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Blog 2021

Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 3. Januar bis 22. Dezember 2021


Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de

# Seite

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

30, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 3. Januar bis zum 22. Dezember 2021

2

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh

4

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England

7

Jan ........................................................................................................................................................................................................................

21, 2021 - Du und ich

10

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2021 - Ein kalter Wind weht

12

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

13, 2021 - Weißer Winter, rosa Rauch

15

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte

16

Feb ........................................................................................................................................................................................................................

27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt

20

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2021 - Krieg zuhause ist nur doof

25

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

4, 2021 - Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten

26

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

4, 2021 - Selbstwirksamkeit

27

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

8, 2021 -„Mama, mir ist langweilig.“

29

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

14, 2021 - Die Firma

31

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2021 - Der harte Knochen

32

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

27, 2021 - Die neue Freiheit

35

Mrz ........................................................................................................................................................................................................................

28, 2021 - Für immer geimpft

36

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2021 - Einfach aufgehört

37

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2021 - Weil Hoffnung ändert

41

Apr ........................................................................................................................................................................................................................

15, 2021 - Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick

48

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

9, 2021 - Girlande der Schande

49

Mai ........................................................................................................................................................................................................................

28, 2021 - Meine kleine Freiheit

52

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

19, 2021 - Fertig.

57

Jun ........................................................................................................................................................................................................................

26, 2021 -„Selfexecuties“

59

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh

63

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2021 - Man muss zurückschauen können

65

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich

67

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

17, 2021 - Wir sterben und wissen es

69

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert

71

Jul ........................................................................................................................................................................................................................

29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel

75

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

3, 2021 - Heilige Scheiße

80

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

6, 2021 - Das Wundermittel

82

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt?

84

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

26, 2021 - Kurze Arbeit

95

Aug ........................................................................................................................................................................................................................

30, 2021 - Frisch gestrichen!

96

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2021 - Leben wie gemalt

97

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

16, 2021 - Zu spät für dich

100

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

19, 2021 - Unter- und oberflächlich

104

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

24, 2021 - Gegensätze

107

Sep ........................................................................................................................................................................................................................

28, 2021 - Was einfach geht

110

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf

111

Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 3 ]


Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de

# Seite

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2021 - Das ist nicht komisch

115

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

20, 2021 - Ganz einfach!

117

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

22, 2021 - Blankenese

119

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

25, 2021 - Gretabedingt

120

Okt ........................................................................................................................................................................................................................

29, 2021 - Merkur

124

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2021 - I Cover the Waterfront

127

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

7, 2021 - Der Egoist

130

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

10, 2021 - Jungfrau

131

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

13, 2021 - Nur ein Traum

132

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

18, 2021 - Volkstrauertag

135

Nov ........................................................................................................................................................................................................................

22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch

138

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

2, 2021 - Musterklage

140

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

5, 2021 - Das Problem

144

Dez ........................................................................................................................................................................................................................

15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal

147

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend

149

Blogtexte 2021 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 3 [Seite 2 bis 3 ]


Die Wellen vor Edinburgh

Jan 3, 2021

Sie segelten im Sturm nach Edinburgh, duzten

die Nordseewellen. Echte Männer wissen

Bescheid. Eine alte Geschichte, die es wert

ist, aufgeschrieben und erzählt zu werden.

Die grünen Nordseewellen trecken an den

Strand, und Guido Westerwelle, der ist schwul

– igitt?

# Ich bin der digitale Patient und ein Spinner!

Erfahrungen brennen sich ein. Kein Ratgeber

leistet so viel, wie eine eigene Situation im

Leben, in der wir etwas begreifen. Wer nackt

ist, dem kann niemand die Hose runterziehen.

Nach dieser Logik outen sich Menschen. Die

sexuelle Ausrichtung kann verborgen gelebt

werden, und manche ziehen es vor, auch weil

es möglich ist. Wer nicht der vermeintlichen

Normalität entspricht, kann angefeindet werden.

Wir haben zum einen Menschen, die alles

dafür tun, eine perfekte Darstellung von

sich in der Öffentlichkeit abzubilden und andere,

denen das nicht gelingt und welche die

es nicht möchten. Wem daran liegt ein Ego

auszubilden, Ängste zu beherrschen, anstelle

sich davon einengen zu lassen, wird den

letztgenannten Weg bevorzugen.

Wenn ich in Deutschland als erkennbarer

Ausländer eine Wohnung suche, mag das tatsächlich

schwerer sein. Wenn ich einen Hund

oder anderes Haustier besitze, eventuell Musiker

bin und den anderen stundenlanges Gedudel

in unmittelbarer Nachbarschaft droht,

ist es für den Vermieter ein Grund, diesen

Mieter abzulehnen. Unabhängig davon, ob es

als Begründung genannt wird oder nicht. Ein

Betrieb kann von seinem Hausrecht Gebrauch

machen. Aktuell wird diskutiert, ob eine Fluglinie

nur Corona-Geimpfte und Menschen mit

einem negativen Testergebnis befördern

darf? Das sei eine Impfpflicht durch die Hintertür.

An der Grenze zu Schweden wurden

mehrere hundert Deutsche abgewiesen, sie

waren über Dänemark unterwegs und hatten

probiert, das der Pandemie geschuldete

Einreiseverbot zu umgehen, mutmaßlich für

einen Urlaub? Die kleine Aufzählung mag

nützen, unsere menschliche Realität vom

Ausnutzen der Regeln, ihre Übertretung und

die Gegenbewegung der Abgrenzung zu illustrieren.

Ein Überblick, persönlichen Erfahrungen

zum Thema vorangestellt.

Warum outen sich Homosexuelle?

Warum überhaupt lieben Männer

nicht einfach Frauen, wie es sich

gehört, mag mancher denken,

auch heute noch. Wir arbeiten

daran, die bestmögliche und gerechteste

Welt überhaupt zu erschaffen

und sind damit bislang

nicht fertig geworden. Die Norm,

das was gewöhnlich ist, die größte

Menge die wir als Gruppe definieren

können, sie hat sich gerade

nicht eine individuelle Qualität

geschaffen, und nur zu oft bildet

sich ein normaler Mensch ein,

ein besserer zu sein, weil er wie

alle ist. Normalität ist nur dann

eine Leistung, wenn es schwierig

ist, hinzubekommen was normalerweise

alle können. Ein Amputierter

kann nicht normal laufen.

Ein psychisch Kranker kann nicht

normal handeln. Niemand ist absichtlich einbeinig

oder geistig bescheuert oder schwul.

Wo es nicht um Können oder Leistung geht,

muss der Mensch begreifen, wie vielschichtig

die Bedürfnisse sind, die unser Leben prägen

und nicht selten die Basis dessen werden,

was jemand bereit ist zu leisten oder gut

kann und schließlich zum Beruf wählt, sein

Ego darauf aufbaut. Wir Normalen sollten

zuallererst annehmen, das Homosexuelle

Bedürfnisse haben, genauso wie die breite

Masse, aber individuell anders ausgerichtet.

Ein Wunsch, ein Bedürfnis, eine Lust: Das sind

weder Krankheiten noch Leistungen oder

Regelbrüche, die unter Strafe stehen sollten.

Das scheint für die Gesellschaft ein nicht endendes

Lernfeld zu sein. Homosexualität war

verboten, sie galt als krank. Für diejenigen,

denen diese Liebesform eigen ist, ist der Weg

angefeindet zu werden und standzuhalten

auch heutzutage nicht zu Ende.

Homosexuelle können auf Unterstützung

hoffen. Auch andere Unterdrückte machen

mobil. Die Black Lives Matter Bewegung ist

eine Anstrengung, sich zu solidarisieren. Die

Sowjetunion hat ihr Ende gefunden wie Nazideutschland:

Ein sozialer Verbund wird sich

als Gegenbewegung jeder Unterdrückung

finden, wenn die ausgegrenzten Menschen

gemeinsame Ziele haben, die nachvollziehbar

menschlich sind.

# Was ist Menschlichkeit?

Das Maß geforderter Gnade, die Größe unseres

Verständnisses für andere, hat sich mit

den Jahren seit der Kreuzigung Jesu gewandelt.

Sich zur Wehr zu setzen, bedeutet, das

andere einen Angreifer erkennen können,

und wenn das der Fall ist, muss dieser sich

verantworten. Es kann keine Solidarität geben,

allenfalls Mitläufer, wenn Menschen andere

angreifen und die Motivation, sich breit

zu machen, Lustgewinn und Machtzuwachs

am Beginn einer Attacke stehen. So werden

Täter- und Opferrolle definiert. Aus diesem

Grund wird jede Unterdrückung nach einiger

Zeit zur Gegenbewegung führen, die dem

Unterdrücker zusetzt. Es sei denn, derjenige

bricht seinen Gefangenen emotional insgesamt.

Im Einzelfall gelingt es, und im Falle

des Holocaust im vielfachen Einzelfall mit

tödlichem Ausgang. So wird es in der Schule

gelehrt. Alle Juden, alle Homosexuellen,

alle Schwarzen, alle unterdrückten Frauen in

Beziehungen, wo sie der Gewalt ihrer Männer

ausgesetzt sind: Eine lange Liste kann

fortgeführt und verlängert werden, um die

bekannten Strukturen von Ausgrenzung und

entsprechender Gegenbewegung aufzuzählen.

Was müssen Menschen, die ausgegrenzt und

angegriffen werden, als Merkmal haben, damit

jemand Mittäter findet? Den Juden warf

man vor, unberechtigt zuviel Geld und Besitz

an sich gezogen zu haben, in einem Terrain

das nicht ihres sei. Den Schwarzen in den

USA, was wird denen vorgeworfen, die Hautfarbe?

Homosexualität gilt anderen als krank,

das mag davon herrühren, das Heteros sich’s

nicht vorstellen können, auf diese Weise zu

lieben, aber die Bedrohung, die von dieser

Krankheit ausgehen könne, lässt sich nicht

nachvollziehbar formulieren. Welche Bedrohung

für ihren Peiniger geht von einer misshandelten

Frau in der Ehe aus –

Wer ist Täter und wer Opfer? In einer eindeutig

übergriffigen Konstellation von Machtmissbrauch,

der viele direkt empört, werden

Bedrängte sich sozialisieren. Was, wenn es

weniger eindeutig ist? Das ist die Frage, in

welchem Zeitalter der Menschheit wir uns

befinden, welcher Umgebung wir ausgesetzt

sind. Im Mittelalter wurden Frauen, denen

man nachweisen konnte, eine Hexe zu sein,

verbrannt. Diesen Frauen konnte die ihnen

innewohnende Gefährlichkeit so überzeugend

vorgeworfen werden, wie heute etwa

einem fliehenden Attentäter nach seiner Tat.

Den darf die Polizei erschießen, obgleich wir

keine Todesstrafe im Gesetz kennen.

Unsere Zivilisation hat sich entwickelt. Eine

Nachbarin zur Hexe zu erklären, genügt heute

nicht, sie kollektiv zu verbrennen. Ein Irrer,

der wahllos Menschen angegriffen, bereits

getötet hat, da muss es erlaubt bleiben, ihn

auf seiner Flucht wegzuballern, meinen einige.

„Die Krim? Das war doch immer unser“,

antwortet mir eine liebe Bekannte auf die

Frage nach der Rechtmäßigkeit der Annexion

durch Putin. Fazit: Jede Zeit bringt Gewalt

hervor, die breite Unterstützung findet. Wir

können begrüßen, eine Verbesserung in Richtung

auf eine friedlichere Welt bemerken zu

können. Wir werden die Aggression an sich

nicht abschaffen, können sie unserer Zeit gemäß

lenken, mehr nicht.

Sogar Tiere mobben, wer im Rudel unerwünscht

ist, bekommt das zu spüren. Menschen,

die psychisch erkranken, scheinen

gerade unseren Schutz zu benötigen, und

da entsteht eine verzwickte Situation. Wird

ein Verrückter auch mal gefährlich, hat er

das Böse des Psychopathen in sich, gibt es

Anhaltspunkte dafür in seiner Vergangenheit,

können wir’s rausfinden? Könnte er eine

Gefahr für unsere Töchter sein …? Das treibt

die, die sich berufen fühlen, für Sicherheit

und Ordnung zu sorgen, um. Sie können auf

die Unterstützung einiger hoffen. Gesunde

fürchten sich vor psychisch Kranken, und sie

können nicht so unkompliziert ausgegrenzt

werden, wie etwa der dunkelhäutige Nachbar?

Einen „Spinner“ loszuwerden, das kann

das Ziel meiner Nachbarn sein, wenn ich ihnen

als solcher gelte.

# Ich habe es oft erzählt

Mir gefällt meine Vergangenheit, weil sie für

das Heute lehrreich ist. Meine eigenen Phasen

psychischer Ausfälle, heftige Schübe mit

komplettem Realitätsverlust und erzwungenen,

mehrwöchigen Aufenthalten in einer

Klinik, begannen, nachdem ich in den Neun-

Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 4 [Seite 4 bis 6 ]


zigern mein Grafik-Studium abgeschlossen

hatte. Ich schaffte keine zwei Jahre, gesund

zu bleiben und wurde etwa vier oder fünf

Mal schubweise so heftig krank, dass ich zu

einer Behandlung gezwungen war. Etwa ab

der Jahrtausendwende, nachdem meine Frau

und ich geheiratet haben, trat eine deutliche

Besserung ein. Im Gespann mit dem Arzt und

sozial integriert fand ich eine Normalität „neben“

den anderen.

Die Segelfreunde blieben mir von

Beginn. Ich fand es einfach, mich zu

erklären. Man kennt mich an der Elbe,

wo jeder jeden kennt, der Regatten

segelt oder sonstwie am Wochenende

nach Stade, Glückstadt oder einen der

anderen schönen Häfen aufbricht, oft

zusammen mit mehreren Booten. Was

von mir zu erwarten sei, wie ich mich

auf den Regatten verhalte, ob ich mit

dem Boot umgehen könne und ein

Guter wäre oder nicht, das hatte ich

bereits mehr als zehn Jahre unter

Beweis gestellt. Dass ich so bliebe,

wie sie mich kannten und mochten,

schien außer Frage, und soviel wissen

ja auch nicht immer alle gleich gut. Fazit,

ich behielt meine Freunde, blieb sozial integriert,

und das gelingt einigen, die mit dem

Psychiater Bekanntschaft machen, nicht. Das

war meine Vorstellung vom outen. Es gelang

ihnen wie nebenbei zu erzählen, wie’s mir ergangen

ist.

# Ich habe immer gern geredet, hatte kein

Problem damit

Die Probleme gab es nicht in Bahrenfeld,

wohin wir zogen, als Wedel oder Kiel nicht

in Frage kamen. Schwierig wurde es erst in

Schenefeld, wo ich seit knapp zwanzig Jahren

mit meiner Familie zu Hause bin. Mit dem

Beginn meiner Malerei kam es unweigerlich

zu Ausstellungen und einer bescheidenen

Bekanntheit, anders jedenfalls, als es die Illustration

gewesen war. Das ist nur ein Beruf.

Segeln ist kein Beruf, und „mit Johnny am

Wochenende unterwegs sein“, da hatte sich

für meine Freunde scheinbar nichts geändert.

Tatsächlich habe ich mich geändert, wie

mutmaßlich die anderen auch. Viele bemerken

ihre eigene Entwicklung nicht, so normal

kommt ihnen alles vor. Aber: „Ich bin so

geworden“, beschrieb mir einmal ein Freund

seinen eigenen Charakter heute und grenzte

sich damit klar ab von der Idee, man sei, wie

man eben ist. Ich jedenfalls war unzufrieden

mit mir und meiner Vergangenheit und habe

allen Grund dazu. Während die anderen in

guten Jahren bundesdeutschen Wohlstands

sich entwickelten, lahmte ich quasi auf einem

Bein hinter allen hintendran. Meine Freunde

fanden, während wir erwachsen wurden, zu

drei vier oder fünf kurzlebigen Beziehungen,

bis sie heirateten. Sie wählten ihre Partnerin

und trennten sich, wenn’s nicht lief.

Mir blieb diese Wahl nicht; ein Problem des

Bescheuerten ist ja, dass er es von sich nicht

annimmt, einer zu sein. Narren fühlen nicht,

und um selbstbewusst zu sein, müssen wir

etwas merken. Erst die Krankheit, dann die

Pillen, da merkst du nix. Und der Arzt findet

das auch ganz richtig, warum? Wer merkt,

dass er sich selbst verarscht, flippt gern mal

aus … aktuell der arme Michel Wendler, das

denke ich jedenfalls. Eine arme Sau, aber er

tut ja einiges, um sich weitere Spötter ranzuzüchten.

Ich war anders: brav.

Meine lieben Freunde, sie stiegen beruflich

auf, machten ein gutes Jahresgehalt

und zeigten vor, was ihnen gelungen ist. Ich

musste mir meine Vergangenheit, die zwar

zunehmend in den Hintergrund getreten ist,

je selbstverständlicher schließlich auch meine

Gegenwart wurde, schön reden. Worin besteht

der Unterschied? Das begann ich mich

dann doch zu fragen.

Das Normalgesunde bedeutet sich zu nehmen

was geht und andere verbal zu maßregeln

dafür, Regeln nicht einzuhalten. Man

nennt es fälschlich Selbstbewusstsein. Das

konnte ich nicht. Als Illustration ein kurzes

Zitat aus den Nachrichten (es ist nicht die

Politik, die etwa versagt in der Krise).

# „Es bricht alles zusammen – trotz Corona-

Lockdown: Ansturm auf verschneite Bergregionen.

Der Ansturm auf Harz, Sauerland und

Feldberg ist allen Corona-Einschränkungen

zum Trotz riesig. Die Massen tummeln sich

auf den Pisten. Teilweise herrscht Chaos. Alle

Bitten um Verzicht nützten wenig: Im Harz

und anderen verschneiten Berggebieten

waren die Parkplätze am Samstag vielerorts

schon am Morgen voll.“ (02.01.2021, 17:31

Uhr | dpa).

Im Versuch, mehr wie die anderen zu werden,

zu begreifen was der Grund dafür sei weshalb

mein Verstand erkrankte, musste ich dazulernen.

Ich musste lernen, was andere mit

dem Beginn ihres Lebens als Erwachsener

gelernt hatten oder direkt danach. Ich lernte

es später, und nicht einmal der Arzt, als ausgebildeter

Psycho-Fachmann, war dabei eine

nennenswerte Hilfe. Dem Psychiater genügt

zu plaudern, Medikamente zu verschreiben,

und mir genügte das nicht. Mein Selbstbewusstsein,

zunächst ein kleines Pflänzchen,

wurde zu einem Unkraut, das nicht zu kontrollieren

war. Ein neues Problem. Ein böses,

um sich greifendes Gewächs im Wald der

Schenefelder Eichen und Buchen, festverwurzelte

Stämme seit Jahrtausenden.

Zunächst war ich, was meine früheren Erkrankungen

betraf anonym, mit dem Recht

auf einen Schutz meiner Person ausgestattet,

meinte ich. Dass die Gesellschaft durch und

durch böse ist, wer denkt denn sowas? Jetzt

aktuell wird die Digitalisierung der Krankenakten

diskutiert, und bald wird das auf breiter

Ebene selbstverständlich sein, wie ja bereits,

trotz der Angreifbarkeit dieser Systeme, viele

Menschen online ihre Bankgeschäfte machen

oder trotz der Ungewissheit, was es eigentlich

ist, ihre Waren im Internet aussuchen

und bestellen. Auch die Partnersuche findet

online statt. Die Realität behält die Macht

dennoch.

So vor ungefähr fünfzehn Jahren ging ich

noch etwa monatlich zu meinem Arzt in Wedel,

nahm eine Minimaldosis der verschriebenen

Psychopharmaka ein, plauderte mehr,

als dass ich’s als Therapie empfand, mit dem

Psychiater. Bald ließ ich die letzte Nullkomma-Dosis

weg und riskierte, auf eigene Faust

zu leben. Das ging etwa zehn Jahre lang gut.

Als meine Mutter vor einigen Jahren verstarb,

hat’s mich derbe gerissen, und einige hier im

Dorf haben sich den Spaß erlaubt, nachzutreten,

als ich mir den Kopf gebrochen habe,

wie früher. Ich schien ihnen am Boden zu

liegen? Da musste es leicht sein, darauf hinzuweisen,

was für eine Gefahr ich sei, und

das mitten unter den oberen Zehntausend

vom (gallischen) Dorf? Ich war Asterix gewesen

und aus meinem Obelix wurde das

dümmste fette Wildschwein, das du dir denken

kannst.

Damals aber, als wir gerade neu unser kleines

Häuschen bezogen hatten, habe ich

mir den Fuß gebrochen, ganz normale Sache.

Das würde nicht so ohne weiteres von

selbst gerade zusammenwachsen, war sich

der Durchgangs- und Unfallarzt hier um die

Ecke im Dorf sicher, und das möge nicht er,

sondern einer, der es regelmäßig mache, im

„richtigen“ Krankenhaus operieren. Ich bekam

einen Termin, einige Tage noch humpeln, und

dann solle losgehen.

Meine Frau und ich wurden am Morgen des

für die Operation bestimmten Tages in der

Zentralen Notaufnahme des Hauses vorstellig.

Dort gingen wir in einen Flur, ich auf meinen

Krücken, sie mit einer Reisetasche, in der

ich ein wenig Klamotten und eine Waschtasche

hatte. Im Gang saßen, wie Hühner auf

der Stange, einige Patienten. Ihnen gegenüber

war eine Öffnung in der Wand, ähnlich

einer Art Essensluke in der Mensa einer Firma

oder der Uni. Dort saß jemand, die Daten vom

jeweiligen Neuankömmling aufzunehmen.

Meine Karte wurde eingelesen.

„Ist das ihr Hausarzt?“ fragte die Angestellte

des Krankenhauses so laut, dass jeder in der

Umgebung es mitbekam: „Dr. – sie nannte

den Namen – Arzt für Psychiatrie und Neurologie“,

dann die Anschrift. „Wie kommen Sie

denn darauf?“, fragte ich. Ich war perplex. „Das

steht hier.“ Ich widersprach: „Mein Hausarzt

ist, wenn überhaupt P. (das ist auch ein Segler

und Freund) – aber der macht, weil er in

Wedel wohnt, keine Hausbesuche in Schenefeld.“

Ich sei schon jahrelang nicht mehr beim

Arzt gewesen, einige Monate nicht bei dem

erwähnten Neurologen. Ich galt, was meine

Psyche betraf als grundsätzlich gesund und

empfand mich auch so. Wie sie darauf käme,

er sei mein Hausarzt wollte, ich wissen? „Das

kann ich lesen, wenn ich ihre Karte in den

Rechner stecke.“ Nun, ich selbst kann es wohl

nicht lesen, wenn ich mir diese Karte wo hinstecke?

Das dachte ich, und warum die vier

oder fünf Fremden es mitbekommen sollten,

was da steht? Mir war das weder geheuer

noch angenehm, mit dieser Situation konfrontiert

zu sein.

Ich hatte mir den Fuß gebrochen, kam auf

Krücken und wollte nicht grad in die Klappse.

Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 5 [Seite 4 bis 6 ]


Der Text beginnt mit Beschreibungen des Outens

und der Rolle von Randgruppen in einer

Gesellschaft. Was ist eine Gruppe? Sind Homosexuelle

eine Gruppe? Sie werden dazu.

Sie können sich solidarisieren, sozial zusammenfinden,

denn zunächst sind es einzelne

wie alle anderen auch. Die Normalität endet,

wenn die anderen sich für normal erklären

und die Gesellschaft wie ein Block gegen

Einzelne steht. Die Umgebung ist ein Feld, in

dem der Mensch sich den Weg sucht. Wo sich

Türen öffnen, kann ich voran gehen und mich

entwickeln. Wenn ein „Ausländer“ um Einlass

in die Gesellschaft der „Inländer“ bittet, verlangt

man ihm ab, sich „deutsch“ zu verhalten,

und so ist es auch mit anderem.

Nun wird dem syrischen Flüchtling ein Kurs

zum Lernen des Deutschseins empfohlen,

und er muss einen Test bestehen. Dem Homosexuellen

wurde empfohlen, seine sexuelle

Ausrichtung zu ändern, und das hat

nicht funktioniert. Dem psychisch Erkrankten

verordnet der Arzt eine Medizin, sie soll ihm

die Gesellschaft in einem rosaroten Licht erscheinen

lassen, damit „der Psycho“ nicht länger

von den anderen gestört und an den Widersprüchen

ihrer Wahrheiten irre wird. Es ist

nicht einfach, normal zu sein, wenn es wehtut

zu bemerken, wie abartig selbstverlogen ein

nicht kleiner Teil lebt.

Ich habe mich solange intensiv für Politik

interessiert, bis ich meine Naivität begriffen

habe. Einen Vorgeschmack auf die Entzauberung

der Demokratie, die meiner Bereitschaft

das System mitzutragen, grundsätzlich einen

Schlusspunkt setzte, möchte ich erzählen.

Das hier, erzähle ich nicht: Was ich erlebte, ist

ohne Beispiel in der ganzen Zeit meines Lebens

vorher. Es hat mich für immer verändert.

Mein Frust, der dazu führte, dass ich heutzutage

jede politische Wahl boykottiere wie

der armseligste, tumbe Nichtwähler, der aus

dumpfer Logik dem Staat trotzt. Ich benötige

dafür keine gleichgesinnten Reichsbürger

und dergleichen verschworene Gesellschaft,

keine sozialen Netzwerke oder Stammtisch.

Ich habe als verbliebene Möglichkeit auszustellen

und meine Meinung zu sagen diese

Webseite. Dies ist nicht China. Ich liebe den

deutschen Rechtsstaat, wirklich. Aber ich

baue ihn nicht mehr mit, ich bin der Anarchist

im Atelier und wüte im stillen Kämmerlein.

Das schaffte die (um bei den Galliern zu bleiben)

Kleopatra im Turm. Eine eitle, verblichene

Schönheit auf dem Thron

ganz oben über den Verleihnixen

und Nixalsverdrussen,

wie sie überall vorkommen.

Im wichtig aufragenden Hochhäuschen,

dessen ebenfalls

in die Jahre gekommene Architektur

daran erinnert, wie

provinziell es westlich von

Lurup ist, wo einige hingestreute

Häusergruppen nicht

aufgeben (noch) Widerstand

zu leisten und nach einem

Stadtkern fragen. Das erübrigt

sich mit dem baldigen totalen

Leerstand des „Einkaufstempels“, wie das

Tageblatt unser „Zentrum“ (noch) nennt. Und

die Tage des Tageblattes? Sie sind gezählt,

glaube ich. Bald haben wir noch eine „Nord-

Zeitung“, die erzählt dann unter „Vermischtes“

was von Lübeck über Bergedorf bis Husum

so los ist, und die sinnigen Döntjes des einen

oder anderen Glossisten werden uns erheitern.

Ist doch egal, wer regiert und was vor

der Tür passiert. Wir haben ja das Internet,

und da steht alles wichtige drin, von Q-Anon,

und dass Bill Gates an allem Schuld sei, genügt

doch. Dann, wenn die Provinz den Rest

eigener Identität schluckt, in sich selbst hineinmampft,

was sie längst ist, die Düpenaustadt

zu „Ostpinneberg“ wurde – dann wird es

keinen Sockel für eigene Politikklüngel hier

mehr geben.

Und das ist auch gut so.

Eigenes Schwimmbad, eigene Stadtwerke

und andere politisch hochtrabende Kerne

einer Stadt erübrigen sich, wenn wir zum

Vorort umdeklariert würden. Ich kann’s kaum

erwarten! Politik, nie wieder.

Erste Einblicke in die Struktur dynamischer

Bewegungen, andere zu mobben, bekam ich

bereits vor einigen Jahren, ohne zu begreifen.

Ein nebensächliches Erlebnis, das ich erst

heute in mein inzwischen gewonnenes Verständnis

von Menschen in der Politik und der

Unmöglichkeit, in diesem Umfeld Freundschaften

zu leben, einordnen kann. Das war

eine Feier, mutmaßlich ein Geburtstag. Sie

fand bei einer an der Unterelbe bekannten

Familie statt. Das ganze Haus erinnere ich

menschengefüllt mit Seglern aller Generationen,

kann nicht mehr sagen, ob einer meiner

Freunde gerade älter geworden war oder seine

Eltern eingeladen hatten.

Ich habe die Geschichte vor einigen Jahren

am Ehemann einer angesehenen Frontfrau

der entsprechenden Partei ausprobiert. Ich

kenne wahnsinnig viele Leute und komme

gern ins Gespräch. Meine Einschätzung, wie

es bei den oberen Zehntausend einer politischen

Partei zugeht, hat der liebe Mann voll

und ganz bestätigt. Ich jedenfalls habe eine

Träne verdrückt, anschließend – und mich

selbst wiedergefunden in einem Moment

vollkommener Verlorenheit.

Ich erinnere mich: Da war gerade die Regierung

gebildet worden mit Angela Merkel als

Kanzlerin und dem frischgebackenen Außenminister

Guido Westerwelle. Ich hatte noch

nicht mitbekommen, dass das nicht wenige

zu massiver Kritik anregte. Ich erinnerte noch

den Wahlabend. Nach Jahren der Dümpelei in

der Nähe der Fünf-Prozent-Marke, hatte die

FDP es geschaft, erkennbar zu punkten und

konnte mit der CDU eine stabile Koalition

bilden. Das war ganz bestimmt das Verdienst

des neuen Außenministers, der unermüdlich

mit dem „Guidomobil“ herumgefahren war

in jedes Dorf und Städtchen, um für sich und

seine Leute Werbung zu machen. Und so sehr

hat er gestrahlt und sich wie ein kleiner Junge

gefreut an diesem Abend, als die Stimmen

ausgezählt waren, dass ich sein fröhliches

Lachen, die echte Freude in seinem Gesicht

nie mehr vergessen werde. Ich habe das im

Fernsehen gesehen und gedacht, wie selten

es ist, dass jemand aus der Politik lachen

kann, ohne wie ein Plakat zu erscheinen. Die

Maske der Freundlichkeit, das ist es doch für

gewöhnlich.

Dazu kam, dass ich ein Interview mit Westerwelle

sah, und das war im Kinderkanal. Wir

Eltern kannten über das „Sandmännchen“ hinaus

alle Sendungen. Wurden groß mit Miley

Cyrus und Selena Gomez, als gehörten die zur

Familie. Die „Zauberer vom Waverly Place“

oder „Wissen macht Ah!“ mit Shary und Ralph

anzusehen, Standard. Guido Westerwelle wurde

von einer Schülerin gefragt, was er gern

gewesen wäre, wenn es ihn nicht in die Politik

gezogen hätte? „Ein Maler“, er wäre gern

Künstler, meinte er zu meiner Überraschung.

Er war mehr als sympathisch in dieser ungezwungenen

Umgebung mit den beiden

Kindern, die ihm schwierige Fragen gestellt

haben, und konnte authentisch antworten.

Das Qualitätsmerkmal seines Politikerseins

war für mich also die menschliche Seite,

Offenheit, Glaubwürdigkeit deswegen. Dazu

passte, dass es bekannt wurde, er sei mit einem

Mann zusammen. Für mich ein Vorbild,

nicht weil ich Männer liebe, sondern, weil er

seine Angst vor den anderen in den Griff bekommen

hatte. Ich bemerkte etwas, was ich

gar nicht verstand, und wollte es in meinen

Lebensweg einbauen, davon lernen. Inzwischen

war er Außenminister, und in diesem

Amt hat er eine unglückliche Figur gemacht.

Sein schlechtes Englisch, zum Spott der Nation

und zum Abschuss freigegeben, und

schwul ist er auch noch. So muss es gewesen

sein, aber das hatte ich nicht mitbekommen.

Für mich war das der nette Mann, der sich so

freuen konnte, weil er gewonnen hatte, wie

ein kleiner Junge in einem Wettbewerb.

Der gern Maler wäre.

Meine Naivität, nie hat mich jemand der alten

Elbsegler angefeindet, weil ich etwa in

der Klappse gewesen wäre – aber von einem

Moment zum anderen wurde ich selbst zu

„Westerwelle und schwul“, als ich auf dieser

erwähnten Feier wie nebenbei etwas positives

über den neuen Minister sagte.

„Den. Den magst du!?“

Etwa fünfzehn alte, verdiente, vornehmlich

aus der Generation meiner Eltern anwesende

Segler-Recken, die große Schiffe besaßen

und manche Langstrecke siegreich nach

Hause gebracht hatten, Pokale angehäuft,

rund Seeland regattiert hatten, regelmäßig

Edinburgh durch und über die kalte, stürmische

Nordsee ertrotzt hatten – verstummten

schlagartig. Das Gebrabbel einer ganzen Feier

kam für einen Moment zum Schweigen,

unglaublich. Die Gesichter drehten sich alle

mir zu, und so leise war das, und wie die mich

angesehen haben.

Das werde ich nie mehr vergessen.

:(

Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 6 [Seite 4 bis 6 ]


Die Vögel auf dem Markt und nicht in

England

Jan 8, 2021

Erdbeeren sind eigentlich Nüsse, wer hätte

das gedacht? Auch Pinguine wären tatsächlich

Vögel, könnten aber nicht fliegen. Das

erklärt der Wissenschaftler.

Wenn es einfach ist, können wir die Schrauben

von den Nägeln unterscheiden. Die

Wissenschaft muss darum kämpfen, exakte

Ergebnisse zu liefern, aber die Tiefe des Marianengrabens

ist bekannt. Der Mount Everest

ist offenbar noch ein wenig höher, als wir’s in

der Schule lernten? Spezialisten visierten

den Gipfel von den benachbarten Bergen

aus an, kontrollierten ihre Messungen exakt,

verglichen die Ergebnisse und korrigierten

die bekannten Fachbücher.

Wie tief schläft ein Mensch, und was ist

die Einheit mit der wir das messen? Wir

können einen Leistenbruch operieren, den

Darm in seiner ganzen Länge durchspiegeln,

aber nicht sagen, wie hoch der Pegel

beim Liebeskummer steigen kann. Die

höchste Flut tiefster Gefühle ist so unfassbar,

wie eine Ebbe der Empathie. Niemand

weiß, in wie viele Teile das Herz bricht,

wenn es passiert.

Hühner sind auch Vögel: „Der Hahn, der

Hahn und nicht die Henne“, sag das mal.

Genaues zuhören macht glücklich. Was für

ein Spaß für uns Kinder zu begreifen:

„Der Hahn, der Hahn.“

Schweigen.

„Du kennst das schon?“

Einmal war’s, da war die Welt noch jung!

„Herr Rossi sucht das Glück“, das lief, als Fernsehen

neu war. Ich habe es als Kind gesehen.

Zeichentrickfilme für Erwachsene, die auch

Kindern empfohlen sind; etwa ab den siebziger

Jahren wurde das Glück überall gesucht

und genauso oft nicht gefunden. Ratgeber,

ein neuer Literaturzweig füllte zunehmend

Regale im Buchladen. Geld mache nicht

glücklich, es macht glücklich, was denn nun?

# Geld kann gezählt werden

Etwas zu messen, das zunächst nur

ein Begriff ist und wofür es auch

keine Skala gibt, ist schwierig. Wir

akzeptieren, die Glücklichkeit nur

ungefähr zu kennen, das Nichtglück

„Schmerz“ wird schärfer abgebildet

und soll präzise vergleichbar sein,

warum? Mein Zahnarzt glaubt aus

Erfahrung (oder weil er es im Studium

gesagt bekam) Rothaarige

seien schmerzempfindlicher. Krankenschwestern

sehen das genauso.

Ein treffendes Bonmot in der allgemeinen

Medizin ist es allemal, und

stimmt das nun, oder ist es nur ein

Tipp, der von allen nachgeplappert

wird? In der Anästhesie lernen Menschen

einzuschätzen, wie hoch die

individuelle Dosis sein sollte, jemanden

erfolgreich wie gewünscht

zu sedieren. Hier muss das Maß in

Millilitern zum jeweiligen Patienten passen.

Wir müssen wissen, wie unglücklich jemand

ist, um angemessen helfen zu können. Der

Arzt fragt: „Auf einer Skala von eins bis zehn,

wie stark tut es Ihnen weh?“

Gefühle zu messen, ist nicht einfach. Wie

melancholisch muss einer sein, damit es als

ausgewachsene Depression anerkannt wird?

Wie verrückt musst du sein, um krank zu werden

oder wie ärgerlich wird ein Mensch (in

Zahlen dargestellt)? Ab wann bist du „Gefährder“,

verlierst Grundrechte, Kommissare und

Trittbrettfahrer*innen spionieren dir in der

Annahme nach, du wärest ja bescheuert genug

und merkst es deswegen nicht? Wer nun

nicht erst recht paranoid wird, kann Können:

Bumms, die Kunst! Leider daneben, mit einer

Kanone auf den Dorfspatz gefeuert und das

Rathaus demoliert? Womit hat derjenige, der

schießt, die Tiefe deines Hirns ausgelotet, die

Länge der Lunte berechnet? Der Zollstock,

das Unberechenbare einer Gefahr auszumessen,

wird nirgends angeboten.

# Unsere Zukunft ist gefährdet

Wir alle sind Gefährder. Grün ist Leben, steht

an der Baumschule. Ein alter Hut. Wir heben

unsere Erde aus den Angeln, verpesten die

Luft, zerstören die Lunge des Planeten. Wie

wird die Länge gemessen, die der Hebel haben

muss, um alles noch rechtzeitig zurechtzurücken?

Es wird gestritten bis zum letzten Tag.

Pompeji ist aktuell. Schon früh wurde gewarnt

„der Vulkan bräche aus“, habe ich in der

Schule gelernt. Aber die Menschen wollten

es nicht hören, mahnte die alte Grundschullehrerin.

Ein kleiner Weltuntergang wäre es

gewesen, und wir sollten daraus lernen, nie

einen großen voranzutreiben? Einen antiken

Imbiss haben sie dort gerade ausgegraben,

gut erhalten, wie grad gestern zurückgelassen

und vorgestern erbaut. Ein Gast bekritzelte

die hübsch gemalte Pizzawerbung

am Lokal von damals mit einem primitiven

Schmäh. Das Ganze ist zu unglaublich, um

wahr zu sein; und gibt’s schon wieder neue

Hitlertagebücher? Mir kommen Zweifel. Was

alles auftaucht: Kornkreise, Alien-Monolithen

in der Wüste? Ein „drive thru“ und „to go“ für

den Zenturio, dazu plastisch, farbig und wie

neuwertig mit Schüsseln im Tresen für die

Hähnchen „zum hier essen“ eingerichtet; das

ist doch nicht wahr!?

Habe ich gedacht.

# Und noch etwas erinnert an moderne Gaststätten:

Die Gäste verewigen sich in Graffiti.

Heute findet man von Kunden hinterlassene

derbe Sprüche zwar eher auf den Wänden und

Türen der Toiletten als auf dem Tresen. Und

von der Thematik passt das, was da vor 2000

Jahren jemand über einen gewissen Nicias

berichtet, auch besser in sanitäre Einrichtungen.

Aber davon abgesehen ist die Aussage,

die da jemand neben eines der Bilder am

Tresen geritzt hat, geradezu zeitlos: «Nicias

schamloser Scheisser», steht da in schönstem

Latein. Ob Nicias ein Bekannter des Kunden

war oder vielleicht der Ladenbesitzer – und

der Spruch die Rache für schlechtes

Essen oder zu hohe Preise? Wir

werden es nie erfahren. (Neue Züricher

Zeitung, 27.12.2020).

Dann kam die Lavawolke, und alle

waren tot.

Ein Graffito blieb: Es lebe die

Kunst!

Wir Menschen haben uns die Worte

zu eigen gemacht und das Leben

beschreibbar. Gleichwohl sind

damit neue Probleme entstanden.

So wie ein Mensch eine neue Sprache

erst lernen muss, sollten wir

lernen, unser Denken und Sprechen

daraufhin zu prüfen, was wir

meinen, wenn wir etwas sagen.

Wir können probieren, das Glück in

Geld oder Besitz zu messen. Je mehr davon,

desto glücklicher, aber es funktioniert offensichtlich

nicht. Nun gibt es eine überraschende

Studie, gemessen wird in Vögeln. Nicht „je

mehr du vögeln, desto glücklicher du sein“,

aber trotzdem logisch …

Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 7 [Seite 7 bis 9 ]


# Naturschutz macht glücklich. Zu diesem

Ergebnis kommen deutsche Forscher, die

erstmals den Zusammenhang von Artenvielfalt

und Lebenszufriedenheit in ganz Europa

untersucht haben. Nachgewiesen haben sie

das anhand der Vielfalt der Vogelarten im

Umfeld von Menschen. Schon eine Steigerung

der Vogelvielfalt um zehn Prozent würde

demnach die Zufriedenheit genauso stark

heben wie eine Einkommenssteigerung um

zehn Prozent: „Vierzehn Vogelarten mehr im

Umfeld machen mindestens genauso zufrieden

wie 124 Euro monatlich mehr auf dem

Haushaltskonto, wenn man von einem durchschnittlichen

Einkommen in Europa von 1237

Euro pro Monat ausgeht“. (…)

Warum ausgerechnet Vögel? Das erklären

die Forscher so: Die gefiederten Tiere seien

beispielsweise in Städten für Menschen eines

der wahrnehmbarsten Naturerlebnisse.

Selbst, wenn sie nicht zu sehen sind, kann

man sie hören und dann aufgrund der unterschiedlichen

Gesänge eben auch eine Vielfalt

wahrnehmen. Außerdem ist eine Artenvielfalt

bei Vögeln auch ein Zeichen für Biodiversität

in anderen Bereichen der Natur, da sie naturbelassene

und abwechslungsreiche Landschaften

bevorzugen. (Forscher: Vogelvielfalt

steigert Lebenszufriedenheit von Menschen,

Tech & Nature 3.1.2021)

# Gut, grün und gesund

Warum wird eine gesunde Lebensweise empfohlen,

um länger zu leben oder weil es sich

täglich besser anfühlt? Kann ich, wenn ich

länger lebe, öfter glücklich sein, summiert

sich dieses Gefühl dadurch, und deswegen

ist ein langes Leben besser, als gleich morgen

zu sterben? Ich denke manchmal darüber

nach. Wenn es nicht stimmt, man das

Glück nicht verdoppeln kann, ist es egal wie

lang ich lebe. Ich verpasse nichts. Ich kann

wohl nicht unglücklich drüber sein, auf das

zu verzichten was ich nicht erleben konnte,

weil ich starb? Nun weiß ich nicht, wie das

„im Himmel sein“ ist. Möglicherweise bin ich

handlungsunfähig bei vollem, ewiglichem

Bewusstsein, und jeden Tag kommt Gott oder

eine Mitarbeiter*in vorbei: „Wenn du vegan

gelebt hättest, dann!“

Vielleicht sollten wir umgekehrt fragen, was

nützt es dem, der gesund zu leben empfiehlt

(auf Erden), und was nützt es mir? Da kann

die Antwort nur sein, das Geld, das derjenige

mit dem Ratgeber verdient und sein Erkenntnisgewinn,

mögen ihm Grund genug sein, zu

schreiben. Aber fragen Sie einen zufriedenen

Alkoholiker oder ein glückliches Vielfraß im

Rausch seiner Genussphase

oder im Zustand vom Kater,

wenn ein Fettwanst mit den

Folgen konfrontiert ist, das

macht einen Unterschied.

