zugedröhnt. Unter dem Medikament ist
der Behandelte noch weniger flexibel als
ohnehin. Therapiert, folgt ein Kranker dem
Arzt, bleibt an die Hand genommen, erkennt
seine hemmende Körperspannung
nicht,
kann sich sozial weiter
nicht behaupten.
Der erste Schritt hieße,
Emotionen daran
zu erkennen, was
sie – ganz individuell
– mit dem eigenen
Körper machen
oder dem Gesicht.
Erfolgreiche lernten,
dieses entweder als
individuelle Maske
in die Welt zu tragen
oder sind tatsächlich
offen. Normalgesund
zu leben, kann bedeuten
mitzulaufen oder
mutiger Gestalter
sein. Wir scheitern
dazwischen. Kranke zerren sich eine
Fratze und können das eigene Theaterspiel
nicht begreifen, als wüssten sie nicht, wo
die Bühne ihr Ende hat und persönliche
Intimität gefragt ist. Das Problem wird nicht
vom Psychiater gelöst, solange dieser nicht
sagen oder machen kann, dass sein Klient
fühlt, was er tut. Ein neuer Ansatz wäre
eine Benutzungsanleitung für Menschen zu
konzipieren, die der Patient quasi auf seine
eigene Festplatte, das Gehirn herunterlädt.
Neid beschreibt individuell und präzise, was
uns geschieht und krank macht, genauer als
Angst. Wir möchten etwas, können es nicht
bekommen. Angst hindert uns, aber das
Gefühl des Neides beinhaltet die persönliche
Note, zu sagen, was wir uns genau
wünschen. Das kombiniert Frust mit Furcht.
Wir halten uns zur nötigen Eigenleistung,
die wir aufbringen
müssten, Ziele zu erreichen,
nicht fähig und sind überfordert
Befriedigung zu erlangen.
Angst ist die Basis, aber Neid
ist persönlich. Manche möchten
Fußball spielen und andere
malen oder Musik machen. Wir
fürchten die, denen wir nicht
gewachsen sind, uns gegen
sie durchzusetzen auf einem
eigenen Weg. Ja, nicht einmal
genau zu wissen, wohin die
Reise geht, ist unser Problem.
Deswegen ist unklarer Neid
auf andere, denen zu leben
scheinbar leicht gelingt, der
Angst und Pudels Kern.
# In sehr seltenen Fällen
liegt das Herz auf der rechten
Seite des Brustkorbes.
Mediziner bezeichnen das Phänomen als
Dextrokardie. Häufig ist diese Anomalie
angeboren, manchmal sind alle Organe des
Körpers spiegelverkehrt angeordnet. Durch
Verletzungen oder Erkrankungen kann das
Herz aber auch erst im Laufe des Lebens
nach rechts verlagert werden. (Deutsche
Herzstiftung).
Die Organe sind in einer bestimmten Weise
im menschlichen Körper untergebracht.
In der Regel befindet sich das Herz links.
Die meisten Menschen sind Rechtshänder,
warum? Während vieles in unserer Existenz
mal so oder anders zu sein scheint, sind
diese Dinge recht konstant übereinstimmend:
Herz links, Rechtshändigkeit. Der
Anteil der Linkshänder in der Bevölkerung
scheint anzuwachsen, und möglicherweise
ernähren sich heute mehr Menschen
vegetarisch? Vielleicht wird es zukünftig
eine Operation geben, die unser Herz auf die
gegenüberliegende Seite bringt weil das für
manche besser wäre, die sonst mit falschem
Körper lebten, wer weiß? Jemand könnte es
behaupten und Follower finden.
Funktionelle Symmetrie hieße, mit rechts
wie links schreiben zu können, das Fahrrad
so- wie andersherum zu besteigen, ein
Telefon gleichermaßen am rechten wie
linken Ohr zu halten. Das würde bedeuten,
beim Warten auf den Bus zu gleichen Teilen
der Zeit, mal das linke bzw. rechte Bein als
„Standbein“ zu nutzen. Menschen, die darin
vollkommen wären, nach Belieben mit der
rechten oder linken Körperseite Handlungen
zu beginnen,
dürften
wir darin
bewundern
und möglicherweise
beneiden.
Das könnte
auch
unbewusst
geschehen.
Was würden
wir
neidisches
anstellen,
zunächst mit
dem eigenen
Körper?
Einer protzt
mit seinen
Muskeln,
stapft rum.
Jemand
drückt sich
verschämt
an der Wand
lang, kopiert
die Haltung
anderer,
tut so, als
ob. Manche
sind immer
auf der
Flucht. Für
alle diese
Kombinationen aus Angst und Neid, die wir
meinen zu benötigen, entwickeln Menschen
individuelle Muster, Spannungen in der
Muskulatur. Das Gehirn liefert die Vorgaben,
und der Körper setzt sie um. Psyche und
Physis werden nur in der Theorie getrennt
dargestellt. Einmal begriffen, kann die
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 151 [Seite 149 bis 156 ]
typische, aber falsche Denkweise „krank im
Kopf, im Körper normal“, umgekehrt und
effektiv zur Selbstbehandlung angewendet
werden. Bewusstheit ist besser als ein Arzt,
der uns Ratschläge erteilt. Ein System, dem
es möglich ist, eigenverantwortlich seine
Funktion mit dem gewünschten Verhalten
abzugleichen, handelt autark. Selbstkritik
und die Kontrolle, ob gewollte Einmischung
ins Ego zielführend ist, Vorbildern ähnlich
wird, diese sich überhaupt lohnen, nachgeahmt
zu werden, trennt Individualisten und
abnorme Menschen voneinander. Gesunder
Menschenverstand: Wir benötigen die Überprüfung,
ob es uns eigentlich nützt?