Auf die glückliche Zukunft hin

zu leben, kann das Unglück

mit sich bringen, täglich zu

verzichten und schlussendlich

mit leeren Händen, ohne

das versprochene Glück zum

Mitnehmen im Jenseits anzukommen.

Sich durch ein

veganes Leben quälen, weil’s

geraten wird oder wirklich

gern eine Diät anzunehmen;

ich habe einen Beitrag gesehen,

da hat sich ein Übergewichtiger

zur Umstellung

seiner Ernährung entschlossen, weil er mehrmals

unglaubliche Schmerz-Attacken bekam,

aufgrund von erbsengroßen Nierensteinen.

Da fand ich’s glaubwürdig, dass es ihm gut

getan hat, auf seine gewohnten Schlachtplatten

zu verzichten.

Als Jazzliebhaber komme ich nicht umhin,

darüber nachzudenken, ob es eigentlich besser

gewesen wäre, wenn etwa Chet Baker ein

gesundes Leben geführt hätte? Als Maler und

kreativer Künstler muss man sich doch nach

Vorbildern umschauen. Nicht wenige glauben,

Kunst und eine ausufernde Lebensweise

seien untrennbar verbunden oder „das Genie

läge dicht beim Wahnsinn“ (und mehr davon

an Weisheiten sind bekannt).

Corona ist nicht alles. Es gibt wirkliches Leid,

auch auf andere Art, und dann verbietet sich

der Spott. Doku: Tuberkulose in Russland, der

Ukraine. Ein junger Mann war damit in ein

Berliner Krankenhaus verlegt worden, konnte

bereits einige deutsche Worte, und bei der

Besprechung klingt der Arzt sicher, dass es

nun gut ausgehen würde.

Anschließend wurde eine Frau aus Kiew porträtiert,

sie war 32 Jahre alt, und es schien

absehbar, dass sie nun sterben muss aufgrund

der Verhältnisse dort. Sie erzählte,

hatte in einem Reisebüro gearbeitet, drehte

ihr Smartphone in die Kamera: Ganz normal

sah sie zu der Zeit aus, etwa dreißig Jahre und

hübsch. Sie wisse nicht, wo sie sich ansteckte,

sagte sie. Während des Interviews durch das

TV-Team, das möglicherweise aus Deutschland

gekommen war, für einen entsprechenden

Bericht, und weniger, um sie nun in einer

großangelegten Aktion zu retten, saß die abgemagerte

junge Frau auf der Pritsche eines

schäbigen Krankenhauszimmers.

Bleich. Sie behielt das Telefon die ganze Zeit

über in der Hand. Die sichtlich geschwächte

Erkrankte scrollte durch ihre Fotos und

zeigte immer wieder, wie alles gewesen war.

Das machte es für uns Zuschauer so berührend

und glaubwürdig. Sie illustrierte damit

im öden Flur eines schlecht beleuchteten

Hospitals ihre Vergangenheit, in der sie gesund

und normal Teil der Welt war, wie gefilmt,

als könnten wir sie noch begleiten. So

konnte man begreifen, wie es sich anfühlen

mag, sterben zu müssen und in diesem Alter.

Es traf, wenn sie sagte keinen Fehler oder

Schuld dafür zu bemerken, keinen Grund, warum

alle anderen, die sie kannte (und die sie

nicht besuchten) weiterleben würden.

In der Klinik, in der sie schon lange behandelt

wird, war es immer ein wenig schlechter

geworden. Zum Arzt war sie gegangen,

weil sie sich auf der Arbeit seit einiger Zeit

schlapp gefühlt hatte und sich das nicht erklären

konnte. Es begann unspektakulär. Im

Laufe der Behandlung hatte sie einen Mann

im Krankenhaus kennengelernt, das wurde

ihr Freund! Eventuell haben die beiden sogar

geheiratet, so genau habe ich nicht aufgepasst

beim Zuschauen. Sie zeigte uns weinend

Bilder, wie die beiden sich aneinander

drücken, Selfies mit dem Phone. Der war nun

vor kurzem an seiner TBC gestorben.

Dann gab es eine Besprechung mit dem Arzt.

Das neue Röntgenbild wurde in einen Leuchtkasten

an der Wand geklinkt. Als der Arzt erklärte,

dass ihre Erkrankung unaufhaltsam

voranschreite, bemerkte ich nebenbei (während

ich zufrieden Nüsse und weihnachtliche

Plätzchen knabberte), dass die Frau ja nur

noch eine Lunge hatte. Es war ein Röntgenbild,

bei dem das auch ein medizinischer Laie

gleich begreifen konnte. Und diese verbliebene

Hälfte ihres Atmungsapparates war nun

ebenfalls von der Krankheit befallen? Und

der Arzt erklärte, welche Bereiche jetzt auch

im Rest der Lunge zerstört waren – und dass

es keine Mittel gebe, das zu stoppen.

Da musste ich weinen und habe es weggezappt.

Einmal angenommen, wir sind bereits klug

geworden. Das meint, wir haben gelernt

unser Glück zu bemerken, wenn es uns geschieht,

sind nicht mehr darauf angewiesen

zu tun, was im Ratgeber empfohlen wird.

Dann können wir im nächsten Schritt nach

der Intensität des glücklichen Moments fragen,

nach der Dauer des Zustandes, nach der

Häufigkeit. Wir können unser spezielles Glück

in Relation zu dem begreifen, was wir an bisherigem

davon erlebten.

Alexandra: „In England war ich das erste Mal

glücklich.“

Das geht vermutlich allen gleich, dass sie so

etwas bemerken, aber nicht alle sind in England

glücklich. (Ich war gern mit ihr unterwegs

und glücklich hier). In einem nächsten

Schritt habe ich mich (wirklich) gefragt, ob

einige Male Glück zu einem entsprechend

größeren Glück zusammengezählt werden

können? Dreimal glücklich gewesen sein,

führt das beim vierten Mal zu einem intensiveren

Glück, und gibt es ein glücklicheres

Glück über dem glücklichsten Moment, und

wenn ja, lässt sich diese Skala durch wiederholte

Glücksmomente nach oben weiten?

Ich habe mich auch (wirklich) gefragt, wie es

eigentlich im Himmel ist, bin ich im Jenseits

der demente Alte, das kleine Kind, der Mann

mittleren Alters – wie empfinde ich mich,

wenn ich mal angekommen bin? Das Ergebnis:

Fatalismus befriedigt, und ein gegenwärtiges

Leben erfüllt mich mehr, als allzuviele

Gedanken der Absicherung zu pflegen und

mich eventuell unnütz zu plagen, für etwas

das vielleicht nie sein wird. Stattdessen überlege

ich morgens: Was kann, muss ich heute

tun und wie? Besser, als den Moment zu

erwarten, an dem ich endlich angekommen

sein werde, ist auf die Möglichkeiten des jeweiligen

Tages zu schauen und den Vögeln

ein Lied abzulauschen, um einen vielversprechenden

Weg durch das Meer der Zukunft zu

schippern.

Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 8 [Seite 7 bis 9 ]


# Tunnelblick ist die Regel

Statt beschwingt großzügig und mit Hoffnung

den Tag anzugehen: Konzentration

wird empfohlen, der Fehler wird isoliert. Ein

Mensch ist selbst ein Fehler, der nicht glücklich

tut? Wir dürfen nicht wüten

oder unsren Hass verbalisieren?

Fluchen ist fein. Ich „hasse“

gern, voller Glück darüber, dass

ich’s mir erlaube. In einem Büro

mit anderen? Da könnte ich

nicht arbeiten. In einer Partei?

Da könnte ich nicht dazugehören.

Mich kickten die Genossen

schneller raus als jeden Wendler

anderswo. Du bist schuld,

dass wir den Shitstorm kriegten?

Verpiss dich.

Das Ganze verliert derjenige, der gern beschuldigt,

leicht aus den Augen. Viele sind

sich sicher, dass Donald Trump schuld sei

am Chaos in den USA. Dabei zeigt der Präsident

nur die konzentrierte, hässliche Fratze

etwa der Hälfte einer Gesellschaft wie

eine Reflexion. Jetzt können sie es glücklich

rauslassen: „Der Präsident ist steinreich und

ein ungeliebter Prolet, er ist wie wir!“ Er ist

das Spiegelbild seiner Wähler.

Er spricht aus, was eine Hälfte

der Masse denkt und lebt

es vor. Es nützt kaum, ihn zu

beschuldigen. Das bedeutet

ganz viele zu ignorieren und

ist gefährlich kurzsichtig, zentrierte

Blindheit. Das korrekte

Deutschland, unsere alte SPD

will so gut steinmeiern: Es

ist typisch für die Reste einer

einstmals großen Volkspartei,

mit dem Finger auf den Schuldigen

zu zeigen.

Aber es ist gefährlich blind.

Isoliertes, zentriertes Denken kleiner Kerne

wird von der nach vorn trabenden Masse des

großen Ganzen überrannt. Jedem Dorf seine

eigene Verwaltung, Schwimmbad, Kino, Stadtwerke?

Die Entwicklung geht in eine andere

Richtung. Größere Strukturen sind nötig, um

weltweit im Konkurrenzkampf standzuhalten.

Wir sehen es am Tageblatt, das sich immer

mehr zur Nord-Gesamtzeitung hin verallgemeinert:

„Rohrbruch in der Hauptstraße“

wird unter Lokales

berichtet. Das war

einmal die Seite

„Schenefeld“ in der

Zeitung, die ihren

Titel „Schenefelder

Tageblatt“ noch trotzig

behalten hat, ein

Fake ist das. Das ist

nur noch das allgemeine

Blatt rundherum

um Pinneberg, Elmshorn und über

Wedel-Schulau bis hin nach Norderstedt, in

dem im großen und ganzen dasselbe berichtet

wird, und das ist doch schon dem Titel

nach eine „Lügenpresse“.

Drei Exemplare noch davon.

Sie liegen bei meinem Bäcker aus. Eines davon

kaufe ich an jedem Morgen. Ich muss

wirklich ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert

sein, dass ich das mache und noch

nicht begriffen habe was modern und richtig

ist. Wer wohl die anderen beiden Idioten sind,

die dieses Blatt (noch) lesen? Wenn die Medien

sich abschaffen und gleichermaßen darauf

pochen wie wichtig sie sind, muss es auch

Leser geben, die diese Informationen kaufen

möchten. Das scheint nicht der Fall zu sein.

Die Schuldfrage verläuft beim unbefriedigenden

Ergebnis im

Sande, dass es eine

beiderseitige Entwicklung

geistiger

Verarmung ist.

Nicht nur die Vogel-

und Tierarten

dünnen aus, unsere

Fähigkeit zu Empathie

und natürlich

motivierter Handlungsfähigkeit

sind

ernsthaft gefährdet,

jedenfalls was die breite, zivilisierte Masse

betrifft. Sie verliert ihre zivile, geschulte Qualität

zu leben und nähert sich dem Brei einer

Gesellschaft aus ständig kämpfenden Legionären

an, wie etwa der Islamische Staat das

Modell dafür hergibt. Es scheint, der christliche

Staat, in dem niemand noch in eine

Kirche geht, ist nicht besser. Wir sind die, die

um das goldene Kalb tanzen, während Moses

die Runen in den

Stein gräbt, die er

uns als Gottes Wort

glauben machen

möchte, wenn er vom

Berg zurück kommt.

Wir entlarven ihn so

schlau: „Das hast du

doch selbst geschrieben,

da ist kein Gott

auf dem Berg, Spinner!“

Und dann sitzen

wir alle ums Kalb

rum und jammern,

weil rundherum Wüste ist? Diese Vergangenheit

ist unsere Zukunft. In eine goldene Tasse

kann ich noch Wasser tun, wenn ich keinen

Palast habe, auf einem goldenen Kalb reitet

niemand in sein gelobtes Land.

# Der Rohrbruch war direkt vor unserer Haustür

Es stimmt wohl, wenn das Tageblatt schreibt:

„25 Minuten später war der Stördienst schon

vor Ort; Hamburg-Wasser (…).“ Es gab kein

Foto von unserer Straße hier im Dorf. Stattdessen

ein „Symbolbild: IMAGO“. Tageblatt-

Autorin Cindy Ahrens war jedenfalls nicht vor

Ort, um etwa mal ein Bild zu schießen. Die

mir aus Backnang vertrauten Straßen einer

Baden-Württemberg typischen Umgebung

illustrieren den Rohrbruch vor meiner Haustür?

Ich durfte sehen wie „irgendwo“ das Wasser

einen Kanaldeckel hob. Wieder gut informiert.

Sonst hätte ich mir das ja gar nicht

vorstellen können. Gut, dass ich nur wenige

Meter zu laufen hatte, um die Scheiße vor der

Tür „in echt“ zu erleben. Und aufs Klo für das

nötige Geschäft? Ging ich in die erwähnte

Bäckerei. Ich mag diese Leute, systemrelevant

sind sie. Fragen kostet

nix, und hundert Meter weiter

war das Rohr reibungslos abführfähig

bei voller Spülung. In der

Mühlenstraße stand alternativ der

Wasserwagen der Hamburger. Mit

einem Eimer ausgestattet, hätte

ich mir meine Spülung auch dort

abholen können. Die Hardware zuhause

war ja nicht betroffen.

Hamburg-Wasser schaffte es bis zum Mittag,

alles wieder in Ordnung zu bringen.

Danke dafür.

Ich bin Mathias Schmitz auf dem Wochenmarkt

begegnet: „Ich habe gegen deine

Stadtwerke gestimmt“, brüskierte ich ihn beherzt

mit einem Affront, während wir beim

Käse anstanden. Eine zunehmend lebhafte

Diskussion entspann sich. Er drehte auf: „Die

Wähler hätten die doppelte Verneinung nicht

begriffen, er sei das Opfer der Fragestellung

(oder wir zu dumm?) und alles würde

uns teuer zu stehen kommen.“ Schmitz wiederholte,

alle größeren Gemeinden hätten

Stadtwerke, warum wohl? Als er seinen Käse

bekam, musste ich wählen, diskutieren oder –

hinter mir warteten andere. Ich habe mich für

Gouda entschieden, mittelalt, eine gute Wahl.

Mein persischer Käsefreund und ich, wir können

noch lustig sein, albern. Nicht umhin kam

ich zu bemerken, wie unser Wortwechsel einige

in der Umgebung anregte, schmunzelnd

daran teilzunehmen, wie unser oberster, grünerster

Weltretter vom Dorf sich in Rage geredet

hat. Es sind eben nicht nur die Vögel,

die zwitschern, habe ich gedacht. Das ganze

Drumherum, wir nehmen es wahr, und es wird

unser Tun beeinflussen.

Meine Meinung, meine Wahl – oder ich enthalte

mich. Es lebe die Demokratie. Ein guter

Moment zu begreifen, wie das Glück in

erfolgreicher Abgrenzung vom Umfeld und

zielführender Auswahl möglicher Handlungen

besteht. Einer will es grün, der andere

schwarz, rot oder bürgernah eingefärbt.

Der Künstler malt.

Der Bäcker backt das Brot.

Der Käsemann verkauft den Käse.

Es ist beileibe nicht so, dass mein Wille

geschehe (oder seiner) und ich deswegen

glücklich bin, sondern dass ich den besten

Weg zwischen den ganzen Menschen (und

Vögeln und sonstigem Getier, Gesträuch und

Marktständen) finden kann im Moment. Oder

eben nicht. Bewusstheit ist allemal besser,

als ein starker Wille, mit dem man voll wie

gegen eine Mauer prallen kann.

Die Vögel zwitschern:

„Hast du’s (nicht) gesehen?“

:)

Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 9 [Seite 7 bis 9 ]


Du und ich

Jan 21, 2021

Ein Donnerstag im Januar, kurz vor

9 Uhr. Ich schiebe die Rippen im

Velux hoch, schaue aus dem Fenster

nach Westen. Mein Atelier ist

im Dachgeschoss. Das Westfenster

in der Schräge hat eine gute Jalousie.

Abends mache ich hier zu.

Die auf der gegenüberliegenden Seite, noch

mit Bändseln ausgerüstet, verkanntet immer,

stürzt regelmäßig aus der Spur. Wenn

es im Winter früh dunkel wird, reflektieren

die Lamellen das Licht im Atelier, wie es das

schwarze Viereck nach draußen hin nicht

könnte. Ich male ungern mit Lampenlicht.

Dieses Fenster kann ich auch senkrecht in

die Öffnung kippen (das andere klemmt),

und wenn ich mein schmales Telefonbuch

zwischen Rahmen und Begrenzung quetsche,

hält es tadellos zum Lüften.

An diesem Morgen, als es noch dunkel war,

habe ich letzte Sterne gesehen. Windstill

ist es gewesen, beinahe, und der Löwe (ein

Bote des Frühlings) hatte sich bereits weit in

den Südwesten begeben. Im Zenit der große

Wagen. Der Nordstern; wieder einmal kontrollierte

ich den Punkt darunter, ihn exakt zu

loten, die Flucht zum Pol genau zu bestimmen.

Vom Orion keine Spur mehr. Der Winter,

im Januar schon auf der Flucht. Auch was die

Temperatur betrifft, es ist knapp zweistellig

über null.

Später. Nun habe ich gefrühstückt, schiebe

den Rollladen auf, und da sehe ich diesen

wunderbaren Regenbogen!

Die Sonne mag um halb acht bereits gut

über dem Horizont sein, und auf dieser Seite

türmen sich nun dunkle Wolken, in der Mitte

noch warm angeleuchtet, in einem orangen

Ton, sind sie links und rechts dunkelgrau und

violett. Über allem, in einer gut überschaubaren

Größe, steht der wunderbare Bogen.

Er ist massiv in den Farben und ein nirgends

unterbrochener halber Bügel wie ein mächtiges

Tor. Links entspringt er in einer kleinen

Baumgruppe, mein Wald. In der Mitte wölbt

sich das farbige Band und bildet seine Brücke

noch locker über die Spitzen der großen Koniferen,

um dann rechts hinterm alten Backstein

des Hauses an der Straße gegenüber zu

enden.

Ein Abgasrohr fällt auf. Dort ist sicher der

Pott mit dem Gold? Das ist aber nur ein moderner

Schornstein, dessen Spitze in der Sonne

glänzt.

Kein Rauch, kein Feuer mehr, und Friede auf

Erden.

Ein toller Regenbogen!

Das habe ich genauso vor einigen Jahren auf

Fehmarn gesehen. Die Ereignisse, die mein

Leben so grundsätzlich verändert haben, waren

damals noch voll im Gange, keine leichte

Zeit. Auch dort habe ich in der Früh nach

Westen geschaut. Unser Balkon, wir wohnten

im ersten Stock. Der Bogen stand über dem

Giebel des benachbarten Ferienhauses.

Ein grell angestrahltes, gleichseitiges Dreieck,

darüber der bunte Halbkreis. Geometrie

wie in der Schule, Mathematik, eine penetrante

Symmetrie. Rötlich und ein wenig orange

(mit zwei kleinen Fensterchen wie eckig

schauende Augen) stand die Form unter dem

farbigen Band. Ein Pakt mit Gott habe ich gedacht,

das soll es sein, und heute für mich. Es

hat mich gestärkt, Mut gemacht! Ich dachte

an das Versprechen, das Gott Noah

gegeben hat und allen, die nach ihm

kommen. Vertrauen in die Welt um

mich herum. Sie hält was aus, ist stabil,

auch in bösen Zeiten, schlechten

Momenten, und wenn wir den Attacken

anderer ausgesetzt sind und unsere

Fehler nicht wahrnehmen, unsere

Schuld nicht erkennen, die sie uns

zuweisen. Der Regenbogen? Vertrauen

in das, was ich tu’ – ein Zeichen.

Heute Morgen habe ich wieder daran

gedacht: Wir erneuern unseren Bund.

Du bist noch da, und ich bin auch

noch hier auf Erden, so etwa.

Ich probiere, ein Foto zu machen.

Es ist zu groß, zu breit, geht nicht rauf. Nicht

das Ipad oder die kleine Digitalkamera genügen,

den weiten Farbenkranz einzufangen.

Ich hätte dafür ein Weitwinkelobjektiv benötigt.

Dann versuche ich’s nicht länger und

schaue nur noch kurz: Es ist beinahe windstill.

Leichter Niesel setzt wohl gerade ein?

Ich schließe das Fenster, mache die doofen

Lampen an. Nun wird es draußen finster.

Ich schaue auf das angefangene Bild. Das

nackte Mädchen, meine Europa auf ihrem

Stier Zeus. Es haut sie von den Socken, als der

Wal spritzt, das Rind bockt. Und sie ist verankert

in Bondage. Sie reitet auf hoher See.

Es scheint ein weiterer dunkler Regentag zu

werden, an dem die Lampen einzuschalten

nötig ist …

Ich setze mich auf den Bürostuhl, suche die

„Zweimeterbrille“, die ich immer nehme, um

meine großen Bilder als Ganzes anzuschauen.

Sie hat auf voller Glasbreite ein und dieselbe

Sehstärke für etwa diese Entfernung.

Mein Bild ist einszwanzig breit und einen

Meter hoch. Mit Gleitsicht kann ich arbeiten,

aber in aller Ruhe schauen wie früher? Dafür

nehme ich gern diese Spezialanfertigung. Ich

vergesse den Regenbogen, den Niesel, das

schlechte Licht. Ich trinke einen Kaffee und

schaue zu sehen, was ich nur morgens sehe,

wenn das unfertige Bild wieder neu ist. Am

Abend habe ich viele Stunden gemalt. Dann

bin ich betriebsblind.

Ich lehne mich im Stuhl zurück, und der knarrt

vertraut, der Kaffee schmeckt. Ich schaue auf

die grauen Wellen, die ich gestern malte und

das verlorene Mädel auf dem Bulln. Stürmisch

geht die See, aber nicht windig genug

scheint mir mein Meer. Ich denke: Ob ich das

noch hineinmalen kann?

Huuii!!

Da erzittert das Haus.

Mein Atelier erbebt, Regen knallt plötzlich

auf die Fenster – es brüllt das Wetter, der

Wind.

Eine schwere Bö zieht durch!

Jan 21, 2021 - Du und ich 10 [Seite 10 bis 14 ]


Ein neues Wetter zieht herauf.

Wolken ballen sich zu Hauf!

Donner grollt. Regen fällt ohn’ Unterlass,

Hund und Herde werden

nass.

Damit habe ich gar nicht gerechnet.

Eben noch ist es ganz flau gewesen. Der

schönste Regenbogen, der warm eingefärbte

Himmel, seine dunklen Seiten hatte ich gar

nicht recht bemerkt. Natürlich, der leichte

vorwegfliegende Regen, das hätte mich stutzig

machen müssen: „Kommt der Regen vor

dem Wind, Segler steck’ ein Reff geschwind!“

Klar, jetzt erinnere ich mich, gestern Abend:

„An der Nordsee stürmisch“, hatte Özden Terli

gemeint. „Gut, dass wir nicht los sind“, kommentiert

man solche Momente unter Freunden

an Bord: „Jetzt auf See und kein Boot,

in jeder Hand zwei schwere Koffer.“ Sprüche

dieser Art sollen dem Seemann den nötigen

Galgenhumor passend zu seiner Not geben.

So ist das auch mit Gott und dem Pakt, die

Beziehung zum Menschen, überhaupt: Beziehungen.

Der Regenbogen ist ein Versprechen

aber kein Freibrief, unbeschwert und

naiv loszusegeln, sondern eine gegenseitige

Verpflichtung steckt darin: Vertraust du mir,

befiehlst mich deiner Wege, so bleibe selbst

auch auf diesem Weg und tue deinen Teil.

Humor hilft. Das bekannte Endlosgedicht

kommt mir in den Sinn:

… wird das Wetter wieder schön!

Man sieht den Hund zur Herde gehen …

Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und

Herde zieh’n vorbei.

(Eine kleine Pause machen, andere anpusten,

Faxen einbauen, Schüttregen und Wettergeräusche

intonieren – dann weiter vortragen).

Nun wird das Wetter wieder schön!

Man sieht den Hund zur Herde gehen …

Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und

Herde zieh’n vorbei.

(Eine bedeutungsschwere Pause machen, das

entsprechende Gesicht).

Ein neues Wetter zieht herauf.

Wolken ballen sich zu Hauf!

Regen fällt … usw.

Etwa zwanzig Jahre habe ich gebraucht, die

Antwort auf eine Frage zu finden; und dann

habe ich darüber doch tatsächlich den Hochzeitstag

vergessen, peinlich, unverzeihlich, ja.

Nun wird das Wetter wieder schön!

Man sieht den Hund zur Herde gehen …

Der Schäfer bläst auf der Schalmei, Hund und

Herde zieh’n vorbei.

Ein neues Wetter zieht herauf.

Wolken ballen sich zu Hauf!

Rumms.

Regen fällt ohn’ Unterlass –

Hund und Herde …

:)

Jan 21, 2021 - Du und ich 11 [Seite 10 bis 14 ]


Ein kalter Wind weht

Feb 8, 2021

„Und nun die Vorhersage bis übermorgen

früh“, wenn wir das so im Wetterbericht hörten,

spottete mein Vater: „So ein Quatsch. Niemand

kann wissen, wie das Wetter übermorgen

wird.“ Schon sein Vater hätte sich darüber

aufgeregt. Der „Alte“ habe gemeint, länger als

zwei Stunden könne man nicht sicher voraussagen.

Erichs Vater war Kapitän gewesen, der

musste es wissen. Meine Mutter hatte Spaß

an den Wettervorhersagen. Sie interessierte

sich, schrieb „Norddeich“ mit und zeichnete

an Bord Wetterkarten. Ich malte die Isobaren

nach, und von Opa Heinz bekamen wir den

Barographen von Opa Bur geschenkt, meinem

Urgroßvater. Eine Zeitlang funktionierte

er ganz gut. Man musste sich kümmern,

sonst gab es verschmierte Bögen. Der Vater

meiner Mutter war auch Kapitän, und mein

Opa Heinz lebte ja noch, während Erichs Vater

Willi im Jahr meiner Geburt verstorben ist.

Heinz hatte A6, und wie das Wetter würde –

bei uns wurde gern gefachsimpelt.

Meine (verstorbene) Mutter hat

noch eine Schwester. Als die

Schneekatastrophe (damals) war,

hat es uns buchstäblich kalt erwischt,

aber meine Tante meinte:

„Elmar Gunsch, kennt ihr den?“

Wir wussten nicht wer das ist,

schauten zu der Zeit kaum Fernsehen.

Der sympathische Wetteronkel,

diese Sendung, auf die es

angekommen wäre, wir hatten

es nicht mitbekommen. „Elmar

Gunsch wusste als einziger, dass

es passiert“, meinte Tante Helga.

Sie berichtete: „Wir haben es

gesehen, nach den Nachrichten

kam Gunsch in das Studio. Und

dann machte der eine kleine

Show, anders als normal, war er

sich der Wichtigkeit seiner besonderen

Vorhersage wohl bewusst.

Er hatte eine blecherne

Milchkanne dabei.“ Meine Tante

erzählte. (Zu der Zeit war es bisher

recht warm gewesen, milde

Luft, Regen. Winter war nicht in

Sicht. Kurz vor dem Jahreswechsel hatten wir

in Hamburg zweistellige Plusgrade). Gunsch

habe ein wenig den Kasper gemacht:

„Wissen Sie, was das ist?“ gesagt – und

die Kanne über seinen Schreibtisch und

den Fußboden entleert.

„Schnee!“

Die Zuschauer hätten wohl nicht

schlecht gestaunt, im Fernsehen sei alles

möglich. „Davon werden Sie in den

nächsten Tagen eine ganze Menge zu

sehen bekommen“, habe der beliebte

Wettermann launig mit seinem Gag

aufgetrumpft, erzählte meine Tante und

lachte. Wir hatten keine Probleme. Anders

war es auf den Autobahnen und

dem flachen Land zwischen den Meeren.

Jeder kann davon erzählen: Das

Jahrhundertereignis, vergleichbar mit

der großen Sturmflut 1962.

Ich erinnere noch, dass es vorher nachmittags

und abends stundenlang regnete.

Morgens wurde ich vom Lärm des

Räumdienstes wach. Ich konnte kaum

die Bahnhofstraße erkennen, das Ostfenster

war zugeklebt mit Schnee! Unten hatte Körner

der Stadt seinen Radlader ausgeliehen.

Der rumorte gegenüber vor der Stadtbücherei.

Es schneite winzige Flocken, sie wirbelten

im Oststurm. Unter der Bris hatten sich meterhohe

Berge aufgeweht. Dabei war

es minus 15 Grad kalt, unglaublich.

Dann blieb es tagelang liegen, sehr

ungewöhnlich und eine tolle Sache.

1978 war ich 14 Jahre alt.

Vorhersagen heutzutage, modern sind

sie, ohne Milchkanne und exakt. Das

aktuelle, deutschlandweite Unwetter

wurde gut vorhergesagt.

Großartig.

Am Mittwoch sah Meno uns noch in

einem halben Meter Schnee versinken,

bald hieß es, unsicher wäre, ob

die Front von Süden kommend überhaupt

die Elbe erreichen würde. Heute

wird stets upgedatet. Jeder kann

es selbst online verfolgen. Sogar bei

der Deutschen Bahn weht ein frischer

Wind, statt einfach einen (oder alle) fahr’n zu

lassen, hat sie vorsorglich den Betrieb eingestellt.

Damals hatten die einen Slogan: „Alle

reden vom Wetter. Wir nicht: Die Bahn!“ Und

dann steckten die starken Diesellokomotiven

im weiten Schleswig-Holstein fest. Da bewies

die Deutsche Bahn Humor. Sie druckten

aktuelle Plakate mit dem geänderten Slogan:

„Alle reden vom Wetter. Wir auch …“, gaben sie

es kleinlaut zu.

# Flockdown

Winter, macht ja nix. Corona? Merke ich

nicht. Mir ist nicht langweilig, meine Existenz

scheint ungefährdet, auch wenn der Arzt

grad meint, ich müsse meinen Magen spiegeln

lassen. Nicht wegen Corona, schlimmer.

Er hat es angedeutet, und gerade war ja auch

Weltkrebstag. Oha! Aber solange ich zuwarte

und es einfach nicht mache, kann es ja alles

mögliche sein. Blähungen zum Beispiel.

Es ist schon so vertraut, dass es sich nicht

mehr normal anfühlt – Oktober. Und seit ich

nicht mehr täglich saufe und neuerdings gesund

esse, habe ich zwei Kilo abgenommen.

Fenchel und Haferbrei. Der morgendliche

Klimmzug im Treppenhaus fällt mir leicht.

Die Tabletten nehme ich auch nicht.

Ich warte einfach, bis ich gestorben bin und

nehme sie anschließend.

Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 12 [Seite 12 bis 14 ]


Das ewige Leben nach dem Tod. Nicht als

Ameise, aber „man könne nie wissen“, wir reden

am Radweg. Der Hausmeister vom Rathaus,

ist er das?

Eine Bekanntschaft,

immer

bereit, mir einige

Ratschläge

mit auf den Weg

zu geben.

Der Tod, was ist

das?

O. hat mich gewarnt:

„Damit

mache man keine

Witze.“ Ich solle an meine Frau denken.

Und außerdem gebe es nur Kummer von

Ewigkeit zu Ewigkeit, wenn man nicht gottgefällig

lebe, und eine Anordnung vom Arzt

sei mit gebührendem Ernst zu befolgen. Er

habe „das Buch“ gelesen. Das schien mir aber

nicht die Pschyrembel zu sein. Und von Jehovas

Zeugen hat er auch noch angefangen.

Mann-O-Mann. Er sei kein Prediger, meinte er.

Ach so, habe ich gedacht. Dann habe ich ihm

verraten, ich sei tatsächlich ehrenamtlicher

Mitarbeiter der Stephanskirche. Der O-Mann

wohnt in Halstenbek oder so, da kann er es

nicht wissen. Der städtische Postbote, mein

Freund im Rathaus oder die Neugier bloß?

James Ond. Meine Kunst ist auch mal weghören

können. In der Küche der Verwaltung

und am Thron bei Hof ist’s dem Narren John

zu doof. Oscar Wilde: „Zu Leuten, an denen einem

nichts liegt, kann man immer freundlich

sein.“

Das O(hr) am Bürger. Mit der Pastorin läuft’s

besser, und sie hat das rote Telefon nach noch

weiter oben. Ein schönes Feld ist dieses Dorf

gewesen? Unsere Häuseransammlung westlich

von Lurup, kernlos, gesichtslos, und die

letzten Läden im „Staddi“ machen gerade das

Licht für immer aus. Wir könnten Wohnungen

reinbauen, das wird billiger als der geplante

Stadtkern, der glaube ich nie kommt. „REWE“

und die Bank, ein Anwalt, zwei Ärzte, ein öffentliches

WC – das ist wichtig – und dann

ein paar schöne Appartements unter der

Glaskuppel.

Parkplätze ham’ wir ja schon reichlich.

In der Schule hat uns die Lehrerin erzählt,

wie Glückstadt entstanden ist. Die nette kleine

Stadt an der Unterelbe wurde am Reißbrett

entworfen und ins Nichts der weichen

Marsch gebaut. Ein dänischer König wollte

Hamburg wirtschaftlich in die Knie zwingen.

Der König hätte auf seinem Pferd gesessen,

im morastigen Marschland der Rhinmündung,

mit einigen Getreuen an seiner Seite.

Während das Pferd leicht unruhig tänzelte,

erklärte der große Däne seine Pläne: „Glückstadt!“

Der dänische Fürst und Staatenlenker

holte mit dem Arm weit aus. Seine edle Hand

beschrieb einen Bogen, und mit den Augen

visierte (und vor dem inneren Auge visionierte)

der Kong die träge dahingleitende Elbe

und das weite, baumlose Land bis zum Horizont.

Er sagte:

„Dat schall glücken

und dat

mutt glücken,

und denn schall

se ok Glückstadt

heten!“ (Wikipedia).

Die Vasallen

nickten ergriffen.

„Ja, du großer König

und Fürst von

Schleswig-Holstein,

eine tolle

Idee, hier den Stadtkern einer Metropole zu

planen“, mögen die Begleiter zugestimmt haben

– aber dann sackte der Gaul ihres Herrn

im Modder weg. Bis zum Bauch steckte das

Pferd fest, so weich war das Marschland.

Das hat uns Frau Herchenhan erzählt, in der

Grundschule. Kein glücklicher Anfang für eine

gewünschte, glückliche Weltstadt. Letztlich

war es die Rhinplatte,

die alle

Pläne von lebhaftem

Handel

mit reichlich

Schifffahrt, einem

Hafen, der

es mit Hamburg

aufnehmen kann,

zunichte machte.

Breit hingestreckt

liegt eine

flache Sandbank

vor dem Tor zur

Welt, die sich

(bis heute) immer neu aus dem Spülgut des

kleinen Flüsschens nährt. Ein kurzsichtiger

König, der das übersehen konnte.

Schenefeld könnte schöner sein? Christian

der Vierte und Christiane die Einzige folgen

schon dem Namen nach Christus dem

Alleinigen (aus dem Buch). Und so muss

die Geschichte zeigen, wie groß und

kernig sie sind. Glücklich geplant an der

Elbe: Sternförmig laufen alle Straßen

auf die Mitte der Stadt zu, das Zentrum.

Glückstadt hat einen unübersehbaren

Kern. Das ist rund um die Kirche der

Marktplatz. Wenn wir das

nachbauen wollten …

Das eine ist ein Wort, „Kern“

etwa, aber was steht dahinter?

Deutschland ist zusammengewachsen,

Menschen

fliehen aus dem Krieg und

Kinder werden geboren.

Bessere Planung in der

Pandemie wird gern angemahnt.

Scheint nicht alles zu klappen

beim Weltmeister (das beste

Deutschland aller Zeiten), der

Wettbewerb impft schneller? Ich

möchte nicht woanders leben.

Letztlich ist jede Planung nur

die Mühe derer, die etwas erreichen

wollen, und auf der ande-

ren Seite wuselt das Leben und geht seinen

Weg. Großes zu schaffen oder einige Berater,

Architekten und Baufirmen zu beschäftigen,

und nachher stehen da nur mehr Häuser anders

rum, wir dürfen gespannt sein.

Auf einem Bild mit Farbe fertig zu werden,

das ist meine Verantwortung und ein erreichbares

Ziel. Einmal mehr führt uns die

Pandemie vor Augen, wie schwer Ziele zu erreichen

sind, zumal, wenn sie erst

konkretisiert werden müssen. „Es

soll wieder alles ganz wie früher

werden!“ Es ist dagegen leicht,

Fehler zuzuweisen, wenn es viele

Beteiligte gibt und das Ergebnis

bei weitem nicht so exakt definiert

werden kann, wie etwa ein

Produkt im Laden, das wir gut bewerten

können. Wir wechseln den

Händler, wenn nicht taugt, was wir

kauften.

Ich glaube, ich male, weil es so

konkret ist das zu tun.

Malen geht immer. Und das Ergebnis kann

ein Künstler an sich selbst messen. Es ist

eine Einzelleistung. Nach vielen Jahren hast

du das gelernt: es gibt keine Bewertung von

wem auch immer, die das Werk selbst und das

erfüllende Bewusstsein ersetzen kann, das

dich begleitet, wenn du allein handelst und

es als richtig begreifst.

Den städtischen Mitarbeiter

mit seinem Lastrad,

ich treffe ihn immer

wieder mal gern am

Krälaweg, er radelt gemächlich

mit der Stadtpost

zum Timmse. Unser

Plausch in der alten

Landstraße, das ist noch

erlaubt, und ich bin gern

an der frischen Luft. Das

Buch! (Er hat es nur angedeutet).

Wie groß sind

wir denn? Richten und begnadigen. Ich glaube,

dass Gott sich auch um die kümmert, die

an Allah glauben, aber O. ist anderer Meinung.

Jedem seine Schuld … ob Gott sich auch um

Woelki kümmert? Schaun wir mal.

Bei den Katholischen wieder Stress.

Ich nutze die Zeit im Home Office, mein Atelier,

habe stürmische See ins Bild gemalt. Nun

werde ich beginnen, anderes auszuarbeiten.

Entsprechend meiner Lieblingsverkäuferin

auf dem Wochenmarkt habe ich eine „Shirley,

die Scholle“ hineinerfunden und das Gesicht

Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 13 [Seite 12 bis 14 ]


der „Europa“ ausgearbeitet. Ich habe begonnen,

den Stier „Zeus“ exakter zu gestalten.

Das finde ich leicht, nachdem ich mich mit

dem Meer so schwer getan habe. Seit Oktober

habe ich beinahe nur Wasser gemalt, und

vorher hat das Bild reichlich vier Wochen

rumgestanden. Im Mai habe ich begonnen,

und dann nur sporadisch dran gearbeitet.

Nach dem Urlaub im Sommer bin ich erst

gar nicht in Gang gekommen weiterzumalen.

Dann habe ich ein Modell gebaut mit kleinen

Figuren, für eine Bürogemeinschaft, ein

kleiner Auftrag, aber seit dem Herbst habe

ich fast täglich Wellen gemalt. Das hätte viel

schneller gehen können, wenn ich’s denn

gekonnt hätte. Das Wasser wollte

mir nicht gelingen. Jetzt finde ich es

ganz gut, doch.

:)

Feb 8, 2021 - Ein kalter Wind weht 14 [Seite 12 bis 14 ]


Weißer Winter, rosa Rauch

Feb 13, 2021

Aus unserem Küchenfenster: Rosa ist der

Rauch nur an wenigen Tagen im Jahr. Das

passiert im Winter, die Sonne muss morgens

eine bestimmte Position rechts vom Hochhaus

haben. Ein wenig später steht sie zu

hoch, scheint zu hell, und der Rauch aus dem

Schornstein leuchtet beinahe weiß.

Viele Menschen haben eine Lieblingsfarbe.

Aber noch nie habe ich einen getroffen, der

meint das „g“ (innerhalb der Notenlinien) sei

ihm der schönste Ton, allemal besser, als das

schnöde „f“ eben drunter. Einige streiten

sich gern: „Das ist orange, nicht rosa“,

sie kennen sich aus? Meine Mutter verwendete

den Ausdruck „petrol“ für ein

dunkles Türkis. Damit können manche

nichts anfangen, und sie diskutieren

gern, ob etwas grün oder blau sei, wenn

der Farbton dazwischen liegt. Dasselbe

machen sie bei violett. Sie können nicht

sagen, es sei gerade ein rötliches Blau.

Verbalisten wissen eventuell nicht, wie

man ein Blau mit ein wenig rot, das man

hineinmischt, zum Lila machen kann?

Damit ich einen Ton anpassen kann,

muss ich ein Gefühl dafür bekommen,

wie viel gelb einem Rot noch fehlt, und

dann kann ich sagen: „Das ist ein rotes Gelb

oder es ist ein grünes“, so steht es auch auf

der Tube. „Titangelb grünlich“ oder „Phthalogrün

gelblich“ im Unterschied zu „Phthalogrün

bläulich“, und das ist nicht wie beim

Autohändler (oder dem Sofa) in „Rio Verde“.

Auf dem Auto, am Vorhang, der Kleidung und

im Bild haben die Farbtöne eine Funktion

und lösen Gefühle aus. Farbe ist emotional,

streitbar. Im Künstlerbedarf ist sie ein Material

und so bezeichnet. Weshalb wir Maler

„Elfenbeinschwarz“ im Laden vorfinden, wo

die Stoßzähne der Elefanten doch weiß sind,

das verwundert? Der Farbname „Elfenbeinschwarz“

bezeichnet ein schwarzes Pigment,

das ursprünglich aus unter Luftabschluss

geglühtem Elfenbein gewonnen wurde. (Wikipedia).

# Einige wollen immer das Gegenteil sagen

Sie täuschen Selbstbewusstsein vor durch’s

grundsätzliche Widersprechen. Reizvoll, wenn

es gelingt, so eine penetrante Diskutante zu

manipulieren, dass die Person schließlich für

das Gegenteil plädiert, das ihr anfangs wichtig

war. Es gibt immer ein paar Gründe für die

eine wie die andere Position. Man kann für

besseren Schutz der Mieter eintreten und die

typischerweise gewinnorientierten Vermieter

anprangern oder darauf hinweisen, dass es

Mieter gibt, die kein Hauswirt leiden kann

mit den entsprechenden Details,

und die Position des Vermieters

stärken. Argumente lassen sich

für viele Ansichten finden. Eine

eigene Meinung zu haben, ist

mehr, als aus dem Vorrat gängiger

Thesen aufzutischen. Die

Meinung zu etwas wechseln zu

können, und nicht Ansichten wie

Unterhosen aus dem Schrank zu

nehmen, macht einen starken

Charakter aus.

# Deswegen bedeutet eigene

Gedanken denken zu können

Freiheit

Es ist die Freiheit von den Fesseln der Angst,

nicht viel mehr, als eine individuelle Angewohnheit

loszuwerden. Am Schlimmsten

dran ist der Mensch, der nicht einmal weiß,

dass er sich grad fürchtet, in unangenehmen

Situationen grundsätzlich streitet oder einfach

flüchtet.

Es passiert: Wie ein Geschenk kann der

zwanghafte Schub, eine deftige Aktion aggressiven

Verhaltens, die uns wie unabänderlich

geschieht, deutlich machen, wie sehr wir

gekränkt wurden. Wer nicht wählt, obwohl

Alternativen zur Verfügung standen, kann

sich dessen im Nachhinein bewusst werden.

Typischerweise angepasst wäre es gewesen,

wenn wir wie sonst alles hingenommen hätten?

Aber wie fremdmotiviert starten wir einen

„Befreiungsschlag“.

Danach wird ein Mensch sich erst bewusst,

wozu er in der Lage ist.

Als ich zu malen begann, fand ich

leicht ein Thema. Rosa leuchtet

der Rauch, wie schön. Ganz sicher

gäbe es die genialsten Bilder

mit diesem Motiv, aber ich fand

es genug, den Blick von dort zu

malen, wo ich’s gerade gesehen

habe. Ich war auf der Suche und

wusste es nicht. Hätte ich besser

gezielt gearbeitet, von Beginn

an ein Stilmittel perfektioniert?

Sonnenuntergänge gehen immer.

Einige malen die Brandung immer

wieder. Ich habe von einem

Bild zum nächsten gemalt, bis ich

wusste, was mir fehlt. Ein längerer

Weg, nicht nur in der Malerei.

Seitdem fühle ich mich frei zu

wählen, was ich male. Wie lange

das dauert, bis ein Bild fertig ist,

und ob es anderen gefällt, interessiert mich

heute überhaupt nicht mehr. Und zwar, weil

es immer so wichtig gewesen ist und mich

Zurückweisung oder ausgebliebene Anerkennung

geschmerzt hat.

Niemand ist davon frei, gern gelobt zu werden.

Wenn dies ein übermächtiges Problem

darstellt, sich stets in den Vordergrund

drängt, und bei mir ist das der Fall, ist es wohl

am Besten, entsprechende Situationen zu

provozieren, in denen man trotz aller Mühe

leer ausgeht. Es bedeutet, sich einen Spiegel

vorzuhalten mit Ansage. Das heißt, viel

zu leisten aber das Ergebnis so zu gestalten,

dass die Anerkennung ausbleiben muss.

Ich möchte keine Beziehungen, keine sozialen

Bindungen! Keine Freunde, keine Liebe

erleben und keine Träume haben, die sich

erfüllen mögen. Die bekannten Worthülsen

haben mich enttäuscht. Ein derber Spott

liegt mir auf der Zunge bei so vielem, was

immer wieder gesagt wird: Wir sind so gut.

Wir trennen Müll. Wir sind „Me-too und Black

Lives Matter“. Wir müssen Vegan sein und

setzen einen Helm auf beim Fahrradfahren,

weil es sicherer ist und sich „richtig“ anfühlt?

Wir gendern. Wir cremen die Haut. Wir kaufen

„Bio“ und fahren elektrisch, sind smart. Wir

sind auf „Insta“ oder sonst wo sozial „unterwegs“

im Netz. Der Mensch übertrumpft sich

im Teilen, spendet Knochenmark und noch im

Tode seine Organe, kämpft gegen den Krebs,

als wäre das kein individuelles Teil seiner

selbst, sondern die Geißel für Jedermann. Informiert

aus dem Baukasten. Das Leben: Die

Challenge. Corona, Jerusalema. Wir stehen

zusammen! Halten Abstand. Nur gemeinsam

kommen wir da durch. Und der Präsident

stellt eine Kerze in das Fenster. Endlich aus

der Kirche austreten und: Los geht’s Peloton!

# Wir sind soo modern

Nichts für mich. Ich möchte nicht moralisch

richtig leben, ich möchte mich ausleben und

entwickeln, nicht einen Menschen geben, der

in seiner Rolle gemocht wird.

Niemand ist frei davon, in Beziehungen zu

leben.

Aber ich möchte frei sein innerhalb der Bindungen.

Das macht es nicht leicht, nicht für

mich, meine Angehörigen, die Freunde, aber

es hält mich fit – und möglicherweise ist es

nun einfacher, freundlich zu sein.

:)

Feb 13, 2021 - Weißer Winter, rosa Rauch 15 [Seite 15 bis 15 ]


Europa, eine wahre Geschichte

Feb 18, 2021

„Europa ist von den Socken“, nun bin ich mit

dem Bild soweit, dass alles im Wesentlichen

festgelegt ist. Nach Monaten ist der Punkt

gekommen, zu verbessern, was bereits gut

dasteht. Ich bereite mich vor, probiere möglichst

geplant zu beginnen, mit dem Malen

erst anzufangen, wenn die kompositorischen

und inhaltlichen Fragen geklärt sind. Dann

passiert trotzdem jedes Mal das: Probleme

tauchen auf. Die lange, wahre Geschichte des

Bildes, hier kommt sie.

# Eine Chronologie, was alles misslang

Zunächst startete ich mit dem Mädchen auf

einer Kuh reitend. Das Erste war, daraus einen

Stier zu machen. Das ergab sich allein aus

dem Gedanken, die pornografischen Inhalte

noch aufzupeppen. Und erst als ich bereits

mit dem Malen angefangen hatte, begriff ich

das darin verborgene Thema.

Ich war unterwegs im Einkaufszentrum.

Es ergibt sich, ich komme mit einer attraktiven

Studentin ins Gespräch, kann es nicht

lassen von meiner Webseite zu erzählen,

und die junge Frau zieht schwupps ein Tablet

hervor, gibt meinen Namen ein. Das Bild

wird bereits im Blog erwähnt, so etwa im Mai

vergangenen Jahres. Wir reden und reden im

Geschäft (ohne Maske, glaube ich mich zu

erinnern, es ist gerade besser geworden mit

Covid), wo sie einen Nebenjob hat. Sie überfliegt

die Texte im Blog, und ich erzähle von

„Gurken und Rosen“, und warum ich das nicht

auf der Seite zeigen kann, jedenfalls nicht in

großer Auflösung. Ich sage, dass ich Bo Bartlett

bewundere und nun Themen aus meiner

selbst erlebten Erfahrung umsetzen möchte,

aber ohne den Stress, der einem widerfährt,

wenn die Menschen identifizierbar sind. Sie

erzählt, dass sie in Kiel einen Hund haben

kann, bei ihren Eltern in Hamburg wohnend

nicht, und dass sie möglicherweise dabei ist,

den Studiengang zu wechseln. Was könnte

besser zu ihr passen? Sie überlegt, und ich

denke, da ist es wieder mein Bild: Die junge

Erwachsene auf dem Weg ins Glück.

# Wo ist die Weide mit dem grüneren Gras?

Ich möchte realistisch malen, aber nicht reale

Situationen, und es soll mit dem Erwachsenwerden

zu tun haben und mit jungen Menschen.

Mein Leben, ich kann zurückschauen,

wenn ich der Gegenwart zuhöre. Ich denke an

den alten Hans-Jürgen, einen Freund. „Wenn

du früher die Jugendlichen

gefragt hast, sie wollten Lokomotivführer

werden, Kapitän

und Krankenschwester. Heute

sagt die Enkeltochter ,ich will

studieren’ und schaut dich

groß an“, meint er.

Er lässt das so im Raum stehen.

# Im Laden

Es ist viel Zeit vergangen, seitdem

wir im Geschäft geredet

haben, die Verkäuferin, Studentin

und ich – der Künstler, so

hat sie mich genannt. Ich gab

zu, Porno zu lieben, aber nicht

diesen Markt bedienen zu wollen, sondern

„Bilder“ zu machen. Zu dem Reitermädchen

meinte sie, das wäre ja wie bei „der Europa“,

und da habe ich so getan, als wüsste ich: „Ja“,

sagte ich nur. Ich hatte keine Ahnung, habe

zuhause gegoogelt. Tizian hat es gemalt, und

andere. Der Göttervater Zeus verwandelt sich

in einen freundlichen und wenig gehörnten,

attraktiven Stier, der auch nicht allzu gewaltig

groß ist. Er raubt die am Strand spielende

Göttin Europa, schwimmt mit ihr nach Kreta

und verwandelt sich zurück. Eigentlich hat

der Alte bereits eine Gattin, die soll es nicht

mitbekommen, deswegen die Entführung

in Tiergestalt. Aus der Liebelei entspringen

noch Kinder, das ist eine alte Sage.

Unser Kontinent hat seinen Namen davon.

Also überlegte ich, entschied mich, die Socken

auf „europäisch“ umzutrimmen. Mein

Bild trug den Arbeitstitel „Das grünere Gras“,

und nun konnte es auch „Europa ist von

den Socken“ heißen. Grünes Gras heißt jetzt

auch grüne Politik; wollte ich das sagen? Ein

chaotisches Parlament, der Brexit; mit einigen

wenigen Pinselstrichen kommen neue

Inhalte dazu, warum nicht? Big Brother, Sex

in Bondage, wer sieht was im Bild, interpretiert

hinein? Da waren sie wieder, die mehr

als tausend Worte im Gemälde. Es überrascht

zunächst den Künstler selbst, was gerade an

der Angel unserer Fantasie zappelt. Nur wer

seine Zukunft plant, habe eine, plakatiert die

Bank und empfiehlt eine Geldanlage. Wer

wisse wie viel er dem Zufall überlassen dürfe

habe das Glück auf seiner Seite, findet Lady

Barbara Wellington im Roman „Hornblower“,

und schon Edward Hopper beklagt, dass sich

die malerische Idee während der Arbeit noch

wandelt. Das müsse man hinnehmen, sagt

der Meister.

# Oder als Chance begreifen …

Mir war es darum gegangen, die Fantasie und

Erwartung junger Frauen „nichts zu verpassen,

jedem Ideal des perfekten Lebensentwurfs,

aber auch alles zu erleben und richtig

zu machen“ in ein Bild zu packen. Ein Studium

im Ausland, eine Lehre zuhause reicht schon

mal nicht. Ein toller Mann, aber nicht gleich

der Erste, der kommt usw. – die moderne plakative

Sexualität, über die man aber nicht

spricht, das sollte auch hinein. Zu meiner

Zeit waren Live-Cam-Porno und Internetsex

undenkbar, im Playboy alle Frauen untenrum

haarig und zudem im Intimsten retuschiert.

Noch mehr Haare drauf.

# Eine alte Geschichte, modern interpretiert

Ich wollte die Orvellsche Komponente im

Bild haben und fand die Drohne auch aus

kompositorischer Sicht prima. Eine böse

Spinne und schwarz. Das ganze Konstrukt

der formalen Beziehungen konnte an diesem

Punkt getrimmt werden, wie ein Segel durch

die dem Wetter entsprechende Spannung auf

dem Fall und den Streckern: Cunningham,

Unterliek, flexibel nachjustiert mit Traveller

und Großschot. Die formale und inhaltliche

Spannung einer Komposition entscheidet darüber,

wie interessant ein Thema präsentiert

wird. Wo die Dinge auf einem Bild ihren Platz

haben, wie intensiv ihre Farbe ist und welche

Richtung sie dem Auge geben, nicht zuletzt

die inhaltliche Bedeutung und damit ihre

Gewichtung, ob sie einen Schwerpunkt der

erzählten Geschichte darstellen oder eine

spielerische Ergänzung, bestimmt über seine

Qualität. Schief konnte mein Schiffchen

runterstürzen und doch würde der Betrachter

immer zurück in die Komposition finden.

Alles hängt an diesem schwarzen Stern im

Himmel. Dass mit dem Wal konnte die unappetitliche

Seite des Themas „Sex mit Tieren“

noch toppen, hatte zu diesem Spritzer geführt

und würde verklemmte

Trutschen zornig machen, gut

so. Die Möwe hat ihren Platz

bekommen, weil die obere

Socke beim Probieren so ähnlich

ausgesehen hat wie ein

Seevogel. Da habe ich lange in

Photoshop gebastelt, bis diese

rein formale Idee „der ähnlichen

Kontur“ erzählt werden

konnte.

Ich möchte eine schöne „Europa“

malen, hoffe es gelingt.

Manche dürften sie für naiv

halten. Ich sehe das anders.

In diesem Rind steckt nicht

allein der alte Zeus, sondern

auch ich, John der Maler. Unterwegs in dieser

Lage, ist er der Erschrockene auf dem Floß

und derjenige, der bei aller Lust gerade einmal

mehr begreift was hier geschieht. Ihm

wird die Schuld zugewiesen, verantwortlich

mit ihr in diesem Kuhsturm zu schippern.

Und das weiß der alte Esel, pardon Stier (und

Lustmolch) natürlich am Besten von allen

selbst. Er hat keinen Motor installiert, keinen

Mast mit einem Segel aufgestellt. Um die

Vorräte kümmerte er sich wenig, wer von den

Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 16 [Seite 16 bis 19 ]


Beiden hat den Futtertopf mitgenommen?

Was tut er denn für seine Freundin? Dass gerade

frischer Fisch an Deck landet, das reine

Glück. Unbedarft wie ein Sterntalermädchen

ist sie mitgegangen. Hier glaube ich, dass sie

sich ihrer Gemeinsamkeit mehr bewusst sind,

als der Betrachter ahnt, wenn er das Bild zum

ersten Mal sieht. Sie trägt die Ketten, ohne

sich daran zu stören, es kratzt sie als jungen

Menschen auch nicht, dass alles vielleicht

nur eine Inszenierung in einem möglicherweise

künstlichen Hexenkessel ist: Las Vegas

Bullenreiten, ein Meer wie in der „Truman-

Story“, eine Challenge. Wer weiß das schon?

Politik ist genauso dabei. Sie sind aneinander

gebunden, wie die Briten unweigerlich an

Europa. Eine Trennung ist möglicherweise

gefährlicher, als gemeinsam weiterzumachen.

Das sind so einige Gedanken, die mir

kommen. Eine Reise mit ungewöhnlichem

Ausgang. Wir dürfen annehmen, dass ihre

Fröhlichkeit einiges dazu tun kann, dass das

Ganze noch gut ausgeht.

# Jedes Bild ist zunächst eine Baustelle voller

Probleme

Als ich anfing zu malen, mussten gleich die

ersten Fehler, die ich übersehen hatte, korrigiert

werden. Meine Vorlage war ein Mädchen

(nackt) auf einem Pferd gewesen, und

für unten habe ich das Bild einer jungen

Frau (angezogen) auf ihrer Reitkuh genommen.

Die Frauen habe ich getauscht, mein

„Public-Porno“ für oben, und anstelle des

Pferdes kam die Kuh nach unten. Photoshop

macht es möglich, und ein Vergnügen ist es

ja bereits, den richtigen Teen zu finden. Es hat

mich von Beginn des Computer-Porno an geärgert:

Jeder kann über Google mit geringem

Aufwand sofort in die weltweit eingestellten

Bilder eintauchen, und eventuell kommen

auf die Vorschaubildchen ganz andere Nachfolgeseiten?

Und ggf. werde ich strafrechtlich

verfolgt, falls das Falsche dabei ist? Mit dem

heute etablierten Begriff „Darknet“ entsteht

der beruhigende Eindruck, dass kriminelle

Energie vonnöten ist, um abzudriften. Ich

surfe entspannt, sage mir, dass Hamster & Co

ein Interesse daran haben, sauber zu sein, genieße

die leichte Verfügbarkeit der schönen

Bilder und gebe das gern zu.

Als das Bild bereits im Werden war, änderte

ich bald den Busen hin zu kleinen, etwas in

den Brustwarzen aufgewölbten Glocken, die

mir besser zu passen schienen. Das habe ich

nach langer Suche im Fundus verschiedenster

Screenshots, die ich machte (es kommt

auf die korrekte Perspektive an) chirurgisch

umoperiert. Dann ausgedruckt, und zwar in

der Größe meines Bildes. Ich klebte die neue

Vorlage einfach neben die zu ändernde Stelle

auf die Leinwand und übermalte die Brust.

Es musste ein linkes Bein in das Bild, fand

ich und habe lang probiert, wo es hingehört.

Auf dem von mir als Vorlage verwendeten

Foto sitzt das Mädchen normal im Sattel, das

Bein gehalten mit dem Fuß im Steigbügel.

Vom Pferd verdeckt ist es nicht sichtbar. Ich

trennte verschiedene Beine aus

allerlei mit „Spreading“ bezeichneten

Posen, die ich versuchsweise

einkopierte. So kam die instabile

Position zustande. Schwierig ist

gewesen, den Ort am Hintern zu

definieren. Der Fotograf hat seine

(im Original verschämt blickende)

Freundin, (weil es draußen auf dem

Reiterhof ist, mutmaßlich, weiß ich

ja nicht) auf dem Familiengaul (?)

von unten abgelichtet. Da ihre linke

Schulter deswegen weit unten zu

sehen ist, musste das abgewandte

Bein unterhalb der Pobacke angebaut

werden. Das sieht noch nicht

überzeugend aus. Ich hoffe, dass

ich’s plastisch hinbekomme. Es

wird zum Schluss gemacht, nachdem

der Rest ziemlich fertig ist.

Die tief sichtbare Schulter gab die Höhe der

hinteren Brust vor. Jetzt zahlte es sich aus,

dass ich schon so unendlich viel Akt gezeichnet

habe und im Studium eine gute Ausbildung

erhielt, genau hinzusehen. Weil ich

den Ort dieser Schulter lokalisieren konnte,

ergab sich die Möglichkeit digital in meiner

Entwurfsdatei zu messen, wo der Arm mit

der linken Hand des Mädchens enden würde,

wenn ich ihn änderte. Das war nötig. Auf dem

Foto hält sie sich am Sattel fest, der einen

Knauf hat. Nachdem ich eine offene Hand mit

schönen Fingern am Mac in die Fotovorlage

einbaute und den Arm um den Drehpunkt

bewegte, wo ich die Schulter vermutete, bis

die Richtung stimmte, schien das ganz gut

auszusehen. Aber auf der Leinwand habe ich

die Hand, nachdem sie gepaust und ausgemalt

dastand, noch um einen knappen Zentimeter

versetzt. Der Arm kam mir nun zu lang

vor. Das bedeutete zu übermalen. Nun hatte

ich es nicht mit einer Ebene im

Programm zu tun, die man einfach

verschiebt. Dasselbe erlebte ich

beim neuen Bein. Den Fuß habe

ich genauso versetzt, neu gemalt.

Das Bein war zu lang, und das sah

man erst, als es auf der Leinwand

gezeichnet und mit hellrosa vorgemalt

war.

Das Gesicht habe ich durch das

einer anderen ersetzt, erst jetzt

im Januar nochmals umgestaltet,

da es witziger ist, wenn sie ihre

Floßfahrt genießt. Dafür bin ich

wieder pragmatisch vorgegangen.

Ich habe mir eine gesucht, die den

Kopf in passender Perspektive hält.

Das war zunächst eine junge Frau,

die während des World Naked Bike

Ride fotografiert wurde und etwas

auf dem Handy anschaut. Für meine

Absicht musste sie nicht nackt

sein, denn es ging nur um die Kopfhaltung.

Auf diesem Bild lernte ich,

wie etwa die Kontur der Wange

hinter der Nase sein muss, und wie

der Mund mit einigen Zähnen unter

der Nase gemalt werden kann.

Dann habe ich weitere junge Frauen in ähnlicher

Perspektive gefunden, angezogen, aber

mit schönen Köpfen, probierte daraus eine

individuelle Person zu malen. Das dauerte einige

Tage. Der Kopf auf der Leinwand hat die

Größe eines Teebeutels, das Gesicht ist etwa

ein gutes Viertel davon, vergleichbar der

Zwei-Euromünze. Ich verwende Aquarellpinsel

der kleinsten Sorte 10/0 in bester Qualität

zum Stückpreis von acht Euro. Die reinige

ich immer wieder mit speziellem Pinselreiniger,

der Acrylfarbe anlöst, und ich verbrauche

nicht wenige davon, weil sie trotzdem ihre

feinste Spitze nach einiger Zeit verlieren.

Es mutet seltsam an, auf einem großen Bild

mit kleinen Pinseln zu arbeiten? Ich fange

zunächst mit breitem Borstenpinsel an, aber

es stimmt, ich bin Zeichner, Illustrator. Malerei

kann auch anders aufgefasst werden.

Erlaubt ist, was gefällt. Es muss mir liegen,

auf eine bestimmte Weise zu arbeiten. Das ist

doch wichtig. Es ist ja auch eine Frage des

Könnens. Wem es leicht fällt, mit schnellem

Strich einen sicheren Fleck zu setzen, kann

es tun. Ich arbeite, wie es mir gelingt. Darum

stehen mir Thema und Komposition über der

Virtuosität mancher Kollegen. Wer ein Modell

hat und in eine Position bitten kann oder in

die Natur geht und sich eine Landschaft vornimmt,

muss das Gesehene nur übertragen,

und auch diejenigen, die ein Foto wie es ist

kopieren, werden es leichter finden stumpf

abzumalen.

Die alten Meister mit ihren durchkomponierten

Figurengruppen mussten exakt arbeiten.

Vorbilder – da schmerzt mich irgendwie, dass

ihre Werke viel gründlicher und perfekter

sind und auf der anderen Seite meine Bilder

nicht so großzügig gemalt sind, wie die

anderer der Moderne (Edward Hopper). Das

Meerwasser von Anton Otto Fischer ist breit

mit sicherem Pinsel hingesetzt, davon kann

ich mit meinem Gestrichel nur träumen.

Und die Wellen von Jochen Sachse in ihrer

Perfektion haben eine sichere persönliche

Handschrift, dass man ihn sofort daran erkennt.

Fischer war Seemann gewesen, bevor

er malte. Sachse war Konstrukteur und hat

seine Schiffszeichnungen perspektivisch auf

Schoellerhammer übertragen. Er ist nur als

Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 17 [Seite 16 bis 19 ]


Marinemaler hervorgetreten, AOF konnte

auch wunderbare Szenen mit ausdrucksstarken

Figuren kreieren. Es gibt stimmungsvolle

Landschaften von ihm. Edward Hopper fand

einen Stil, Wasser zu malen, das ganz real

wirkt, aber in vieler Hinsicht nicht korrekt

dargestellt ist, sondern seine jeweilige Intention

im Bild stützt, und das ist keine Marineoder

Szenemalerei. Darauf hat er Wert gelegt,

und deswegen ist namentlich er der Erfinder

einer eigenständigen amerikanischen Kunst.

Landschaftsmaler gibt es überall. Wer nur

Wasser malt, wird es schließlich können.

Ich bin unendlich zufrieden damit, dass ich

mich immer wieder neu motivieren kann, ein

eigenes Thema anzufangen, schließlich ein

persönliches Bild auf meine Weise fertig zu

bekommen.

# Wir fallen nicht fertig vom Himmel

Zweifel und unendliche Selbstkritik sind ein

unabdingbarer Teil jeder kreativen Persönlichkeit.

Auch das ist etwas, was junge Menschen

nicht kennen: Den totalen Absturz in

Fehler, Peinlichkeiten und absolutes Versagen,

danach gestärkt loslegen. Nicht nur mit

dem Malen, auch sonst. Da sind sogenannte

Erwachsene, die verpassen beinahe alles,

sind in überheblicher Weise eingebildet.

Das ist zeitgemäße Dekadenz und nur möglich,

weil so vieles mit Geld gekauft werden

kann als Ersatz für echte Erfahrungen. Der im

„Job“ arbeitende Mensch gibt sein Geld „in

der Freizeit“ für zeitgemäßen Tand aus. Ich

selbst habe keinen Platz in der Gesellschaft,

so kommt es mir vor, schon gar nicht einen

„Arbeitsplatz“, ein absurdes Wort finde ich –

und muss dabei an Chaplin denken, wie er

in „Moderne Zeiten“ die Bewegung mit den

Schraubenschlüsseln noch macht, als er die

Firma abends verlässt.

# Gefesselt und gemeinschaftlich verbunden,

selbst schuld?

Corona: Die verschworenen Querdenker sind

nichts weniger als das, querköpfig sperren

sie sich gegen die neuen Einschränkungen,

aber denken können diese Menschen nicht.

Der breiten Masse fällt es leicht, sie als Idioten

zu erkennen. Im Mainstream vergessen

aber viele, wie angepasst sie die Generalmeinung

übernehmen. Ideologisch ist heute

alles. Medien, auch die aufgeklärten Demokraten

aus der politischen Mitte, müssen ihre

Nachrichten bzw. Thesen prüfen, unter dem

wirtschaftlichen Aspekt und dem daran hängenden

existentiellen Überleben des Kommunikators,

ob sie Bestand haben werden

oder verbal niedergerungen. Alles wird auf

eine breite, glatte Oberfläche hin nivelliert.

Übersehen wird gern, dass es immer mehr

einzelne Menschen gibt, die ihre individuelle

Persönlichkeit einer These unterwerfen: Vegan,

Fitness-orientiert oder Junk-Food bevorzugende

Dumpfbacken, es kommt nur darauf

an, was der jeweiligen Umgebung als richtig

gilt. Ein Denkbaukasten ersetzt die Fähigkeit

intelligenter Analyse, entsprechend individueller

Problemstellung, der sich der Einzelne

nach wie vor gegenübersieht. Kommerziell

ist auch das Denken und damit unser Gehirn

vermarktet worden. Hersteller und Lieferanten

dazugehörender Produkte verdienen

am jeweiligen Lifestyle. Der Allrounder

hat im Beruf von heute keine Chance, da die

Leistung der Firma Spezialisten erfordert,

und dieses Erfolgsmodell wirkt auch im sozialen

Verbund der Kollegen und Freunde.

Schon immer haben Gruppen gemobbt. In

der schriftlich fixierten Kommunikation der

sozialen Netzwerke, in denen die einzelne

E-Mail kaum mehr eine Rolle spielt, suggeriert

der Verbund mit Gleichgesinnten Stärke.

Eine „Einzelmeinung“ gilt schon deswegen,

weil sie keine Likes vorweisen kann, als

isolierte Dummheit und kann mit diesem

Begriff sofort abgestraft werden. Wir sollten

das kritisch sehen.

Als ein Spiegelbild der digitalen Welt ist der

Einzelne zum „Gruppenmensch“ mutiert. Der

vernetzte Automat agiert nach Programm, den

Maßstäben seines Umfeldes entsprechend.

Solange seine Realität dem beschränkten

Empfinden des umgebenden Systems entspricht,

das einen eigenen Kosmos generiert,

funktioniert er wie eine Zelle dieses speziellen

Ganzen, das genau genommen nur einem

Teil der Gesellschaft als richtig gilt. Dieses

nicht individualisierte Wesen scheitert, wenn

die Logik der Gruppe auf die größere Realität

nicht anwendbar ist. Eine Pseudo-

Persönlichkeit kann nicht flexibel

handeln, wenn die Umstände in

die sie gerät nach dem Programm

ihrer Umgebung unlösbar sind.

Das Scheitern eines Teammitgliedes

wird nicht notwendigerweise

zu angemessener Unterstützung

durch die Partner führen, sondern

wiederum programmierte Lösungen

anbieten. Damit scheitert

dann auch ein Teil der Gruppe.

Für junge Menschen, die in dieser

vorgekastelten Umgebung

aufwachsen, fatal. Der modern

vernetzte Mensch ist in Vollzeit

seines Daseins eingebunden in die

Kollegen, Freunde und weitere ihm

relevante Partner. Weil er auf die

intellektuelle Stütze von Ärzten,

dem Steuerberater und der emotionalen

Nähe von Freunden und

Nachbarn angewiesen ist, grenzt

sich ein unreifer Mensch weniger

von ihnen ab, als es nötig wäre.

Ein unsrem System gerade deswegen

besonders nützliches Mitglied

und zunächst einmal leistungsoptimiert,

weil es nach einem Schema denkt.

Leistung als Lebensmotto und gruppenweises

Anprangern sind weniger als die menschliche

Natürlichkeit und intelligente Kritik.

Ohne eine Lobby geht nichts, aber damit wird

jeder Protest zum gebündelten Rammbock

und das ist nicht dasselbe wie eine humorvolle

Umgebung mit vielen auch kritischen

Einzelstimmen.

Das war einmal der Siegeszug der amerikanischen

Demokratie über den Kommunismus,

Chancen für jedermann. Ein Auslaufmodell,

wenn es zum Trumpismus verblödet. Daran

ändert auch die Wahl anderer, neuer Politiker

zunächst nichts. Die konsumorientierte Welt

hat sich leistungsoptimiert, konzentriert und

verbessert bis an diesen Punkt: Im Falle von

Problemen können die uns umgebenden

Spezialisten nur im Rahmen ihrer eigenen

Beschränktheit reagieren. Damit muss in

unserer Gesellschaft zwangsläufig der Anteil

psychisch Kranker (nicht länger funktionierender

Einzelteile eines Systems, das auf

funktionelle Leistung setzt), die in Dauerbehandlung

mitgeschleppt werden, zunehmen.

Als Kreativer kann ich mich außen vom Netz

bewegen. Ich bin die Spinne. Für die innen

bin ich nur der Spinner. Mein Netz bildet sich

aus denen, die gleich mir individuell sind.

Wir sollen eingefangen werden von denen,

die an uns, aber nicht mit uns verdienen

wollen, aber wir treffen von außen auf das

Netz vom Tor, wie der verschossene Ball, der

zur Überraschung des Zuschauers gar nicht

im Kasten ist. Es sieht nur so aus, eine optische

Täuschung, gilt schließlich nicht, und

dann beginnt unser Spiel neu. Ich bin sehr

dankbar dafür, dass es mir an nichts mangelt.

Ein Frust und mein durch Mark und Bein gehender

Hass auf einige macht möglich, dass

ich malend vollkommen abschalten kann

und mir selbst sogar im Zorn und Versagen

gefalle, weil ich weiß, wie primitiv mich Leute

schon angegriffen haben. Ein ehrenvolles

Amt oder der Platz an einer dörflichen Karrierespitze

sind kein Ersatz für echtes Leben,

das beruhigt.

Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 18 [Seite 16 bis 19 ]


# Ich habe einen „Spielplatz“, und den habe

ich mir selbst ausgedacht

Mit der Idee, die junge Frau müsste sich

über das spritzige Wasser freuen, kam auch

die Scholle in die Fontäne, und das muss

ich noch ausarbeiten. Die Rose war von Anfang

an dabei. Ich habe sie bereits in andere

Bilder einkomponiert, die nach „Malen hilft“

(und den beiden dazugehörenden anderen)

gemalt wurden. Farbe bekennen: Das sind

Bilder, mit denen ich den nötigen Ärger provozierte,

Menschen aus ihrer komfortablen

Deckung zu zwingen. Ich schweife nicht ab:

Die Idee ist nach „Mal kurz für immer“ die

Themen mit „Schauspielern“ zu besetzen und

sei es, dass sich die Protagonisten verkleiden

wie in „Gurken und Rosen“. Ich habe meinen

Stil gefunden, kann eigene Erfahrungen auf

eine fantastische und symbolisch verwandelte

Wirklichkeit projizieren.

# Versuch einer Erklärung, skizziert

Malen hilft. Es scheint hinter allem noch

durch, das eklige Bild: „Verkackt hast du’s

allein“, wollte Christiane (die aus dem Turm)

mir singulär den schwarzen Peter einer gemeinschaftlich

produzierten Fäkalie zuschieben

und sich gemäß dem Amt, in das wir sie

wählten, über mich und die Situation überheben.

Dumm, naiv und machtbesessen, manipulativ

sind ihre Vasallen losgetrabt. Einen

Ochsen wollten sie schlachten. Dass ich ein

Bulle bin? Ich kann schwimmen. Übertragen

auf das aktuelle Gemälde, haben ihre Retter

die Europa wohl einfach so, mitsamt der

Ketten und dem Anker vom Floß gestoßen.

Armes Mädchen.

# Schaumiges Schlachtfeld Schenefeld!

Nun musste überall mehr Wind sein: Jetzt

fliegt der Bullenschwanz vernünftigerweise

nach hinten weg. Die untere Socke ist,

zu einem Kniestrumpf verlängert, ebenfalls

„nach dem Winde“ gebogen. Das mit dem

Kniestrumpf kam, weil ich zu spät bemerkt

habe, dass die obere Socke (in der Form der

Möwe) viel länger dargestellt war als die

untere, wenn man sie entfalten würde. Und

diese Falten kamen ja unabänderlich in den

Strumpf, damit das Ding diese spezielle Form

hat. Da blieb es nur, unten dazuzuhäkeln.

Ein Perspektiv-Fehler war im Anker. Ein kleiner

Draggen. Den hatte ich einkopiert, genau

wie er in der Vorlage abgebildet ist. Diesen

Anker hatte der Ebay-Verkäufer aber aus der

Nähe fotografiert. Mir war noch gar nicht

aufgefallen, dass die beiden oberen Flunken

dadurch falsch platziert gewesen sind. Bei

mir ist der Anker nur ein kleines Element in

einem großen Bild. Die oberen beiden Spitzen

musste beinahe gleich der unteren ihre

perspektivische Flucht haben, da alle vier

Flunken nah beieinander sind. Nun sollte

aber die oberste Spitze boshaft nah am dicken

Hodenbeutelsack enden. Nah, aber nicht

hineinpieksen … das waren Probleme! Das

Gras habe ich windig umgebogen. Den Stiefeln

habe ich kariertes Futter

gemalt, damit bin ich allerdings

noch nicht fertig. Mit dem Gras

auch nicht: Nun muss alles,

auch die Drohne und der Himmel

konkretisiert werden, ich

freue mich darauf. Besonders

meine Europa, diese Landschaften,

Hügel und Ebenen in allen

fleischlichen Schattierungen

und Rötungen –

:)

Das Bild: Vor kurzem erst habe ich alles

auf „Wind“ getrimmt. Die Haare geben es ja

schon vor. Ich bemerkte spät, dass das Gemälde

auch im Rest „Bris“ haben musste.

Schaum in das Wasser zu machen, war nicht

so schwer. Ich habe immer wieder Filme im

Netz geschaut von der See. Ich kenne mich

aus? Ich bin wohl auf dem Wasser unterwegs

seit (nein: schon kurz vorher) ich geboren

bin. Diese Stürme! Die Leute filmen auf den

Kreuzfahrten und die Seeleute filmen von der

Brücke – ich weiß nun ganz sicher, dass ich

niemals Seemann sein möchte oder tun, was

Boris Herrman macht. Darum besonders bewundere

ich Greta Thunberg: Niemals hätte

ich mich getraut auf dieser Rakete mitzusegeln,

wie sie es tat. Sie schaffte, dass Donald

Trump sie bemerkte.

Sie ist unglaublich.

Ich habe regelmäßig die Webseite mit den

Bildern von Jochen Sachse aufgerufen. Ich

habe alles was ich von Anton Otto Fischer,

Schnars-Alquist und Johannes Holst und

anderen bekommen konnte angeschaut. Allmählich

wurde mein Wasser besser, und der

Schaum ist das einfachste daran. Den Himmel

muss ich noch ausgestalten, habe mir

angesehen, wie diese Windwolken gemalt

werden. Rechts vom Kopf des Stiers sind sie

schon ein wenig konkret. Ich hab einige Tage

am Kopf gearbeitet! Er sollte als das zweite

Gesicht im Bild genügend menschliche Züge

bekommen, nicht nur irgendwie schauen.

Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 19 [Seite 16 bis 19 ]


Hell, dunkel und farbverrückt

Feb 27, 2021

„Ganz dahinten, wo der Leuchtturm steht“,

singt Hans Albers in einem vergessenen Melodram,

und: „Wär’ ich doch ein Junge noch!“,

resümiert der blonde Hans (ergriffen von

sich selbst) zurückschauend. Seine Stimme

schnarrt ein wenig. Das Ende kommt in

Häppchen: „Dort blieb ein ... Stück . von . meinem

... Glück . zu . rück“, wer hier keine Träne

verdrückt …

Ein Licht dahinten, ganz weit weg, ist es dort

besser? Ich lese: „Ein Licht war in der Finsternis,

und die Dunkelheit hat es nicht auslöschen

können.“ Ein kleines Blatt mit einer

Buntstiftzeichnung, Kerze und Gedöns wie

man’s kennt, Kinderschrift darauf. Es hängt

im Schaukasten der Dorfkirche. Ich gehe oft

vorbei und denke darüber nach. Wenn ich im

Fernsehen vor acht eine Doku: „Dunkle Materie“

sehe und auch sonst mal.

Physiker haben ein Problem, man kann es

googeln.

# Dunkle Materie ist eine postulierte Form

von Materie, die nicht direkt sichtbar ist,

aber über die Gravitation wechselwirkt. Ihre

Existenz wird postuliert, weil im Standardmodell

der Kosmologie nur so die Bewegung

der sichtbaren Materie erklärt werden kann,

insbesondere die Geschwindigkeit, mit der

sichtbare Sterne das Zentrum ihrer Galaxie

umkreisen. In den Außenbereichen ist diese

Geschwindigkeit deutlich höher, als man es

allein auf Grund der Gravitation der Sterne,

Gas- und Staubwolken erwarten würde. (Wikipedia).

In der Doku sagt ein Wissenschaftler: „Es

schmerzt schon, dass wir’s nicht erklären

können. Es muss da etwas sein, überall, auch

hier gerade um uns herum …“, er macht eine

hilflose Rührbewegung mit seinen Armen, es

zu greifen, „dass Einfluss nimmt, auf die Gravitation,

das Funktionieren unserer Welt.“

Der Bundespräsident zündet eine Kerze an,

wir gedenken den Toten der Pandemie, im

Schloss Bellevue funzelt es im Fenster. Es

gibt Hoffnung und verdeutlicht die

beschränkten Möglichkeiten des ersten

Mannes im Staate, selbst politisch

einzugreifen. Zwölf Jahre sind vergangen,

Frank-Walter Steinmeier fand sich

kräftig genug, wollte ein Bundeskanzler

werden. Die Deutschen entschieden anders.

Licht, das uns führt, scheint dahinten

im Fenster. Kraft, die alle bindet, gibt

uns persönliches Gewicht. Was können

wir Menschen erreichen, wo steht unser

Leuchtturm? Auch die Kanzlerin erinnert

an Grenzen, entwickelt Perspektiven

angesichts des Unfassbaren, setzt

den Rahmen. Merkel erklärt ihre Politik

der Einschränkungen weltumspannend:

„Die Schwerkraft können wir nicht abschalten

…“, beginnt sie einleitend einer

langen Rede zu mahnen. Was auch nicht

wünschenswert wäre, finde ich. Die

Macht des Staates ist begrenzt. Wir alle

können hier nicht weg.

Das halten einige kaum aus.

# Justizopfer Gustl Mollath will weg aus

Deutschland. „Ich würde am liebsten

das Land verlassen“, sagte der 64-Jährige der

Deutschen Presse-Agentur in München zum

Erscheinen eines neuen Buches mit dem Titel

„Staatsverbrechen – Der Fall Mollath“.

„Auf dieses Land ist überhaupt kein Verlass.“

Das Buch wurde von dem Juristen Wilhelm

Schlötterer verfasst. Derzeit lebt Mollath in

Norddeutschland, wo er nach eigenen Angaben

versucht, Fuß zu fassen. Langfristig

wäre er aber „froh, wenn ich irgendein Plätzle

auf der Welt finden würde. Ich möchte

in Deutschland, vor allem in Bayern, nicht

bleiben müssen.“ Mit Blick auf die Bundestagswahl

im September sagte er: „Ich werde

dieses Mal erstmals wieder wählen können

dürfen und muss damit rechnen, dass (Bayerns

CSU-Ministerpräsident Markus) Söder

der nächste Kanzler ist. Das beschleunigt

meinen Wunsch, das Land zu verlassen.“

Mehr als sieben Jahre lang war Gustl Mollath

wegen angeblicher Gewalt gegen seine Ehefrau

in einer Psychiatrie eingesperrt, bevor er

als Opfer der bayerischen Justiz rehabilitiert

wurde. (Gekürzt übernommen von t-online,

22.02.2021, Verwendete Quellen: Nachrichtenagentur

dpa).

Kein Verlass auf ein (noch) dunkles Deutschland?

Das Gute hat so scheint es noch nicht

ganz gewonnen. Auch in den „Star-Wars-

Filmen“ ist die „dunkle Seite der Macht“ Gegenspieler

der Protagonisten. Eine zentrale

Angst machende Frage des Menschseins; das

Dunkle, das Böse. Bibel und Kunst greifen das

Thema auf, die Physik gibt zu, dass da offene

Fragen sind. „Die im Dunklen sieht man

nicht“, weiß schon Brecht, (Mackie Messer).

Auch Maler fasziniert das Licht und die dramatische

Dunkelheit. Der Meister des Helldunkel

sei Rembrandt gewesen, meinte mein

Vater gern und holte zum Beweis unser schmales

„Knaurs Lexikon“ aus dem Regal. Das

hatten alle zuhause stehen, bevor die zwanzigbändigigen

üblich wurden, bis sie unbändig

digital besiegt wurden. „Mann mit Goldhelm“,

jeder kenne dieses Bild sagte er.

Bis 1986 galt es als „echter“ Rembrandt.

# Seit dem Erwerb und der öffentlichen Ausstellung

in Berlin war das Bild äußerst populär.

Kunstdrucke und mehr oder weniger

geschmackvolle Umsetzungen in andere Medien

(z.B. als Stickerei) waren weit verbreitet

und schmückten viele Wohnungen. Seit es

nicht mehr als Werk Rembrandts gilt, hat die

Bekanntheit des Bildes nachgelassen, obwohl

es sich dabei durchaus um ein qualitätvolles

Werk handelt, wie Martin Warnke feststellte.

(Wikipedia).

Kunst ist Fake.

Durchaus Qualität habe das Bild, sagt man,

immerhin. Und bis 1986 war es ein Meisterwerk,

das deswegen bewundert und immer

wieder kopiert wurde? Es zeigt, dass die Bilder

selbst nur flüchtig angesehen werden,

aber gelesen wird, was über den Maler gesagt

wird. Dunkeldoof finde ich das.

„Am Anfang war das Wort“, heißt es. Da beginnen

unsere Probleme, fängt es an mit

den Behauptungen. Schweigen sei Gold, wer

wüsste diesen und andere Ratschläge nicht

wiederzugeben. Wer schreibt oder malt, der

bleibt. Das verdunkelte Hirn des Menschen

ist in Kunst und Kunstkritik nicht unbekannt,

Van Gogh, aber auch Edvard Munch und andere

werden gern ausgeleuchtet.

# „Kann nur von einem Verrückten gemalt

worden sein“, besagt eine kaum lesbare Notiz

auf Edvard Munchs „Der Schrei“. War es ein

Akt des Vandalismus – oder eine Nachricht

des Künstlers? Norwegische Wissenschaftler

haben Edvard Munchs Gemälde mit einem Infrarotscanner

untersucht und sind nun sicher:

Die mysteriöse Inschrift in der linken oberen

Ecke des Gemäldes stammt vom Künstler

selbst. (…). Lange war angenommen worden,

ein verärgerter Museumsbesucher könnte

das Werk von 1893 beschädigt haben. (…)

nachdem Fachleute vom Nationalmuseum in

Oslo ihren Infrarotscan von der Inschrift mit

handschriftlichen Aufzeichnungen Munchs

verglichen haben, scheint die Sache klar. „Die

Handschrift auf dem Gemälde gehört zweifellos

Munch“, so die Museumskuratorin Mai

Britt Guleng zur BBC. Die Inschrift selbst, aber

auch die Ereignisse von 1895, als Munch das

Gemälde erstmals öffentlich zeigte, deuten

alle in diese Richtung.

Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 20 [Seite 20 bis 24 ]


„Der Schrei“ kam in Norwegen

nicht gut an.

Munch musste sich harsche

Kritik anhören, seine

seelische Gesundheit

wurde zum öffentlichen

Thema. Aus seinem Tagebuch

geht hervor, dass Munch tief von den

Reaktionen auf seine Kunst getroffen war.