# Mehr als Kopfschmerzen
Es kann nicht bestritten werden, dass manche
Menschen diesem Ideal, falls es eines
ist, symmetrischer Selbstverwendung, nahe
kommen und andere weniger. Schneide ich
ein Blatt Papier heute mit der rechten Hand,
morgen nehme ich die Schere links, ohne
groß darauf zu achten; es könnte Menschen
geben, die das machten. Einen Anhaltspunkt,
ob jemand die Angewohnheit hat, Dinge
nur auf eine Weise zu tun, also nicht nur
Rechtshänder zu sein, sondern viele Dinge
sehr speziell ausführt, müsste sein Gesicht
zeigen. Zu individuell an Aufgaben heranzugehen,
kann nachteilig sein. Während wir
das Besondere bewundern, schauen wir auf
das Absonderliche herab. Das betrifft auch
das Gesicht unseres Gegenübers; symmetrische
Gesichtszüge werden von manchen
als vollkommen, schön empfunden, während
andere sich an geringen Abweichungen
erfreuen, die eine lebhafte Mimik bereichert.
Ein einseitiges, übertrieben schiefes Lächeln,
gewohnheitsmäßig hingezerrt, mögen die
wenigsten.
Das wurde zu meinem persönlichen Problem!
Ich sah mich dazu gezwungen, es zu
lösen, zumindest Besserung musste sein. Mir
fiel das mit den Jahren auf, und es hat mich
nicht nur
gestört, es
wurde zum
Gradmesser
für
emotionale
Probleme.
Wie
stark ich
zwanghaft
eine Gesichtsseite
zusammengezogen
halte, das kontrolliere ich heute oft. Dazu
helfen entsprechende Anwendungen, die ich
lernte, meine Bewusstheit zu schärfen. Durch
die Verbesserung, diese mehr als lästige
Angewohnheit abzumildern, sind nicht nur
extreme Kopfschmerzen zurückgegangen.
Ich möchte behaupten, dass gern gesagt
würde, Symmetrie sei langweilig, aber ausgeglichene
Selbstverwendung viele Leiden
bessern kann.
Für die Kopfschmerzen immerhin kann ich
einen Beleg anführen. (Für anderes auch,
möchte es aber an dieser Stelle nicht tun).
Ich bin seit der Jahrtausendwende verheiratet.
Während ich früher mit Freunden unterwegs
war, später mit der heutigen Ehefrau,
die Ostsee mit dem Boot zu erkunden, wurden
allmählich mit dem Auto angesteuerte
Urlaubsziele typisch. Nach jeder Anreise am
Ferienort verbrachte ich die folgende Nacht
mit heftiger Migräne. Das versaute noch
den ersten Urlaubstag, bis sich das Ganze
allmählich normalisierte, die Schmerzen
nachließen.
Das war auch beim Segeln passiert. Nach
dem harten Regattawochenende vielleicht
oder auf einer Sommerreise. Ich erinnere
eine anstrengende Episode über Nacht mit
unserem vergleichsweise winzigen Boot
ohne Motor. Wir entschlossen uns, von etwa
dem nördlichen Ausgang des kleinen Belts,
Strib, in einem Rutsch die Nordspitze Fünens
zu umsegeln. Es war ein schöner Tag mit
leichtem oder zunächst sogar mittleren
Wind. Das Wetter sollte schlecht werden,
sehr windig. Wir entschieden nördlich Korshavn,
einfach weiterzumachen.
Als wir Fünen dort
oben umsegelten,
wurde es dunkel – und
flau. In die beginnende
Nacht hinein tasteten
wir uns südlich in
den großen Belt.
Wir bändselten die
Petroleumlampe an
den Großbaum, wo sie
beständig schaukelte,
dass es schon Angst
machte, sie würde
deswegen verlöschen;
Feuerhand-Sturmkappe
geht nicht aus.
Gelegentlich zogen
wir die Karte zu Rate. Meine Nochnichtehefrau
besaß eine Taschenlampe. Wir kreuzten
schließlich gegen einen ganz leichten, südlichen
Wind unter Land in finsterster Nacht.
Einmal passierten wir überraschend eine
kleine Untiefentonne. Damit kannten wir
(enttäuscht, wie weit es noch zum Zielhafen
war) unsere Position und begriffen, dass wir
es nur knapp verfehlt hatten, mit ihr zu kollidieren!
Im Stockdunklen meinten wir, die
Bucht von Kerteminde anzusteuern, und das
war korrekt. Mit der beginnenden Morgendämmerung
erreichten wir die Molenköpfe.
Es war so flau, dass wir bis zum geeigneten
Liegeplatz paddelten. Wir machten fest, bauten
Persenning. Es wurde hell. Gegen sechs
Uhr morgens krochen wir in die Schlafsäcke,
um noch Erholung zu finden. Das Ganze war
nicht in dem Sinne körperlich anstrengend,
weil viel Wind uns zum sportlichen Segeln
nötigte, aber die angespannte Krabbelei in
der schmalen Jolle und die völlige Finsternis
im unbekannten Gewässer hatten an
unseren Nerven gezerrt und sicher auch in
den Gebeinen. Am Tag wachten wir gegen
Mittag auf. Die Sonne knallte geradezu vom
Himmel. Ein Oststurm nahm seinen Anfang,
bis zu sieben Beaufort wehten jetzt für
drei Tage durch. Wir blieben deswegen in
Kerteminde: So lang dauerte auch meine
anfänglich unerträglichste Migräne, die ich
bis dahin erlebte.
Dann Backnang, dorthin fahren wir regelmäßig.
Ich erinnere dieses bekannte Fußballdisaster
gegen Schweden. Das findet man
leicht bis heute im Internet.
# Es sah alles nach einem perfekten Tag für
die deutsche Nationalmannschaft aus. Vor
exakt (…) Jahren führte man am 16.10.2012
im Berliner Olympiastadion mit 4:0 gegen
Schweden und das
bereits nach 56
Minuten. Es schien
so, als hätte man
den Sieg sicher,
doch da hat man
die schwedische
Mannschaft um
Superstar Zlatan
Ibrahimović
unterschätzt. Das
DFB-Team legte
ab dem 4:0 den
Rückwärtsgang
ein und dadurch
bekamen sie dann
den ganzen Willen der Schweden zu spüren.