Tatsächlich litt der 1863 geborene Künstler

anscheinend an Depressionen und Angstzuständen,

wie auch sein Vater und seine

Schwester. Die nachträgliche Inschrift auf

dem Gemälde war demnach wohl Edvard

Munchs Beitrag zur Debatte seiner Kritiker.

(Verwendete Quellen: BBC, Edvard Munch

wrote „madman“ graffiti on Scream painting,

scans show. Mysteriöse Inschrift, Forscher

lösen Rätsel um Edvard Munchs „Der Schrei“

22.02.2021, t-online).

Diese Geschichten, die wir (ich bin auch so

einer) machen, verrückt! Ich habe eine Freundin

(wäre es bei uns üblich, hätte ich gern einen

Harem), und dass, obwohl Nachbar Irakli

meint: „Zu dir setzt sich keine Frau mehr an

den Tisch.“ Er kennt mich? Der Künstler, das

bin ich. Bekannt im Dorf, nicht nur wegen der

„unmöglichen“ Bilder. Einmal mehr habe ich

„Scheiße gebaut“, und wir reden. „John!“, sagt

Melli, reißt die Augen auf, beschwörend packt

sie meinen Arm: „Das macht man im Dunklen,

wenn einen keiner sieht“, meine allerliebste

kleine Mellimaus ist entsetzt. Aber ich denke

anders als Gustl, mir gefällt es, im Rechtsstaat

zu leben. Ich habe einen besseren Eindruck

davon. Natürlich, auch ich möchte nur zu oft

„ganz weit weg“ – weiter als Edinburgh (wie

die Zweitliebste). Ich weiß aber, dass es nicht

geht. Da kommt schließlich (ewiglich und untrennbar)

die Haupt- und beste Ehefrau, unverzichtbar

vor allen anderen dran, und wir

bleiben natürlich hier. Nicht nur die Schwerkraft

gibt Halt, bindet. Ein anderes Mal, Melli

geht es gerade beschissen, als nun ich ihr mit

einem kleinen Hüpfer an der Bushaltestelle

zeige: „Du kannst hier nicht weg.“ Lieb hab’

ich sie. Alle.

Heute ein „Greta-Gedanke“, es gäbe keinen

Planet „B“ für uns, und man kann es größer

interpretieren: „Da sei nur eine Welt oder keine“,

erkennt Trompeter Dizzy bereits 1990 in

Prag, die Leute klatschen minutenlang. Wenn

das stimmt, nur eine Welt existiert, können

wir sie nicht verlassen, nicht einmal im Tod.

Eine Kunst, effektvoll zu malen wie Rembrandt.

Wir können mit dem Helldunkel umgehen

oder werden zwischen den Fronten zu

Staub zerrieben. Die Existenz kennt das Ende

Tod, kann aber nicht sagen, was genau nicht

existent zu sein für diejenigen bedeutet, deren

Leben beendet ist. Staub denkt nicht, ist

sichtbarer Dreck, immerhin. Die letzte Möglichkeit,

noch Putzfrau*in zu ärgern. „Dunkle

Materie“ ist unsichtbar und möglicherweise

mehr. Der Mensch muss lernen, mit etwas

zu navigieren, das niemand fassen kann. Die

Wirklichkeit von gestern ist die Karte, mit der

wir ins Morgen schippern. Weil wir so beschränkt

informiert darüber sind, wie etwas

war, wenn es vergangen ist. Wir haben hinten

keine Augen, und kriegen vieles nie mit. Das

ist nur eine der Gemeinheiten dieser auch bösen

Welt. Deswegen hat sich der Rechtsstaat

entwickelt. Das ist unser Fortschritt, seitdem

„Herr Jesus“ angenagelt wurde, weil er einige

zu sehr nervte. In dieser Tradition stehen, vom

heiligen Stephanus, nach dem unsere kleine

Kirche hier im Schenefelder Dorf benannt ist,

über viele andere, bis zum „Nawalny“ einige,

die so unbequem sind, dass eine Macht ihnen

das Maul verbieten will.

# „Wir“ machen Fehler

Natürlich ist Mollath nicht nur Opfer. Einzelne

brechen das Gesetz, aber auch Menschen

im Staat tun das, und dann greift dieses System,

das uns alle bindet. Je nach Land eine

gnadenlose Maschinerie bei den einen, bürokratisches

Unwesen bei anderen. Zu Unrecht

eingesperrt vom Staat: Wie es Gustl Mollath

ergangen ist in der Bundesrepublik Deutschland,

hat manche entsetzt, andere kaum interessiert.

Er ist ja wieder „draußen“, werden sie

meinen. Viele kommen nie mit dem Gesetz in

Konflikt. Sie finden es leicht, gut zu sein und

selbstverständlich. Immer sind sie die Äpfel,

die anderen Birnen, halten sich für gute

Menschen, begreifen nicht, dass ihnen nur

was gut gelingt. Scheuklappen ersetzen die

Bewusstheit genauso wenig, wie ein Medikament

den Psychopathen normalisiert. Auch

Normale können überraschend „geisteskrank“

werden – ein doofes Wort, „depressiv“ (immer

traurig), elegant trendy ist auch: „Burnout“ –

müssen sich neu definieren.

# Großartig!

„Sie hielte es mit Anne Frank“, meinte unsere

Bürgermeisterin über ihr Wirken an verantwortlicher

Position, als wir uns noch lange

Mails schrieben und mochten. Das sollte

wohl heißen, sie als Vertreter des Staates

lebe nach den Gesetzen des Widerstands von

damals, ließe sich leiten von idealen Werten,

könne deswegen nicht fehlgehen durch den

inneren Kompass. Heute „sind wir der Staat

die Guten“ und einen Antidemokraten Trump

halten wir aus, bis er wieder gehen muss

prophezeite sie. Sie hatte recht, was Trump

betrifft. Toll, Christiane: Ich ertrage dich, bis

du gehst. Schweigen ist erst möglich, nachdem

man alles andere probierte. Zum Letzten

bleibt das einseitige, unregelmäßige offene

Tagebuch, ein fiktives Meinungsbild und nur

eine alternative Wahrheit. Ein Blog ist nicht

sein Mittagessen zu posten und andere Banalitäten,

die dann sehnsüchtig kommentiert

zu sehen. Das ist Quatsch.

Ich wollte wissen, warum mein Freund und

Segelkamerad tot ist. Ich wollte wissen, ob es

mir selbst passieren kann, so massiv in emotionale

Not zu geraten, warum? Warum, das

habe ich mich gefragt, immer wieder. Keiner

konnte es erklären. Ausflüchte und mehr davon.

Lang ist’s her, und heute weiß ich es besser.

Schön zu leben, aber wie lange noch, ist

nicht mehr wichtig. Was soll mir die Zukunft,

wenn ich heute glücklich bin? Das Alter wird

nicht leicht sein, so viel ist gewiss. Ich erinnere

mich, und das hilft mir zu denken.

Wie etwa zu planen, was ich gleich nach der

Luvtonne machen will, beim Segeln, wenn

ich zuvor gut kreuzte und vorn vor dem Feld

liege. Die nahe Zukunft kann durch die gegenwärtige

Entscheidung ganz gut vorbereitet

werden, nur Automaten handeln nach

Programm unter Zwang. Die eigene Entscheidung

zu treffen, bedeutet wählen zu können,

wohin es gehen soll. Einen Luvkampf mit Piet

beginnen oder besser tief fahren, wie läuft

der Strom? Freiheit, Fairness und Fehler machen;

das Modell geschickt zu leben, ist im

Sport zu finden.

Und überall dort, wo wir sonst aufmerken, beginnen

plötzlich nachzudenken.

„Fruchtwasseruntersuchung? Wenn Sie die

machen, müssen Sie abtreiben, wenn das

Ergebnis eine grundsätzliche Missbildung

wie etwa das Down-Syndrom zeigt. Wenn Sie

nicht abtreiben wollen, brauchen Sie diese

Untersuchung nicht zu machen.“ Erst denken,

dann tun was alle machen oder eben nicht.

Manches müssen wir ganz allein herausfinden:

Ein ekliges, verlogenes Pack scheint die

Gesellschaft zu sein? Man muss ja nur die

Zeitung aufschlagen. Ganz weit weg, wohin

denn?

# Maria 2.0

Und doch ist Licht in der Finsternis und

verlöscht nicht. So steht es geschrieben,

was heißt das? Ein veraltetes Buch, das immer

wieder umformuliert wird, in aktuelle

Sprache. Meine Prophezeiung: Bald wird es

durchgendert werden. Warum gibt es keinen

zweiten Band? Die Bibel zwei, und jetzt auch

verfilmt von Disney.

Ich werde nicht müde, mir alltäglich neue Geschichten

irgendwo abzuschauen und stutzig

zu werden, neu zu interpretieren. Noch eine

Facette desselben: Da wird eine junge Frau

im Tageblatt porträtiert, zwanzig Jahre alt

etwa, im Bikini. Strahlt glücklich in die Kamera,

lange blonde Haare und schön zum gleich

Vernaschen für den Mann.

Unten sichtbar ist ein beuteliges Pflaster und

eine Narbe quer über den Bauch.

Sie ist hübsch, und ein Arzt hat ihr einen

künstlichen Darmausgang in den Unterleib

operiert, das müsste sein. Weil sie eine Soundso-Krankheit

habe mit Durchfall, Verstopfung,

was weiß ich was dazu und Problemen

noch und nöcher, und das sei auch gefährlich,

mache man jetzt nichts. Tatsächlich?

Das würde ich nicht glauben, wenn ein Arzt

das sagt. Verstopft, verkackt und geschickt

verpfuscht ist dieses Leben. Böse bin ich und

asozial verstockt. Voller Zorn! Kein Vertrauen

in andere: „Trau, schau wem“, die Verantwortung

liegt bei dir selbst zu entscheiden, was

gemacht wird. Wer will denn leben? Wir atmen,

das Herz schlägt, es geschieht.

Mit der Diagnose „Krebs“ konfrontiert, muss

ein Mensch die gewöhnliche Haltung: „Ich

krieg’s nicht“ (nur die anderen) aufgeben.

Wer meint, grad jung zu sein und deswegen

interessiere das Siechen alter Menschen im

Pflegeheim nicht, denkt wohl, man selbst sei

ja erst später betroffen. Dann könne man sich

damit beschäftigen, alt und krank zu sein. Ich

musste schon Hilfe annehmen. Ich habe um

vieles bitten müssen. Ich fürchte die mir aufgezwungene

Hilfe, der ich mich verbal nicht

entziehen kann, wenn ich schwach bin, in die

Enge getrieben. Den Tod fürchte ich nicht.

Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 21 [Seite 20 bis 24 ]


# Episoden des Alltags formen das Bild, unser

Helldunkel

Vor dem Bäcker klären ein Bekannter und ich:

„Sie stehen hier auch an?“ Mit der Maske vorbereitend

in der Hand warten wir gemeinsam

darauf, dass Kunden das Geschäft verlassen.

Zwei Personen sind aktuell erlaubt, ein Schild

weist darauf hin. Wir reden. „Manche fragen

gar nicht, sie übersehen dich, wenn du hier

stehst und gehen direkt rein, ganz egal wie

viele wo sind. Sie tun so, als hätten sie nichts

bemerkt.“ Wir scherzen. Er ist schon alt, knapp

auf die Achtzig zu, vermute ich. Auf meine

Frage zu Corona-Risiko und Gesundheit eröffnet

der Mann mir, er habe seit kurzer Zeit

„hier so einen Beutel“, zeigt auf den Unterleib,

ihm wäre „die Blase entfernt worden.“ Mit der

Diagnose „Krebs“ ist das bekannte Leben der

Verdrängung möglicher Gefahren unmöglich.

Muss man tun, was geraten wird? Der Arzt

wird sich geben, als mache er nur Vorschläge,

wenn er Operationen empfiehlt oder eine

Chemotherapie.

„Der Krebs ist wiedergekommen“, wie oft ich

das schon gehört habe. Immer reden die Leute

so, als wäre „der Krebs“ ein Fremder. Wie

die Jacke, die man trägt, ein Auto, dass alle

kaufen könnten, der Stuhl vom Nachbarn, jedenfalls

ein Ding, das bekämpft werden kann,

aber nicht ein Teil von ihnen selbst ist. Der

Feind, und dann kämpfen diese Leute dagegen.

Der Krebs wird betrachtet, als wäre mit

dem Begriff der operable Tumor, ein Objekt

gemeint, das autark existiert, wächst, sich

aus mir dem Kranken nährt. Und rausoperiert

entspricht „der Krebs“ dem von jedem anderen.

Nach demselben Verständnis werden Organe

gespendet und woanders eingepflanzt.

Was ist so toll daran, das Leben durch eine

derartige Operation oder Therapie länger zu

machen? Die guten Jahre, was die Vitalität

betrifft, sind bei vielen die Jugend gewesen.

Im fortgeschrittenen Alter kann eine Verlängerung

des Lebens kaum zu einer Steigerung

des Wohlfühlens führen, da weitere Einbußen

der Möglichkeiten unausweichlich sind.

Es sei denn, erst die schockierende Diagnose

lässt denjenigen erkennen, wie kostbar

geschenkte Zeit wäre, etwas noch tun zu

können. Manche spüren zum ersten Mal das

Glück, am Leben zu sein. Höchste Zeit! Unterschiede

wahrnehmen, fluchen, weinen, treten

und hier „nur noch weg“ zu wollen, ist ganz

bestimmt der erste Schritt, klug zu werden

statt durchzuhalten wie angesagt.

Politik und Freundschaft: Jemanden zu wählen,

eine Bürgermeisterin etwa, birgt das Risiko,

enttäuscht zu werden. Aber deswegen

ist es der Wähler selbst, der die Entscheidung

getroffen hat, sein Vertrauen auszusprechen,

einen Vorschuss davon zu gewähren. Ich

muss die Verantwortung für den Missbrauch

meines Vertrauens zunächst selbst übernehmen.

Ob ich sie vom Gegenüber einfordern

kann, zeigt sich im Prozess des Lebens und

gelegentlich vor Gericht.

Der Rechtsstaat begrenzt die Macht eines

jeden, auch die im Staat beschäftigten MeisterInnen

(und Pfuscher). Und das ist auch gut

so. Wenn im Herbst gewählt wird, wird man

mir (und Gustl) die Unterlagen zuschicken,

wie allen, die bei Verstand sind und erwachsen.

Seitdem ich achtzehn Jahre alt bin, habe

ich begeistert von unserer Demokratie (und

wie man es mir in der Schule beigebracht

hat) gewählt. Ich habe nie auch nur einen

Moment gezögert, meine

politische Einflussnahme

einzubringen.

Ich wollte immer die

Gesellschaft mitgestalten

und habe es getan.

Ich gehe nicht weg

aus Schenefeld, warum

auch? Sogar hier

kann ich mich wohl

fühlen, obwohl es das

Deutschland ist, das

Gustl Mollath hinter

sich lassen möchte.

Aber ich gehe nicht zur

Wahl im Herbst. Wählt

ohne mich. Ich gehe

nicht weg und nicht

hin.

Einige zweifeln und

verschwören sich. Das

bringt die, die für uns

alle arbeiten an den

Rand ihres Verständnisses,

wem sie da eigentlich

die Dienstleistung

erbringen. Ärzte, Polizisten,

Krankenwagenfahrer,

Feuerwehrleute

werden beleidigt. Zugpersonal,

Briefträger,

sie werden angegriffen.

Wir sehen, wie der Polizist

zuschlägt, und es

geht viral. Wie der verdeckte

Kommissar lügt,

um sein Ziel zu erreichen, sehen wir nicht.

Wir nehmen es an? Ein einzelner Ermittler

baut nur Scheiße, bis die Kollegen ihn zurechtstutzen,

weil sie selbst Ärger bekämen.

Wir müssen keine Angst haben, uns wehren,

wenn wir am System zweifeln. Verschworen

zu posten, ist Unsinn.

Das habe ich gefunden: Hier lässt ein Rechtsmediziner

Dampf ab, Gegendampf.

# „Solch eine Obduktion macht man nicht

allein im stillen Kämmerlein. Nach Strafprozessordnung

sind immer zwei Obduzenten

vorgeschrieben, es ist ein Sektionsassistent

dabei, in diesem Fall war auch noch eine

Vertreterin des Berliner Landeskriminalamtes

bei der Obduktion im Obduktionssaal

anwesend und auch diverse Mitarbeiter der

Berliner Rechtsmedizin.“ (Obduktion abgeschlossen,

zuständiger Arzt spricht über Tod

von Kasia Lenhardt, 24.02.2021, t-online).

Es gibt schlimmere Länder, und Gustl sollte

sich das mit der Auswanderung noch einmal

überlegen. Wir haben viele Freiheiten. Mit

Geduld und Einsicht in unsere Fehler geht

hier mehr als je zuvor in Deutschland. Wir

müssen nicht Reichsbürger, Querdenker oder

sonstwie blöd sein.

Alle Europäischen Staaten haben eine national-konservative

Partei. Wir werden uns

daran gewöhnen müssen, dass es auch bei

uns Wähler für ausschließlich diese Denkweise

gibt. Die demokratische Mitte wird

nicht müde, die vermeintliche „Alternative“

als finstere Schmuddelpartei anzuprangern,

wenn Mitglieder unsere Werte besudeln.

Die AfD in Hamburg wird abgestraft für ihre

Haltung, im Hanau-Attentat einen psychisch

kranken Einzeltäter zu erkennen. So steht es

im Schenefelder Tageblatt. „Damit erkläre

er (AfD-Fraktionschef Alexander Wolf) den

Familien der Opfer, dass ihre

Angehörigen quasi zufällig ums

Leben gekommen sind“, wird

Innensenator Andy Grote (SPD)

zitiert.

# Beim Anschlag in Hanau

am 19. Februar 2020 erschoss

der 43-jährige Hanauer Tobias

Rathjen (…) in und vor einer

Shisha-Bar, einem Kiosk

und einer Bar neun Hanauer

Bürger mit Migrationshintergrund.

Danach erschoss er in

der elterlichen Wohnung seine

Mutter und sich selbst. Die Tat

wird vom Bundeskriminalamt

als rechtsextremer Terrorakt

mit rassistischen Motiven eingestuft.

(…) arbeitslos und den

Behörden seit Jahren mit paranoiden

Wahnvorstellungen aufgefallen.

Es ist ungeklärt, warum

es dem Täter möglich war,

trotz seiner psychischen Auffälligkeiten,

ab 2002 legal Waffen

zu besitzen. (Wikipedia).

Balla-Balla, das muss ein Nazi

sein. Nach dem Motto: „Adolf

war gesund, und Millionen

Deutsche irrten nicht?“ Die

sind ja so normal, diese Attentäter.

Wer sich umbringt, ist

nicht bei Verstand, von Sinnen,

kann nicht mehr. Ein Detail, ob

rechts- oder linksextrem verstört,

religiös oder von allein radikalisiert.

Dass Gesellschaft verrückt macht, einen Teil

der Verantwortung übernehmen müsste, könne,

dürfe nicht sein?

# Verbale Besserstellung und „eingestuft“ unterwegs

Ein Kommissar ist deswegen, weil er ein Polizist

ist, noch kein guter Mensch. Staatsschützer

machen Fehler wie alle. Sie erliegen dem

grundsätzlichen Denkfehler, durchs Verbergen

ihrer Identität mit einer Lüge beginnend,

dem Guten, dem Gemeinwohl nützen zu können.

Auf der Lauer liegend, Fallen zu stellen,

ist aktiv sein. Heißt, der Ersttäter ist unser

Staat. Der Schutz unseres Gemeinwohls beginnt

vor dem Attentat, meinen wir, aber andere

als Gefährder einzustufen, ist die erste

Verschubladung. Simples Denken hilft dabei,

eine grobe Arbeit zu tun. Da verwundert es

nicht, dass nicht wenige nationalkonservative

Wähler Angehörige der Polizei, Bundeswehr

und des Nachrichtendienstes sind. Es ist

doch die Basis, dass ein Staat im Besitz des

Gewaltmonopols an dieser Position bildlich

gesprochen keine kleinen Dackel verwendet,

sondern Kampfhunde, die entsprechend geführt

werden müssen. Blöde Köter kann aber

niemand brauchen.

Von Beginn an die Bösartigkeit der Extremen

zu postulieren, vergisst, dass diese sich radikalisieren,

also schlimmer werden. Sie als

Menschen wahrzunehmen, bevor das passiert,

ist ein Ansatz, der einem dumpfen Legionär

nie in den Sinn käme. Der möchte ballern

und kann es dort tun, wo der Staat ihm

die Möglichkeit dazu gibt. Wollen wir das?

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten manche

geschockte Deutsche den Verstand, das

neue Grundgesetz zu begrüßen. Ein Rahmen,

der uns binden sollte und Krieg unmöglich.

Stück für Stück ist unser Land wehrhafter

Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 22 [Seite 20 bis 24 ]


geworden, auch nach innen, weil neue Gefahren

neue Perspektiven benötigen. Deswegen

muss nichtsdestotrotz Automatismus

jeglicher Aufrüstung nach innen und außen

kritisch gesehen werden, was auch geschieht.

Zu glauben, die Beobachtung Extremer mache

Sinn, bedeutet auszublenden und das

Risiko einzuschließen, dass diese davon noch

neurotischer werden. Die Auffälligen müssen

das nicht einmal bemerken. Es genügt, dass

ein labiler Mensch die berechtigte Vermutung

hegen darf, man würde genau hinschauen

und allein deswegen seiner Paranoia

folgt, zunehmend aggressiv denkt. Der Staat

schafft sich sein Übel an dieser Stelle selbst.

Ein Trugschluss der Mitläufer und naiv ist,

blind den Institutionen zu vertrauen. Ein

Kirchenmitglied ist kein guter Mensch deswegen,

weil er Katholik ist oder anderweitig

moralisch geleitet, sondern der Versuchung

ausgesetzt wie alle. Das lehrt uns bereits das

Vaterunser, das wir täglich beten. Die gerade

fleißig aus der Kirche austretenden Gläubigen

in Köln wollen weg, wohin denn? Ein Politiker

befreit sich durch Amt oder Ehrenamt

nicht vom allgemeinen Recht, indem er sich

platziert, als könne er sagen, „mich betrifft es

nicht, ihr seht ja, ich bin bei den Guten und

wir sind sozial für alle unterwegs.“ Das fängt

schon damit an, dass jede Agenda Widerspruch

provoziert.

Es ist zu jedem Thema schwierig, ein Gesetz

zu kreieren, das gut angenommen wird. Wenn

die SPD die Partei der Guten wäre, weil sie

sozial ist und deswegen alle mitnimmt, gäbe

es die anderen Parteien nicht. Wenn die CDU

unser aller Wohl am Besten vertreten würde,

bräuchten wir diese Politiker ausschließlich,

weil sie so richtig wären, wie sie es von

sich selbst behaupten. Das gilt für die Herrn

Bartsch, Hofreiter, Lindner und den angefassten

Genossen Lauterbach, die sich gelegentlich

wundern, nicht von allen verstanden

zu werden, obschon sie das „Richtige“ tun

(wollen). Was wir am wenigsten brauchen,

sind eitle Politiker und frustrierte Wähler wie

mich, die nicht mehr zur Wahl gehen. Hilflos

bleiben wir dem anonymen Hass ausgeliefert,

wenn wir eigene Ansichten öffentlich

machen. Es zeigt doch nur, wie eingebildet

die Menschen vor der Erfindung der digitalen

Textkommunikation lebten. Wer Transparenz

fordert, wird selbst nackt sein, und was das

bedeutet, hat schon der bekannte Kaiser im

Märchen nicht begriffen. Doof waren die,

die meinen dafür geliebt zu werden, andere

zu führen und anzuführen schon immer. Nur

die Arbeit selbst befriedigt, nicht ihre Bewertung.

# Direkte Demokratie

Wir Schenefelder (ich war gerade zugezogen

aus Hamburg) konnten 2006 unsere

Bürgermeisterin direkt wählen, bevorzugten

(damals) die optisch ansprechendere auf

den Plakaten. Es darf vermutet werden, dass

schlecht informierte Wähler (wie ich) stets so

handeln. Ich jedenfalls hatte Besseres zu tun,

als genauer zu prüfen wie’s kommen wird,

fand ich. Als Quiddje bin ich bestimmt nicht in

der Lage gewesen, zu beurteilen, was genau

„es“ (m/w/d) tut und nicht entscheidet, und

wie die Qualität der zu Wählenden Einfluss

auf mein Leben nimmt. Das Peter-Prinzip, die

Frauenquote u.v.m. – heute bin ich informiert,

mir war das wichtig.

Bei der Wiederwahl, als sich kein Gegenkandidat

fand, organisierten verschworene Gegner,

denen es nicht gelang einen geeigneten Bewerber

zu finden, die Möglichkeit, mit „Nein“

zu stimmen, für diejenigen, die Christiane

nicht leiden können. Eine nicht unbedeutende

Anzahl von Dumpfbacken verpasste der

geschockten Galionsfigur unseres Städtchens

diesen Denkzettel. Sie hat daraus gelernt. Aus

einer empathischen Frau von Nebenan ist

eine glatte Politikerin geworden.

Bei der folgenden Wahl stellte sich ein

Rechtsanwalt der FDP-Fraktion gegen die

amtierende Küchenhof, der nach verlorener

Wahl hier im Dorf nicht mehr in Erscheinung

tritt. Ich vermute, die interessierten Bürger

und Bürgerinnen haben den Mann nicht

ernst genommen.

Ich habe drei Landräte im Kreis Pinneberg

bewusst mitbekommen: Dr. Wolfgang Grimme,

Landrat 2003 – 2010. Oliver Stolz, Landrat

2010 – 2020. Elfi Heesch, gerade gewählt

vom Kreistag, nicht direkt von mir nach Inaugenscheinnahme

auf einem Plakat. Das polarisierende

Gebaren des Landrates Grimme,

dem einzigen von uns direkt gewählten, ist

mir gut in Erinnerung. Der kritisierte Abgang

vom Nachfolger Stolz gleichwohl. Diesmal

fanden sich Stimmen gegen die finanzielle

Absicherung des scheidenden Politikers,

der während seiner Amtszeit im

Vergleich zum Vorgänger elegant

manövriert hatte und kaum einmal

angefeindet wurde.

Die frisch ins Amt gewählte Elfi

Heesch ist von Beginn an mehrmals

in der Woche im Tageblatt

erwähnt und abgebildet worden,

zu Fragen der Pandemie. Das lässt

vermuten, dass sie gern deutlich

machen wird, was sie genau bestimmen,

kommentieren darf und

umsetzen kann in diesem Amt.

Wenn ich eine neue Leinwand

jungfräulich hell auf die Staffelei

stelle, weiß ich nach Monaten,

wenn das Bild fertig ist, genau was

ich geleistet habe. In Deutschland dürfte es

einen Teil von Menschen geben, die von den

Leistungsträgern nur mitgenommen werden,

aus verschiedenen Gründen. Nicht nur Kranke,

Alte, Kinder und unglücklicherweise Arbeitslose,

auch welche, die sich unberechtigt

an das fahrende Schiff anhängen. In jeder

Struktur, den Unternehmen und in unseren

Behörden, leisten einzelne Menschen verschieden

intensiv ihren Teil. Die Firmen des

Mittelstands können es sich nicht erlauben,

im Wettbewerb zu schwächeln. Unternehmen

kontrollieren exakt, wo eingespart werden

kann. Während ein kleines Geschäft sich direkt

vom Mitarbeiter trennt, wenn der Umsatz

einbricht, streiten Gewerkschaften mit

den Großen ausgiebig um Arbeitsplätze. Jedes

Unternehmen kämpft im Wettbewerb.

In der Corona-Pandemie stehen zum ersten

Mal deutlich wie nie unsere Politiker im

Wettbewerb wie Unternehmer. Seit einem

Jahr greift der Staat massiv in unser Funktionieren

ein, steht im weltweiten Vergleich, ob

die Politik es gut oder ineffizient tut. Der direkte

Bezug zu einer Ware die ich kaufte, und

ob sie mir anschließend gefällt, dieses Prinzip

stand Modell bei der modernen, demokratischen

Wahl unserer Staatsverwaltung.

Überspitzt: Wir kaufen eine Bürgermeisterin,

und dann bewerten wir den Erwerb. Konsumgesellschaft

ist so. Die Frage, was genau ein

erworbenes Produkt für uns leistet, müssen

wir selbst stellen. Jetzt beginnen wir alle

mitzureden, jeder begreift Sinn und Unsinn

des Föderalismus. Die Pandemie hat die Welt

verändert und wird es weiter tun. Das bislang

verbreitete Desinteresse an der amtierenden

Politiklandschaft und die daraus resultierenden,

profillosen Akteure werden von allen in

die Pflicht genommen, wie wir’s nicht kannten.

Das wird neues Denken hervorbringen!

Wir dürfen gespannt sein.

Ein älterer Mensch kann mit der Erfahrung

resümieren, resignieren, sich trotzdem engagieren

oder enthalten, bemerken, dass die

Welt ohne ihn läuft. Die Freiheit zu wählen:

Das hätte ich nie verstanden, wenn ich nur

erlebt, aber nicht erfahren hätte zu leben.

Scheitern führt idealerweise dazu, nach

Gründen dafür zu suchen, Fehler zu bemerken

und daraus zu lernen. Meine Erfahrung:

Malen hilft dabei, persönlich und individuell

zu denken. Dafür bin ich dankbar, bei allem

Frust und vergnügt am Bild beschäftigt. Ich

weiß nun, was ich kann und was nicht. Dieses

Geschenk wird dem Menschen nur zuteil, der

sein Leben nicht vermeidet und anstelle dessen

auf die Bewertung anderer angewiesen

ist, Glück zu spüren.

# Sie wissen nicht, was sie tun

Ein Arzt ist nicht zum Wohle des Patienten

tätig, weil er einen hippokratischen Eid auf

seinen Beruf geschworen hat. Wir sollten den

Berufstand wegen seiner prinzipiellen Macht

über Patienten fürchten, könnten darüber hinaus

eine allgemeine Liste der Berufe insgesamt

anfertigen, deren Tätigkeit die Beschäftigung

mit dem Wohl anderer ist. Das würde

helfen, den Zorn einiger besser zu verstehen,

die heute freier motzen dürfen als je zuvor.

Ein Polizist oder Staatsanwalt ist für den

Staat tätig, muss Gewalt ausüben im Sinne

des Systems: Das wird sich immer gegen

Einzelne richten. Niemand kann vollkommen

das System in seiner Gänze verkörpern. Dein

Freund und Helfer wird zum Gegner werden,

wenn du ein Verdachtsfall bist. Wenn wir

Älteren eine Pflicht haben, dann diese: Das

unabhängige Denken und freie Selbst einzufordern,

für uns, dazu den anderen „Geisteskranken“

Training und Verstand anzubieten.

Und der Jugend dürfen wir nicht vormachen,

besser zu sein, dass sie uns deswegen folge.

Der Staat wird Kranke und Straftäter wegdrücken

und einsperren. Menschen fürchten sich

vor ihnen und haben den Apparat gewählt,

dass er sie schütze.

Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 23 [Seite 20 bis 24 ]


Es ist also am Einzelnen, seine Gesundheit

zu beweisen. Im Rechtsstaat werden sich

genügend Unterstützer finden, wenn wir beschuldigt

werden, woanders nicht. Andern zu

vertrauen, ist nicht ratsam, sich selbst durchaus,

und dass die Sonne aufgeht und morgen

wieder Licht ist? Nicht unwahrscheinlich. Sogar

das Dasein in der Psychiatrie findet nicht

in vollkommener Finsternis statt.

Es ist klar, dass, wenn in einer (katholischen)

Kirche Missbrauch vorkommt wie in jedem

Sportverein und Kindergarten, auch manche

Verantwortliche in psychiatrischen Einrichtungen

ihre Macht über die Patienten missbrauchen.

Das wird es immer geben, wo entsprechende

Verhältnisse gegeben sind. Und

natürlich kann ein verschworener Klüngel in

einer Institution Einzelne zugrunde richten.

Deswegen ist die Welt als Ganzes nicht verschworen

böse.

Ich spende meine Hilfe ausschließlich direkt,

gebe Unterstützung, wenn es mir persönlich

als richtig erscheint, nicht „dem Verein“. Ich

bleibe für mich, bin oberflächlich, wenn mir

jemand gleichgültig ist und behaupte nicht,

was ich nicht halten kann.

# Es sind einige frustriert vom Staat?

Sie vergessen, dass wir im besten Deutschland

aller Zeiten leben. Ich empfinde das

so, mache vom Recht, mich zu enthalten

Gebrauch wie von der Meinungsfreiheit. Ich

sage was mir passt, male was ich will, trage

die Konsequenzen. Wen ich nicht mag, unterstütze

und respektiere ich nicht. Ich höre

nicht hin, quatsche denjenigen zu oder ignoriere

solche Menschen gar nicht. Ein Dorf hat

mich gemacht: Kauft „dieser fette Typ“ seine

Brötchen neben mir, schau’ ich ihm am Arsch

vorbei. Die mit der schwarzen Maske fragt

mich gelegentlich wieder: Spieglein an der

Wand? Die rote Krabbe frisst das Glas auf.

Personen, die ich kannte. Bittet mich zukünftig

jemals ein Staat, fordert Unterstützung

etwa: „Herr Bassiner, haben Sie was bemerkt,

heute nacht nebenan?“ Ich übe diesen Satz

täglich: „Tut mir leid. Da habe ich geschlafen,

in die andere Richtung geschaut, war nicht

da.“

Schönen Tag auch!

:)

Ich muss nicht steinmeiern: Nie zuvor hatten

wir einen Bundespräsidenten, der sich

so vollumfänglich nicht in die aktive Politik

einmischt, obwohl er stets präsent ist und

fleißig niemals stört. Er ist nie peinlich, wie

etwa manche Christian Wulff nicht mochten,

sondern wird vom Bürger und den Kollegen

mit Verantwortung einfach überhört, wie das

Rauschen des Autoverkehrs vom Anrainer einer

Bundesstraße. Das konnten die anderen

bisher nicht.

Knartsch provozierte der schließlich beleidigt

abgetretene Köhler. Andere Präsidenten

mahnten, bis es nicht wenigen reichte, wie

etwa der „Ruck-Herzog“. Sogar der nette Kirchenonkel

Gauck konnte mit seiner authentischen

Persönlichkeit punkten. Der erste

„erste Mann“ im Staat „Papa“ Theodor Heuss

zeigte Deutschland, wie das Amt zu machen

sei, finden welche, und Frau Gesine Marianne

S. blieb uns erspart. Das ist ja nur meine Einzelmeinung

und nicht etwa anonym.

Und die SPD, die wähle ich nie wieder. Die

hier vor Ort, die ich persönlich nah kennen

gelernt habe, schon gar nicht. Es hat mich

getroffen: eingestuft, anvisiert. Beschossen

aus der Höhe vom Turm. Das würde genügen,

lebenslang verstockt zu maulen. Diese

Partei wähle ich nicht wegen Olaf Scholz,

der von Hamburg wegging, nachdem er

(mir) nicht überzeugend und verantwortlich

zugeben konnte, wie scheiße der Gipfel lief.

Ein Schönwetterkapitän, der Bundeskanzler

würde, sollte er in einer Koalition von Wahlverlierern

aus Rot-Rot-Grün in Frage kommen?

Armes Deutschland. Ich habe Schmidt

bewundert, Brandt. Ich habe Gerd Schröder

gewählt, weil ich Kohl nicht leiden konnte.

Aber Kohl war ein Mann – und heute muss

man nach Persönlichkeiten suchen. Farblose

Figuren ohne Helldunkel.

Feb 27, 2021 - Hell, dunkel und farbverrückt 24 [Seite 20 bis 24 ]


Krieg zuhause ist nur doof

Mrz 2, 2021

Die offene Gesellschaft wird von innen aufgefressen.

Trump hat vorgemacht, wie das

geht. Selbst Chaos anzetteln und sich als

Aufräumer geben, den Brand zu löschen.

Wir sind entsetzt, auch sonst: Deutschland

empört sich gern über Russland vs. Nawalny,

Spanien, den inhaftierten Carlos Hasél,

die abgesetzte de Facto Regierungschefin in

Myanmar. Unsere eigenen Staatsverbrechen

sind ganz unscheinbar dagegen, noch. Sie

finden unterhalb der sichtbaren Ebene der

Behörden statt.

Jeder wird zum Polizist und Aufräumer hier im

Land der Denunzianten, möchte Erfolge als

erster Löscher am Brandort. Dafür stecken die

Nächsten deine Bude an, bildlich gesprochen,

bis die Hütte brennt, du wie ein Wahnsinniger

verteidigen musst, sie sagen: „Seht, er ist

verrückt.“ Das Prädikat „gefährlich“ drücken

sie dem labilen Menschen auf, der vielversprechend

formbar erscheint, deswegen beharrlich

immer wieder provoziert wird. Dass

mit Mollath hat Methode, nicht nur in Bayern,

überall. Ein Buch erscheint: „Staatsverbrechen“.

Kein Hahn kräht danach, aber es ist nur

eine Frage der Zeit, dass auch bei uns eine

diffuse Gegenbewegung Straßenschlachten

inszeniert. Gut möglich, dass interessantere

Typen als dieser irritierte Nürnberger, wirklich

Kreative auftauchen, weniger neurotisch

und begründet sauer, die deutlich machen

können, wie die sauberen Gruppen nach dem

amerikanischen Vorbild vorgehen.

Der Rechtsstaat ist prima, das ist es gar nicht.

Wir sind rechts und ordentlich, deutsch und

gründlich genug. Schmutzig sind die Saubersten

hier, die frechen Kotzbrocken hinterm

Lenkrad, die diese Welt gemacht haben so

scheint es. Sie fahren nicht zufällig so scharf

und fordernd auf, hupen dich mit ihrem „ich

kann nur diesen einen Ton“ weg, ballern

rechts kurvend über die Bushaltestelle

an dir vorbei. Schneiden mit quietschenden

Reifen vor der Reihe Parkender zurück

in die Spur, „so geht man mit Bremsern

wie dir“ um, heißt das. Am Rand der

Nebenstraße abgeklemmt, zum Stehen

gebracht (ich gebe es zu), zur Rede gestellt,

weisen sie dir den Schaden im

Hirn zu.

Ich erzwinge den Showdown, er ist der

Sieger von Beginn. Wortwechsel, ich

will wissen, mit wem ich es zu tun habe:

Mann, dunkelhaarig, sportlich 1.90 Meter

groß und großartig, sicher auftretend.

Ein Leichtes für ihn, abfällig von oben

auf mich zu sehen. Ein klein wenig fett,

kopiert er nicht einmal unsympathisch

eine feiste Söderschnauze, souverän.

Mann, „du bist der verrückte Doofmann“,

soviel steht für ihn fest, als er loslegt.

„Bist du irre!? Das hätte schief gehen können.

Wenn ich gebremst hätte, bist du immer so

bescheuert? Mann! Grüner Pfeil!! Und du? Im

Schneckentempo!!!!“ Geschwellte Brust, geschwollenes

Hirn. Ich sage: „Und wenn eine

Oma vor dir fährt?“ Er wusste es schon vorher:

„Du bist keine Oma“, kontert er mir, ich gebe

zu, dass ich’s nicht blickte mit dem grünen

Pfeil. „Wir“ werden ruhiger. Unsere Argumente

wiederholen sich. Ein BMW mit entgeisterten

Frauen (die gelten als klüger) wartet, wir nerven

gemeinsam, meine Schuld auch das. Der

Abschied lässt aufhorchen: „Beim nächsten

Mal!“ droht er, als er in seine Blechrüstung

zurück stolpert.

Das nächste Mal wird bereits

geplant.

Im Westen nichts Neues. Die

Sonne sinkt, eine Mundharmonika

erklingt und „The

End“ erscheint klobig in den

Wolken, während Staubwolken

abziehen. Unklar bleibt,

wer sich hier den Blechstern

verdient hat. Duell fertig, aufsatteln,

abfahren: Mit dem

Fuß im Türrahmen des vertrauten

Boliden verhakt, hoppelt

er zurück ans Steuer, der

Cowboy, es entgeht mir nicht.

Getroffene Idioten sind wir. Ich gebe noch einen

schwachen Schuss ab: „Du kennst deine

Abmessungen nicht …“, meine Stimme überzeugt

bestimmt niemanden.

Nur ein Hirngespinst? Unauffällige Zeugen,

arme bedrohte Zeitgenossen sind das mitnichten.

Nicht nur in Uniform, einige bereits

verrentet, noch gut vernetzt mit den Aktiven,

sind sie privat auf der Jagd und anerkannt

privat-detektivisch unterwegs: Wir schleppen

dieses Pack mit, das den guten Sicherheitsdienst

gibt, den Staatsschutz, aber diese Elemente

unterwandern die eigentlichen Aufgaben

der Institutionen. Falls ich mir alles

nur einbilde, wird es garantiert noch heute

erfunden: Sie bilden abgeschlossene, private

Gruppen und haben Spaß dran, ganz individuell

persönliche Erfolge zu provozieren.

Ausgerastet.

„Das wird wieder passieren“, gibt einer die

Richtung vor. Während das Team die aussichtsreichsten

Kandidaten von nebenan

als „krank“ einstuft, wie ein Pflänzchen, vom

harmlosen Spinner bis zum ausgewachsenen

Psychopathen heranzüchtet, passiert es wieder.

Im Nachbardorf hat’s funktioniert, warum

nicht auch bei uns. Der laufende Tod, runterladen,

und wer will darf gern mitspielen.

Es spricht sich rum, sogar bis zu mir. Nur ein

Tag ist vergangen. Plappern ist so erhebend.

Begrüßung am Morgen: „Na, wieder abgenagelt?“,

eine Bekanntschaft nur, dieser Typ,

der gern quatscht. Ich verstehe nicht sofort.

Wir reden nun über die wieder geöffneten

Naa-gelstudios ah! … wie interessant. Auch

die Frisöre dürfen arbeiten, unser Gespräch,

unverfänglich. Letzte Woche hatte ich den

Wagen in der Werkstatt, das sage ich nicht,

denke es nur. Wir reden über Corona, aber

meine Gedanken schweifen ab. Nageln ist

rasen? Was die Paranoia hergibt: abgenagelt

ist gleich angepinnt. Ich erinnere die kleine

Schraube: Wie ein „Reißnagel“ sah die aus,

eingebohrt ins Hinterrad. Wir fanden das

Ding sofort, als das Auto aufgebockt stand.

Nachdem der Wagen auf einem Rad immer

ein ganz klein wenig Druckverlust hatte, war

die Warnlampe angegangen. Eine schnelle

Reparatur, danke.

Es kann schon sein: Die rote Lampe leuchtet,

statt im Armaturenbrett bei mir, nun bei

den anderen. Sie fährt in einer digitalen Karte

ihre Spur, und die Schmeißfliegen fragen

wieder: Wer will mal mitfahren?

# Gefährlich

Sie erkennen dein Potential. Sie finden Wege,

dich zu tracken. Sie lassen dich wie eine Bombe

platzen. Und weiden sich daran, wie du

dich selbst zerlegst.

Und dann kommen

naive Rechtsschützer.