Nach den Toren von Ibrahimović (62.), Lustig
(64.) und Elmander (76.) hat man sich in der
93. Minute durch ein Tor von Elm wirklich
noch den Ausgleich eingefangen. Bitterer
Abend für Deutschland, doch es war der
Anfang einer Erfolgsgeschichte, denn bei
dem Spiel handelte sich um ein Qualifikationsspiel
für die Weltmeisterschaft 2014
in Brasilien – Ergebnis bekannt. (Webseite:
Fumsmagazin).
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 152 [Seite 149 bis 156 ]
Die fiesesten Kopfschmerzen, die ich an
diesem Abend und der folgenden Nacht
entwickelte, entsprachen denen von Kerteminde.
Ich erinnere mich so gut daran, weil
ich noch durch die Stadt gelaufen bin und in
einer Bar mit Sportbegeisterten ferngesehen
habe. Die Migräne hatte todsicher nichts
mit dem Versagen der Nationalmannschaft
zu tun. Aber bemerkenswert daran ist,
dass dieses bis dahin mehr als einmal pro
Jahr belastende Phänomen anschließend
zunächst schwächer wurde, schließlich nicht
mehr aufgetreten ist. Ich kann mich an keine
Attacke seit
vielen Jahren
erinnern. Moshe
Feldenkrais
und andere
publizierten
Ansätze, die
eine gute
Basis sind,
weitergedacht
zu werden:
Warum nur von
Kopfschmerzen
reden, von Rückenbeschwerden und psychische
Krankheiten woanders verordnen?
Ein Tabuthema mit diffusen Einschätzungen
und unzähligen Diagnosen aus der Ecke der
Quacksalber zu holen, bedeutet Fische in
Landtiere zu wandeln und gestaltet sich entsprechend
langwierig. Es ist aber möglich.
# Stress ist ein Wort für alle …
… bedeutet aber ganz individuelle Probleme
zu haben. Es ist wie mit der Intelligenz, was
soll das denn sein? Nur weil jeder ein Wort,
einen Begriff verwendet, heißt es nicht zu
verstehen. Wie
mit der Elektrizität
oder dem
Darknet, das
sind zunächst
Krücken für die
einfache Kommunikation.
Ich
weiß nicht, was
das ist: „Darknet“,
und von
der Elektrizität
habe ich in der
Schule gehört.
Strom kommt
aus der Steckdose,
ist meine
Erklärung. Ich
kaufe keine
illegalen Dinge
auf Plattformen,
die ich im Internet
nicht erreiche. Diese zunächst nichts
miteinander gemein habenden Dinge verdeutlichen,
dass es sich mit der Intelligenz
und dem Stress gleichermaßen verhält: Wir
erklären uns die Dinge weg, können über
etwas reden, müssen aber genau genommen
Unwissen eingestehen. Kopfschmerzen sind
der einfache Zugang, zu begreifen, dass
Stress die Ursache sein kann, wenn etwas
weh tut. Andere verbinden Stress mit Fressattacken
und haben keine Kopfschmerzen.
Insofern ist das ein dehnbarer Begriff, der
die Probleme zwischen Körper und Geist
individuell verhäkelt, aber kaum hilft, diese
zu lösen.
Psychische Belastungen werden für gewöhnlich
nicht mit Schmerzen in Verbindung
gebracht. Ein krankes Gehirn tut nicht weh.
Ist das das Knie lädiert, achten wir nur auf
die Mechanik. Manche wissen, dass sie ihre
orthopädischen Beschwerden dem Verhalten
zuzurechnen haben. Untrainiert einen Marathon
mitzumachen, wäre ein Beispiel, wo
Dummheit und psychische Egomanie sich
die Hand reichen mit dem Ergebnis eines
Meniskusschadens. Intelligenz ist ebenfalls
hilfreich, näher gedeutet zu werden, weil
diese dann undeutlicher wird, bei genauer
Betrachtung. Aus diesem Grunde wurde die
„emotionale Intelligenz“ als Begriff etabliert.
Das entspricht dem Paradox, von „positivem
Stress“ zu sprechen. Bald fallen
weitere Blödheiten auf, die „gefühlte
Temperatur“ ist ebenfalls
mit Vorsicht zu bewerten, was
ihre Aussagekraft betrifft. Ein
Stuhl ist einer, ein Auto kann
man fahren. Ein Gedächtnis
ist aber erst einmal nur ein
Wort, wie auch Beschleunigung
nur ein Begriff ist, den
wir nicht ohne ein Fahrzeug
verwenden können, das Gas
gibt oder ein Gehirn haben,
das sich erinnert. Eine Erinnerung kann
man nicht anfassen: Dinge und Begriffe
vermischen sich gern auf eine ungesunde
Weise des Halbwissens. Psychische
Krankheiten sind real, verursachen Leid, aber
die Behandlung der Patienten übersieht oft,
dass ein Gehirn den entsprechenden Körper
in die Psychose, Depression oder eine der
unzähligen anderen Störungen manövriert.
Der ganze Mensch entwickelt sich problematisch,
bevor eine psychische Störung
ihren Namen bekommt.