Die bekannten,

ehrenamtlichen Gutmenschen

aus der

Dorfpolitik traben

bereitwillig los, folgen

ihrer Eitelkeit, als

Retter der Ordnung

glänzen zu können

und machen gern

den Rest. Betreuung,

Klappse, Knast. Das

ist der Plan. Nimmt

das deutschlandweit

noch zu, sind Prominente betroffen, die „wirklich

wichtig“ sind in den sozialen Netzwerken,

Suizid – kommt als Nächstes so etwas

wie bei den Katalanen, den Briten: Herdenbewegungen

der dekadenten Masse, Chaos

– und ein markiger Typ mit blöder Frisur der

Marke Trump, Johnson (oder mit Rechtsscheitel)

wird sich anbieten.

So doof ist Deutschland.

:(

Mrz 2, 2021 - Krieg zuhause ist nur doof 25 [Seite 25 bis 25 ]


Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten

Mrz 4, 2021

Du musst jetzt

stark sein, das alles

zu lesen. Weil

es lang ist. Du hast

gefragt, und ich

hoffe, dich damit zu

erheitern, wie ich

es dir erkläre, wie

das mit Mast und

Baum gewesen ist.

Also: Ich habe die

Jolle 1986 von

Worms gekauft.

Den Worms-Baum habe ich durch den ersetzt,

der mit auf dem Bild ist. Der Grund war, dass

Bernd etwa zeitgleich die „White Shadow“

bekam und einen Unterliekstrecker anbaute.

So etwas hatte es noch nicht gegeben (in der

Elb-H-Jolle). Der Worms-Baum war nach Ideen

von Erich, so ein Baum müsste sich biegen,

wenn man die Großschot dicht nimmt,

um den Bauch nach unten wegzuziehen,

gebaut worden. Dieter wollte umsetzen, was

sein Vorbesitzer ihm geraten hat. Das ist also

ein leichter, weicher Baum. Als nun Bernd mit

dem neuen Boot anfing, diskutierte er gern

mit allen und jedem, wie gut das sei, wenn

der Baum sich nicht verformte und man stattdessen

mit dem modernen Strecker trimmen

würde. Das wollte ich auch, und so bekam

ich diesen Baum von Peter neu. Das ist der

Baum, den ich all die Jahre gefahren habe,

den du kennst. Der biegt nicht und wiegt beinahe

so viel, wie die ganze H-Jolle und noch

ein wenig mehr, so kommt es mir vor. Er ist

wirklich schwer. Das sollte man im Internet

nicht schreiben. Dann will ihn niemand. Keine

Ahnung, warum mich das jahrelang nicht

gestört hat. Vor nicht so langer Zeit hatte ich

genug davon. Es hieß, der Baum dürfe hohl

sein, das hatte ich bisher noch nicht in der

Vorschrift bemerkt. Ein gewisser Hauschildt

war es glaube ich, dessen Baum ich zufällig

mal in der Hand hielt, und das Ding schien

mir irgendwie leichter zu sein. Nun habe ich

also einen harten, geraden Baum, der nicht

biegt und nichts wiegt, das reicht.

Ich mache einen Absatz. Das verbessert die

Lesbarkeit längerer Texte, sagt man.

Der Mast: Das ist der Mast, den Peter baute,

nachdem Kocki und ich den Mast absegelten,

den Peter baute, nachdem Schenk und

ich 1986 auf dem Sand (schon in der ersten

Saison) den Mast absegelten, den Erich an

Worms verkauft hatte. Das war der, den Erich

bauen ließ, nachdem er gleich zu Anfang

1956 oder so seinen ersten Mast abbrach.

Feltz hatte die Püttinge parallel neben den

Mast gesetzt, nicht dahinter. Erich versetzte

die Püttings um vielleicht zwei Zentimeter

nach achtern und bekam den Mast, den ich

abbrach – das habe ich oben geschrieben.

Zum Vergleich, die Püttinge die Knief setzt,

liegen rund zehn Zentimeter weiter achtern

als meine. Nachdem ich nun den Mast abbrach,

den Peter gebaut hatte, weil das Pütting,

das Erich eingebaut hatte, nachdem er

1956 den Mast abgebrochen hat, aus dem

Rumpf riss, vor Strande (diese Geschichte ist

dir bekannt, und ich kann sie an dieser Stelle

der Einfachheit halber weglassen), bekam

ich den Mast, der auf dem Foto von heute

Nachmittag ist. Von Peter in Harburg. Weil er

uns aus Strande holte, hat er sich’s wirklich

verdient. Es hat so geregnet. Ich weiß noch,

wie Kocki und ich in Othmarschen oben auf

die S-Bahn warteten, mit den ganzen Säcken,

Urlaubsgepäck, es schüttete und Peter unten

allein (das sahen wir vom Bahnsteig

aus) mit dem Boot in Richtung

Elbtunnel weiter gefahren ist. Der

neue Mast, den der Meister lieferte,

war mir oben zu dünn. Unter dem

Schock von vor Strande stehend,

hatte ich jedesmal Schiss vor dem

Wind mit diesem Mast. Er hat sich

wie doof nach vorn verbogen. Einmal,

als du im Dwarsloch neben mir

segeltest, und ich schreibe es, weil

du dich möglicherweise daran erinnerst.

Vielleicht ja auch nicht, und

dann ist es auch gut, es festzuhalten

finde ich. So gehen wichtige Momente

nicht verloren. Darum bekam ich den Mast,

den ich jetzt fahre. Der biegt sich genauso,

aber wenigstens hatte ich etwas

unternommen. Ich hätte

auch die Püttinge versetzen

können, das wollte ich nicht,

weil das Boot vor dem Wind

rast. Glaube ich jedenfalls,

und das ist auch sehr wichtig,

zu glauben, und wenn ich die

Püttinge versetzt hätte, könnte

ich das nicht mehr glauben,

dass das Boot rast. Das ist wie

mit dem Schleim am Schwert,

aber das gehört nicht hier her.

Frag einfach Eike, der hat das

gesagt. Oder Kocki, die hörte,

wie Eike es meinte. Das war

mal an der Alster. Die Gaffel

bekam ich, weil man halt gern

auch mal ’ne neue möchte,

nur so. Aber danach hast du

nicht gefragt, und ich kann

die näheren Umstände dazu

weglassen. Ansonsten: Frag mich gern, wie

alles mit dieser Gaffel war. Es ist die, die Erich

nicht mehr verwendete – aber das weißt du

bereits.

Eben kam noch eine Mail von

dir.

Wenn ich die gleich gelesen

haben werde, kann ich dir gern

noch ausführlich etwas dazu

antworten. Vorher muss ich

das aber noch lesen, das kann

ich jetzt nicht, weil ich dazu

diese Mail in „Entwürfe“ legen

müsste, und das muss ja nicht

sein.

Einen schönen Abend!

John

Was sagst du nun?

Am 03.03.2021 um 18:45

schrieb (Name):

Hallo John,

Wieso hast du denn eigentlich mal Mast und

Baum neu gemacht?

Die sehen doch ganz gut aus?

:)

Mrz 4, 2021 - Aw: Spieren für die Elb-H-Jolle anzubieten 26 [Seite 26 bis 26 ]


Selbstwirksamkeit

Mrz 4, 2021

Als ich Kind und später Jugendlicher war, in

Wedel bin ich aufgewachsen an der Elbe, in

den Siebzigern ging ich zur Schule, machte

Realschulabschluss 1981, waren viele der

heute üblichen Redewendungen unbekannt.

Sensible Daten, Transparenz im Sinne offener

Vorgänge im System, alltägliche Floskeln:

„Das passt schon, alles gut, einen schönen

Tag noch!“, niemand redete so. Unwörter des

Jahres kamen allmählich auf, einige störten

sich an Anglizismen. Verfechter theoretischer

Sprache, Puristen sagten Leitscheit (anstelle

Lineal) und wiesen darauf hin, dass ein Pullover

dem Wort nach ein Überzieher wäre.

# Wie sprechen Menschen?

Damals, wir lernten im Englischunterricht als

Bezeichnung für Radiergummi „rubber“ zu sagen,

aber ein Freund klärte uns auf, nach dem

er zwei Wochen in den USA gewesen war: racer

(von eraser). „Ein rubber ist ein Gummi. Ein

Gummi ist ein Präser, ein Präservativ.“ Kondom

sagte niemand. Dazu mein Vater, die Freunde

seiner Generation fragten einander: „Hast du

Tüten dabei?“ Und als Segler horchte jemand

auf: „Brugt Gummi!“, hätte ein Däne nebenan

gemeint, als ein entsprechendes Ding im

Hafenwasser trieb. So nennt man das? Hafengespräche

vereinter Nationen. „Sind Sie gut

geschlafen, und wie geht Ihre Frau?

Wir spitzten die Ohren, und bis heute sind

ganz viele neue Worte gebräuchlich. Das

Gendern, eine Rechtschreibreform wurde

durchgekämpft. Mir brachte man noch bei,

wie albern es aussehen würde, wenn drei

„f“ aufeinanderträfen, da das menschliche

Gehirn ein Wort wie beispielsweise Schiffahrt

ohne Mühe begreifen könne, ohne in

seiner Mitte ein Monstrum verkrampfter Ligaturen

zu benötigen. Lehrer Kröger ahnte

nicht, dass natürliches Denken den Erfolg in

der Konsumgesellschaft stört, wer braucht

denn so was? Den Siegeszug des programmierten

Gehirns erlebte er nicht mehr. Wir

verwendeten Telefone mit Wählscheibe, und

sie standen auf einem Tischchen im Flur.

„Fasse dich kurz!“ meinte meine Mutter. Natürlich

waren die Schiffe im rau-hen Wetter

unterwegs, da spürten wir diesen Hauch von

einem Buchstaben, der von den modernen

Schlaumicheln gern entfernt wird, die es auf

der anderen Seite forcieren, im Wort- wie

im Flussstrudel mit der Schifffahrt

dreifach korrekt abzusaufen. Streit

war auch früher möglich: Brachte

uns ein Lehrer bei, in typischen

Worten wie Ritter, Butter oder Watte,

die beiden „t“ eleganter mit einem

einzigen waagerechten Strich

kombiniert zu schreiben, gab es in

der nächsten Stunde von der Kollegin

in Vertretung einen üblen Anraunzer

dafür. Lehrer waren schon

immer eingebildet und soo doof,

bis auf die wenigen Ausnahmen, die

man sein Leben lang nicht vergisst,

liebgewonnen, respektiert hat, weil

sie klug waren.

Wie sagt man Donald Duck oder spricht man

das englisch aus, darüber konnten wir damals

streiten. Bis heute habe ich ein Problem mit

englischen Kombiwörtern im heimischen

Umfeld. Fährt der Linienbus vorüber und „Talkline“

steht fett auf seiner Seite, dann lese ich

im Geiste mitsprechend „Talk“, entsprechend

dem Klang von „Kalk“, und ende aber auf „lein“,

denke englisch im zweiten Teil des Wortes.

Wäre ich im Urlaub, und in einer englisch

sprechenden Umgebung, passierte das sicher

nicht, dann liefen mir ohnehin englische Gedanken

durch den Kopf. Ich spreche englisch

nicht besonders gut. Es fällt mir aber leicht im

Ausland, damit umzugehen. Wenn auf einem

dicken Lastwagen „Fahrschultrucks“ prangt,

denke ich das „u“ in „schul“ wie das in „trucks“,

und es klingt einfach nur albern nach. Eingebildet

ist dieses Wort und neudeutschdoof.

„Fahrschullastwagen“ wäre noch blöder; wir

haben uns daran gewöhnt. Im Rahmen von

Pandemie und Brexit hören wir seit einiger

Zeit vermehrt Engländer im Fernsehen, werden

daran erinnert, dass sie anders reden als

Amerikaner, denen wir nacheiferten. Da ist

ein lustig angezogener Bobby im Original zu

hören, und der sagt ganz selbstverständlich:

„Lorry“ und „Lorrydriver“, als im Hintergrund

lange Schlangen vor dem Eurotunnel stehen.

Wer in den Achtzigern dieses Wort nahm,

wurde von den Mitschülern belächelt, denn

so wurde uns „Lastwagen“ ja in der Schule

beigebracht, wie albern. Es heißt: Truck.

# Unterwegs im Convoy mit den anderen

Kris Kristofferson ist Martin „Rubber Duck“

Pennwald, und wir können jetzt auch englisch,

„Donäld Dack“ – geil. So war es richtig,

damals, als meine Eltern veralteten und wir

das allmählich bemerkten. Jetzt sind sie tot.

Gerade war der erste März, da hätte meine

Mutter Geburtstag gehabt, und wir sind im

fünften Jahr, nachdem sie starb. Es tut weh,

dass da niemand ist, Standardwitze und familiäre

Geschichten zu wiederholen. Die sind

mit den Alten verstorben.

In der Zeitung habe ich doch ein Wort gefunden,

das scheint mir neu, aber es gefällt mir:

„Selbstwirksamkeit“ heißt es. Da sind zwei

„Psychotanten“ (mein Wort dafür) in einem

Bericht vorgestellt, die etwas mit Kindern

kranker Eltern machen, und dergleichen überfliege

ich normalerweise. Ich denke, Frauen!

Und dann noch Psychologinnen, bescheuert.

Ich kann meine Abneigung gegen Menschen,

die sich selbsterklärt und etwa von Beruf gewollt

in das Leben anderer einbringen, um

zu helfen, nie mehr unterdrücken. Aber hier

kommt das neue Wort, und ein guter Absatz

sticht ins Auge.

# Die Kinder und Jugendlichen lernen Selbstwirksamkeit,

also daran zu glauben, dass sie

Dinge lernen, Einfluss nehmen und Herausforderungen

bewältigen können. „Und sie schaffen

es, eine neue Beziehung zu ihren kranken

Eltern aufzubauen, ohne sich verantwortlich

für sie zu fühlen“, sagt Peres. (Schenefelder

Tageblatt, AWO Schenefeld betreut Kinder

psychisch kranker Eltern, 03.03.2021).

Das gefällt mir!

Ich mag sehr dieses: „Selbstwirksamkeit“, wie

auf der anderen Seite „kranke Eltern“ verdächtig

ungenau ist. Viele Kinder möchten

die Probleme der (gesunden) Eltern lösen. Ihnen

ist daran gelegen, belastende Zustände

ihrer Umgebung zu glätten. Sie haben einen

anderen Blickwinkel. Ein Kind möchte die

Welt ändern. Es soll so sein, wie es sein muss,

damit die Gemeinheiten aufhören. Eine große

Aufgabe. Nur Greta Thunberg ist eventuell

so stark wie Pippi Langstrumpf! Viele kennen

das, Dinge ärgern uns scheinbar. Es sind die

Personen dahinter. Sie drängen, schneller als

notwendig, eine komplizierte Tätigkeit auszuführen.

Dazu müssen wir nicht wissen, wer

uns gerade ärgert. Eine Erfahrung von früher

hat sich längst verselbstständigt. Dann steckt

„der Teufel im Detail“, meint man. Was ist denn

„krank“ und neurotisch, und was geht gerade

noch durch? Natürlich sind in Behandlung

befindliche Menschen und Eltern mit einer

Diagnose klassifiziert, eventuell medikamentös

eingestellt, vom Arzt als Patient bezeichnet

im Sprachgebrauch „krank“. Das möchte

ich nicht bestreiten. Wer allein nicht mehr

klar kommt, und dann sind noch Kinder betroffen,

das ist schlimm. Ärzte benötigen spezielle

Kenntnisse, um helfen zu können. Es

gibt psychische Not, die einige sich nicht vorstellen

können. Trotzdem, mit diesem Wort

„krank“ kann so viel „Schindluder“ (ein Begriff

aus dem vergangenen Jahrhundert) getrieben

werden, dass Menschen abgestempelt

ein Leben lang ausblenden, wie absurd das

Verhalten anderer ist, die sich nicht in diese

Schublade stecken lassen. Dann wird nie

heil und gesund, was nicht kaputt oder krank

ist, weil das nur Definitionen sind. Mit Grippe

bist du krank, ein Auto geht kaputt, und ein

Mensch erlebt sein Dasein, verändert sich,

wenn – wir es uns erlauben. Es gibt keinen

Seelenklempner, das ist auch so ein altmodisches

Wort, wenn Seele die grauen Zellen

meint. Wer den Kopf reparieren will, soll den

Menschen nicht vergessen. Für die Seele ist

Gott zuständig, und der klempnert nicht. Davon,

dass der Psychiater mit einer Medizin

das Gehirn der Eltern zusifft, wird der Haussegen

nicht gerade gerückt, das stimmt. Da

ist es fein, wenn mehr geschieht.

Die Kinder bei der AWO sind in der glücklichen

Situation, dass sich Helfer ihrer annehmen.

Unzählige Kinder wachsen in Elternhäusern

auf, die für sie eine nicht minder absurde

Umgebung bedeuten, ohne dass die mit der

Erziehung überforderten Papa und Mama als

krank gelten. Selbstwirksamkeit zu lehren,

ist viel positiver als „bist selbst dran schuld“

Mrz 4, 2021 - Selbstwirksamkeit 27 [Seite 27 bis 28 ]


zu sagen, nachdem was daneben ging, der

kleine Wurm mit erhöhter Gefühlsspannung

Brötchen schmierte, es runtergefallen ist. Für

den späteren Erwachsenen wäre es genauso

eine gute Übung, darüber nachzusinnen,

inwieweit die Mama immer noch de Facto

Schuld ist, wenn der Sohnemann von heute

bei sich bemerkt, dass es ohne Fluchen nicht

zu gehen scheint. „Entschleunigung“ ist bereits

abgenutzt, aber „Selbstwirksamkeit“, das

ist gut. Die innere Verantwortung, und vor allem

die unglaubliche Chance darin, besser zu

werden! In einem einzigen Wort findet sich

dies wieder:

# Gib mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,

die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut,

Dinge zu ändern, die ich zu ändern vermag,

und gib mir die Weisheit, das eine vom andern

zu unterscheiden. (Friedrich Oetinger

(1702-82), dt. luth. Theologe).

Während es üblich ist, von Verantwortung

und Schuld zu sprechen und diese anderen

zuzuweisen, die sich schließlich rechtfertigen

müssen, bedeutet „Selbstwirksamkeit“

die Chance, zu begreifen wie das Denken und

die innere Verantwortung geändert werden

können. Die Psychiater sind auf die absurde

Idee verfallen, unter anderem, eine Krankheit

der „Multiplen Persönlichkeit“ als eigenständig

diagnostizierbar zu kreieren und damit

zu fordern, was ansonsten abgelehnt wird:

den immer gleichen Menschen. Unser Wahn,

alles in Schubladen zu stecken und Worte

für Verhaltensformen zu finden, scheint

keine Grenzen zu kennen. Während die so

eingeordneten von einer Persönlichkeit in

die andere „switchen“, und die mit extremen

Gefühlsschwankungen wahlweise als psychotisch

oder manisch-depressiv bewertet

werden, kann der normale Spinner einfach so

Theater spielen, gilt nicht als krank, weil ihm

ein Rest an kontrollierter Steuerung genügt.

Es gelingt ihm, bei sich selbst verschiedene

Gefühle und auch eine wechselnde Tagesform

zu akzeptieren, der Welt einen Spiegel

entgegenzuhalten.

# Das ist die Kunst

Ich kann mich gut erinnern, weil „Maggi“

das immer wieder erzählt hat, eine Freundin

meiner Eltern, und wenigstens die lebt noch:

Wie ich eine Bastelarbeit aus Legosteinen

im größtmöglichen Zorn gegen die glänzend

weiß lackierten Doppeltüren zwischen Kinder-

und Wohnzimmer schleuderte, als ich

noch ganz klein war. Hott’l und Maggi waren

zu Besuch gewesen und sind kinderlos geblieben.

Vielleicht deshalb hat „Tante“ Maggi

alles fasziniert beobachtet: so „gritzig“ wäre

ich gewesen!

Es war so: Ein Riesenrad, wie auf dem Jahrmarkt,

das ich gebaut hatte, war beinahe

fertig. Es war die Lego-Zeit die wir kannten,

bevor Bausätze verkauft wurden. Wir hatten

eine große Kiste von dem Zeug wie alle und

bauten frei nach Schnauze drauflos.

Das Riesenrad hatte kleine Gondeln,

im Durchmesser war die Konstruktion

etwa wie eine 78er-Schellackplatte.

Damit es sich wie ferngesteuert drehen

sollte, hatte ich die Idee, den Drehpunkt

oben in der Mitte vom Rund per

Gummiband mit einem kleinen Rad

unten am Fuß vom Standturm zu verbinden.

Das sollte eine Art Treibriemen

sein. Ich wünschte mir unten eine

kleine Kurbel zu montieren, die zu drehen,

und damit das große Rad oben in

Fahrt zu versetzen. Ich war noch ganz

klein, und das ist möglicherweise ein

zu großartiges Bauvorhaben gewesen.

Ich kann mich detailliert erinnern. Mehrfach

war alles unter dem zu kräftigen kleinen,

roten Haushaltsgummi zusammengekracht.

Da es zu kurz war, übte es zu viel Zug aus.

Mit einer Engelsgeduld habe ich alles zweioder

dreimal neu aufgebaut, denn es steckte

bereits sehr viel Zeit drin und Kreativität in

der bisherigen Arbeit, den runden Träger der

Gondeln und diese kleinen Kabinen daran

korrekt anzubringen.

Muss ich noch weitererzählen?

:(

Was ist ein Charakter? Bevor mein Vater sich

selbstständig machte, war er oft unzufrieden.

Als meine Mutter bereits todkrank war

und ihr nur noch wenige Monate Lebenszeit

prognostiziert wurde, sprachen wir oft darüber,

wie es früher gewesen war. Sie erzählte,

wie sie einmal sah, dass Erich (meine Eltern

nannte ich beim Vornamen) sein Fahrrad

hoch in die Luft hob, es mehrmals voller Wut

immer wieder gegen die weißgekalkte Wand

vom (alten) Haus geworfen hatte, weil er sich

bei Kühl (eine Schlosserei) über Omi geärgert

hatte. Omi war seinerzeit Abteilungsleiter,

ein Vorgesetzter meines Vaters und doch

schon ein vertrauter Freund unserer Familie.

„Omi“ – noch so ein Ausdruck, ein vertrauter

Spitzname, den ich mit niemanden mehr teilen

kann, fürchte ich. Meine Geschichte!

Mrz 4, 2021 - Selbstwirksamkeit 28 [Seite 27 bis 28 ]


„Mama, mir ist langweilig.“

Mit achtzehn Jahren wohnte ich noch bei

meinen Eltern. Kurz nach meinem Geburtstag

hatten wir eine Playboy-Ausgabe im

Briefkasten. Ein Werbegeschenk auf meinen

Namen persönlich zugestellt. Ich sei nun

erwachsen, und hier stünde alles, was Männern

Spaß macht, so ungefähr. Tatsächlich

erfolgreich beworben, kaufte ich von da an

gelegentlich das Heft. Als wir den Haushalt

meiner verstorbenen Eltern auflösten, fand

ich einen Stapel alter Ausgaben. Nicht nur

diese Magazine haben wir weggeworfen.

Vieles mehr, das einen vertrauten Platz im

Keller hatte, ist weg. Manches ist so fest mit

Erinnerungen verbunden. Es fühlt sich an und

kommt mir vor, wie noch immer dorthin zu

gehen, wenn ich nur dran denke.

Es war die Ausgabe vom Juli 1994 mit einem

Interview von Bill Gates, die mich motivierte,

meinem Leben eine bessere Richtung zu

geben, ohne dass ich’s gleich begriff. Gates

war für mich zu der Zeit nur irgendein ein

Typ. Microsoft spielte keine Rolle für Grafiker,

fand ich. Das waren die Computer der anderen,

der Masse. Es hat mich nicht interessiert.

Ein graues Porträt, und lang war der Text. Ich

habe es überblättert, die Hochglanzbilder

sind mir wichtiger gewesen. Während die

kleinen Buchstaben meine innere Festplatte

nie erreichten, hat sich eine Überschrift eingebrannt.

Ich meine mich zu erinnern, was da

stand.

„Bill Gates: Angst ist der Schlüssel.“

# Fear should guide you, but it should be latent.

I have some latent fear. I consider failure

on a regular basis. (Bill Gates im Playboy

Interview 1994, gefunden im Original auf

englisch im „Internet Archive’s Wayback Machine“).

Jeder sei seines Glückes Schmied, heißt es.

Dafür muss man das Richtige tun, aber was?

Wer sich unwohl fühlt, das jedoch nicht konkret

spürt, an etwas festmachen kann, bleibt

auf die Gunst des Schicksals angewiesen.

Eine nur dir bewusste Angst sollte dich leiten,

nicht ein ungebändigtes, nach außen zur

Schau gestelltes Drängen. Er rechne stets

mit dem Misserfolg, meint Gates. Ausblenden

und Verdrängung sind keine Lösung. Den

Weg zum Guten können wir nur einschlagen,

wenn wir wissen, wie es uns geht. Wäre das

selbstverständlich, fügte sich niemand den

Schaden zu, in die gegenteilige Richtung zu

laufen.

Wir erinnern uns, handeln in der Gegenwart,

und unser Leben kann als ein Baum dargestellt

werden, der in vielen Ästen vorankommt.

Welchem Zweig wir gerade neuen Saft verleihen,

hängt davon ab, was uns in den

Sinn kommt, woran wir zurückdenken

und wie es zur realen Gegenwart

passt. Eine bessere Zukunft

können wir nur erreichen, wenn uns

klar ist, wer wir sind und wo wir herkommen.

Entwurzelte Bäume haben

es schwer, wieder irgendwo Fuß zu

fassen, und sich erinnern können

bedeutet gelegentlich Mut. Furcht

als leitender Antrieb und dem gegenüber

Mut und Erfolg, schließlich

ausruhen können, dazwischen die

ganze Bandbreite der Emotionen.

Gäbe es nur zwei Gefühle, schlecht bzw. gut,

könnten wir uns leicht auf einer Skala platzieren,

bezogen auf die Nähe zum jeweiligen

Pol. Die Navigationsleiste für eine praktische

Umsetzung, Krisen zu überwinden. Sie könnte

offene Türen sichtbarer machen, die Fähigkeit

ausbilden, selbst welche zu öffnen. Was wie

die pauschale Vereinfachung eines komplexen

Inhaltes scheint, meint das Gegenteil, die

individuelle Basis für ein Problem, genaue

Fokussierung auf einer eindeutigen Linie.

Statt mit mehr Bällen zu jonglieren als möglich,

die persönliche Bestleistung zu steigern,

indem die eigene Sicht auf Schwierigkeiten

der Maßstab ist. Herauszufinden, was man

wirklich will und was dran hindert, macht es

möglich zu malen, singen und jede Menge

nutzlosen Kram zu tun.

# Angst kann als die Basis unseres Tuns begriffen

werden

Keine Szene, deren Helldunkel nicht maßgeblich

für die Komposition ist bei aller

Farbe. Das Salz in der Suppe, die Grammatik

der Sprache, die Perspektive einer Zeichnung,

wir benötigen einen roten Faden, um eine

komplexe Thematik mit wenigen Elementen

zu strukturieren. Wie viel Angst ein Mensch

momentan hat, das ist ein guter Gradmesser

seines Wohlbefindens.

Manche Dinge bleiben im Gedächtnis, scheinen

Jahre später ein bedeutsames Puzzleteil

für eine grundsätzliche Frage zu sein. Bill Gates

gibt ein Interview im Playboy, das noch

heute für profilierte Artikel herangezogen

wird. Es zeige den Visionär, der schon in den

Neunzigern das Streaming und die sozialen

Netze vorausgesehen hat, finden Kenner. Ich

aber merke mir diesen banalen Satz, ohne

überhaupt ein Wort vom Text gelesen zu haben?

Bis heute mache ich einen Bogen um

alles Soziale, pflege wenige alte Freundschaften

analog. Meine Erinnerung gilt nicht

dem lange Zeit reichsten Mann der Welt. Ein

elementarer Satz, immer wieder kolportiert,

sonst wem zugeschrieben und neu in den

Mund gelegt, der den Menschen seit aller

Zeit leitet, blieb hängen. Hätte ich gleich verstanden

worum es geht und als Binsenweisheit

abgehakt, wüsste ich heute nichts mehr

vom alten Magazin.

Die Frage ist nicht, dass Angst uns leitet, der

Schlüssel zum Leben zu sein scheint. Die

Frage ist, was Angst mit uns macht. Das ist

eine persönliche, individuelle Fragestellung.

Dafür müssten wir nicht schreiben können

wie die anderen Tiere, würden trotzdem forschen,

wenn uns das Leben lieb ist. Zu reden

und schreiben, etwas zu lesen, was jemand

schrieb, ist umwegig und kann zu der Verwechslung

von Kommunikation mit eigenem

Denken führen, wenn wir nur plappern. Ein

gelesenes Wort muss in unser Denken einhaken.

Es darf nicht mitgetragen werden, wie

die Ballaststoffe in der Nahrung dem Darm

helfen. Wir müssen den fremden Gedanken

selbst verdauen, damit eine Idee zu unserer

eigenen werden kann. Natürlich erkennt der

Mensch, dass ihm manches besser schmeckt

als anderes und so bleiben einige intellektuelle

Brocken auf dem Silbertablett liegen.

Dass hier eine Delikatesse serviert wird, erkennen

wir durchaus, weil die anderen so ein

Geschieß drum machen.

# Angst kann blind davor machen, sie bei sich

zu bemerken

Eine zweideutige Sache wurde abgespeichert,

weil uns nur eine Seite der Medaille klar war.

Obschon nicht offensichtlich, muss etwas dahinter

stehen. Als junger Mensch ahnten wir,

Wichtiges weglegen zu müssen, das verborgene

Problem erst später lösen zu können.

Die individuelle Frage was genau hemmt,

verbirgt sich oft, wie etwas, das am Rücken

klebt. Wäre es nicht so, kämen wir umweglos

voran. Das Leben besteht aus dem Bemerken

der Probleme und ihrer Lösung. Weiß man,

ob’s einem gut geht? Man muss sich nur an

einer belebten Kreuzung mit vorbei eilenden

Fahrzeugen, Radfahrern und Fußgängern gestresste

Menschen ansehen, um zu begreifen,

dass diese Frage nicht so unsinnig ist wie’s

scheint.

Eine Geschichte fällt mir ein, noch eine. Nachdem

ich achtzehn Jahre alt wurde, kam gleich

der Staat, mich für den Wehrdienst zu mustern.

Für fünfzehn Monate war ich in Seeth.

Ich begann wie alle als Schütze, wurde befördert:

Gefreiter, Obergefreiter und regulär entlassen.

Nur ein dicker Sack mit persönlicher

Ausrüstung stand einige auf den Wehrdienst

folgende Jahre bereit im Keller und erinnerte

an die fortbestehende Pflicht. Mit einem geheimen

Kennwort gerufen sollten wir ggf. antreten.

Das passierte tatsächlich. Einige Male

verlangte man mich als Reservist. Es war üblich,

für eine Zeit wieder Soldat „zu spielen“,

schließlich mussten andere ran.

Meine jungen Jahre: In emotionaler Hinsicht

bin ich vollkommen unreif gewesen. Der

fachliche Ausdruck „leptosomer Spätentwickler“

trifft zu. Ich war nicht nur dünn und

unsportlich, in mancherlei einfach doof. Nicht

wenige junge Menschen sind so, und einige

kultivieren ihre Beschränktheit bis ins Alter.

„So bin ich eben“, meinen sie.

Am Wochenende fuhren wir Soldaten typischerweise

mit der Bahn nach Hause. Über

Glückstadt führte die Bahnlinie. Wir füllten

die Silberlinge und stiegen in Hamburg in

die S-Bahn um. Viele von uns sind aus dem

Ruhrpott gekommen, hatten es weit. Einmal

nahm R. (aus Pinneberg, glaube ich) welche

von uns im eigenen Wagen mit. Zu viert und

anfangs sogar fünft zusammengequetscht im

Fahrzeug fuhren wir gern zusammen in Richtung

Heimat. Ich erinnere mich: Der Kamerad

Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 29 [Seite 29 bis 30 ]


und Obergefreite R. fuhr wie der leibhaftige

Teufel, uns alle in den Tod mitzunehmen. Wir

bretterten über die Dörfer. Unser Fahrer gab

Gas, dass der Motor brüllte, fuhr immer zu

schnell. Ein fröhlicher Rennpilot, der dabei

noch erzählte und scherzte, während er genüsslich

bewies, was er drauf hatte. Sein Auto

knallte über die kleinen, oft unbeschrankten

Bahnübergänge Schleswig-Holsteins.

Mit quietschenden Reifen schleuderten wir

durch die Kurven schmaler Landstraßen. Er

überholte, wo immer es möglich war. Wir

fanden das großartig, so schien es, denn alle

unterstützen sein Fahren verbal. Wir lachten,

grölten derbe Sprüche und feuerten ihn noch

an, wollten Männer sein.

Wir Helden!

Mit einer Ausnahme. Einen Feigling hatten

wir. Der saß hinten und stöhnte schweißgebadet

bei jeder haarsträubenden Aktion

auf. Nach seinem Bekunden war er kurz davor,

sich zu übergeben. Das ignorierten wir

anderen geflissentlich. Er saß mittig, sein

Oberschenkel berührte meinen, und mit

dem schlanken Oberkörper schwankte er

vor und zurück wie in Trance. Oft schloss er

die Augen. Während mir einige Namen und

dazugehörige Geschichten noch heute präsent

sind, erinnere ich nur, dass dieser Soldat

auch sonst als zartbesaitet galt. Nach Kräften

probierte ich, wie ein Mann zu wirken. Das

hat wenig Eindruck gemacht, ein unnötiger

Selbstbetrug. Heute finde ich, das war dummes

Hinterherlaufen und sich wer weiß was

vorzumachen.

Im Auto hatte ich eine Hand im Türgriff verankert.

Ich klemmte zwischen den Kameraden

in die Seite gekeilt, während wir gestoßen

wurden wie im Scooter. Wir machten uns

über ihn lustig. Wir piesackten ihn unablässig

damit, was für ein Schisser er wäre. Der Arme!

Ha-ha. Er wurde beinahe ohnmächtig vor

Angst. Und das zeigte er auch noch: „Kannst

du bitte ein wenig langsamer fahren“, meinte

er immer wieder mit zaghafter Stimme. Wir

begriffen nicht: Das war bestimmt der mutigste

von uns. Er sagte was, traute sich. Das

spornte den Fahrer nur noch an. Wir anderen

lärmten, lachten, schnauften! Ich glaube, er

fand einen Ort abzukürzen. Er bat um Halt,

stieg allein aus, nahm früher als beabsichtigt

für den Rest seiner Heimfahrt den Zug. Ein

unscharfes Bild schwimmt in meinem Kopf.

Es dämmert und ein leichter Nieselregen

trübt die Sicht, ein Bahnhof wartet im Hintergrund

auf den Fahnenflüchtigen. Mir ist,

als erinnere ich ihn von hinten gesehen in

Uniform, gebeugte Schultern, die Sporttasche

mit schmutziger Wochenendwäsche in der

Hand. Das rote Barett schief über’s Ohr gezogen,

trottet der schlappe Kamerad davon.

Wir alberten aus dem offenen Seitenfenster,

spotteten ihm blöde hinterher, donnerten

weiter. Gut möglich, dass wir dazu unablässig

Bier (aus Dosen) konsumierten. „Wochenende!

Weg mit den Rotärschen, den Bremsern,

ööääh!“ Heute denke ich anders über diese

Fahrt.

nen, was immer zusammen unterwegs ist.

Angst ist keine Kopfsache. Sie betrifft den

ganzen Menschen, wie die Steigerung Wut

deutlich macht. Ob ich in lähmender Katatonie

verharre, weglaufe oder zuschlage, dass

ist alles dieselbe Basis. Wenn die Angst dazu

führt, unser Auto schneller zu fahren als gut

ist, dann benötigen wir Muskulatur,

das Gaspedal durchzutreten.

Dass Angst sich auch anders manifestiert,

wie Mut daherkommt?

Größere „Geister“ als ich haben

bereits Bücher zu diesem Thema

verfasst. „Das Körperschema der

Angst“ ist eine Kapitelüberschrift

bei Moshe Feldenkrais (Body and

Mature Behavior, 1949) und „Langeweile

sei die ausgedünnteste

Form der Angst“, schreibt Paul

Watzlawick an einer Stelle. (Vom

Unsinn des Sinns oder vom Sinn

des Unsinns, Piper 1995). Das erste

zeigt auf, wie untrennbar vom

Denken der Mensch ein inneres

System nutzt, auf komplexe Situationen zu

reagieren, sich das in der Muskulatur zeigt,

und das zweite (im Kapitel „Sinn oder Un-

Sinn unserer Wirklichkeitsvorstellung“ des

genannten Buches gefundene) Zitat macht

deutlich, dass die Langeweile nur ein Wort ist,

welches neu interpretiert das immer gleiche

Problem des Menschen beim Namen nennt.

Als Kreativer ist es unabdingbar, seine Gliedmaßen,

die Atmung und den Willen auf das

Ziel hin zu bündeln wie das ein guter Sportler

macht. Mit „Mama, mir ist langweilig“ kann

ich kein Bild fertig bekommen.

:(

# Nur einer hat was gemerkt, und wir lachten

ihn aus

Der Trainer beschreit es, der Arzt ermahnt:

„Das ist eine Kopfsache!“, aber es nützt oft

nichts. Wie reißt man sich zusammen? Mental

sei das Problem, die wenigsten wollen es

wahrhaben, dass Körper und Geist nur zwei

Worte sind, ein intellektueller Trick zu tren-

Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 30 [Seite 29 bis 30 ]


Die Firma

Mrz 14, 2021

Erna kommt. Und wenn sie sagt, dass

sie kommt, kommt sie prompt. Heut’

ist der Tag, an dem Erna kommt. Die in

der Firma wissen Bescheid: Universal,

Im- und Export, Moneypenny macht

Home-Office. Die englische Mutante.

Oh mein Gott, ich schäm mich, gestern

war ich zu lustig. Dass ich heute down bin,

schrecklich anzuschaun bin, wusst ich. Ab

und zu passiert das, aber mich geniert das

mächtig. Nie mehr so’n Idiot sein, dann schon

lieber tot sein möcht’ ich. Am Besten, ich bleibe

diese Woche komplett im Atelier und gehe

nicht ein Mal vor die Tür. Schreibtischkram

will erledigt sein.

:

Mrz 14, 2021 - Die Firma 31 [Seite 31 bis 31 ]


Der harte Knochen

Mrz 18, 2021

Ein Baby hat Hunger, schreit: Mama kommt.

Weißt du es noch? Etwas juckt, du brüllst, und

Mama ist da. Sie bietet dir die Brust, Nahrung

und Liebe, singt versuchsweise ein Lied, was

weiß ich. Bis sie begreift, was los ist. Dann

bekommst du einen neuen Strampler angezogen

und wirst weich gebettet. Das ist

gefühlte Allmacht. Der Wichtigste kommandiert,

und es geschieht sofort.

Die Gute Nachricht, Matthäus schrieb auf,

wie ein Soldat spricht. „Sag ich einem Mann:

„Komm!“, dann kommt er. Sag ich: „Geh!“, geht

er. So redet ein Hauptmann, der zu befehlen

gewohnt ist. Und der Rekrut rennt los. Wenn

ein Baby älter und zum Kind wird, tritt das

„Nein!“ der Mutter mehr in den Vordergrund.

Die größere Wirklichkeit setzt die Grenzen

enger. Wir müssen einsehen, dass es nichts

ist mit unserer Allmächtigkeit auf Erden.

Theorien legen nahe, dass die Wirklichkeit

vom Menschen selten genau erfasst, sondern

um Ordnung bemüht und intellektuell konstruiert,

mit begrenzter Sinneswahrnehmung

nur ausschnitthaft verstanden werden kann.

In einer Mischung aus dem, was man uns sagt

und unserer Neugier, die Dinge zu prüfen, entsteht

eine Orientierungshilfe. Mehr nicht. Die

Information über die Umgebung kann nicht

vollständig sein. Unsere Vergangenheit muss

die Erfahrung hergeben und ein belastbares

Foto der Welt abbilden, möglichst farbig

und inhaltsreich; wenn wir es selbst malen,

beginnen wir als Anfänger. Wir müssen mit

unvollständiger Karte ausgestattet, unseren

Fehlern und denen anderer, auch bewusster

Lügen, in die Zukunft navigieren. Kontrollverlust

ist für einige das Schlimmste? Wären

sie sich ihrer Mängel bewusster, könnten sie

diese stets bemerken. Da ist nicht eine Bewegung,

keine Aktion, die ein Mensch perfekt im

Sinne seiner Intention ausführt.

# Den Dingen die Schuld geben

„Das war ich nicht“ nach einem Missgeschick

zu sagen, ist weniger absurd, als viele meinen.

Das kann ausdrücken „ich wollte“ es ja nicht

und kann gar nicht begreifen, wie das kommt,

weil ich doch nach meinem Dafürhalten alles

tat, damit es gelingt (Mama, schimpf’ bitte

nicht). Wie exakt motivieren wir uns, etwas zu

tun, ein Brötchen mit Käse zu belegen? Wie

wichtig nehmen wir die aktuelle Tätigkeit,

und wie stark lenkt uns ab, was parallel nötig

sein könnte? Mit vielem überfordert,

geben einige der Umgebung gern eine

Mitschuld, wenn sie was nicht hinbekommen.

Ein Mensch, der entspannt

eine Fahrbahn betritt, um die Straße zu

überqueren, wird hektisch, wenn er bemerkt,

dass ein Fahrzeug schneller als

erwartet näher kommt. Auch allein mit

Alltäglichem beschäftigt, müssen wir

tolerieren, dass uns scheinbar Rat gebende

Stimmen in Gedanken ablenken,

wenn wir eine Bohrmaschine ansetzen,

den Schrank (noch schnell) reparieren.

Neurotisches Verhalten ist zunächst

die gewohnte Reaktion auf die Umgebung

und ihre vielen Probleme, denen wir

uns ausgesetzt sehen. Wem es nicht gelingt,

sich dauerhaft zusammenzureißen, kultiviert

persönliches Unvermögen zum typischen

Charakter. Hektik, Angst und Zorn, zu fluchen

und Dinge übertrieben anzugehen, der Situation

die Schuld zuzuweisen, wenn etwas

misslingt, ist nicht selten. Da ist niemand, der

immer perfekt durch das Leben geht, aber

einigen gelingt es besser, es so aussehen zu

lassen. Was käme wohl dabei heraus, wenn

wir bei ihnen Mäuschen spielten?

Nichts ist heute einfacher als das. Und natürlich

kommt eine Menge Mist zutage, wenn

Menschen mitlauschen, wie es bei den Meyers

privat läuft. Spion zu sein, ist heute einfacher,

als je zuvor. Mit dem Auto im Stau stehend,

lese ich eine Werbetafel „Aufspüren versteckter

Wanzen, Telefonabhöranlagen, Detektei“

und denke: toll! Die kommen ins Haus, haben

schon vorher drei Microwanzen in der Hosentasche

dabei, präsentieren dir eine davon. Sie

sagen: „Das haben wir gefunden“, installieren

heimlich die anderen für eigene Geschäfte.

Informationen sind nützlich, wenn sie als

Ware gehandelt werden können.

# Paranoia und andere Wahrheiten

Da ist eine Frau, der ich gelegentlich begegne.

Sie wohnt um die Ecke. Wir reden beim Busfahren

und auch sonst mal. Ohne auf Details

einzugehen, kann ich zugeben, dass es mir

wenig bedeutet. Ankündigungen, sie möchte

eine bestimmte Malerei in Auftrag geben,

entpuppen sich schnell als reine Absichtserklärung.