# Das Gehirn erkrankt nicht isoliert vom
Menschen
Die These hier ist, dass wir ein Bild der
Umgebung gewinnen und Anpassungen
kreieren, die unserem Naturell zu passen
scheinen. Dazu kommt, dass der Mensch
individuelle Lösungen anstrebt. Es wäre
sicher einfacher, wenn allen das Ziel, wo sie
eigentlich hin möchten klar wäre. Auf den
ersten Blick haben Tiere es dahingehend
besser, weil sie weniger spezielle Wünsche
entwickeln dürften als der Mensch. Sie werden
sich deswegen je nach Gattung gleich
bewegen, während Menschen etwa meinen,
das Haltungsmuster anderer nachzuahmen,
die ihnen imponieren. Tatsächlich wurde
Mobbing bei Gänsen schon von Konrad
Lorenz thematisiert. Könnten Tiere neidisch
sein und den Wunsch entwickeln, Artgenossen
zu imitieren? Es dürfte noch schwieriger
sein, das nachzuweisen und Belege dafür
anzuführen, als es dem Menschen als grundsätzliches,
sich auf die
Psyche auswirkendes
Problem zu postulieren
und überzeugend
darzulegen,
wie der Körper diese
Abnormen individuell
im Bewegungsmuster
abbildet. Ich glaube
fest daran, dass dies
der Fall ist. Ich vermute
eine eindeutige
Relation.
Je mehr ein Gehirn
dem zu leitenden
Menschen Anweisungen
gibt, seinem
System mittels der Muskulatur dauerhaft
ein Korsett zu formen, um unangenehmen
Gefühlen Ausdruck zu verleihen, nähert sich
dieser Organismus einer fatalen Entgleisung.
Beispiele: Die Rückmeldungen der Muskulatur
vom Körper an die Zentrale oben, es
sei nun gut, täte schon weh am Rücken, das
Becken weiterhin zu penetrieren um das
Gemächt wie präsentiert in Stellung zu bringen,
damit die anwesende Weiblichkeit es ja
mitbekomme oder umgekehrt bei der Frau,
das einengende Gefühl, es reiche, den Busen
verstecken zu wollen, indem die Schultern
vorgerollt würden, die Wirbelsäule zu krümmen,
kommen schließlich nicht mehr an. Wir
gewöhnen uns an unsere Muster. Einen Zug
in das Gesicht zu bringen, der gewohnheitsmäßig
nicht mehr weg geht, bedeutet, dem
gesamten Körper nicht unerhebliche Verwindungen
zu befehlen. Es gibt keine Reste,
insofern zieht ein Muskel am anderen – vom
Augenlied bis zum kleinen Zeh. Das ist eine
Maske für den Menschen, eine Rüstung, die
eigene Haltung; sie gibt uns das Gefühl ganz
individueller Kleidung, und wir gewöhnen
uns an die Einbildung, dass es Stärke sei.
Niemand mit einer ausgeprägt ungewöhnlichen
Haltung macht wirklich Eindruck
damit. Im Gegenteil, Menschen, die sich
leicht und symmetrisch bewegen, können
alles besser tun. Diese nehmen ihre Ängste
wahr, und die anderen verstecken sich, bis
ernsthafte Beschwerden auftreten. Es ist
falsch, den schmerzenden Rücken anders zu
interpretieren als eine Psychose, aber genau
das tut der Mensch.
Es geht wohl nicht an, zu behaupten, wer
schief lächle sei krank. Wer aber nicht anders
kann, als melancholisch oder einschleimend
andere anzugrinsen, könnte erfahren, wie
befreiend spontanes Lachen ist. Es scheint
nicht haltbar oder kausal darzulegen, wie
eine Asymmetrie krank oder gar psychisch
krank macht. Wer zwanghaft gestört unter
den selbstgeschaffenen Verhaltensweisen
leidet, die gerade ihm eingefallen sind,
kann neue Wege zu gehen lernen, körpereigene,
eingefleischte Muskelkontraktionen
erkennen und auflösen. Darzulegen, warum
alles mit dem Gefühl
des Neides zusammenhängt,
dürfte
schwierig werden.
Ein Versuch lohnt
dennoch. Zunächst
eine Anekdote; ich
erinnere eine kleine
Angeltour in Dänemark
und möchte
davon erzählen.
# Herr Doktor?
An anderer Stelle
war ich offen, einige
Probleme meines
Lebens zu verschrift-
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 153 [Seite 149 bis 156 ]
lichen. Das gehört nicht hierher, ich möchte
nur andeuten, etwas vom Thema zu verstehen,
ohne mich als Arzt zu legitimieren,
umgekehrt als Idioten zu outen, dem es um
die Anteilnahme in einer Selbsthilfegruppe
ginge. Mir geht es prima, ich bin kein Doktor
und erzähle gern! Als Kreativer ist zu denken
und kommunizieren mir eine Herzensangelegenheit.
Meine Ansicht, dass die Kindheit
und Jugend uns prägen, zu Gewohnheiten
führen, die möglicherweise krank machen, ist
bekannt. Ich halte wenig davon, psychische
Krankheiten auf Vererbung hin festlegen
zu wollen. Keine Veranlagung bindet so
fest, dass wir nicht, unterwegs auf eigenen
Wegen, von unserer individuellen Geschichte
verändert werden.
Gene, mit denen wir ins Leben starten,
haben Einfluss auf unser Verhalten. Ihre
Aktivität kann sich aber durch Emotionen in
Reflexion zur Umgebung ändern. Das Gute
daran, es auf diese Weise zu betrachten, ist
die Möglichkeit positiver Entwicklung. Die
statische Sicht auf die Welt und uns als Person
verselbständigt sich. Wir berauben uns
der Perspektive, uns noch ändern zu können.
Eltern wollen das Beste unbedingt. Gut
gedacht ist aber nicht immer gut gemacht.
Wir sollten einsehen, dass der Begriff
„Eltern“ zusammenfügt, was es so nicht gibt.
Es ist eine Abstraktion von Familie, Eltern,
den Erziehern oder Freunden zu sprechen,
verstempelt Individuen zur intellektuellen
Kombi. Die Liebe von Vater und Mutter zueinander
ist eine gleichermaßen dynamische
wie abstrakte Verbalisierung, die auch im
Begriff der Mutterliebe zum Kind nichts
weiter als einen zusätzlichen Ast wachsen
lässt, einen Arm dieser Konstruktion ausfährt,
der ein Kind bestenfalls trägt. Wie das
genau geschieht, ob es die Arme der Mutter
sind, die das Kind halten und schützen oder
es die Angewohnheit einer Familie ist, mit
Worten Trost zu geben, wenn es mal nicht so
gut läuft für einen Heranwachsenden, ist so
individuell, dass es sich verbietet zu urteilen,
wie es richtig gehöre zu lieben.