Ihr geht es um anderes, wenn wir

uns über den Weg laufen? Die Themen, die

sie anschneidet, lassen mich das vermuten.

Sie wechselt die Arbeit, alle paar Monate ist

sie woanders beschäftigt, und auch darüber

sprechen wir. Schließlich verliert sie das Interesse

dran, lang mit mir zu quatschen. Während

sich unsere Wege anfangs ständig kreuzen,

ergeben sich diese Gelegenheiten nun

beinahe gar nicht mehr. Gut so. Nach einem

Jahr oder zweien begegne ich ihr nur noch

selten. Als es doch geschieht, rutscht ihr, mich

begrüßend, raus: „Schön, wenn man sich auch

einmal zufällig trifft.“ Dann entgleist ihr wie

nach einem verbalen Patzer das Gesicht. Sie

feuert schnell einen Redeschwall ab, wie’s

mir ginge und lässt plakative Freundlichkeiten

folgen.

So doof.

Mit A. (ein schwedischer Name) ist es ähnlich,

aber das habe ich glaube ich bereits

geschrieben. Sie hatte dasselbe Geschick,

immer ganz zufällig aufzutauchen. Die behauptet,

in Glückstadt gelebt zu haben. A.

ist nicht doof – sie ist blöd, aber das nur

nebenbei. Unsere Begegnungen finden ein

schlagartige Ende, als ich sie (fröhlich) mit

ihrem vollständigem Namen, Straße und der

korrekten Hausnummer begrüße; sie reagiert

vollkommen panisch. Ich, zu der Zeit Zusteller

verschiedener Werbesendungen; es ist mir

nebenbei aufgefallen, leicht zu kombinieren.

Sie, unangemessen entgeistert: „Habe ich dir

das mal gesagt?“ Seitdem kein einziges Mal

mehr gesehen und vorher so oft getroffen!

Eine eingebildete junge Frau, die was – ja,

was wollte die denn?

Doofe Frauen sind reichlich unterwegs. Als

ich noch mit Kalle (Klarname) befreundet

bin, zeigt er mir die ganz speziellen aus der

Deckung einer Kaffee-Plantage: „Kennst du

die? Die trifft man auch überall.“ (Ich kenne

die). Sie: „Ich arbeite in Wedel bei (ein bekanntes

Geschäft). In Bremen hätte sie es

bis zum „Inspektor“ gebracht. Ich treffe diese

Ziege – aber nie im Laden, fahre oft in meine

alte Heimat. „Meistens bin ich ja hinten“, sagt

sie, damit konfrontiert. Ich frage im Geschäft

nach: „Ist sie hinten?“, die anderen drucksen

immer rum. Ich bin in Wedel aufgewachsen

und mit etlichen vertraut, die im Verkauf tätig

sind. Schließlich gibt es eine Antwort: „Frau

(…) meinen Sie? Das ist unsere … Putzfrau.“

Eine harmlose Erklärung für eine peinliche

Alltagslüge, möglicherweise.

# Vor dem Blumenladen von Sarah

Guddi dackelt los, Primeln aussuchen. Kalli

zieht mich (verschworen) ins Auto: „Wenn

mal was mit ,der Stasi‘ ist, lass die Finger

davon“, wir sprechen über die dünne Russin.

So nennt er sie. Meine Freundin? Was soll ich

da lassen: Meine Finger sind freundlich. Und

ich habe die nie angefasst. Es geht nicht. Man

spürt, sie möchte das nicht. Einer russischen

Frau gibt man nicht die Hand. Das hat Kalli

nicht gesagt, und der muss es eigentlich wissen.

Dass mit der Stasi ohnehin. Es liegt bei

denen in der Familie. Doofe Agenten gibt es

also auch.

Mir fällt noch reichlich ein, eine kleine Auswahl

genügt zum Thema. Es ist die Vor-Corona-Zeit,

Begegnung in Wedel bei „Junge“.

Ein Mann, nicht sehr groß, schlank, drahtig,

durchschnittliche Kleidung, Ende fünfzig,

hat neben mir Platz genommen, weil alles

andere besetzt ist. Wir schweigen satte zehn

Minuten und beobachten die Vorübergehenden.

Jeder andere hätte längst sein Telefon

gezückt, der Fremde nicht. Ich habe keines,

und damit bin ich für gewöhnlich der Einzige

in Gesellschaft. „Warum gehen die Menschen

alle verschieden?“, probiere ich ein Gespräch

zu beginnen, und dann wird es interessant

mit dieser Bekanntschaft. Wir reden über

Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 32 [Seite 32 bis 34 ]


menschliches Verhalten, Angewohnheiten

und schließlich über China. Er wüsste nicht,

weshalb wir gerade die Asiaten thematisieren,

meint er. Jahrelang hätte er nicht mehr

daran gedacht, komisch, dass er’s grad nun

erinnere, aber dort ließe man verlorenes Geld

auf dem Gehweg besser liegen. Es gelte als

verpönt, einen Cent aufzusammeln, da das

Unglück bringe.

Das ist ja interessant, denke ich und sage

nicht, wie sich einige ganz offensichtlich darüber

amüsiert haben, Geld wie verloren extra

auszulegen, wo ich gleich auftauchen würde.

Was für ein Spaß! Wie der Bassiner sich freut,

wenn er wieder Geld findet. Ich erinnere das

süffisante Grinsen. Theresa (beim Bäcker), die

spanische Nase, schiebt neun einzelne Cent

auf den Wechselgeldteller: „Mach nicht zu

doll damit.“ Inzwischen entdecke ich so gut

wie nie mehr was, es macht ihnen keinen

Spaß mehr? Ich lasse das heute liegen, für

die Armen.

# Danke für diesen Hinweis

Ich greife mir an den Fuß, denke und überlege.

Auf meine Frage erklärt der Mann, er

sei Rentner und wäre beim Theater gewesen,

„seine Leute“ seien auf dem Markt. Eine

seltsame Art zu sprechen für einen jungen

Rentner. „An welchem Theater waren Sie

denn?“, frage ich. „An verschiedenen.“ Er hätte

das Publikum bespaßt und zentnerschwere

Frauen gestemmt, Ha-ha. Ein Zentner, das

wären ja nur fünfzig Kilo. Viele wüssten es

nicht. Man hat schon von verdeckten Ermittlern

gehört. Ich überlege, ihm zu sagen, mir

ginge durch den Kopf alle meine Bilder, das

Boot und die Bürgermeisterin zu zersägen, an

nur einem Tag. Ich behalte das aber lieber

für mich. Nachher glaubt er es, und ich bekomme

„die offizielle“ Gefährderanzeige. Die

einfache (verdeckt getragene) GKR-Epaulette

genügt mir. Vorhin hat er noch intensiv mit

den Eltern von L. seitlich der Fensterfront gequatscht,

ist aufgestanden und los spaziert,

bevor er (zielstrebig) zu mir kommt: „Ist hier

noch frei?“ Diese „Leute“ kenne ich einigermaßen,

und der Markt ist ganz dahinten woanders.

Das ist mir aufgefallen.

Er wäre sonst mehr in Blankenese zu Hause

und verkehre gern in der Kneipe bei den Dockenhudener

Arkaden.

„Die Linde“, sage ich.

Und rege an: „Mich kennen einige“, aber das

misslingt vollständig. Er kennt meine Freunde

nicht, und seine Namen klingen wie schnell

erfunden. Auf meinerseits „Toddel, Schampus

oder Telle“, präsentiert er: „Schnuddel, Duddel,

Kuddl“, das sind bemühte Wortschöpfungen.

Ich könnte mit „Pietn, Piwi, Ewu, Schnalle

oder Treets, Petrus und Himbeertoni“ nachlegen,

ohne üben zu müssen.

Uwe.

Wir haben einander geduzt. Schließlich geht

er mit der Bemerkung, wir würden uns „sicher

nie wieder“ begegnen. Er setzt sich um die

Ecke an den anderen Tisch erneut zu dieser

Familie mit ihrem erwachsenen, aber psychisch

kranken Kind; Menschen, die mir aus

direkter Nachbarschaft bekannt sind?

Ein verkorkstes Händeschütteln, bei dem sich

unsere Hände verfehlen und in die nötige

Position mühsam hinwurschteln, ist noch zu

spüren: „Danke für das doch ganz nette Gespräch“,

hat er gesagt.

Ich bin höflich verstört. „Einen schönen Tag

noch …“

# Deine Leute auf dem Markt sind meine im

Café

Dr. John, Norbert, Susanne und Tom: Agenten

klopfen einander ab. Ich habe alle Ian Fleming

Romane gelesen. „Du lebst nur zweimal“

mehrmals. Unvergessen, wie Bond den

Hals des Mannes zudrückt, der ihm die Liebste

genommen hat: „Stirb Blofeld, stirb!“ Die

Lizenz zu töten. Blofeld stirbt, endlich. Der

Vulkan fetzt ihm den Arsch weg. Und James

bei den Fischern vergisst, wer er ist. M. muss

ohne ihn weitermachen.

Sir Miles. So nennt man mich beim Italiener.

Ich trinke dort den Wutmacher wie der Admiral.

Rekrut im Gelände? Unvergesslich bleibt

auch diese andere Geschichte: Ich bin mit

einem Segelmacher verabredet. Da meine

Frau unser Auto hat, fahre ich mit der S-Bahn

nach Wedel. Der Weg führt geradeaus die

Bahnhofstraße entlang, in Richtung meines

Elternhauses, wie schon unzählige Male in

meinem Leben. Gerade wird das Gebäude der

Volksbank abgerissen. Die Bank will ihr in die

Jahre gekommenes Eigentum aufwerten und

eine kombinierte Wohn- und Geschäftsimmobilie

bauen. Das hat mir eine Mitarbeiterin

erzählt. Eine Baugrube gähnt dort. Verschiedene

Fahrzeuge, Bagger, Arbeiter mit Maschinen

und ein großer Kran produzieren jede

Menge Staub und Lärm. Um die Passanten

vor Dreck und Gefahren zu bewahren, haben

die Verantwortlichen vorn zwei Container

aufgestellt, wo für gewöhnlich der Gehweg

verläuft. Die stehen der Länge nach mit geöffneten

Stirnseiten zum Tunnel aneinander

montiert und bilden eine schützende Röhre

für Fußgänger. Die Radfahrer, deren Fahrspur

hier unterbrochen ist, sind gebeten das Rad

zu schieben.

So ein Mann mit Fahrrad kommt mir genau

hier im provisorischen Tunnel wie zufällig

entgegen. Wir treffen in der Mitte der Blechkammer

aufeinander. Der hat eine derbe

Stoffjacke an, große rotbraune Karos. Vielleicht

noch eine Kappe aus Cord auf dem

Kopf, das weiß ich nicht mehr. Kräftig. Er gibt

sich wie ein kanadischer Holzfäller. In dem

Moment (so scheint es mir), wo er mich sieht,

fährt ein: „Da ist er ja!“ durch seine Züge.

Und dieser Mann kehrt nun um.

Noch im Tunnel, genau neben mir, wo es eng

ist. Wie auf Befehl. „Meine Aufgabe beginnt

jetzt“, scheint er zu denken. So würde ich es

im Nachhinein beschreiben. Das ist seine

Körpersprache, wie in einem Buch für andere

mitzulesen. Ein laienhaftes Theater verstärkt

das noch: Er tut gestisch, als hätte er etwas

vergessen und trabt mit seinem Rad, die

Hand am Lenker, ab sofort in meine Richtung

mit.

Mein Schatten?

Kann ja mal sein, dass einer zurück muss, weil

ihm was einfällt. Wir kennen einander nicht,

sind uns fremd. Warum habe ich das registriert?

Soweit hätte ich’s gar nicht wichtig genommen.

Irgendein Typ, und der dreht wieder

um. Ich kümmere mich nicht um den Mann

und hätte ihn vergessen, wenn das Ganze an

dieser Stelle zu Ende gewesen wäre.

Zeit vergeht.

Ich erreiche mein Elternhaus. Ich denke nicht

weiter an diesen Holzfäller. Das wäre vollkommen

unbewusst geblieben, ein Zusammentreffen

im Bautunnel vor der Volksbank.

Ich hätte gar nichts daran festgemacht und

habe ja eigene Ziele im Sinn. Das Wetter ist

gut, sonnig mit leicht dunstigem Himmel

und windstill. Ich bin unterwegs auf dem Hof,

schließe die Pforte auf, hole Erich’s Fahrrad,

um damit zum Hafen zu fahren, wo mein Boot

liegt, ich mit Hauke verabredet bin. Das haben

wir einander gestern per Mail bestätigt. Mein

Vater ist gestorben, und viele Erinnerungen

sind in meinem Kopf, wenn ich mit seinem

Hercules unterwegs bin.

Gemütlich radele ich die Bekstraße durch ihre

Kurven den Geesthang hinab. Ich fahre einige

hundert Meter über die Schulauer Straße

und um die Ecke bei der Sonne vom Planetenlehrpfad

in die Deichstraße, schließlich

die Anhöhe rauf, wo Jan und „Hochwürden

der Pabst“ ihren Laden haben. Rechts führt

der kreuzende Weg für Radfahrer und Spaziergänger

über die Kuppe, die unser großer

Seedeich bildet, der wohl Ende der Siebziger

nötig wurde: Ich erinnere mich, sehe wieder

die Bagger und Planierraupen in der schweren

Kleie unterwegs, wie damals, als ich noch

ein Kind war. Meine Augen sind die aufmerksamen

eines Indianers im Gelände.

Unten auf der Deichverteidigungsstraße ist

wieder der rotbejackte Mann unterwegs!

Unverkennbar, das ist der Typ aus der Bahnhofstraße,

der in dem Moment umdrehte, als

er mich sah. Jetzt ist es mehr als eine nebensächliche

Erinnerung. Nicht zum ersten Mal

passiert so etwas, und meine Sinne sind hellwach.

Viele Male ist es vorgekommen, dass

Bekannte scheinbar ganze Sätze zitieren, die

Teil meiner E-Mail-Kommunikation mit anderen

sind. Was wir im Fernsehen schauen,

wie ich mit Migräne leide und wer gestern

zu Besuch ist, wohlmeinend wird’s angedeutet,

eben nicht ganz konkret und mit einem

feinem Humor weitergezinkt. Woher wissen

(so viele) Fremde, was bei mir passiert? So

etwas macht neurotisch und paranoid. In der

Summe wird einfach zu oft und viel zu exakt

nachgesprochen, was bei uns privat gerade

ansteht. Ich spinne vernünftigerweise, und

das seit mehreren Jahren. Freunde sagen mir

schon wie wissend, ohne sich anschließend

(auf Nachfrage) genauer zu erklären: „Du bist

nicht krank.“

Das macht krank.

Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 33 [Seite 32 bis 34 ]


Ich habe noch ein wenig Zeit bis zum Termin

auf dem Schlengel. Und während der Mann

hinter dem Deich wie unbeteiligt treppelnd

das Radfahren in der Marsch genießt, bin ich

oben vor dem Tonnenhafen angekommen.

Ich stoppe, setze einen Fuß auf den Boden,

schaue mich um: Dieser Typ, er hat wieder

die Richtung gewechselt. Während

er, als ich ihn bemerkte, noch in Richtung

der gelben Sonne aus Beton zur Schulauer-Straße

zurückgefahren ist, folgt er

mir nun ein weiteres Mal. Er arbeitet

sich gerade den Deich hoch. Als er oben

ankommt, haben wir Blickkontakt. Er ist

nur knapp hundert Meter hinter mir und

biegt, wie als wäre das ein neues Ziel,

über den Parkplatz vor dem Bootsausrüster

links ab, auf den vorgelagerten

Deich rauf. Da wird er mal so locker

hinüber zum Segelverein dödeln und

die Elbe anschauen. Er ist der megaentspannte

Trödelmors, der gerade nichts

Besseres zu tun hat, als in der Woche ein

wenig an der Elbe rumzufahren?

Mich sticht der Hafer, ich probiere etwas.

Ich bin auch nur so mal am Radfahren,

warum nicht? Was du kannst, das kann

ich auch, denke ich. Ich drehe ebenfalls

um, und rollere leicht wie der unbeteiligte

Hans-Guckindiluft dem Mann mit

der roten Karojacke nach.

Er ist langsam. Dort, wo nur eine kleine matschige

Fahrradspur anschließend der Sackgasse

vorm Laden auf das Deichgras führt,

bin ich dicht herangekommen. Er fährt auf

den Deich.

Ich folge ihm im Abstand von nur einer Fahrradlänge.

Wortlos und im Schneckentempo.

Ich verziehe keine Miene, als wäre alles so

normal wie die laue Luft, ein Kümo in der

Süd, die dunstige, windstille Natur und die

vereinzelten Senioren hier und da.

Kaum, dass überhaupt ein Auto fährt. Ein

schöner Tag. Träge zieht die Ebbe das glatte

Wasser aus dem Fluss. Ich kann dem Mann

nur wenige fünfzig Meter auf diese Weise folgen:

Er setzt einen Fuß an’ Grund, ankert.

Er stoppt, dreht sich um und winkt mich vorbei.

Ich halte ebenso an, aber er macht schon

deutlich, dass ihm das nicht gefällt. Er winkt

noch einmal mit großer Fällerhand: „Fahr

vorbei“, grummelt der Fremde mürrisch. Er

sieht gerade eine Niederlage ein? Ich trete

locker in die Pedale. Er schaut mir nach, während

ich mit dem undurchdringlichsten Gesicht

das ich zustande bringe passiere.

„So ein harter Knochen“, sagt der Mann noch.

:)

Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 34 [Seite 32 bis 34 ]


Die neue Freiheit

Mrz 27, 2021

Ein bisschen Frieden, etwas Adolf und einige

im Clan, etwas Bullenscheiße in und ohne

Uniform, andere querdagegen, ein paar Putins

und immer wieder Virus im Maskenland.

Die neue Freiheit ist ego und egal.

Menschen klumpen sich, stehen zusammen,

halten Abstand und schweigen eine Minute

am Weltfrauentag, Weltgebetstag, Weltfukuschimatag,

Weltklimatag, dem Weltleifmettertag

und dem Ich-Auch-Tag. Weiße Weste

durch die freie Wahl der Moral: Weltwaschtag

oder Hashtag-MeToo, was willst du?

Für alle was dabei.

Die Bundestagswahl bringt jeder Partei etwa

zwölf, dreizehn Prozent (Nichtwähler und

Sonstige inclusive), und dann dauert es ein

Jahr, bis Christian Lamentierer aus den Koalitionsverhandlungen

aussteigt und irgendetwas

Kanzlers wird. Gelenkte Anarchie, das

ist die Zukunft. Ein wenig Malle, etwas mehr

Föderalismus wagen und wieder ein neuer

Impfstoff auf dem Markt. Gute Geschäfte,

Kriegsgewinnler hier und da: zerstörte Träume

der Studenten, Gastwirte im Konkurs.

# Olaf „schlaffe“ Scholle schafft die rote Null

Manche werden verrückt vor Angst. Dieter

kickt den Michel weg und versaut damit

schließlich die Quote. Titanendämmerung

selbstgemacht. Ein Schalk, der Böses dabei

denkt: Mein Gott. Lockdown und Bim-Bam.

Gläubige läuten ihre Glocken, müssen singen,

um gehört zu werden. Maria 2.1 – wir wollen

auch mal. Durchficken der Ministrant*innen

zwischen brasilianischen Mutant*innen. Ostern

in Ruhe genießen, Angrillen mit Günther

und Niesen, anschließend Testen.

Gefährlich. Bis endlich genug krepieren und

Freiräume spürbar größer werden. Abstand

durch Auslese. Kollaps überall. „Bild“ gibt den

Opfern eine Stimme, klagt an, titelt: „Neue

Variante infizierte meine Tante!“

Schlimm. Aus dem Schatten

der Virologen treten, dabei sein.

Ein Krebsdoktor warnt: „Es wird

Tote geben, wenn die Menschen

nicht zum Arzt gehen und ihre

Tumore zu spät entdeckt werden!“

Ein Medizin-Markt ist in

Gefahr. „Wir müssen operieren,

sonst …!“ Die Drohung verpufft,

wenn der Standard in der Medizin

sich wandelt. Statt strukturierter

Fließbandarbeit im OP

gibt es täglich echte Not. Ständig

sterben unsere Covidkeucher.

Das ist unerträglich. Dazu diese Menschen,

die merken, dass sie nach einiger Zeit von

selbst wieder gesund werden, ohne Rezept.

Sie sind quasi wirtschaftsflüchtig und deswegen

nicht akzeptabel. Blöde Maskenpflicht:

Es gibt keine Grippesaison, da fehlt uns das

Gewohnte. Schlimm genug, dass die Lufthansa

nicht fliegt und die Leute sauber zu Hause

arbeiten. Präsenz in den Medien ist so wichtig.

Klimaretter wollen weiter warnen: „Die

Klimakrise ist noch da!“ Das erledigt sich. (Es

gibt aktuell zu viele Menschen auf diesem

Planeten). Denn nicht nur das Virus killt: „Suizide

werden zunehmen, psychische Probleme

durch Corona.“ Warnungen werden wahr, endlich

Recht zu haben, ist doch fein.

Gut so!

Platz für einen Neuanfang. Die Aliens wollen

landen, und keiner wartet noch darauf. Und

wir? Wozu zum Mars fliegen, wenn wir uns

zuhause eine tote Welt gleich selbst erschaffen

können: Das spart Flugzeit. Die letzte

Generation ist schon geboren. Und der letzte

Mensch ist ein Prepper, der seine letzte Dose

Ravioli heute bunkert.

:)

Mrz 27, 2021 - Die neue Freiheit 35 [Seite 35 bis 35 ]


Für immer geimpft

Mrz 28, 2021

Frau Lot schaute zurück und wurde zur Salzsäule.

„Ein Tod wie gewünscht“, beginnt Max

Frisch ein Buch. Wer will denn leben? Mein

Dasein ist zu einer Abrechnung mit früher

verkommen. Eine Existenz ohne Zukunft.

Mich interessiert nicht, etwas daraus zu

machen. Ich schlachte (lustlos) die Vergangenheit

aus. Ich beschäftige mich. Das kann

man nicht gerade als Antrieb bezeichnen. Der

Motor läuft, aber im Stand, und ich rolle zum

Ende einer Startbahn. Dort geht es nicht in

den Himmel. Kein Abgrund droht, in den ich

stürzen werde.

Irgendwann bleibt meine Kiste einfach stehen.

Eine Karton mit Spielzeug, das ist meine Erinnerung.

Die Zukunft werfe ich täglich weg.

Es gibt keine Liebe, hat niemals eine gegeben

und es wird auch keine geben: Weil ich nicht

weiß, was das sein soll und keine Möglichkeit

habe, es noch herauszufinden. Das ist vom

großen Versuchsleiter der du bist im Himmel

ausgeschlossen worden. Jedenfalls was mich

betrifft. Ihr anderen, da mag es funktionieren,

aber das ist mir inzwischen egal. Mein Professor

im Studium und schließlich Freund (Jahrgang

1923), passionierter Pfeifenraucher, hatte

im Alter seinen Geruchssinn verloren. Ich

habe die Empathie verloren. Nur noch Spott

befriedigt mich. Ein kurzes Glück, wenn man

glaubt, den Doofen überlegen zu sein.

Viele hier nehmen teil am offenen Geheimnis,

einige auch im Süden, nicht wenige am Meer.

So kommt es mir vor. Das Netz reicht weiter

als die Nachbarschaft. Aber es ist Ruhe eingekehrt,

es gibt bessere Themen, und schon

bald gerate ich in vollkommene Vergessenheit.

Verbittert habe ich mich abgewandt: von

der Politik, der Demokratie, Gesellschaft. Ich

veralbere die Mitmenschen, und niemand bemerkt

es noch. Mein Theater findet in einem

Saal statt, der nicht öffentlich ist und dessen

digitale Präsentation keinen Spaß macht,

weil die Grundregel, dass der Clown nicht im

Bilde ist einer zu sein, gebrochen wurde. Ein

bisschen Spaß muss sein, aber wir sind alle

zu weit gegangen.

Unser Dorf, wie im Groschenroman von G.F.

Unger. Der Cowboy, ein Peter Kraus der nicht

aufhören möchte, er kann mir nicht in die

Augen schauen. Unnötige Eskalation: Ein

Pfosten wurde unangespitzt eingeschlagen.

Staub hat sich gelegt, die Frontlinie ist ruhig.

Einige grüßen vorsichtshalber, andere offensiv.

Wir bleiben im Sattel, tippen uns den

Colt an die Krempe, Respekt. Das sind mir die

Liebsten. Sie spielen unser neues, fröhliches

Spiel, winken oder zeigen ihr „Victory“.

# Indianerspiele, Pädophile und Gendarm

Der alte Rote macht es als „Peace“ (mit geschlossenen

Fingern). Er streckt seine Hand

wie eine Friedenspfeife aus. „Tu’ mir nix!“,

heißt es wohl, während er anderen (falls

welche auftauchen) skandiert: „Das ist unser

Künstler!“ So sichert man sich in jede erdenkliche

Richtung ab. Ein gewiefter Fouché,

der als einfacher Maurer angefangen hat. Er

passiert gemächlich, aber ohne wie früher

für einen Schwatz anzuhalten. Besser ist das,

mag er denken. Als Grüßonkel

der Arbeiterklasse reitet

er den einfachen Esel, ein

drahtiger Kamerad für einen

gewichtigen Kicker. Immer

unterwegs ist der dicke

Mann. Er gleitet früh in den

Wald, macht Rast im Schnaakenmoor

oder dreht die kleine

Runde im Dorf, beginnend

von seinen Weiden über die

alte Landstraße, am Horst

der Krähen und den Tauben

vom von Appen vorbei wie

gewohnt. Der an dieser Stelle

sonst unbändig belfernde

Hund macht ausnahmsweise

keinen Lärm.

Manchmal ist zu schweigen einfach klüger.

Traurig. Das Problemwildschwein ist plattgemacht,

und wieder andere schämen sich

scheinbar. A. rennt weg und kommt besser gar

nicht erst. Ich gebe zu, es tut weh. Das kann

niemand weniger ändern oder rückgängig

machen als ich. Es hilft nicht, eigene Fehler

einzusehen, unmöglich nachzugeben, wohin

denn und wem? Das ist paradox und stabil

wie die Zwickmühle, die zum Ende des Spiels

und neuem Beginn in eine neue Mühle auf

einem frischem Brett zwingt. Nicht einen Millimeter

kann ich in die alte Richtung gehen.

„Haben wir es nicht gewusst!“, geiferten die

Schergen, falls ich es probierte und fänden

eitle Freude dran, über mich herzufallen, ihre

Steine auf mich zu schmettern. Das Dreckspack.

Stephans steh’ mir bei. Ein Füllhorn der

Kunst ist das Geschenk der Götter zu meinem

Trost.

Danke.

Müßig, eine alte Hexe ganz oben im Rat dafür

zu beschuldigen, ein Mädchen zur Marionette

zu gängeln, die Unbedarfte was weiß ich

glauben zu machen, ihr Gehirn zu waschen,

über die armseligste Ziege von allen droben

im Turm noch zu schreiben? Home-Office

ist ein willkommener Panzerwagen für eine

Trumpete der Moral, die, von Haus aus feige,

nur zu gern eine maskierte Schildbürgerin

ist und mit vorgehaltener Pappe strahlt. Sie

ist ihr eigenes Deepfake, renommiert wie

gedruckt, ist online noch besser als live. Sie

wird kaum ernst genommen, ist nur eine Frau

und vergleichsweise naiv emporgekommen.

Chaplin ist ihr zu hoch, Burt Lancaster zu breit

(das ist ja auch ein Mann), aber sie bekommt

es besser hin als ein Haloween-Kürbis. Smile.

Die Sicherheit und die Pflicht zu leiten und

lächeln gebietet es.

Unser gallisches Dorf. Der letzte, der noch

mitspielt, ist O. (ein alter Römer). Wahrscheinlich

ist er zu dumm, zu begreifen, dass unser

Theater ein Fake ist. Ein Mahner, er gibt den

ernsthaften Großonkel, erinnert an den Wert

des Lebens, der Familie, erklärt mir die Ehe;

so belehrt er mich ein jedes Mal. Seine Tochter

möchte ich nicht sein. Die kann nicht weg,

und zwar lebenslang. Diagnose: Golfplatz

Elternhaus. Was nimmt sich dieser Typ raus.

Ich bin nicht frech. Ich habe fertig mit der

Scheinheiligkeit selbst ernannter Prediger:

„das Buch gelesen“, mein Gott – hilf.

Ich spiele nun offen ohne Handicap. Nachdem

ich genug probierte, weiß ich Besseres

zu tun, selbst wenn die Normalität der anderen

unerreichbar bleibt. Die ist auch nicht

anzustreben, das

denke ich. Bleibt

nur zu malen. Eine

Arbeit für die Tonne.

Covid ist meine

letzte Freude und

eine Hoffnung gleichermaßen.

Eine

Freude, weil sie

die Pathologie der

Masse wieder als

eine Theorie, die

ernsthaft zu diskutieren

ist, in den

Fokus rückt. „Was

einmal gedacht

wurde, kann nicht

zurückgenommen

werden“, wusste

schon Dürrenmatt. Corona: Außerdem kann

man tatsächlich daran sterben, und das wäre

immerhin eine Abkürzung eines ansonsten

öden Lebensabschnitts.

„The whole man must move at once.“

Gesundes System oder infizierte Idioten? Es

ist jetzt an der freien offenen Gesellschaft,

ihre Werte zu verteidigen und Leistungsfähigkeit

im besten Sinne unter Beweis zu

stellen. Die letzte Chance für das Ganze, zu

zeigen, dass eine gemeinsame Bedrohung zu

einer geschlossenen Reaktion führt und das

System bindet, ohne die Einzelnen zu erdrücken.

Die Diktatur haben wir abgewählt.

Dorthin kommen wir nicht zurück: wo die

sind, die nicht begriffen, was unsere Eltern

lernten. Wenn doch, dann über den Umweg

Chaos. Unsere Zukunft ist besser oder ein infizierter

Scherbenhaufen. Anführer und Follower

– wenige stehen rum und sehen bloß zu.

Sie traben für ihren Traum, sie rennen für den

Chef, kämpfen um ihre kleine Welt. Seitdem

mir die eigene Existenz doch recht egal ist,

denke ich emotionslos.

„Schaun’ wir mal.“

Als stünde ich ungeschützt auf dem atomaren

(oder viralen) Versuchsgelände.

Und es ist mir egal.

:

Mrz 28, 2021 - Für immer geimpft 36 [Seite 36 bis 36 ]


Einfach aufgehört

Apr 2, 2021

„Ein Mensch aus dem vorigen

Jahrhundert“, wer das in meiner Kindheit

über jemanden sagte, wertete ihn ab.

Eine gängige Floskel, andere als altmodisch

abzustrafen. „Mercedesfahrer mit Hut“ oder

„lebt hinter dem Mond“ ging in dieselbe

Richtung. Kurz nach der Jahrtausendwende

trumpfte ein Bekannter mit dieser Neuinterpretation

auf: „Ich bin ein Mensch aus dem

vorigen Jahrhundert“, meinte er, verzweifelt

über seine digitale Unfähigkeit. Ich konnte

darüber lachen. Ein Humor, der nur bei denen

verfängt, die als Kind mit Menschen konfrontiert

waren, die vor 1900 geboren sind und

erschrecken, dass sie inzwischen selbst abgestraft

werden können.

Die Pandemie trifft gerade gut entwickelte

Staaten. Wir haben ein hohes Durchschnittsalter.

Ein Beleg dafür, wie verlässlich Medizin

und Versorgung der Mitglieder unserer Gesellschaft

sind. Wir können einen großen Teil

der nicht Arbeitenden mitnehmen, stoßen an

eine Grenze, die durch stetige Verbesserung

des Lebensstandards entstanden ist. Vor den

ersten Impfungen traf die Corona-Erkrankung

besonders die ältere Generation. Das sind

Menschen, die in früheren Jahrhunderten niemals

in solcher Breite dieses Alter erreichten.

„Wir haben unser Mindesthaltbarkeitsdatum

längst überschritten“, mit diesem Witz probierte

ein Freund zu punkten.

Das kam gut an.

„Soylent Green“ aus dem Jahr 1973 nimmt

diese Zukunft auf erschreckende Weise vorweg:

die Überbevölkerung des Planeten. Zu

dieser Zeit schien ein Flug zum Mars, und

dass wir ihn in nächster Zeit besiedeln würden,

realistisch. Heute, wo tatsächlich daran

gearbeitet wird, sind Zweifel angebracht; ob

wir das rechtzeitig schaffen, unseren Fortbestand

sichern können, die Erde bewohnbar

bleibt. Außerdem kommt es einigen, die

Raumfahrt als Kind fasziniert hat, heute nicht

mehr in den Sinn, sich für ein Leben im All zu

begeistern.

Mich irritiert, dass stetige Verbesserung und

Fortschritt ein Problem geschaffen haben.

Die frühzeitlichen Menschen wurden nicht

alt. In einer Kurzgeschichte von Jack London

beschreibt der Schriftsteller, wie die indigenen

Menschen in Stammesstärke weiterziehen

und ein Greis zurückgelassen wird. Der

Alte ist erblindet, zu schwach, um die Reise

in eine wärmere und fruchtbare Region ein

weiteres Mal schaffen zu können und weiß

das auch.

Ein Feuer brennt. Die anderen

brechen auf, er realisiert es an

Hand der Geräuschkulisse. Ich

erinnere nicht, ob und wie sich

jemand von ihm verabschiedet,

glaube aber, dass es Teil der Erzählung

ist. Das ist die einzige

Möglichkeit die sie kennen und

akzeptierter Brauch. Der Alte

legt gelegentlich Holz aus einem

kleiner werdenden Stapel nach,

damit das Feuer nicht verlöscht.

Er prüft, wie viele Zweige noch

in Reichweite sind. Er kann nicht

aufstehen, nichts sehen, und

es beginnt zu schneien. Lange

schon ist nichts mehr von der Sippe zu hören.

Erinnerungen kommen ihm, während es kälter

wird, der Holzvorrat kleiner. So ungefähr.

Das habe ich als Jugendlicher verschlungen,

dann ging das Buch verloren. Als ich’s später

in einem Geschäft entdeckte, habe ich es

wieder gekauft, noch einmal gelesen. Es steht

im Regal. (Jack London, Alaska-Erzählungen,

Das Gesetz des Lebens, Fischer 1992).

Einiges passierte seit der Steinzeit. Die Zivilisation

erfand den Fortschritt, der Mensch

zivilisierte sich fort. Zurück zur Natur? Immer

galt anderes als richtig. Vor wenigen Tagen

zappte ich in eine archäologische Sendung.

Gezeigt wurde im zufällig erwischten Moment

der Schädel einer Frau. Die lebte bei

Rom zur Zeit Cäsars, starb früh. Die Spezialisten

für die Epoche stellten Hypothesen

auf. Eigentlich ein Mädchen, etwa zehn Jahre

alt, könnte sie die Frau eines Soundso gewesen

sein oder eine Sklavin. Das wäre üblich

gewesen, und heute würden wir sagen, es

ist ein Kind. Das erklärte der Sprecher ganz

nebenbei. Keineswegs wurde eine Parallele

in die Neuzeit gezogen und unsere Sexualpraktiken

oder der Sinn von Ehe, Schutz der

Kinder und dergleichen diskutiert. Wie lange

dauert Kindheit? Wer bestimmt darüber:

Gott, die Natur, der Staat oder die Nachbarn?

Ist’s richtig wie es jeweils üblich ist; das wäre

eine andere Doku mit entsprechendem Thema.

Ich habe mich nicht mit der Sendung

aufgehalten, ein prägnanter Schnipsel blieb

hängen, mehr nicht. Diese Forscher bewerten

im Rahmen der jeweiligen Schublade, in der

sie tätig sind.

Schon immer wurde über junge Menschen

entschieden, wie es richtig sei, sich gehöre.

Die Macht der sogenannten Erwachsenen

bestimmt ihr Leben. Wer glaubt, heute sei

die Welt besser und er selbst menschlicher

im Sinne von gütiger, fairer und gerecht,

muss berücksichtigen, Teil der Gegenwart

zu sein und diese nur mitzugestalten, aber

nicht grundsätzlich erschaffen zu haben. Es

ist leicht aufzuzeigen, wie widersprüchlich

unsere Umgebung auch heutzutage kommuniziert,

und immer noch werden besonders

junge Menschen massiv getäuscht.

Als Kind wurde ich nach Marktschellenberg

„verschickt“, im Berchtesgadener Land, und

zwar 1976, wohl noch vor dem zwölften

Geburtstag im August. Mit dem für mich inzwischen

befremdlich anmutenden Begriff

bezeichnete man ganz offiziell eine Sozialleistung

der Krankenkasse. Das geschah für

sechs Wochen in den großen Ferien im Sommer.

Ich vermute diesen Grund: Meine Eltern

planten einen Neubau. In einer (besonders

für meine Mutter) typischen Weise wurde mir

nur angedeutet, was im Gange war. Nach einem

Gespräch mit Dr. Hofeld entschied der

Kinderarzt, ich sei zu leicht für mein Alter, zu

dünn. Die Barmer-Ersatzkasse hätte in den

Bergen ein (schönes) Kinderheim, dort müsste

ich hin, und dann würde das besser.

Als ich zurück kam, war unser Haus bereits

abgerissen, ein Schock für mich. Ich solle

mich freuen über das großartige Projekt, ein

Geschäftshaus zu bauen, das spürte ich, und

dann freute ich mich nach Kräften. Tatsächlich

hatte ich nicht zugenommen, aber das

interessierte niemanden. Ich fühlte mich die

meiste Zeit vollkommen einsam und verlassen

in Berchtesgaden.

Dort sah ich zum ersten Mal Filme der populären

Serie „Don Camillo und Peppone“ im

Fernsehen. Später habe ich mehrere originale

Bücher dieser Geschichten für die Zeitung

von Guareschi gelesen. Neben Steinbecks

„Von Mäusen und Menschen“ mit John Malkovich,

empfinde ich die Bassa-Verfilmungen

als nah am Text gelungene Adaptionen. Mit

den beliebten Karl-May-Filmen konnte ich

weniger anfangen. Andere haben auch Probleme:

Spencer Tracy könne nicht der alte

Mann sein, den Hemingway gemeint habe,

fand Otto Ruths, mein alter Professor. Mit

Fernandel, der ja tatsächlich Franzose war,

J. Tati in „Mon Oncle“ oder „Ferien am Meer“,

und natürlich Chaplin in vielen Filmen, ist

meine Erinnerung an früher untrennbar verwoben.

Den „kleinen Prinzen“ von Saint Ex’

habe ich natürlich gelesen und weitere Bücher

des Fliegers und wunderbaren Autors.

Mich hat der Wunsch umgetrieben, wie die

zu werden, die ihre Kindheit nicht vergessen

haben. Warum? Das könnte ich erst heute sagen:

Das Beste am Älterwerden ist wohl die

zunehmende Freiheit der Bewertung, also

frei zu werden vom Zeitgeist und die Mode

wahlweise ins persönliche Dasein zu integrieren

oder abzulehnen. Das konnte ich nicht

begreifen. Aber es würde sich mal später lohnen,

das war schon klar.

Guareschi beschreibt das Fahrrad in der Bassa.

# Man kann nicht verstehen, dass es auf dem

Erdenfleck zwischen dem großen Fluss und

der großen Straße eine Zeit gegeben haben

sollte, in der das Fahrrad unbekannt war. Tatsächlich

fahren in der Bassa alle Rad, von den

Achtzigjährigen bis zu den Fünfjährigen. (…).

Man muss wirklich lachen, wenn man die

Fahrräder der Städter sieht, diese funkelnden

Dinger aus besonderen Metallen, mit

elektrischer Beleuchtung, Gangschaltungen,

patentierten Werkzeugtaschen, Kettenschutzdeckeln,

Kilometerzählern und anderen

derartigen Dummheiten. Das sind keine

Fahrräder, sondern Spielzeuge zur Unterhaltung

der Beine. Das wirkliche Fahrrad muss

wenigstens dreißig Kilo wiegen. Der Lack

muss bis auf kleine Spuren abgekratzt sein.

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 37 [Seite 37 bis 40 ]


Ein richtiges Fahrrad hat unbedingt nur ein

einziges Pedal. Vom anderen Pedal darf nur

die Achse übrig sein, die von den Schuhsohlen

so abgeschliffen wird, dass sie fantastisch

glänzt, und die das einzige glänzende Ding

am ganzen Apparat sein darf.

Die Lenkstange, natürlich ohne Handgriffe,

darf nicht idiotisch rechtwinklig zur idealen

Radfläche stehen, sondern muss um wenigstens

zwölf Grad nach links oder rechts verstellt

sein. Das wirkliche Fahrrad hat keinen

hinteren Kotflügel; es hat nur den vorderen,

an dessen unterem Ende ein gehöriges Stück

von einem Autoreifen pendeln soll, womöglich

aus rotem Gummi, um das Anspritzen zu

verhindern.

Es kann auch den hinteren Kotflügel haben,

wenn dem Radfahrer der Kotstreifen lästig

fällt, der sich sonst bei Regen auf seinem

Rücken bildet. In diesem Fall muss aber der

Kotflügel seitwärts teilweise so verbogen

sein, dass er dem Radfahrer das amerikanische

Bremsen erlaubt, das darin besteht, dass

man mit dem Hosenboden das Hinterrad blockiert.

Das richtige Fahrrad, das die Straßen der

Bassa bevölkert, hat nämlich keine Bremsen,

und seine Reifen müssen so abgenützt sein,

dass man ihre Löcher mit Manschetten aus

alten Pneus schließen muss, wodurch jeder

Reifen jene Verdickungen erhält, die dann

dem Rad eine geistvoll aufrüttelnde Bewegung

anzunehmen erlauben. Dann erst wird

das Fahrrad ein wesentlicher Bestandteil der

Landschaft. (Giovannino Guareschi, Don Camillo

und seine Herde, Rowohlt 1957).

Was würde der Autor zu den heute anzutreffenden,

elektrisch verstärkten Rentnerbomben

mit Helm und gelber Tüte darauf sagen?

Sie donnern mit Warnweste um ihren Leib

gewurstet durch. Sie haben einem Spiegel

am Lenker, können den Hals nicht frei drehen.

Daran ändert ihr Fitness-Training in einem

Studio nichts. Für alles gerüstet, vom

„Trekking“ über „Spinning“ bis ins komplette

Beknackting. Dicke Taschen am Hinterrad.

Sie kommen auf gepolstertem Sattel daher,

der eine Sitzfläche der Größe hat, jeden Elefanten

zu transportieren und benötigen entsprechende

Federung. Wenn möglich, fahren

sie Tiefeinsteiger. Eingebildet fordernd, ihrer

vermeintlichen Wichtigkeit bewusst aus der

Wäsche schauend, klingeln sie sich den Weg

frei. Erkennbar sich nicht wahrnehmend, sitzen

diese unnötigerweise dummen Menschen

in schlapper Körperhaltung auf dem Bike und

glauben sie seien normal und deswegen ist

es in Ordnung. In Anbetracht der Masse ihres

Vorhandenseins und dem Wirtschaftszweig,

den sie gleichermaßen geschaffen haben,

wie Tand produzierende Firmen nutzbare

Konsumenten erst formten, immer neue Accessoires

erzwangen, ohne die so einer nicht

aufsteigt, sind sie tatsächlich normal. Zu Fuß

nur schnaufend unterwegs oder mit nachgeschleppten

Walking-Stöcken rumhetzend,

weil ihnen wer sagte, das sei gut für sie – das

ist, was ich sehe.