# Nun die erwähnte Geschichte mit unserem
Boot
Wir waren im kleinen Belt mit dem Delfin
unterwegs. Das muss Anfang der Achtziger
gewesen sein. Sämtliche Boote, die
mein Vater erwarb,
segelte, nannte er
gleich. Sie hießen,
wie man bekanntlich
die Weltenbummler
nennt; aber niemals
sprachen wir von
unserer Yacht als
„die“ Globetrotter,
entsprechend der
weiblichen, für
Schiffe bevorzugten
Anrede. Dieser Kielschwerter
mit der
Baunummer 32 war
der Nachfolger unseres Jollenkreuzers, den
meine Eltern nur wenige Jahre besaßen. „Der
Delf“ hatte die Abmessungen einer komfortablen
Kieljacht, ging aber nur gut einen
Meter tief, was sich auf der Elbe im Tidengewässer
auszahlt. Ich habe ein Foto aus dem
Jahr 1980 gefunden, das mich mit meinen
Eltern im Schlauchboot hinter Fænø vor der
Biegung in Richtung Middelfart zeigt.
Das kommt so ungefähr hin mit dem Ort
und der Zeit, in der ich die erzählenswerte
Begebenheit erlebte. Als Jugendlicher mit
vierzehn oder jedenfalls noch nicht siebzehn
Jahren, verbrachte ich die Sommer mit meinen
Eltern an Bord. Wir segelten etwa vier
Wochen, meistens auf der Ostsee. Zwischen
der erwähnten Insel und der Landzunge (auf
deren gegenüberliegenden Seite Middelfart
liegt), gibt es einen schmalen Wasserarm.
Bevor die Marina in eine nahe Bucht gebaut
wurde, war das bereits
ein beliebter Ankerplatz.
Es steht hoher Wald,
der gibt Schutz gegen
plötzlichen Wind über
Nacht, und es ist eine
Engstelle, an der typischerweise
keine Welle
steht, idyllisch.
Meine Eltern hatten als
Fischhändler in Wedel
auch außerhalb des
Berufs ein Faible für das
Angeln und selbst Zubereiten
ihres Lieblingstieres
aus dem Meer.
Wir schleppten am Bott
auf- bzw. abgewickelt
Sehne mit wirbelndem
Zugblinker nach,
fingen Hornhechte. Mein
Vater ließ das Schiff an
guter Tiefenlinie bei
Flaute treiben, und die
ganze Familie pilkte
auf Dorsch. „Hört auf!“,
mahnte meine Mutter,
„wer soll die alle essen?“
Sie erinnerte ihre tollen
Fischerslüd an begrenzte
Kapazitäten! Nicht
nur unsere Mägen, auch
der damals fehlende
Kühlschrank an Bord,
setzten dem Gemetzel schließlich ein Ende,
wenn wir das Cockpit wie im Rausch mit den
schönsten Fischen voll angelten. Mein Vater
Erich stellte (auf Anholt) Aalkörbe aus. Er
verlegte gelegentlich eine Reuse. Dazu verankerte
er diese mit dem kleinen Draggen
für das Beiboot, kennzeichnete die Stelle
mit einem Fender, der ihm als Boje geeignet
schien, um sie anderntags wiederzufinden.
Immer wieder brachen wir zum Fang auf. Wir
angelten vom Boot
und vom Strand aus.
Wir aßen mindestens
zweimal die Woche
Fisch, manchmal
auch mehr. Nur nicht
an Heiligabend.
Nach dem Schlachten
von vorbestellten
Karpfen, Schlei’
und Forellen in derartigen
Massen, wie
wir sie im Advent
verkauften, mochte
Weihnachten niemand noch dran denken.
Räucherlachs zum Frühstück an den Feiertagen
und ein winziges Glas mit echtem
russischen Kaviar, der ja quasi ein Vermögen
kostete, war erlaubt! Sylvester, obwohl auch
dann viel bestellt wurde, aßen wir durchaus
Karpfen mit den Gästen aus Blankenese.
Ich liebte diese geschlagene Sahne mit
Meerrettich dazu und die zerlassene Butter;
mag es heute noch. Oberhalb vom Maul
des Karpfens in seiner weichen Backe, dort,
wo das Fleisch gern rötlich ist und einen
ganz eigenen Geschmack anbietet, suchten
wir dieses kleine Fischlein aus Gräte, eine
winzige, knöcherne Platte, fast hauchdünnes
Porzellan …
Das sogenannte „Karpfenglück“ mussten wir
finden, um es über das Jahr im Portemonnaie
dabeizuhaben.
Wir konnten nie
genug kriegen,
auch im
Sommerurlaub
beim Segeln. Es
gab andauernd
Fisch. Mein
Lieblingsessen
war gebratener
Aal, und den
aßen wir sogar
einige Male im
Restaurant, dem
„Aalekrøn“ auf
der Insel Møn.
Normalerweise
gingen meine Eltern
in Dänemark
mit uns Kindern
nicht essen. Das
war hier teuer,
im Vergleich zu
den in Hamburg
gewohnten
Preisen. Meine
Mutter kochte
hervorragend,
auch an Bord, auf
dem praktischen,
zweiflammigen
Gasherd, der auf
der Backbordseite
gleich am
Niedergang
montiert war.
Die Stücke vom frischen Aal, den mein Vater
nach dem Fang etwa in Salz tot laufen ließ
(keine freundliche Methode), zuckten noch
beim Braten und hatten tatsächlich die Neigung,
aus der Pfanne springen zu wollen.