Der verblödete Mensch ist alltäglich geworden.

Er nimmt mindestens fünf verschiedene Pillen

am Tag ein, die ihm drei verschiedene

Ärzte verschreiben. Dazu noch einige Präparate

aus der Werbung. Die zurzeit vorgeschriebene

Maske hängt ihm vollgesabbert

unter dem Kinn. Wenn irgendwo eine Warteschlange

pandemiebedingt anzutreffen ist,

tut er so, als bemerke er’s nicht und mogelt

sich direkt in das Geschäft, die Bankfiliale.

Der sich selbst, was Psyche und Physis betrifft,

unbewusste aber zwanghaft drängelnde

Idiot ist Alltag.

# Der „Marlboro-Man“ ist an Lungenkrebs gestorben

Früher haben die Menschen geraucht und

getrunken, auch bei der Arbeit. Heute wird

nicht gesünder gelebt, aber mehr verboten

und geregelt. Auf Youtube sind zahlreiche

Zusammenschnitte mit Werbung des HB-

Männchens eingestellt. Vermutlich aus Gründen

des Urheberrechts sind viele Filme um

die Schlussphrase der Szenen gekürzt, in denen

eine freundliche Stimme sagt: „Wer wird

denn gleich in die Luft gehen?“ und das Produkt

empfiehlt.

Eine der Episoden zeigt

den Mann, der das Baby

zum Hüten an der Wohnungstür

übernimmt. Natürlich

brüllt das Kind im

Kinderwagen am Stück,

und Bruno gibt alles, das

Balg zu bespaßen mit den

bekannten Katastrophen

und dem unverwechselbaren

Gezeter. Dann geht

er wie gewohnt durch die

Decke. Anschließend, in

der ungekürzten Fassung,

zündet sich das HB-Männchen eine Zigarette

an. Genüsslich und entspannt qualmend

schaukelt er den Kinderwagen, und das Baby

gibt humorige Gluckslaute von sich.

Man stelle sich die Empörung heute vor.

Die täglich präsentierten Spots für Abführoder

Schlafmittel, Entspannungsprodukte

und Präparate zur Pflasterung des gereizten

Darms wie auch die vermeintlich nötigen B-

Sprintvitale sind akzeptiert.

Hyaloron-Produkte mit pharmazeutischen Inhaltsstoffen

haben Frühstückscerealien und

linksdrehende probiotische Kulturjoghurts

abgelöst. Diese Filme stören offenbar nicht

so, wie armselige Reste der Tabakwerbung

(mit Warnhinweis absurd doppeldeutig), gegen

die verbittert gekämpft wird. Auf Schritt

und Tritt farbenfreudige Großreklame, die

meine Jugend begleitet hat, bis die Zensur sie

zurückstutzte. Man kommt nicht umhin, die

Verbesserung, den Fortschritt zu bemerken.

Die Leute werden älter. Das beweist, dass die

Medizin das Leben verlängern kann. Nie wurde

der Krebs so bekämpft wie heute.

Großartig.

Ich habe schon gelebt und fuhr Auto, als

zwingend der Gurt vorgeschrieben wurde.

Bald darauf bekamen die Fahrzeuge auch

hinten welche. Eine schrittweise voranschreitende

Entwicklung, Menschen in Fahrzeugen

besser zu schützen. Es dauerte, bis Gurte im

Reisebus verpflichtend wurden. Die bösen

Fahrzeughersteller und die dummen Bürgerinnen

und Bürger leisten noch Widerstand

wie die Gallier bei Asterix. Die größtmögliche

Sicherheit für den Menschen wäre, das Haus

gar nicht erst zu verlassen und Fahrzeuge zu

meiden, und vielleicht könnte man Warnhinweise

an die Bushaltestellen schreiben: „Busfahren

kann tödlich sein!“ Die inzwischen mit

Plexiglas vor dem Corona-Virus geschützten

Fahrer der städtischen Linienbusse sind nicht

angeschnallt, die Fahrgäste stehen rum. Ich

habe einmal eine Vollbremsung aus gutem

Tempo auf Null runter mit einem Gelenkbus

erlebt, Luruper Chaussee: „Tut mir leid Leute,

ein Hund“, meinte der Busfahrer lapidar. Das

bleibt mir unvergesslich.

# Au-a!

Eine Helmpflicht für Fahrgäste, und der Helm

muss bereits vorher an der Haltestelle aufgesetzt

werden, das wird kommen. Dann

die allgemeine Helmpflicht für Fußgänger,

anschließend die in öffentlichen Gebäuden.

Später im privaten Bereich, Schlafzimmer

ausgenommen, noch. Realität heute: In

den Wartehäuschen tragen die Reisenden,

schon bevor der Bus kommt, nach Vorschrift

eine medizinische Maske. Die

Krankheit ist präzise unter dem

drei Quadratmeter umschließenden

Dachüberstand identifiziert,

von der HVV nach Hausrecht

juristisch unangreifbar

konzipiert, aber auf dem Gehweg

daneben ist kein Corona

und du kannst gern mit Meyer

quatschen.

Die Bank im Staddi-Schenefeld

schreibt ungefähr dies am Eingang:

„Hier tragen alle Maske. Wenn

Sie in die Filiale kommen, tragen Sie bitte

eine medizinische Maske. Wenn Sie aus welchem

Grund auch immer keine Maske möchten

oder mit medizinischem Attest davon

befreit sind, sehen Sie zu, Ihr Anliegen anders

zu erledigen. Hier dürfen Sie nur mit Maske

rein.“

# Keine Diskussion

Das Schild an der Filiale bremst Querdenker

und medizinisch wehleidige Egospinner von

Beginn an aus. Fein. Das Hausrecht und der

Föderalismus zeigen die Macht einer Gruppe

auf, die ihre Grenze zu ziehen weiß. Unsere

individuelle Freiheit. Wir diskutieren auf dem

Rettungsboot mit dem Kapitän über den zu

steuernden Kurs, bis wir endlich zusammen

versaufen und verhungern auf dem Meer.

Mein Dorf.

Der Schlachter im (unweit der Bank) selben

Einkaufzentrum (in dem konsequent Maskenpflicht

herrscht) beheimateten Supermarkt

hinter seiner Fleischtheke ist ein fröhlicher

Mensch. Das ist kein Spinner. Der trägt keine.

Er hat ein feistes, gelbes Schild auf der Brust,

darauf steht in etwa: „Fragen und belehren

Sie mich bitte nicht. Ich bin aus medizinischen

Gründen von der Maske befreit.“

Mir gefällt das. Ich finde es nicht schlimm,

diese Maske zu tragen. Schlimm finde ich

diejenigen, die herumstreiten. Statt darauf zu

achten, Abstand zu halten, schnauzen sie dich

lieber aus fünfzig Zentimeter Entfernung an,

wenn du probierst, den Aushang an der Bushaltestelle

zu lesen.

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 38 [Seite 37 bis 40 ]


Ich kann kontern. „Gehen Sie doch dahinten

hin“, preie ich die Alte an, ohne sie zu respektieren,

setzte böse nach: „Ich kenne Sie. Sie

dackeln hier regelmäßig rum. Wenn Sie mich

ein weiteres Mal als ,Idioten‘ bezeichnen, zeige

ich Sie an!“ Daraufhin bekommt die Olsch

es mit der Angst zu tun, dreht sich um.

Die Doofe bleibt aber, mich nahezu anrempelnd,

nach dem Motto „mein Platz!“ auf

Tuchfühlung stehen. Sie könnte locker einige

Meter unterhalb des Regendachs beiseite

treten, wenn sie sich um unsere Gesundheit

Sorgen machte. Ich lese endlich den Aushang,

weil mein 285er nicht wie gewohnt fährt, so

gut es geht in dieser Position, diszipliniere

mich, die Klappe zu halten.

Dann steigt Nancy zufällig am Rathaus ein,

und das entschädigt nun wirklich.

Vor wenigen Tagen bin ich auf dem Gelände

des Hamburger Yachthafens unterwegs. Das

ist vergleichbar mit einem großen privaten

Parkplatz. Es gibt mehrere Bootshallen, dazwischen

sind Verbindungswege und aus

Gründen des Flutschutzes erhöhte Plateaus

mit dort abgestellten Schiffen. Eine Anlage,

die von Fahrzeugen nur in Schrittgeschwindigkeit

genutzt wird. Es beginnt zu regnen,

als der Hafenmeister (mit seinem kleinen

Fahrrad unterwegs) meint, mir eine andere

Halle am hinteren Ende des Geländes zu

empfehlen für mein Anliegen. Ich beschließe,

ihm mit dem Wagen zu folgen, statt das Auto

stehen zu lassen, wo es geparkt ist, und zu

Fuß mitzugehen. Es hört gerade auf, „langsam“

zu regnen.

# Natürlich schnalle ich mich nicht an

Schon weil die ersten Meter ausbiegend rückwärts

zu fahren sind, die nützliche Rückfahrkamera

in diesem Fall schlechter informiert

als eine beherzte Rumpfdrehung, der erweiterte

Schulterblick, den ich in der Fahrschule

lernte und in meinem Alter noch mühelos

zustande bringe. So weit so gut.

Kaum, dass ich ins Vorwärts umgeschaltet

habe, beginnt überraschend ein Warnton.

Wir haben das Fahrzeug neu. Ich kann fahren,

aber ich interessiere mich nicht für Autos,

denke naiv: „Ach so, das ist, weil ich den

Gurt nicht anlegte“, und ignoriere das Signal.

Vielleicht kann man es abstellen? Ich bin

ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert.

Ich folge dem Bootswart auf dem Klapprad.

Man glaubt es nicht: Nach wenigen fünfzig

Metern steigert sich das mahnende Piepen in

ein infernalisches Pfeifen, so was von penetrant

(!) – und sicher nicht abstellbar. Das wird

mir schon klar.

# Schöne neue Welt, ich will hier weg

Keinen Krankenwagen kann man sich als

Fußgänger noch gefahrlos anhören, wenn es

ihm gefällt, direkt neben dem Gehweg, auf

dem man läuft, sein blödes Tatü loszulassen!

Das ist lauter geworden. Eine alberne Welt,

finde ich. Wir werden älter, ja, manches ist sicherer,

natürlich. Es gibt die tollsten Produkte,

das stimmt. Nichtsdestotrotz sind viele „Zivilisationskranke“

unter uns, die an den Widersprüchen

aus Erwartungen, Absicherungen

und erhofften Lustbefriedigungen unserer

Zeit scheitern, wie immer schon Menschen in

jeder Epoche nicht klar gekommen sind. Das

stellt sich nur anders dar.

Als ich klein war, erzählte mein Vater gern

von früher. Möglicherweise ist das ein erblicher

Charakterzug. Unsere Familie käme aus

dem Mecklenburgischen hieß es, und die Vorfahren

wären als Hugenotten aus Frankreich

ausgewandert. Tatsächlich machten meine

Eltern einen Ort aus: Dingelstädt, wälzten

alte Kirchenbücher.

Vorfahre Emil-Hermann hätte „seine Geige

auf einem Zaunpfahl zerschlagen“, der junge

Mann wäre es leid gewesen, das „Gefiedel“

erlernen zu müssen. Es hieß, er hätte sich zu

Fuß auf den Weg nach Hamburg gemacht,

wurde Seemann. Mit seiner holländischen

Frau begründete der Seefahrer eine Familie

mit zahlreichen Kindern in Finkenwerder.

Willy, der verstorbene Vater von meinem

„Erich“ (den ich ganz selbstverständlich beim

Vornamen nannte, was irgendwie richtiger

war, als z.B. „Vati“ zu sagen), wurde von ihm

als „der Alte“ bezeichnet.

Wohl auch, weil er „Schipper“ im Hafen war,

ein Kapitän.

Der Alte. Dessen Bruder Johnny wurde vom

Vater zur Seefahrt gezwungen. Auf dem

Schiff vom Emil-Hermann, der dort als Steuermann

(oder Kapitän) in der Weizenfahrt

nach Australien segelte, musste der Junge

an Bord mitfahren. In einem fernöstlichen

Hafen trickste der Vater seinen Sohn aus und

ließ ihn nach einem Landgang fassungslos

allein am Ufer zurück. Der Junge sah gerade

noch, wie die Bark nah der Kimm mit dem

Schlepper in See ging. Das war tatsächlich

als Erziehungsmaßnahme gedacht, um einen

„Mann“ aus ihm zu machen. Es wurde erzählt,

Johnny hätte daraufhin nie wieder ein Wort

mit seinem Vater gesprochen, nachdem es

ihm gelang, ein Schiff und eine Heuer nach

Hamburg zu bekommen. Er war mit vielleicht

vierzehn Jahren ein Kind (und ohne Englisch

zu können) in der Fremde allein zurück gelassen

worden.

Später: Johnny trank.

Der verkaufte Fisch und anderes in einem Geschäft

am Hafen, als Adolf Hitler an die Macht

kam. „Dat gift Kriech!“, waren sich Willy und

sein Bruder sicher. „Un’ dat, wo ick grood up

de tweete Flasche an’ Doog trainier“, befand

Johnny – und meinte Hochprozentiges.

Trinken war nicht ungewöhnlich.

Mein Vater ist zunächst Maschinenschlosser

in Wedel gewesen. In der Schlosserei war es

ganz selbstverständlich, Bier im Rahmen der

Beschäftigung (mindestens in der Pause) zu

trinken. Und es gab diejenigen, die „Holsten“

bevorzugten und die anderen, die nur „Astra“

tranken.

Fett zu essen, das Trinken und zu rauchen waren

gesellschaftlich akzeptiert.

Erich las gern Simenon, bei mir stehen einige

Maigrets im Schrank. Im Internet habe ich

das erste Kapitel eines bekannten Romans

gefunden, an den ich mich gern erinnere. Ich

probiere es hier (stark) gekürzt und auf die

Bier- und Sandwichbestellungen verdichtet

zu zitieren.

# Aufregung am Quai des Orfèvres

Ab halb vier hob Maigret von Zeit zu Zeit den

Kopf, um auf die Uhr zu sehen. Um zehn vor

vier unterschrieb er das letzte Schriftstück,

das er soeben durchgesehen hatte, schob

seinen Lehnstuhl zurück, wischte sich den

Schweiß von der Stirn und betrachtete unschlüssig

die fünf Pfeifen im Aschenbecher,

die er geraucht hatte, ohne sie hinterher

auszuklopfen. (...). Es war der 4. August. Aber

obwohl die Fenster weit offen standen, hatte

es sich kein bisschen abgekühlt; heiße Luft

drang herein, die von dem geschmolzenen

Asphalt und dem glühenden Pflaster aufstieg.

Man wartete fast darauf, dass auch die Seine

anfing zu dampfen wie kochendes Wasser auf

einem Herd.

Die Taxis und Busse auf dem Pont Saint-Michel

fuhren langsamer als sonst, schleppten

sich dahin, und nicht nur bei der Kriminalpolizei

waren alle Leute in Hemdsärmeln. Auch

auf den Gehsteigen trugen die Männer ihre

Jacketts unter dem Arm, und vorhin hatte

Maigret sogar Leute in Shorts gesehen, wie

am Strand. (...).

Maigret erhob sich mühsam, nahm eine der

Pfeifen, klopfte sie aus, zündete sie an und

ging dann zu einem der Fenster, an dem er

stehen blieb, um das Restaurant am Quai

des Grands-Augustins zu beobachten. Es hatte

eine gelb gestrichene Fassade, und man

musste zwei Stufen hinuntersteigen, um in

den Gastraum zu gelangen, der gewiss fast so

kühl war wie ein Keller. Die Theke war eine

richtig altmodische Zinktheke, an der Wand

hing eine Schiefertafel, auf der mit Kreide

geschrieben stand, was es zu essen gab, und

es roch immer nach Calvados.

Bis zu den Buden der Bouquinisten am Seine-

Ufer roch es nach Calvados.

Reglos blieb er vier oder fünf Minuten stehen,

zog an seiner Pfeife, sah, wie ein Taxi unweit

des kleinen Restaurants hielt und drei Männer

ausstiegen und die Stufen hinuntergingen.

Die ihm vertrauteste der drei Gestalten

war Lognon, der Inspektor aus dem 18. Arrondissement,

der von fern noch kleiner und

dünner wirkte. Maigret sah ihn zum ersten

Mal mit einem Strohhut.

Was würden die drei trinken? Bier zweifellos.

(...).

Alles verlief wie geplant. Maigret ging, ein

wenig schwerfällig und ein wenig unruhig,

zurück in sein Büro (...).

Um sechs Uhr brachte der Kellner der Brasserie

Dauphine ein Tablett mit Biergläsern.

(...). Wenn Bier gebracht wurde, war das ein

Zeichen, dass Maigret sich auf ein langes Verhör

einstellte. (...). Um halb acht hatten sich

bereits fünf Presseleute im Flur versammelt,

und sie sahen den Kellner von der Brasserie

Dauphine mit neuem Bier und Sandwiches

heraufkommen. (...). Nacheinander verschwanden

die Reporter in einem kleinen

Büro am Ende des Flurs, um ihre Zeitung anzurufen.

(...).

„Sollen wir uns auch Sandwiches kommen

lassen?“

„Ach was!“

„Und Bier?“

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 39 [Seite 37 bis 40 ]


Die Sonne verschwand hinter den Dächern,

aber es war noch hell. Zwar flimmerte die

Luft nicht mehr, die Hitze aber war noch immer

drückend.

Um halb neun öffnete Maigret seine Tür. (...).

„Gehen Sie jetzt nach Hause?“

„Wie spät ist es?“

„Halb zwölf.“

„Nun, dann ist die Brasserie Dauphine ja noch

offen, und ich werde dort eine Kleinigkeit essen.“

Maigret, Janvier und Lapointe brachen gemeinsam

auf. Zwei, drei Journalisten folgten

ihnen bis in die Brasserie, wo sie an der Theke

einen Schnaps tranken, während die drei

Männer sich in den zweiten Raum setzten

und mit müden, sorgenvollen Mienen etwas

bestellten. (Georges Simenon, Maigret stellt

eine Falle, zuerst erschienen 1955).

Die Menschen einer Generation wachsen

in der für die Zeit typischen Umgebung auf.

Vor einigen Jahren war ich mit der S-Bahn

unterwegs. Lange vor der Pandemie. Aber

noch nicht so lang her. Auf einem Sitzplatz

am Fenster fuhr ich rückwärts und konnte in

die Auwiesen schauen. Mir direkt gegenüber,

dass sich beinahe unsere Knie berührten, saß

eine junge Frau im Alter einer Studentin, Anfang

zwanzig, hübsch, dünn, schwarzes Haar.

Wir schauten aus dem Fenster, einander auch

einige Male kurz an, sie zog das Smartphone

hervor, steckte es wieder weg, wie man es

eben so macht.

Als wir an den Hochhäusern vom Autal und

dem Bahnübergang anlangten, begann eine

kleine Zeitreise scheinbar.

Das Mädchen, im Emo-Style, zieht wie selbstverständlich

eine Packung Tabak aus der

Jacke und rollt mit flinken Fingern eine Zigarette.

Sie leckt den Papierrand an, klebt

routiniert ein perfektes, schneeweißes Röhrchen

zusammen, steckt es, als der Zug den

Bahnsteig erreicht, in den Mund und steht

auf, ohne mich noch einmal anzusehen. Sie

geht durch die erste offene Tür, und während

ihr Fuß die Schwelle überschreitet, brennt

schon ihre Zigarette.

Als wäre es früher.

„Kleine Freunde“, fand einmal jemand, so wie

Kaffee, das seien Zigaretten. Aber das hörte

ich 1985 oder so. Als mich damals ein Amerikaner

besuchte, meinte der über seine Heimat:

„The land where no one smokes.“ Bei uns

aber war zu rauchen selbstverständlich.

Ich habe in Stade angefangen. Bis dahin

hatte ich nur gelegentlich geschnorrt. Wir

lagen mit den Jollen im Päckchen, ein schöner

Sommertag. Statt Segelfreundin Kocki

wie gewohnt zu fragen, ging ich ohne mich

zu erklären an Land zum Kiosk um die Ecke.

Ich kaufte eine Schachtel „Prince“ (weil Telle

die rauchte), und das wollte ich auch. Kocki

war entsetzt:

„John! Du hast eigene!?“

Meine Mitseglerin war es gewohnt, mir ihre

anzubieten und fand es gar nicht gut, dass

ich mir gerade eine erste eigene Schachtel

kaufte.

Sie sei um meine Gesundheit besorgt.

Ich habe geraucht bis etwa kurz vor der Jahrtausendwende,

nur gut zehn Jahre.

Dann habe ich wieder aufgehört.

Ich benötigte eine Schachtel am Tag und

eine zweite mindestens, wenn ich abends irgendwo

mit Leuten unterwegs war. Die Wände

meiner Wohnung waren gelb davon. Ich

arbeitete zu Hause am Rechner und rauchte

währenddessen. Mein Mitsegler Jan, mit dem

ich die Regatten fuhr, ermahnte mich oft. Man

könne nicht Sport machen und rauchen. Ich

war ganz dünn und hatte viel Ausdauer bei

schlechtem Wetter, konnte gut hängen und

mühelos in den Mast der Jolle klettern, um

etwas zu klarieren. Ich ging jeden Dienstag

zum Zirkel-Training bei Norbert. Ich machte

dreizehn gute Klimmzüge mit der korrekten

Handhaltung. Ich war bestimmt nicht kräftig,

aber ausdauernd und hatte bei der Bundeswehr

Gefallen daran gefunden, „Fünftausend“

zu laufen. Einige Jahre, und das waren die, in

denen ich Raucher war, bin ich durchaus fit

gewesen. Bei unserer Hochzeit hatte ich nach

einer Zeit, in der ich auch Pfeife rauchte, bereits

aufgehört.

Das gehört auch dazu: Ich wurde recht fett,

trainierte kaum, gab meine ambitionierte

Einstellung auf, obschon ich noch viele Jahre

in der Bezirksmeisterschaft mit guten Platzierungen

gesegelt bin. Als Sportler sehe ich

mich gar nicht. Genauso wenig als „Skipper“

im Sinne der Zeitschriften:

auf einen „Törn“ gehen, Modejacke

tragen, Seglermütze

– nein. Ich bin mit dem

Segeln und an der Elbe

groß geworden. Niemand

kann mir das nehmen, eine

Liebe zur Jolle und unsere

familiäre Vergangenheit.

Hamburger und Schulauer

Geschichte, über Hottl’, die

Nabers und Horst „Kohlensack“

Körner zurückerinnert,

bis zu den Urgesteinen Adje,

„Waldi“ Sellschopp, Karl

Rehder (Kuddl Dutt) oder Theo Tetzen mit

„Moi Bris“. Manche haben mit den Jahren immer

neue Schiffe gekauft, die entsprechend

ihrem beruflichen und familiären Status angepasst

mitgewachsen sind. Aber ein großes

Boot zu besitzen, mit dem entsprechenden

Komfort, kommt mir nicht in den Sinn. In die

vielen Preise, die ich gewonnen habe, stellte

ich normalerweise Pinsel, bewahrte Kram

drin auf, und bis heute liegen die Pötte rum.

Ich mache mir nichts daraus.

Was man tut oder lässt ist kaum entscheidend,

in Bezug auf die Befriedigung, damit

richtig zu liegen, sondern wie es individuell

Sinn macht. Das Rauchen an sich zu verdammen

ist vollkommener Quatsch. Sich beim

Rauchen im Zwiespalt zu befinden, zwischen

dem Genuss und der Gefahr, krank zu werden,

zermürbt die Psyche und bedeutet ein handfestes

Problem. Die gut gemeinte Idee eines

allgemein gesunden Lebens für jeden der nur

wolle maskiert das leider.

Ich rauchte auch Zigarillos.

Regelmäßig fuhr ich nach Kiel, der Grund:

unsere Fernbeziehung, die über ein Jahr lang

andauerte. Einmal war ich zu früh in Altona.

In Bahnhofsnähe ist das „Mercado“. Es kann

dort gewesen sein oder im Presse-Shop direkt

an den Gleisen. Ich lief hinein, um zu

bummeln, nach einer Zeitschrift für die Fahrt

zu suchen. In der Mitte einer größeren Verkaufsfläche

lag rund um eine Säule ein unordentlicher

Haufen von beträchtlicher Höhe,

wie hingeschüttet, mit Exemplaren vom

„Endlich Nichtraucher!“, Allen Carr. Ein blaues,

schmales Taschenbuch. Oben die Headline,

drunter eine Hand, die zur Faust geschlossen

eine Packung mit Zigaretten zerknüllt.

Das habe ich mir gekauft.

Ich habe es im Zug gelesen.

Rauchend in einem Zug durchgelesen?

Nicht ganz: Ich benötigte die Rückfahrt nach

dem Wochenende, um es zu schaffen, alles zu

lesen und zu verinnerlichen, rauchte dabei

die ganze Zeit, wie vom Autor geraten. Gehirnwäsche,

beschwörend logisch, eingängig

und zupackend geschrieben. Ein Bestseller.

Wie spannend kommt der populäre Text daher!

Carr schlägt vor, sich nicht selbst unter

Druck zu setzen. Es ginge darum, einen exakten

Zeitpunkt mit dem Rauchen insgesamt

aufzuhören, in der nahen Zukunft bewusst zu

planen. Also nicht die Sache auszudünnen

und etwa Nikotinpflaster draufzupappen oder

Kaugummi zu kauen. Ganz oder gar nicht. Das

Problem sei nicht das Aufhören.

Es käme darauf an, nicht wieder anzufangen.

Mit jeder zu Ende gerauchten

Zigarette höre man auf. Das

Problem sei, dass darauf die

nächste angesteckt würde:

Rauchen sei eine Sucht, keine

Gewohnheit.

„Ich mag Hummer“, schreibt

Carr.

„Deswegen esse ich nicht fünfundzwanzig

Stück davon am

Tag und morgen wieder und

so fort.“

Es schien ganz einfach, mit seiner Methode

aufzuhören. Ich las das, verschlang dieses

Buch wie einen Krimi. Es ist scheinbar ganz

schnell und plakativ, billig (wie die Bild-Zeitung)

an nur einem Tag herunter geschrieben.

Ein Groschenroman.

Mitte der folgenden Woche hörte ich dann

auf und rauche bis heute und in alle Zukunft

nie wieder eine.

:)

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 40 [Seite 37 bis 40 ]


Weil Hoffnung ändert

Apr 10, 2021

Weltbester von irgendetwas zu sein, ist nicht

nötig. Weiter zu lernen, herauszufinden, was

wichtig ist und vor allem dort zu suchen, wo

es lohnt, schon. Im Jahr 2016 schien meine

kleine Welt doch ganz in Ordnung zu sein.

Das würde nicht so bleiben, so viel war uns

schon klar. Nach seinem Schlaganfall war

mein alter Vater Erich auf Hilfe angewiesen

und wurde zu Hause von meiner Mutter gepflegt.

Depressiv hoffte er auf gar nichts, sah

keinerlei Zukunft für sich und lebte wie zur

Strafe, nicht gehen zu können. Dass er dem

traurigen Ende näher kam, konnten wir nicht

ausblenden. Im Frühjahr wurde zudem eine

ärztliche Untersuchung meiner Mutter notwendig;

und scheinbar aus heiterem Himmel

endete jede vertraute Vorstellung gemeinsamer

Zukunft. Mit der feststehenden Diagnose

ihres baldigen Todes konfrontiert, strukturierten

wir die verbleibende Zeit, in der noch

so viel geregelt werden musste. Es blieben

wenige Monate dafür.

Kurze Pause: Im Sommer waren wir wie gewohnt

für zwei Wochen auf Fehmarn, während

meine Eltern zu Hause begannen, sich

dem Unvermeidbaren zu stellen. Der Herbst

bedeutete für alle eine nicht gekannte Extreme.

Meine Mutter starb dann wie vorausgesagt

noch innerhalb des Jahres im Dezember.

Auch in jenem Sommer, dem letzten mit Eltern,

voll mit düsterer Vorahnung, zeichnete

ich. Im Kaufhaus Stolz kaufte ich mir ein kleines

Notizheft. Mit Bleistift machte ich meine

Skizzen wie gewohnt. Einmal habe ich mir

bei Rüders eine Pferdedecke geborgt, und

dort am Boden sitzend, wo die Skulptur mit

den Badenixen und ihren wehenden Handtüchern

das Auge erfreut, die Leute gezeichnet.

Ich erinnere, eine Mutter mit Tochter kommt

vorbei, meint: „Sieh mal, der Mann zeichnet

auch.“ Schnell betont sie: „Aber nicht so schön

wie du!“ Bekräftigend stellt sie’s nochmal fest.

Ohne überhaupt stehenzubleiben, zieht sie

ihre Tochter, die gern noch schauen möchte,

mit der Hand weiter. Die Mama macht Tempo,

ist die Wichtigste unbestritten.

Sie wiederholt es extra aufgesetzt:

„Du malst viel schöner!“

„Nein“, widerspricht ihr das Mädchen

ganz leise (und vermutlich

ungehört).

Ich war schon als Kind herausragend

im Zeichnen. Es tut weh,

dummen Eltern zuzuhören. Ich

war gut, wurde gelobt, aber ein

Wunderkind bin ich nicht gewesen.

Ich muss daran denken, weil

ich durch Zufall auf „Cole Trumpet“

gestoßen bin, sie ist eines.

Wie soll ich’s erklären? Ich male einfach. Ich

kann das, es beschäftigt mich. Ich bin kein

Sammler von Kunst, ich stelle meine nicht

aus. Ich fülle meine Wände mit Bildern. Wenn

ich sparsam lebe, reicht was ich habe, wenn

nicht, nehme ich einen Job an oder gehe betteln,

verblöde freiwillig gern. Ich habe fertig.

Ich suche nichts nur so. Seit dem Erlebten in

den vergangenen Jahren (mit der Politik hier

im Dorf), dem brutalen Ende, und damit meine

ich nicht das Sterben meiner Eltern: nie

wieder Kunst. Interessiert mich nicht. Kaum

einmal begeistere ich mich für die kreativen

Kollegen, folge nicht, häufe nichts an von anderen

und bin nicht informiert; aber ich höre

Musik. Was ich suchte, habe ich gefunden. Ich

warte darauf, was eventuell kommt, rechne

mit Ärger, Schmerzen. Ich hoffe auf gar nichts

und suche nie blind, wo ich gerade bin und

weil es möglicherweise leicht ist.

Ich empfinde mich als grundsätzlich frei.

Musik unterhält mich bloß. Youtube bietet

Galerien nach dem Motto „könnte interessieren“

an.

Trompete.

Ich beschreibe. Es hilft mir zu denken, kann

anderen nützen. Niccole Ramos ist mit elf

Jahren beeindruckend, auch Alba Armengou

kann spielen, etwa siebzehn, singt wunderbar.

Cole in Venezuela, Alba in Spanien,

Katalonien – Barcelona, und natürlich nicht

allein, musizieren diese faszinierenden Trompeterinnen

mit anderen jungen Menschen in

verschiedenen Formationen. Skandinavien,

Schweden: Idun, etwa siebzehn, an der Seite

ihrer Mutter Gunhild Carling, eher kein

Wunderkind der Posaune, aber bereits eine

feste Größe im Dixieland, auch das gibt es.

Joan Chamorro in Barcelona ist unermüdlich

im Zusammenstellen hochklassigen Jugendorchester:

Alba, Elsa Armengou und Andrea

Motis sind Stars.

Zumindest online.

Alte Videos zeigen, wie Hans Cooling Carling

seine Kinder zum Jazz brachte, wir sehen

Gunhild und ihre Geschwister als Kinder (in

den Achtzigern) mit dem Papa auf der Bühne.

Kein Wunder, dass Idun singt, Posaune spielt.

Auf Videos (von vor wenigen Jahren) wird

klar, dass ihr Talent anfangs kein Feuerwerk

der Jazzimprovisation gewesen ist.

Cole Trumpet Prodigy ist eine Rakete.

Das Wunderkind. Videos mit Cole, die einen

eigenen Kanal hat, machen Spaß. Sie ist unglaublich,

und sie genießt zu spielen. Man

muss sich kaum Sorgen machen, weil sie so

jung ist. Sie ist wirklich selbstbewusst, strahlt

ihre Zuhörer an. Sie ist stolz, aber fröhlich wie

ein Kind, im besten Sinne. Beruhigend. Wer

hat einen Nutzen davon, wenn ein Kind besonders

ist?

# Und was ist das überhaupt, ein Talent?

Mir sind Textstellen verschiedener Autoren in

den Sinn gekommen, etwas zu beschreiben,

das mit einem Begriff wie Talent kaum genügend

definiert ist, gerade die Umrisse erkennbar

macht vom Problem. Es ist nämlich

eines. Das normale Kind wird beschrieben

mit „kleine Kinder, kleine Probleme, große

Kinder große“, und wer sich so austauscht

findet andere, die ähnliche Geschichten parat

haben.

Aber mit einem Wunderkind fallen auch die

Eltern aus dem Rahmen.

Ein Kind kommt auf die Welt, hat Bedürfnisse,

Hunger, schreit. Es lernt sich zurechtzufinden.

Je nach Umgebung, in der ein Organismus

startet zu leben, muss das kleine System

lernen, Anforderungen an Sicherheit, Fortbestand

der Existenz und Schwierigkeiten

seiner Funktion im Detail zu befriedigen. Der

Erwachsene hat Methoden gefunden, sein

Verhalten zu rechtfertigen. Wir müssen nicht

nur wegen unserer Motive agieren, werden

bewertet, stehen unter dem Druck von Kritik.

Verantwortung ist eine intellektuelle Rahmung

unseres Seins und ergänzt die Tat. Die

Handlung wird im Dialog mit anderen hinsichtlich

ihrer logischen Qualität bewertet.

Ein Mensch muss lernen, in dieser Welt seinen

Platz zu finden. Was geschieht im Gehirn,

mit dem ganzen Menschen?

Das Ergebnis nennen wir Verstand.

Die Bewertung der Umgebung ist dahingehend

falsch, dass andere nie objektiv sind.

Kritiker bleiben subjektive Bewerter, nehmen

die ihnen fremden Motive nur ausschnitthaft

wahr; einen Anderen kennen, hieße sich

selbst kennen. So genau will man’s in der

Regel nicht wissen. Umgekehrt sind manche

gezwungen, sich selbst genau kennenzulernen.

Zum einen wegen der Faszination, eine

persönliche Lust wie etwa zu zeichnen immer

besser zu erlernen, und das heißt sich

selbst und die Welt kennenlernen wollen.

Zum anderen, um Probleme in den Griff zu

bekommen, weil es nicht geht, zu leben wie

die anderen und glücklich zu sein. Es soll einander

nicht ausschließen.

Das Ergebnis nennen wir angekommen sein.

Wenn es schwierig wird, womit auch immer

klarzukommen, gibt es Menschen, die souverän

wirken möchten. Jemand gibt sich selbstbewusst:

„Damit habe ich kein Problem.“ Konfrontiert

mit einer unerquicklichen Situation

wird Gelassenheit vorgetäuscht. Der verstorbene

Philosoph und großartige Denker Karl

Popper sah das anders? Sein Buchtitel lässt

ahnen, dass einige nur Ausflüchte zum Besten

geben. „Alles Leben ist Problemlösen“ –

müssen wir vermuten, dass diejenigen, die

kein Problem haben, schon gestorben sind?

Typen, die meinen, so zu tun als ob, werden

selbst zum Problem. Ich empfinde den Alltag

als kompliziert. Meine emotionale Freiheit

muss ich immer neu erkämpfen. Das lernte

ich so spät. Es zu können, ist meine Kunst

heute. Sie schafft mir die Luft zu atmen. Dem

Gebot „Du sollst nicht fluchen“ trotze ich mit

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 41 [Seite 41 bis 47 ]


„Du kannst nicht fluchen“. Das lässt mir die

Wahl, schlechte Tage zu ertragen. Morgen, da

kann ich es vielleicht.

Die Welt ist voller Widersprüche, dass die

grünen Parteien die Umwelt nicht retten, ist

einer. Wunderkind Greta Thunberg rastet aus

deswegen. Sie wird immer angelogen wie wir

alle, aber sie stört sich daran.

Das macht den Unterschied.

Popper stellt die Theorie richtig, er räumt auf

mit dem falschen Denken, wir sähen etwas

und reagierten darauf. Der kluge Autor macht

deutlich, dass der Normale den Wald vor lauter

Bäumen gar nicht bemerkt. „Oh wie schön

die Tanne“, sagt der Spaziergänger, aber der

Förster sieht etwas anderes.

# Dass die Wissenschaften, wie schon die

griechischen Philosophen sahen, vom Problem,

von der Verwunderung über etwas ausgehen,

das an sich etwas Alltägliches sein

kann, aber für den wissenschaftlichen Denker

eben zur Verwunderung, zum Problem wird,

das habe ich schon am Anfang angedeutet.

Meine These ist, dass jede wissenschaftliche

Entwicklung nur so zu verstehen ist, dass ihr

Ausgangspunkt ein Problem ist oder eine

Problemsituation, das heißt, das Auftauchen

eines Problems in einer bestimmten Situation

unseres Gesamtwissens.

Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die

ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie

lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt

der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung

oder die sinnliche Beobachtung ist.

Das klingt zunächst durchaus vernünftig und

überzeugend, ist aber grundfalsch. Man kann

das leicht durch die folgende These zeigen:

ohne Problem keine Beobachtung. Wenn ich

Sie auffordere: „Bitte, beobachten Sie!“, so

sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch gemäß,

fragen: „Ja, aber was? Was soll ich beobachten?“

Mit anderen Worten, Sie bitten mich,

Ihnen ein Problem anzugeben, das durch Ihre

Beobachtung gelöst werden kann; und wenn

ich Ihnen kein Problem angebe, sondern nur

ein Objekt, so ist das zwar schon etwas besser,

aber keinesfalls befriedigend. Wenn ich

Ihnen zum Beispiel sage: „Bitte, beobachten

Sie Ihre Uhr“, so werden Sie noch immer nicht

wissen, was ich eigentlich beobachtet haben

will. Wenn ich Ihnen aber ein ganz triviales

Problem stelle, dann wird die Sache anders.

Sie werden sich vielleicht für das Problem

nicht interessieren, aber Sie werden wenigstens

wissen, was Sie durch Ihre Wahrnehmung

oder Beobachtung feststellen sollen.

Als Beispiel könnten Sie das Problem nehmen,

ob der Mond im Zunehmen oder Abnehmen

ist; oder in welcher Stadt das Buch, das

sie gegenwärtig lesen, gedruckt wurde. (Karl

R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen, Piper

1996).

Die von Popper korrigierte Einordnung unseres

Vorgehens, die Welt zu erforschen, ist für

das Begreifen der talentierten, besonderen

wie auffälligen Kinder von Bedeutung. Hier

wird die individuelle Person deutlich, die

ansetzen wird, wo andere sich nicht motivieren,

Interessantes zu bemerken. Eine gute

Beschreibung findet sich bei Feldenkrais, der

als Assistent des Physikers Joliot-Curie zugegen

war, als dieser die künstliche Radioaktivität

entdeckte. Wenn man googelt, erscheint

zuoberst dies:

# Am 15. Januar 1934 legten Irène und Frederic

Joliot-Curie der Schwedischen Akademie

der Wissenschaften ein sensationelles Forschungsergebnis

vor: Es war ihnen gelungen,

künstliche Radioaktivität herzustellen. Dafür

gab es postwendend den Nobelpreis, womit

Irène in die Fußstapfen ihrer berühmten

Mutter Marie Curie trat.

Der Assistent seinerzeit, M. Feldenkrais,

schreibt detailliert, wie das auf den Weg gekommen

ist.

# Ich habe das Glück gehabt, Zeuge eines Beispiels

von Bewusstheit des Gehörten zu sein.

In unserem Laboratorium in Paris war eine

Waage, die einige Jahrzehnte lang gedient

hatte, demontiert und eine neu entworfene

Curie-Waage installiert worden, und ich war

im Begriff nach Hause zu gehen. Frédéric

Joliot-Curie bat mich, das neue Instrument

noch anzuschaun, auf das er sehr stolz war.

Zwischen seiner zentralen Aufhängung und

seinem Gehäuse, das geerdet war, hatte das

Instrument eine Spannung von fünfzehnhundert

Volt. Es war schon spät und niemand

mehr im Labor außer uns. Joliot sah sich noch

einmal um, dann zog er seinen Mantel aus

und begann das Instrument auszuprobieren.

Er nahm einen Metallstreifen, der in der Nähe

des Instruments liegen geblieben war, legte

ihn in die Kammer und schaltete den Zähler

ein, woraufhin aus dem Lautsprecher ein Hagel

von knackenden Geräuschen kam. Joliot

machte seinem Ärger darüber Luft, dass der

Anschlag, den er aufgehängt hatte und auf

dem wer immer als letzter das Labor verließ,

gebeten wurde, das Instrument abzustellen,

nicht beachtet oder jedenfalls die Bitte nicht

befolgt worden war. Er zog den Mantel wieder

an, wir waren schon im Weggehen, als er,

die Hand nach dem Schalter ausgestreckt,

erstarrte als hätte ihn der Blitz getroffen. Er

zog den Mantel wieder aus; für alles andere

blind und taub, stand er bei der Waage und

horchte auf das Knacken. Immer noch horchend,

wandte er sich um und sagte: „Hörst

du, wie das Knacken immer schwächer wird?

Hier ist kein radioaktives Material, das eine

solche halbe Lebensdauer hat.“ Nachdem er

den Apparat seiner eigenen Vorschrift gemäß

abgeschaltet hatte, gingen wir nach Hause.

Anderntags erfuhren wir, dass die induzierte

Radioaktivität entdeckt worden war. Wäre er

jener Geräusche nicht bewusst gewahr geworden,

so hätten sie wahrscheinlich nur zu

einem Rüffel geführt für den, der es unterlassen

hatte, die Maschine abzustellen. Fast

eine Woche lang vergewisserte sich Joliot,

bevor er sich und dann die Welt überzeugen

konnte, dass die künstliche oder induzierte

Radioaktivität eine experimentell erhärtete

Tatsache ist. Er ist dann mit dem Nobelpreis

belohnt worden. Ich glaube, nur wenige Physiker

verfügen über einen solchen Grad von

Bewusstheit wie Joliot-Curie; mancher hätte

wahrscheinlich nur gemeint, es sei an dem

neuen Apparat etwas nicht in Ordnung.

Vorfälle wie dieser werden oft als „intuitiv“

wegerklärt. Meines Erachtens ist das eine

Frage der Semantik. Intuition kommt vor auf

einem Gebiet, von dem einer schon große

Erfahrung hat und das für ihn von entscheidendem

persönlichen Interesse ist. (Moshe

Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen,

1981).

# Als talentiert zu gelten, heißt nicht normal

zu sein

Nicht normal sein und doch bei Verstand?

Mit einer besonderen Bewusstheit wie Joliot

gesegnet zu sein, einen Nobelpreis zu

bekommen, weil man im Knacken einer elektronischen

Waage mehr hört, als nur den

Rhythmus einiger Geräusche, ist außergewöhnlich.

Ein Musikinstrument zum Klingen

bringen oder zeichnen zu können, sensibel

die Umgebung wahrzunehmen, ist nicht normal.