Ich war nicht tierlieb. Interessiert las ich die
beliebten Sachkinderbücher von Tessloffund
Bunter Kinder-Kosmos. Als ich zum
ersten Mal einen Flusskrebs abgebildet sah,
musste mein Vater sofort welche vom Markt
mitbringen, die wir wie Hummer kochten.
Diese genauso, sie kamen mit zusammengebundenen
Scheren lebend ins kochende
Wasser. Waren sie gar, hatten die Tiere ihre
rote Färbung, schmeckten köstlich mit
Majonäse. Wir hatten eine eigene Majonäsemaschine
im Laden; alles drehte sich um
Fische und Delikatessen in unserem Leben,
auch im Urlaub auf der Ostsee. Ich las Moby
Dick, und meine erste Reaktion auf den Walfang
war, ein Steak von diesem Riesentier
essen zu wollen wie Taschtego. Ich bekam
Thunfisch, immerhin.
In einem dieser Jahre ankerten wir an der
erwähnten Stelle. Mein Vater machte die
Angelruten klar, wir pumpten das Schlauchboot
auf. Nachdem die nötigen Vorbereitungen
getroffen waren, lösten Erich und
ich uns vom Dickschiff und pullten das
kleine Beiboot einige hundert Meter an eine
mutmaßlich günstige Stelle zum Fischen.
Es stand Strom, fast wie auf der Elbe. Das
ist im Kleinen Belt nicht ungewöhnlich. Wir
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verankerten uns in Landnähe zur dunkel
bewaldeten Insel, unweit eines anderen
Bötchens mit Jugendlichen. Mein Vater
bereute bald, derartig nahe zu den Jungs, die
ebenfalls angelten, seinen Fischereiplatz gewählt
zu haben. Aber man fing hier gut, wie
sich schnell zeigte. Wir pilkten glaube ich,
kann mich aber irren. Es waren andere Köder
vorrätig. Einige Male gingen wir nachts auf
die Suche nach Taumetten.
Es hätte schönes Angeln sein können an
diesem warmen Sommertag im Belt. Die
neben uns quatschten die ganze Zeit, dass
es nervte: „Angeln Sie gerne?“, wurden wir
wiederholt angepreit. Dabei zog der naseweise
Typ das Wort ge-äeerne in die Länge,
als käme er aus Barmbek oder Wilhelmsburg,
jedenfalls wo die Leute das Hamburgische
breit und einfach
sprechen.
Wir blieben mehr als
eine Nacht und Tag hier
vor Anker. Nachdem wir
die Angelei beendeten,
kam es noch dazu,
dass wir uns mit dem
Nebenlieger (von dem
diese Kinder gekommen
waren) zu Landgängen
verabredeten. In Middelfart
ist ein Supermarkt.
Einige wussten
den Weg durch den Wald
über die Landzunge.
Jugendliche in meinem
Alter zu treffen, kam
selten vor, oft trafen wir
ja auf dänische Besatzungen. Dieser penetrante
Frager aus dem anderen Schlauchboot
erwies sich bald als einfallsreicher
Spielkamerad. Wir verbrachten einige Tage
zusammen. Die Eltern vertrugen sich mit
meinen. Es kam dazu, sich über manches
auszutauschen, bis jedes Schiff eigene Wege
segelte. Diese Leute habe ich nie wieder
gesehen und keine detaillierte Erinnerung
daran. Aber einen Satz, eine Frage, der ich
mich zu stellen hatte, erinnere ich genau.
Das war dieser Junge, der mir ein wenig
frech und mutiger in Erinnerung ist. Ich
musste an „Joschi bummelt durch die Stadt“
denken, das wir im Deutschunterricht lasen;
und ich war nicht „Joschi“ bei dieser hier
nur gedachten Rollenbesetzung, sondern
das angepasste Kind, das den anderen nicht
begreift und ein wenig fürchtet.
„Warum ziehst du deinen Mund immer so
schief, wenn du mich ansiehst, du lachst so
komisch mit nur einer Seite?“, das hat der
mich gefragt.
Mir war es peinlich, unverständlich; ich
konnte es ihm nicht erklären, ja ich glaube,
ich begriff zum ersten Mal, dass ich hier von
der Normalität offensichtlich abwich und
zur schnellen Änderung jedenfalls unfähig
war. Der war dann trotzdem nett und
klug sowieso. Wir erdachten feine Sachen,
fanden einiges zu erkunden, dem Alter
damals gemäß, wenn man mit den Eltern
segelte und so zwischen zwölf und sechzehn
Jahren alt gewesen ist. Es gab kein Internet;
dass unsere Kindheit sich vergleichsweise
behütet in die Länge gezogen hat, war so
ungewöhnlich nicht.
# Linksgesichtig?
Ich zeichnete fleißig und ließ mich gern
dafür loben. Dass sich parallel eine Entwicklungsstörung
anbahnte,
wurde allgemein übersehen.
Als ich noch Jugendlicher war,
las ich in einer Zeitschrift über
„linksgesichtige“ Künstler.
Jemand hatte eine Arbeit
verfasst, die untersuchte, dass
einige Menschen bevorzugt
mit einer Gesichtshälfte aktiver
sind, diese Seite „interessanter“
strukturiert sei und wollte
belegen, bei gerade musischen,
künstlerischen Menschen wäre
es deren linke.
Als ich vor kurzem Ai Weiwei im Interview
sah, musste ich
wieder daran denken.
Der Chinese
zieht seine Augen
zu schmalsten
Schlitzen zusammen.
Trotzdem
schien es mir, als
kniffe er sein linkes
Auge noch mehr
zu als die andere
Seite, besonders,
weil das Licht
denken ließ, er
krampfe auch seine
linke Wange dem
Auge nach oben
entgegen, kürze
also gewohnheitsmäßig
die linke Gesichtshälfte.
Das ist genau wie ich’s mache
und schmerzhaft bewusst. Der hat das auch,
überlegte ich.
Nicht schwer, den berühmten Kollegen zu
googeln. Sein Gesicht erscheint ganz glatt
und doch sehr gleichmäßig. Man muss einige
Aufnahmen ansehen, um zu verstehen,
dass ich mich nicht täuschte. Ich machte
eine kleine Zeichnung mit Kugelschreiber
und finde die gut gelungen. Dabei habe ich
auf seine Mundwinkel geachtet und überlegt,
was mir an dem Mann unsympathisch
ist. Ich empfinde so eine unbeschreibliche
Mischung aus Überheblichkeit, fast weibischer
Schnippigkeit und gekränkter Eitelkeit
in den dünnen Spitzen der Linie, ganz außen
zwischen den Lippen. Das mag davon herrühren,
wie viel Unbill dieser Mann erfahren
hat.
Nun ging ich dran, interessehalber die alte
Studie meiner Jugendzeit in irgendeiner
Form zu finden, gab den Begriff „linksgesichtig“
ein; es
erschien beinahe
gar nichts. Ich
fand ein Dokument
für den
Unterricht an
einer Uni herausgegeben.
Dort
geht es um die
Übersetzung einer
geschichtlichen
Sprache.
Ich zitiere daraus.
#
Das K’iche’ kennt
zusammengesetzte
Verben, die
allerdings nur mit
wenigen Verbstämmen
belegt und
oft nicht eindeutig
analysierbar sind.
Hierzu gehören
insbesondere Ableitungen
von dem
bedeutungsmäßig
schwer fassbaren,
von wach »Gesicht« abgeleiteten Verbstamm
wachi-j »etwas oder jemanden ein Gesicht
geben«, das u. a. »Frucht oder Blüten tragen
(von Pflanzen)« bedeuten kann. Ein vorangestelltes
Nomen oder Adjektiv bestimmt
das Verb adverbial, d. h. es gibt die Art und
Weise der Handlung an: moywachi-j »blind
machen, d. h. betrügen« oder winaqwachi-j
»etwas menschengestaltig machen«. Einige
Zusammensetzungen sind idiomatisch:
q’aq’wachi-j »eifersüchtig (wörtl. feuergesichtig)
machen« oder moxwachi-j »neidisch
(wörtl. linksgesichtig) machen«
Der Publizist ist Michael Dürr, mir unbekannt
wie sein Aufsatz.
Das Interessante ist, dass jemanden „neidisch
zu machen“ hier gleichgesetzt ist mit
dem ungewöhnlichen Begriff. Etwas Rechtes
zu tun, ist eine bekannte Formulierung und
was eine linke Type ist, bedeutet gemeinhin
nichts Gutes, warum? Ein bisschen zu spinnen,
kann nützlich sein. Einmal angenommen,
es kommt nicht von ungefähr, dass so
viele Rechtshänder sind oder wir das Herz
mehrheitlich links haben? Einiges ist unabänderlich
wie die Kindsgeburt durch die
Frau. So dürften sich in mancher Formulierung
Wahrheiten verbergen, die gern einmal
neu betrachtet werden sollten.
Hier ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen
in der Welt. Neidisch zu sein, kann
Antrieb werden, Ziele anzustreben und adelt
schließlich das Negative an diesem Gefühl.
Manche hätten mit dem Tennisschläger der
Eltern Banjo oder Gitarre nachgeahmt als
Kind, meinte Addi Münster – ein in unserer
Stadt sich dem traditionellen Jazz verdient
gemachter Posaunist – einmal, bevor sie ein
echtes Instrument bekamen.
Sich etwas abzuschauen, das machen
welche, die später Künstler sind. Nun reden
wir da nicht von Neid. Vielleicht sollten wir
es so sehen? Das ist
ja nur ein Wort. Eine
nagende Sehnsucht, das
wäre so eine leidende
Sache, ein Schmachten
mit neidvollen Zügen?
Wenn wir das Gefühl
anschaulicher machten,
dürften sich einige in
ihrer Migräne wiederfinden
(die sie nach
einer übertriebenen
Bestleistung plagt). Das
heißt wohl nicht, dass
jemand, der sich links
(oder möglicherweise
rechts) zusammenzieht,
nun zwingend psychisch
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 155 [Seite 149 bis 156 ]
krank wird? Wir könnten Psyche und Physis
mit gutem Ergebnis in unseren Theorien
verbinden und lernen, über den Tellerrand zu
schauen. Ich habe mich auf die Suche nach
anderen gemacht und Christo gefunden, der
ebenfalls seinen linken Mundwinkel hochzieht.
Bei dem ist kurioserweise das Auge
auf dieser Seite offener. Es wird schwierig,
eine entsprechende These zu belegen, wenn
man naiv drauflos Gesichter googelt.
# Liebe im Spiegel
Unbedingt musste noch eine Zeichnung von
Christo mit Jeanne-Claude zusammen in diese
Geschichte hinein. Sie ist, was den Mund
betrifft, sein spiegelbildliches Gegenstück
gewesen. Schauten die beiden einander an,
werden sie jeweils ihre eigene Asymmetrie
erkannt haben – wie im Spiegel. Dieses Paar
nahm vermutlich vom jeweils anderen an,
das Gegenüber machte es wie sie selbst?
Wir anderen hingegen, die beide nebeneinander
betrachten, können schnell bemerken,
dass Christo seinen linken Mundwinkel
hochgezogen hielt und Jeanne-Claude ihren
rechten.
Claus Kleber, den bekannten Nachrichtensprecher,
werden einige asymmetrisch
erinnern, aber mit viel Charisma. Und Christo
als Neidhammel zu betrachten, würde
niemandem einfallen. Dass aber die Mimik,
und bei Kleber gut zu sehen, der ganze
Körper gewohnheitsmäßig verzogen durchs
Leben getragen werden, ist nicht selten. Als
ein Beispiel für den effektiven, symmetrisch
geformten Sportler mit bester Selbstausnutzung
der Muskulatur kommt mir Manuel
Neuer in den Sinn.
Es gibt da einen alten Witz.
Diese Zote aus dem vorigen Jahrhundert
wollte sicher mehr als unterhalten. Das
ist ganz nebenbei eine Geschichte, die so
wunderbar illustriert, wie sich jemand buchstäblich
anpasst, ja verbiegt bis zum geht
nicht mehr. Gut möglich, dass der antiquierte
Kalauer heute anstößig wirkt und sich welche
dran stören?
Man dürfte, passte man
sich Idioten an, nichts
mehr sagen, schreiben.
Ein Mann lässt sich einen
Anzug schneidern, kauft
also nicht von der Stange,
geht zum Spezialisten.
Der ist tatsächlich einer;
aber kein Könner mit der
Nadel: Dieser Schneider
verkauft sich gut. Der
neue Anzug, das zeigt
sich bei der Anprobe,
sitzt schlecht. Der
Kunde – sein Naturell
ist das des Zaghaften,
der sich überzeugen
lässt, obschon ihm dabei
unwohl ist – der Mann
beginnt, einiges am neuen
Kleidungsstück, vorsichtig wohlgemerkt,
zu monieren. Der Ärmel, hier links, sei doch
wohl kürzer? Da stimme offenbar etwas
(noch) nicht, meint der Enttäuschte.
„Sie müssten sich ein wenig beugen, ja
genau so, hier“, der Schneider fasst vorsichtig
den Ellenbogen des Irritierten, „den Arm
leicht winkeln und die Schulter hängen
lassen, dann sieht es gleich viel besser
aus“, beginnt er gekonnt, seine Fehler dem
Kunden anzunähen.
„Die Hose sackt mir von den Hüften“, klagt
der Betrogene nun. „Das kommt Ihnen nur
so vor“, schmeichelt der Nähfritze, um gleich
einen Rat zu geben, wie das Problem zu
beheben sei. Der
Mann müsse voll
einatmen, die Luft
anhalten! Da sei der
Bauch gewölbt und
die Hose halte Platz.
Gute und reichliche
Mahlzeiten täten
ihr übriges, und der
Meister empfiehlt
jetzt ein Restaurant.
Nicht unwahrscheinlich,
dass er
den Wirt kennt?
Der einfallsreiche
Schneidersmann,
weiter frech:
„Darf ich?“, öffnet
ungeniert die Gürtelschnalle, reißt das Ende
beherzt um gleich zwei Löcher fester. „So!“,
meint der Schlaue, jetzt halte die Hose doch.
Das gute Wirtshaus mit dem fetten Essen
wäre eben um die Ecke, lockt er (charmant
feixend) – und beschreibt den Weg.
Ein Hosenbein schiene ihm kürzer, dasselbe
Problem wie beim Arm, findet der Kunde,
hin- und hergerissen, die Weisungen anzunehmen
oder Korrekturen zu verlangen. „Und
dieselbe Lösung“, belehrt ihn der Schneider.
Er folgt seiner Logik, das verschnittene Ding
in jedem Fall „an den Mann zu bringen“, gibt
Tipps, der Käufer solle sich hier ein wenig
sacken lassen, dort das Becken drehen und
so fort. „Winkeln Sie ihr Bein am Knie, stupsen
Sie beim Gehen nur kurz die Fußspitze
auf den Boden, während Sie auf der anderen
Seite mehr mit der
Hacke auftreten. Das
kann man auch üben“,
gibt der Fadenfuchser
listig zum Besten
– und schiebt den
Kunden in Richtung
Ladenkasse …
„Heben Sie den linken
Fuß einfach immer
ein wenig an!“
Er hat Erfolg damit,
tatsächlich, der Mann
bezahlt und verlässt
das Geschäft!
An dieser Stelle wechselt der Witz die Erzählperspektive.
Zwei neue Personen werden
in die Geschichte eingeführt. Man wartet
zufällig gemeinsam an einer Fußgängerampel.
Raunt der eine dem anderen zu:
„Sieh mal, dieser Mann dort.“
„Der scheint behindert zu sein, der Arme.“
„Wie schief dieser Krüppel dasteht, oh weh.“
„Aber einen tollen
Schneider hat er!“
„Sein Anzug, unglaublich
(!)
– sitzt wie angegossen
…“
# Kein Frieden
Manche verbiegen sich,
andere bleiben sich
treu? Das Recht wird
von denen, die meinen,
es in ihren Händen zu
halten, verbogen, das
habe ich erlebt. Druck
auszuüben, kommt
nicht selten als böser Schlag zurück. Eine
federnde Metallstange, oder ein krummer
Prügel, gar ein Bumerang, der wiederkehrend
den Werfer am Hinterkopf trifft. Geschäfte
mit der Macht, Neid hat viele Gesichter,
Eifersucht ist eines davon. Der schwarze
Peter geht von einem zum nächsten. Es fühlt
sich besser an, selbst zu bestimmen, als
abgestempelt in die Ecke zu müssen.
Wir Menschen möchten uns frei bewegen.
Ich bin überzeugt, dass es nur schwer
möglich wäre, auszuloten, was genau das
individuelle Muster anderer ist. Aber jeder
kann lernen, Spannungen wahrzunehmen,
wenn ihm gelehrt würde (am Besten bereits
in der Schule), wie das geht. Wer den Mundwinkel
hochzieht, gewinnt erst Sympathien,
wenn so viel menschliche Reife erreicht
wurde, dass daraus eine individuelle Nuance
geworden ist. Als Jugendlicher die anderen
zu beneiden, kann später eine unbemerkte
Altlast im eigenen Verhalten sein. Bei sich
selbst anzufangen, kann heißen, andere
entschieden zurück weisen zu müssen – und
Träume aufzugeben. Aus Erfahrung weiß ich,
wie viel man sich verbaut, bis es schließlich
gelingt, einen gordischen Knoten zu
zerschlagen.
:)
Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg
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