Der Besondere ist nicht normal, aber das

bedeutet latent auch die Gefahr, deswegen

psychisch labil zu sein, isoliert von den anderen

ins Abseits zu geraten. Ein Grenzgänger

ist derjenige, der seine spezielle Leidenschaft

erkennt und sich auf den Weg macht, seine

Hoffnung daran hängt, ein besonderes Leben

meistern zu können.

Für ein talentiertes Kind stellt sich die Welt

mit zwei Polen dar. Da fasziniert zu lernen als

eine rasante Entwicklung, die deswegen befriedigt.

Das Andere ist der Applaus durch die

Umgebung. Das Leben des Wunderkindes ist

also eine Medaille mit zwei Seiten. Vermutlich

wird so ein Kind selbst zu einem Wesen

mit zwei Innenwelten, wie jeder weiß, was es

bedeutet gelobt zu werden und arbeiten zu

müssen auf der anderen Seite, aber die Gefahr,

emotional Probleme zu bekommen, ist

bei extremen Lebenswegen eher gegeben.

Bei Siegfried Oelke finde ich einen guten

Text zum Thema.

# Alle Menschen haben Empfindungen und

Gefühle. Der künstlerische Mensch ist sicherlich

ein besonders empfindsamer Mensch. Es

kann sein, dass er einen so hohen Grad von

Sensibilität hat, dass seine Verletzlichkeit

den Druck, den das Leben für ihn verursacht,

nur erträgt, wenn er eine Form findet, mit der

er sich von dem Druck befreien kann. (…). Seine

Empfindsamkeit wird bewirken, dass seine

Augen immer und immer wieder wieder fasziniert

sind von Dingen und Erscheinungen

dieser Welt und eben so sehr davon, wie man

sie darstellen könnte. (…). Die oft gestellte

Frage: Kann man illustrieren lernen? Eine

theoretische Frage hat bestenfalls Anspruch

auf eine theoretische Antwort. Was kann die

nützen? Die Lust dessen, der das lernen will,

was bisher beschrieben ist, muss groß sein;

sie muss so groß sein, dass sie die jeweiligen

Schwächen (jeder hat irgendwelche Schwächen)

überwinden hilft. Seitdem der Ausdruck

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 42 [Seite 41 bis 47 ]


„Motivation“ im Schwange ist, verleitet er zur

Illusion, als ließe sich auch Lust lehren. Man

kann nur infizieren. Wenn einer aber gegen

diese Ansteckung immun ist, dann sollte er

sich unbedingt woanders seine „Ansteckung“

holen. (Prof. Siegfried Oelke, Über Illustration,

Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung,

März 1983).

Zum Begriff der Verletzlichkeit aus Sicht der

Psychiatrie schreibt Bäuml:

# Was versteht man unter dem „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“?

Die Theorie wurde 1973

erstmals formuliert. Ganz allgemein besagt

sie, dass die Außenhaut der Seele, das sogenannte

Nervenkostüm nicht bei allen Menschen

gleich stabil ist, dass es wohl einige

Menschen gibt, die eine besonders dünne Außenhaut

haben. (Josef Bäuml, Psychosen aus

dem schizophrenen Formenkreis, Springer-

Verlag 1994).

Der Volksmund spricht vom zweigeteilten

Menschen im Zusammenhang mit dem Begriff

Schizophrenie, aber das ist genauso nur

ein Begriff wie viele andere theoretische

Ideen und genügt kaum, die unterschiedlichen

Verläufe psychischer Erkrankungen

und zahlreichen Diagnosen seriös fassbar

zu machen. Tatsächlich kennen wir alle den

Wunsch nach Bestätigung. Zu unterscheiden

ist, ob ich zwanzig Jahre bei einem Autobauer

tätig bin und deswegen sagen wir „Opel“ ein

Stück von mir ist oder ich mein Leben damit

zubrachte zu musizieren, zu zeichnen oder

anderweitig aus mir selbst einen Künstler

formte, der scheinbar untrennbar mit dem

Werk verschmilzt.

Wenn ein Mensch Kritik erfährt, muss er es

intellektuell hinbekommen, Geschaffenes

und Person zu trennen. Das „Ich“ sei eine

Leistung, heißt es. Genau das steht hier zur

Debatte. Kann ein Kreativer auseinanderhalten,

was mit ihm passiert, er fühlt? Bleibt der

Schaffende, wenn etwas nicht gelingt, seine

Tätigkeit misslang oder ein von ihm gemachtes

Produkt fehlerhaft wurde, emotional unversehrt?

Darin steckt der Spruch, die Kunst

käme vom Können genauso wie in gekonnter

Arbeit aus handwerklicher Sicht. Jemand

schrieb, Kunst käme vom nicht mehr anders

können. Das drückt den Zwang aus, der damit

verbunden ist. Zum einen die Faszination in

der Sache, eine angenehme Erfahrung, bestimmte

Dinge zu bemerken in der Art wie

Popper es beschreibt: Forschung. Auf der

anderen Seite Reflexion, zusammen unsere

individuelle Existenz.

An anderer Stelle wird bereits erwähnt, dass

ich als Kind einige Wochen in Marktschellenberg

in Verschickung war. Schon dieser

1976 übliche Begriff lässt ahnen, wie Kinder

gesehen wurden. Man kann mit ihnen machen,

was man will? Es sind Kinder, und wir

Erwachsenen wissen, was gut für sie ist: Wie

eine Sache verschickt. Es muss über Frühjahr

und Sommer stattgefunden haben, kollidierte

vermutlich mit dem Schuljahr. Ich kann mich

nicht hinreichend erinnern.

Wann immer es möglich war, probierte ich

mit meiner Zeichnerei anzugeben. Das war

bereits im Kindergarten methodisch, die Leitungskräfte

wohlwollend zu stimmen. Nach

diesem Grundsatz ging ich jede Gruppensituation

mit übergeordnetem Lehrer oder einer

Aufsicht an. Das hatte bei meinen Eltern

gewirkt, Aufmerksamkeit zu bekommen, im

Kindergarten und in den jeweiligen Schulklassen.

Das habe ich im Studium gemacht.

Es funktionierte nicht mehr nach dem Studium

in der freien Wirtschaft, denn mit meiner

Zielvorgabe „Illustrator“ war ich selbstständig.

Nun gab es keinen Kursleiter, der mit mir

als bestem Schüler punkten konnte, und die

Auftraggeber, meine Kunden, waren nicht daran

interessiert, mich zu loben.

Ich erinnere, dass ich in Marktschellenberg

nur eine einzige Zeichnung anfertigte. Das

ist ein wenig seltsam. Vielleicht liegt es daran,

dass meine Art mich beliebt machen zu

wollen, von den Frauen, die uns betreuten, in

keiner Weise gestützt wurde. Das mag dazu

beigetragen haben, dass ich dort unglücklich

war. Im Prinzip wäre es als therapeutischer

Ansatz denkbar, aber ich glaube, dass ich das

Konzept überbewerte, würde ich das so interpretieren,

und dann hätte diese Pädagogik

zudem versagt. Eine unangenehme Zeit.

Meine Eltern? Es hat nie an Geld gefehlt, aber

etwas zu leisten wurde bei uns zu wichtig

genommen. Ich war überfordert ein ums andere

Mal. Die Verschickung ist im Nachhinein

(gutgemeinte) Trickserei gewesen, mir den

Anblick der Zerstörung meiner gewohnten

Umgebung zu ersparen. Abriss des (geerbten)

Altbaus für ein großes Geschäftshaus.

Unter dem Vorwand, eine Art Kur würde mir

zum Start auf der Realschule gut tun, waren

wir beim Kinderarzt Dr. Hofeld vorstellig, er

schlug es vor. Der kleine Doktor war bereits

konsultiert worden, als mir die Tischplatte

mit den Heften der Hausaufgaben im Blick

unterm geneigten Kopf davon zu gleiten

schien. Nach vorn und in einem Bogen hoch

sauste sie scheinbar, dass mir schwindelte,

ich Stunden brauchte, aber nicht fertig

wurde. Meine Mutter schlug mich mit ihrem

Rechenschieber – warum?

Sie wollte jede Sache forcieren und hatte

doch selbst keine Zeit, die Arbeit zwang sie;

noch im Sterben war sie der Auffassung,

neu zu bauen wäre ohne Alternative notwendig

gewesen. Sie beschrieb mir, während

wir im Wohnzimmer sitzend auf ihren

Tod warteten, die Beerdigung planten und

weinten, wie es früher in der Bahnhofstraße

gewesen war. Ich erinnerte mich, stimmte

schließlich zu. Das ist mein Vermögen, von

dem ich heute lebe. Wir haben es auf Kosten

der Gesundheit erkämpft. Alternativlos

zur Dankbarkeit verpflichtet. Ich wurde

nicht besser darin, alles richtig zu machen.

Ich habe mir Mühe gegeben.

Meine Mutter wollte mir ein Abitur möglich

machen.

Sie war selbst nach der Elften abgegangen.

Mir wurde, als zu früh eingeschultem Kind

mit schwachen Noten in den Hauptfächern,

die Realschule empfohlen. Ein Abitur? Ich

könnte schaffen, fand meine Mutter, was ihr

misslungen war. Eine Ahnenreihe: Der „einfache“

Volksschullehrer „Uropa Bur“ hatte den

Vater meiner Mutter, Heinz, zum Oberstudienrat

zwingen wollen – der war als Matrose in

die Seefahrt abgebogen. Erst als Kapitän (auf

großer Fahrt) rehabilitiert vom Vater. Ich bin

auf dem Gymnasium, dem elitären „Rist“ in

Wedel, krachend gescheitert. Nach nur einem

Jahr, ging ich mit gleich drei fünfen ab. Ich

musste schräg versetzt diese Klassenstufe

ein zweites Mal machen.

Und zu dieser Zeit ist die Verschickung mit

der Barmer gewesen.

Wir sind in Altona mit dem Schlafwagen abgefahren,

das war mit das Aufregendste. Ich

erinnere, wie ich morgens aus dem rasenden

Zug den Kopf aus dem heruntergeschobenen

Fenster halte, um als Erster die Alpen zu sehen.

Die Berge fand ich toll. Ich probierte mich bei

der Leitung beliebt zu machen. Wir nannten

die ältere Dame beim Vornamen: Charlotte.

Tatsächlich war sie in Hamburg gewesen.

Sogar Wedel kannte sie: die Schiffsbegrüßungsanlage;

das gefiel mir, und sie mochte

mich. Die Mädchen, die uns für gewöhnlich

betreuten waren nicht empfänglich für so

etwas. Sie erkannten in den normaleren Kindern

das Potential, diese in Spiele und Aufgaben

zu integrieren. Immer wieder fand ich

Zeit, ganz allein auf einer Wiese unweit der

Gebäude zu sitzen und mich mit dieser einzigen

Zeichnung zu beschäftigen, die ich dort

machte. Das war so in Zeichenblockgröße

eine Bleistiftskizze. Leider unauffindbar heute,

kann ich mich ganz genau an das Problem

erinnern, das ich damit hatte.

Eines Tages zu Beginn startete ich mit dem

Bild. Das fand auch wie erwartet großes Interesse.

Manche schauten gern, wie sich die Szene

entwickelte. Obgleich ich immer schnell

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 43 [Seite 41 bis 47 ]


gezeichnet habe, ging es dieses Mal weniger

gut voran, und es mag Regen aufgezogen

sein – wir mussten zum Essen ins Haus, jedenfalls

wurde ich nicht gleich fertig am Tag,

als ich diese Skizze begann. Einige Male später

habe ich diesen Zeichenblock wieder mit

raus auf den Rasen genommen. Im April 1976

bin ich elf Jahre alt gewesen. In diesem Alter

hatte sich meine Kreativität schon eindeutig

als individuelle Ausdrucksform manifestiert.

Im Unterschied zur Flexibilität als auch der

Beliebigkeit der anderen, die sich gern mitnehmen

ließen, eingeteilt in Gruppen, von

Betreuern motiviert, ein Programm nach Plan

zu bespielen, folgte ich meiner eigenen Idee.

Ich wollte mein Bild vollenden. Das wurde

auch einigermaßen gelungen fertig, das erinnere

ich genau. Es gab hier ein ganz vertracktes

Problem mit der Perspektive. Deswegen,

und weil es eine ganz andere Umgebung für

mich war, hat die Sache so lang gedauert?

Das weiß ich nicht mehr. Es ist untypisch gewesen,

dass ich nicht mehr machte oder wir

angeleitet wurden gemeinsam zu malen, wie

sonst in der Schule.

Ohne noch lang auf diese Verschickung einzugehen,

möchte ich an dieser Stelle das Perspektivische

der Situation anschaulich machen.

Die Wiese vor dem Gebäude, das als ein

Teil eines Komplexes typischer Häuser dieser

Region, die Schlafräume, den Saal, in dem wir

aßen und anderer Räume der Einrichtung zu

denken ist, war abschüssig. Ich schaute also

ein wenig aufwärts, und das Haus stand breit

im Bereich der Kuppe darauf, ein Berg im

Hintergrund mag noch aufgeragt haben. Es

gab auch eine Stelle, von der man bis zum

Watzmann schauen konnte. Soweit ich mich

erinnere, war etwa links dieses Haus, in der

Mitte die Richtung auf den Watzmann zu und

rechts von allem war zunächst das Tal unter

uns, darüber stand in großer Länge der Untersberg.

Die Dächer der Häuser dort sind anders als

unsere in Schleswig-Holstein, weniger spitz,

die Dachflächen sind nicht so steil, das mag

mit dem Schnee zu tun haben, der darauf satt

liegen bleibt. So war es möglich, das Gebäude

in seiner Längsausdehnung auf diese Weise

zu sehen, dass ich nicht aufs Dach und nicht

unter den Überstand blickte. Also befand sich

der Platz im Gras, von dem aus ich das sah

und zeichnete, ungefähr in der Verlängerung

einer gedachten Linie unterhalb des Hauses,

die dem Winkel entspricht, den das Dach zur

Senkrechten hat. Wer die flachen Winkel dieser

Dächer kennt, kann sich leicht vorstellen,

dass ich nicht allzu viel tiefer als das Gebäude

saß und doch nicht nah davor; eine Untersicht,

die zunächst wenig als solche bewusst

wird.

Nun entstand das Problem dort, wo die Stirnseite

des Hauses begann. In einer normalen

Perspektive hätte das Dach hier einen sichtbaren

Knick gehabt. Es knickte, wie ein jedes

Rechteck an der Kante, um neunzig Grad ab.

Von dieser Ecke aus verlief die kürzere Seite

bis zur Spitze im Giebel. Dort bog es, wie jedes

Dach, wiederum um neunzig Grad rechtwinklig

nach links um. Hier war der First. Das

wusste ich, aber ich hatte keine optische Bestätigung;

wie sollten das die Leute begreifen,

die später meine Zeichnung anschauen

würden? Eine Kante, parallel zur Regenrinne

und genauso lang wie unten. Ich sah sie

nicht, das war das Problem.

Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke,

aber von meiner Position aus konnte ich

nichts davon sehen. Für mich gab es die untere

Kante mit der langen Regenrinne. Dann

rechts die Stelle, wo die kürzere Dachseite

aufwärts zum Giebel verlief. Vom Platz aus,

an dem ich zufällig saß, nahe der Schaukel

wo die anderen spielten, konnte ich nur eine

fortlaufende Gerade erkennen. Ich sah nichts

vom Dach. Aber ich schaute nicht drunter;

dann hätte ich einen Knick leicht abwärts sehen

müssen, obwohl das Dach aufsteigt?

Ich war nicht in der Lage, das zu begreifen.

Machte ich einen Rundrücken, sackte ich

tatsächlich mit den Augen in diese Position.

Aber das Dach konnte, ja durfte doch nicht

runter, nach unten gezeichnet werden! Das

ging genau an dieser Ecke hoch, nach oben

zum First. Ich glaube, dass viele spätberufene

Erwachsene, die in einem Kurs das Zeichnen

lernen, an solchen Problemen scheitern:

Etwas geht baulich gesehen aufwärts, sie

haben es technisch verinnerlicht, schauen

quasi nicht mit den Augen darauf, sondern

mit ihrem Wissen. Die besondere Perspektive

macht daraus eine Linie, die relativ zur Waagerechten,

nach unten hin abknickt; das darf

nicht sein. Als Lehrer dieser bedauernswert

untalentierten, aber hoffnungsfrohen Dussel,

verzweifelt man als Künstler (wie jeder Berufsmusiker,

der auch lieber ein schnell lernendes

Wunderkind unterrichtet).

# Blockiert

Es schien immer wieder anders auszusehen,

warum? Machte ich mich kerzengerade,

richtete mich auf, wurde einige Zentimeter

größer, genügte es nicht wirklich, um auf

die Fläche der Schindeln zu schauen. Ich

habe sogar probiert, es mit einer der Frauen

zu diskutieren. Sie verstand mich nicht.

Es war wie bei Popper, der in seinem Buch

dazu auffordert: „Beobachten Sie!“ Die junge

Erzieherin antwortete mir hilflos: „Ich verstehe

nicht, was du meinst.“ Sie hatte nicht den

Zugang wie ich zum Malen und Zeichnen. „Du

schaffst das schon, das sieht doch schon toll

aus, ich wünschte, ich könnte das“, so tröstete

sie mich wohl. Möglicherweise stand diese

Frau und konnte aus ihrer Sicht ganz gut auf

das Dach schauen? Ein Haus auf dem Hügel

sehen, ein Bild davon machen; das waren offenbar

zweierlei Dinge, lernte ich damals im

Kinderheim.

Ich habe es schließlich begriffen, zeichnete

mein Bild dort irgendwann zu Ende. Das erinnere

ich noch ganz genau. Sehr schade, dass

ich dieses Blatt nicht wiederfinden kann.

Ich bin immer gut darin gewesen, Perspektive

zu begreifen, war vielleicht kein Wunderkind

und habe trotzdem einige Nachteile davon

gehabt, bewundert zu werden. Das ist seltsam,

man sollte meinen, wer tolle Sachen

kann, dem ginge es gut deswegen, das ist aber

nur teilweise richtig. Wie in der Forschung,

der Wissenschaft befriedigt es sehr, etwas zu

lernen. Sozial im Abseits bleiben dabei diejenigen,

denen es nicht gelingt, mit dem Bewundertwerden

die zu erreichen, von denen

man es sich wünscht, dass sie einen mögen.

Ich bin vermutlich nicht allein mit dieser Erfahrung.

Malen kann einsam machen.

Musik ist viel mehr, die Kreativität tatsächlich

mit anderen zu teilen, sie mit etwas Gelungenem

im Inneren zu erreichen. Natürlich

bewegt ästhetische Grafik tief, große Malerei

ist zum Weinen schön; aber bei hässlichen

Tönen gehe ich fort, bei Gekritzel stehe ich

davon unberührt in der Vernissage und trinke

gern Prosecco: „Wie mutig Sie das umsetzten“,

sage ich lächelnd, „Sie sind ein Künstler.“

Das Instrument in der Musik musst du spielen

können, das ist dasselbe in der Kunst auf

einer Leinwand, beim Zeichnen auf Papier

oder wenn man schreibt. Es scheint jedoch

einfacher zu sein, Konsumenten mit ungekonnter

Grafik zu blenden. „Musik wird als

störend oft empfunden, weil sie mit Geräusch

verbunden“, Wilhelm Busch war Maler, Humorist

– und kannte die Musiker. Die sind erst an

zweiter Stelle mit dem Zuhörer konfrontiert,

müssen zunächst selbst aufeinander hören.

Sie befinden sich in zeitlicher Bindung durch

den Rhythmus, sind durch die Tonart vereint.

Ihre Harmonien gefallen nur, wenn ihr Spiel

gekonnt gemeinsam intoniert wird. Wie im

guten Sport, kontrolliert sich ihr kreatives

Team darauf, ob die Sache läuft.

Während ein Maler mit breitem Ego sonst

was behaupten kann oder noch dreister die

Installationen einiger Kollegen für was weiß

ich herhalten müssen, und es Menschen gibt,

die bereit sind, das zu glauben, ertragen deine

Bandmitglieder keine schiefen Töne, schmeißen

dich aus dem Ensemble. Das unweigerliche

Fremdschämen untereinander, während

eines misslungenen Auftritts, zwingt die Musiker,

ihre Kunst zu können. Die Spinner, die

sich selbst und die Leute mit baladischem

Gedödel betrügen, können niemals in derselben

Breite auftreten, wie bei uns, die wir

leise die Augen bedienen. Lärm stört wirklich,

Schmierkram kann neu definiert werden.

Die Bewertung wird gern wichtiger, als beim

Essen, bei der Musik. Dort zählt die Realität,

dass die Speisekarte zu vertilgen und einer

Baumaschine zu lauschen nicht zum Sternemenü

mit Violinenkonzert umdeklariert werden

kann.

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 44 [Seite 41 bis 47 ]


Der Mensch benötigt seine Hände, um die

Ohren zu verschließen, das ist nicht zu übersehen.

In eine andere Richtung zu schauen,

die Augen zu verdrehen oder gähnend die

Lieder zu senken, eine coole Sonnenbrille; es

gibt viele Möglichkeiten, Kunst zu übersehen,

die schlecht ist, und dabei so zu tun, als ob

es was sei. Musik machen zu können, ist in

der gegenseitigen Anforderung der Kollegen

auf dem Bandstand ungleich härter für den,

der’s probiert und zugleich ein fließendes

Spiel. Künstler zeigen „Arbeiten“, wollen ernst

genommen werden wie die Manager in der

Wirtschaft und die Macker, die im Tiefbau

eine Straße aufreißen? Sie konzentrieren

sich. Verschrobene Tanten besuchen deine

Vernissage und geschwollene Reden verwursten

den Intellekt.

# Kunst!

Maler können verkrampft drauflos schrammen.

Musiker müssen ihren Körper beherrschen.

Wie Tänzer ist es ihnen nötig, gekonnt

und fließend zu atmen. Ganz sicher ist es das

auch in der bildenden Kunst. Aber hier fällt

es leichter, sich und dem Betrachter blauen

Dunst vorzumachen. Das bewundere ich an

Joseph Beuys. Er hat die Leute wirklich vorführen

können, auf einen Blick hinter die

Fassade zurückgeworfen und tatsächlich zum

Denken angeregt: Seine Kunst war neu. Eine

echte Alternative zur gekonnten Abbildung

in der Malerei und erfrischender als die Bildhauer

anderswo. Das kann man nicht immer

wiederholen wie einen alten Witz oder den

bekannten Zaubertrick, dessen Geheimnis

keines mehr ist.

Wie faszinierend es sein kann, Dinge zu begreifen,

die man nur versteht, nachdem man

bereits einige Kenntnisse in seiner Beschäftigung

hat, und wie unbegreiflich verschieden

die Kollegen dasselbe tun, macht eine Textstelle

deutlich. Dizzy Gillespie spricht hier

über Monk. Das sind Giganten des Jazz, das

muss ich nicht erklären.

# Ich habe Monk schon 1937 oder 38 kennengelernt.

Damals spielte er mit Cootie

Williams im Savoy, und dann, 1939, bekam

er den Gig im Minton’s. Ich habe eine Menge

von Monk gelernt. Es ist sehr eigenartig mit

ihm. Unser gegenseitiger Einfluss auf einander

war musikalisch so stark, dass er gar nicht

mehr weiß, was ich ihm gezeigt habe. Aber

ich weiß noch einiges, was er mir gezeigt hat,

zum Beispiel den Moll-Sext-Akkord mit einer

Sexte im Bass. Das habe ich zuerst von ihm

gehört. (…).

Ich sagte einmal zu Monk: „Zeig’ mir irgendetwas,

das du von mir gelernt hast, und das du

oft verwendest.“ (…). Dann zeigte ich ihm, was

ich von ihm gelernt hatte, damals, diese eine

besondere Sache, die mir neue Möglichkeiten

eröffnet hatte. Aber ihm fiel nichts ein, was

er von mir gelernt hatte. Dabei weiß ich genau,

dass es hunderte von Sachen gibt, denn

wir waren oft zusammen und ich spielte auf

dem Klavier herum und wenn ich etwas entdeckt

hatte, zeigte ich es den anderen, auch

ihm. Aber Monk ist ein Unikum, mehr als alle

anderen aus unserer damaligen Clique. (Dizzy

Gillespie, to Be, or not … to BOP, Minton’s

Playhouse, Doubleday New York 1979).

Zum anderen Thema, der psychischen Gesundheit

von Wunderkindern finde ich dies

bei Chaplin.

# Während „The Kid“ geschnitten wurde, besuchte

der siebenjährige Samuel Reschewsky,

der Kinderschachweltmeister, das Atelier. Er

sollte im Athletic Club seine Künste zeigen

und eine Simultanpartie gegen zwanzig Erwachsene

spielen, darunter Dr. Griffiths, den

Schachmeister von Kalifornien. Er hatte ein

dünnes, blasses, eindringliches kleines Gesicht

und starrte die Menschen, denen er

begegnete, aus großen Augen streitsüchtig

an. (…).

„Können Sie Schach spielen?“ fragte er. Ich

musste zugeben, dass ich es nicht konnte.

„Ich zeige es Ihnen, kommen Sie doch heute

Abend und sehen Sie mir zu. Ich werde

gleichzeitig mit zwanzig Männern spielen“,

sagte er prahlerisch. (…). Man muss nicht unbedingt

Schachspieler sein, um das Drama

dieses Abends wahrzunehmen: Zwanzig Männer

mittleren Alters über ihrem Schachbrett

brüten zu sehen, in Ratlosigkeit gestürzt von

einem Siebenjährigen, der noch dazu jünger

aussah als er war, und ihn zu beobachten, wie

er an dem U-förmig angeordneten Tisch von

einem Brett zum anderen ging, war allein

schon dramatisch genug.

Die dreihundert oder mehr Zuschauer, die

schweigend auf den Bankreihen an den

Längswänden der Halle saßen und ein Kind

beobachteten, das seine Geisteskraft mit der

erfahrener Männer maß, wirkten surrealistisch.

Einige von ihnen schauten herablassend

lächelnd zu. Der Junge war verblüffend,

doch beunruhigte er mich, denn als ich das

konzentrierte kleine Gesicht betrachtete,

einmal stark gerötet und dann wieder kreidebleich,

wusste ich, dass der Junge mit seiner

Gesundheit bezahlte.

„Hier!“ pflegte einer der Spieler zu rufen, und

das Kind ging hin, betrachtete das Brett einige

Sekunden lang, machte dann einen Zug

oder rief „Matt!“ Dann lachten die Zuschauer

gedämpft. Ich sah, wie er schnell hintereinander

acht Spieler matt setzte, was Gelächter

und Applaus hervorrief. (Charles Chaplin, Die

Geschichte meines Lebens, Fischer 1977).

Chaplin ist selbst ein Wunder der Kreativität

und zugleich kommerziell unglaublich erfolgreich

gewesen. Ein sicherer Beobachter

und einer der großartigsten Künstler überhaupt.

Dazu kommt, dass er in der McCarthy-

Ära in unglaublicher Weise erfahren hat,

angefeindet zu werden. Psychiater wie der

oben zitierte Josef Bäuml zeigen sich von

einer naiven wie gleichermaßen doofen, ja

bösartigen Seite, wenn sie nivellieren wollen,

wie fies Menschen anderen gegenüber

sein können. Das als Ursache psychischer

Erkrankungen in seiner traumatisierenden

Weise ausblenden zu wollen zeigt zweierlei.

Zum Einen ist der Arzt nicht der Freund des

Patienten. Er ist der Fachmann. Als solcher

ist er nicht ehrlich (wie ja auch ein Polizist

beruflich bedingt nicht offen auf die Bürger

zu geht, deren Freund und Helfer er vorgibt

zu sein. Er ermittelt unter falscher Identität).

Ein Freund wiederum kann dem psychisch

Kranken kaum helfen, denn er wiederum ist

kein Fachmann.

Das andere, was ich probiere zu sagen ist, der

Psychiater möchte den Kranken nicht damit

belasten, etwa die Schuld der Probleme bei

den Eltern oder den Kollegen in der Firma zu

suchen. Der gute Grund ist die latente Angst

und damit die verborgene Aggression, die

in jeder Form psychischer Krankheit unterschwellig

darauf wartet, erkannt zu werden.

Wenn mir mein Leben nicht gelingt, ist nichts

naheliegender, als die böse Welt um mich herum

dafür zu beschuldigen. Das kann und will

kein Arzt forcieren. Lieber kreiert man eine

Theorie der Verletzlichkeit, kann aber keine

genetische Komponente dafür finden.

Keine einzunehmende Medizin wird je eine

Lösung für die wortreich erfundene „Dünnhäutigkeit“

sein. Was ist eine Seele, ein Nervenkostüm?

Mauern im Gehirn, wie sie vom

Haldol und den eleganteren Nachfolgern

erdacht wurden, die Rezeptoren zu schützen,

sind so einfallsreich und primitiv wie die

Grenze zwischen Nord- und Südkorea, die

Mauer in Berlin, die Zonengrenze zwischen

den deutschen Bundesländern nach dem

Krieg. Die Chemie des Gehirns, die Funken

der Nerven, die unsere Gliedmaßen mit den

Muskeln steuern, sie sind in einem Geflecht

aus Wahrnehmungen und Erfahrungen, wie

in einer Situation zu reagieren sei, derartig

kompliziert verwoben, dass „das Dopamin zu

binden“, wie es mir ein Arzt schmackhaft als

eine gute Idee zu erläutern probierte, allenfalls

moderne Quacksalberei ist. Das kann im

Notfall der Eskalation auf einer geschlossenen

Station die Lage beruhigen. Eine Verbesserung

des Lebens in schwierigen Zeiten

ist gut. Aber deswegen anzunehmen, mit ein

paar Pillen und Therapie wird das schon, ist

vermessen und unfair gegenüber den Kranken

und ihren Familien. Ungebildete Menschen

stehen vor Problemen, und die bitter

notwendigen Fachleute sind verschrobene

Medizinmänner, kaum fachlicher als ein pink

bekappter Pfarrer, der die Seele mit dem Räucheröfchen

ausschaukelt.

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 45 [Seite 41 bis 47 ]


Niemand staut seine Aggression auf, bis es

knallt. Diese Begriffe verleiten dazu, sich

körperhafte Dinge vorzustellen, wo in Wirklichkeit

Abläufe des Verhaltens, Prozesse in

Beziehungen geschehen. Da ist keine Mauer

im Kopf, die das Böse zurückhält, ein Fach dafür

oder ein Tank mit hundert Milligramm Aggression

gespeichert, der schließlich zu klein

wird, wenn der entscheidende letzte Tropfen

das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn es das

gäbe, könnte man operieren! Wie die Mägen

der Fettleibigen verkleinert werden, könnten

wir umgekehrt moderne Zombies schaffen,

die ihren Aggressionstank im Hirn ausgeweitet

bekommen; entsprechend des künstlichen

Darmausgangs, wird ein extra Beutel

angetüddelt, weil sie als Gefährder eingestuft

das Potential dafür haben.

Wenn es so einfach wäre.

Statt von Gefühlen wie Dunstwolken zu reden

oder zu sagen etwas sei „Kopfsache“, und den

Intellekt zu beschwören, wäre es ganz konkret

möglich, den Körper effizient miteinzubeziehen.

Ein handfester Trainer könnte Menschen

helfen, ihre Gefühle besser wahrzunehmen.

Ein verkastelter Doktor ist nichts weniger.

Warum wird die Rolle des Psychiaters im Plot

mit einem Spinner besetzt, der seine Pillen

selbst schluckt? Ich glaube: Die Verantwortung

für die Aktionen eines Patienten draußen

im Alltag möchte kein Außenstehender

übernehmen. Das wäre aber unweigerlich

der Fall, dass psychisch kranke Menschen,

denen wir zutrauten ihre Erfahrungen mit

der Durchsetzungsfähigkeit nachzuholen, die

dem Normalen mit den Jahren gewachsen ist,

im Alltag ausrasten. Sie scheitern beim Versuch,

sich zu nehmen, was andere scheinbar

leicht bekommen. Darum versteckt sich der

Arzt hinter Kittel und Medizin. Zu scheitern

muss aber gespürt und ausgehalten werden,

wenn wir etwas Besonderes erreichen wollen.

Ein auf traurige Weise psychisch erkrankter

Freund hatte dieses Ziel: „Ein Wahnsinnstyp

von einem genialgeilen Saxophonisten“,

wolle er werden, meinte er.

Andernfalls ein sauguter Tischler.

Angst manifestiert sich in der Muskulatur auf

eine persönliche Weise in einem individuellen

Muster, das doch bei allen ähnlich in der

Verklemmung der Beugemuskulatur relativ

zu den Streckern geschieht. Diese längst bekannten

Veränderungen des Gangbildes und

der Haltung, die im Groben sogar dem fachlichen

Laien ins Auge springen, werden vom

Dorfpsychiater um die Ecke keinesfalls effizient

zum Bessren korrigiert, wenn ein neuer

Patient die Praxis betritt: Weil der Arzt das

nicht kann. Stattdessen unterstützt der Psychiater

den erkennbaren Haltungsschaden

des Gestörten, der mitnichten so vergnüglich

herumspaziert wie sagen wir Barack

Obama, noch, indem er eine Dosis seiner

betäubenden Pharmazieprodukte

verabreicht. Im entscheidenden Fall

aber versagt diese Fessel, die den Armen

lahmen lässt, dann aber doch, und

das Fass mit dem Wahnsinnsbotenstoff

läuft über, obwohl alle Rezeptoren ihre

Pelzmäntel angezogen haben. Bildlich

gesprochen: Im Blizzard benötigen wir

einen guten Iglu, einen Bunker, um zu

überleben. Solange wir das Wetter im

Kopf nicht beherrschen, gibt es kein

Gebäude, das für jede Lage das richtige

ist. Eine Erhaltungsdosis des Medikaments,

auf das der Arzt vertraut,

kann mit ihrer statisch festgelegten Menge

kaum flexibel das Gehirn schützen, das nicht

im Reagenzglas liegt. Kein Mensch ist ohne

seine Probleme und die wechselnden Umstände

zu denken. Und die finden nun mal

nicht im Sprechzimmer des Arztes statt, sondern

im Alltag.

Die Kombination aus Therapie und Medikament

ist angesichts der Vielzahl von Diagnosen

bei unterschiedlichste Lebensläufen

und Lebenssituationen ungefähr so fachlich,

als wolle man mit einem vom Pferd gezogenen

Karren den Mond erreichen. Wenn schon

der Patient und seine arme Familie das nicht

übersehen, so müsste der Arzt sich eingestehen,

wie rudimentär seine Hilfeversuche

sind.

Es sind nicht unbedingt die Wunderkinder,

die pauschal gefährdet sind, denn einige dieser

kleinen Genies schaffen es tatsächlich,

die Sterne zu erreichen – auf dem Hals einer

Gans fliegen sie, wie Nils Holgerson. Aber

schon Ikarus stürzte ab, und insofern ist das

Problem beim besonderen Menschen ausgeprägter.

Dem, der zu viel will, droht die Ohrfeige

des Allmächtigen.

# Der böse liebe Gott

Große Erwartungen, irrationale Hoffnung auf

ein Wunder, ersetzen nicht die pragmatische

Herangehensweise an die Realität.

Es gibt keinen Zeitverlust, wenn wir im Stau

stehen. Das ist unser Leben, auch wenn wir

warten. Da ist keine Seele wie der Kern im

Obst, den wir aus der Frucht pulen und anfassen

können. Unser Gehirn ist so ein Ding,

aber es hat keine Staudämme, deren Deich

uns gegen das Hochwasser überschwappender

Gefühle zurückhalten könnte. Das ist keine

Wortklauberei. Statische Denkbilder nützen

wenig, im Fluss progressiven Handelns.

Hart wie eine Mauer, können wir unsere

Muskulatur anspannen. Daran wird weniger

gedacht, wenn die bekannten Worthülsen

bildhaft festhalten sollen, was eigentlich

ein Film ist, der nie stoppt. Aber es ist

möglich, Blockaden im Rumpf zu lösen,

die Atmung fließender zu gestalten, den

Unterleib zu lockern. Das wäre die körperlich

spürbare Umsetzung, wie Gefühle

fleischlich sind. Wut, die uns angespannt

und hart werden lässt im Leib, wird eben

nicht freigelassen, mit der Entspannung.

Sie verfliegt, und wir kommen auf andere

Gedanken. Ein das Dopamin im Gehirn

bindendes Medikament verändert unsere

Leitzentrale ähnlich den Menschen, die

an Parkinson erkranken. Eine bedenkliche

Versteifung. Gefühle werden, damit

sie bloß nicht unkontrolliert überborden,

wie in Beton gegossen.

Was ist Zeit ohne ein Ding, dass sich bewegt?

Die Seele, das ist ein Begriff; und dem ziehe

ich ein Kostüm drüber, woraus denn: aus

Sternenstaub verwobene Seidenfäden häkelten

mir den feinen Stoff? Glaube, Liebe,

Hoffnung – das sind zunächst Imaginationen.

Wer stellt sich denn was vor, hofft, liebt usw.

betet, bittet den Fachmann um Hilfe, ist das

ein Mann, eine Frau, ein Kind, und was hat

dieser Mensch schon erlebt? Es gibt ein individuelles

Gehirn, und das könnte ich, wenn

ich ein Chirurg wäre, als Organ operieren. Der

Schneider, der ein Nervenkostüm nähen kann,

um die Seele von Frau Meyer darin zu kleiden,

müsste die Dame wirklich gut vermessen

können. Das wäre der Anfang. Und nicht

einmal das kann der Arzt.

Das dicke Fell: Im Gehirn ändern zu können,

was sich dort im Verhalten vieler Jahre eingeprägt

hat, scheint operativ oder medikamentös

nicht wirklich erreichbar. Solange diese

Vision von echter Heilung durch Reparatur

nur finsterste Ideen der perfekten Gehirnwäsche

hervorbringen, sollte der Psychiater sich

zumindest selbst eingestehen, wie wenig er

nachweisbar an einer verbesserten Lebenssituation

seines Patienten ursächlich ist, wenn

das denn gelingt.

Dass Menschen durch Überforderung oder

traumatisierende Ereignisse übermäßig sensibel

dafür werden können, was um sie herum

los ist, und es auch gute Gründe dafür gibt,

sagt der Psychiater nicht gern. Wenn es darum

geht, ein psychisch auffälliges Kind besser

zu integrieren, ist der Fachmann darauf

angewiesen, dass alle zusammen arbeiten,

Lehrer, Verwandte, die Eltern und er, der Arzt.

So zusammen mit dem Kranken in einem gemeinsamen

Boot unterwegs fährt man besser,

als dem Kind zu sagen: „Deine Eltern sind

blöd und schuld an deinem Problem.“ Das

wäre kaum zielführend. Ein psychisch krankes,

ein hyperaktives, ein hochintelligentes

Kind und ein kreatives Wunderkind stellen

für die Normalen ein Problem da. Das heißt

aber nicht, dass normal zu sein gut und etwa

bewundernswert ist (und leicht nachzuahmen

wäre). Es ist vielmehr so, dass in den

meisten Fällen die Normalen einfältig mitlaufen,

nicht hinterfragen, beobachten und

prüfen wollen, wie die oben zitierten besonderen

Kinder.

Sport: Wir lernten zu segeln von unseren

Eltern. Ein persönliches Beispiel. Mein Vater

war recht gut im Regattasegeln. Sogar auf

dem schwierigen Revier der Hamburger Alster

konnte er gewinnen, besonders mit einem

guten Mitsegler war er dort stark. Der Vater

von meinem Freund Piet ist auf diesem Bin-

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 46 [Seite 41 bis 47 ]


nenrevier vergleichsweise unschlagbar berühmt

und gut gesegelt. Interessanterweise

ist es ihm auch möglich gewesen, Peter exakt

in die unzähligen Besonderheiten der Alster

bei den verschiedenen Windrichtungen und

alle Kniffe, die er kannte, zu unterweisen. Ungefähr

wie der oben zitierte Jazztrompeter

Gillespie exakt sagen kann, was er wo im Akkord

tut. Unterstützung (im Schachspiel des

Segelns) auf dem vertrackten Binnenrevier?

Meinen Vater erinnere ich, wie man etwa

„Holzdamm“ erfolgreich anzukreuzen habe,

als wenig konkret.

Es läge in der Familie, sagt man.

Die Ahnenreihe des Talents, etwas Besonderes

zu können; sie kann auch ins Stocken

geraten. Segeln, malen, Musik machen, das

findet statt zwischen dem Spannungsbogen

aus gewinnen und verlieren, bewundert zu

werden und der Freude daran, etwas zu lernen.

Manche tun es einfach, und andere wissen,

wie sie es tun.

# Hoffen, suchen, ankommen!

Gerade habe ich die beiden Zeichnungen gefunden,

die ich an der Este machte. Das war

während eines Ausfluges mit der Schulklasse.

Gerd Kröger zeichnete auch, und die anderen

lagen im Gras vom Fluss und machten was

andere immer machen. Mein Klassenlehrer

hat mich fotografiert. Fast schon als ein

Wunder empfinde ich, dass ich schließlich

einen Einfall hatte, wo dieses Bild zu finden

sei, wenn es überhaupt noch dort wäre, wo

es möglicherweise sein könnte. Einmal mehr

zeigt sich, dass es nichts bringt zu suchen,

wenn man keine gute Idee davon hat, wo etwas

ist. Das ist eine Binsenweisheit? Nicht jedem

ist das klar. Natürlich lachen alle, wenn

Paul Watzlawick (Die Anleitung zum Unglücklichsein,

Piper) seinen Witz erzählt: Der

Betrunkene, der seinen Schlüssel im Licht der

Straßenlampe sucht, obwohl er ihn woanders

verloren hat. Dort sei es aber zum Suchen zu

finster.

Die Leute behaupten immer, sie seien frei zu

tun was ihnen gefällt, könnten erreichen, was

sie nur wollten. Jeder Ratgeber sagt ihnen

das. Viele plappern es nach. In der Realität

zeigt sich’s anders. Da sind diejenigen, die

kein Gefühl für den Rhythmus haben, Töne

nicht treffen, sich schwer tun mit jeder

Musik. Es gibt die, die zum x-ten

Mal die Perspektive nicht verstehen.

Beobachten Sie! ruft der neckische

Philosoph – ja, aber was denn? fragen

sie, während andere begreifen.

Natürlich ist es möglich, eine

Fahrkarte nach Mailand zu kaufen

und hinzufahren. Aber warum? Es

braucht wohl einen Grund, etwas

zu tun.

Ich fahre nur dann hin, wenn ich

dort zu finden glaube, was ganz genau

ich suche.

„Weil Hoffnung alles verändert“, steht an vielen

Kirchen auf einem weißem Banner. Hoffnung,

worauf denn? Das ist nur ein Wort. Ein

Begriff wie Veränderung. Wer ändert etwas

(was ist das genau), und wie viel gibt es her,

worauf hofft derjenige, schließlich anzukommen?

Wer es so genau wissen will, ist nicht mehr

normal!

:)

Ha ha.

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 47 [Seite 41 bis 47 ]


Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick

Apr 15, 2021

# Gebrauchsanweisung für heute

Eine Liste brauchen wir, einen verbalen Verhaltenskodex

für die Gegenwart. Sag’ nur

gute Sachen. Aktuelle Wörter*innen; sonst!

Mach’ den Abflug. Wir sind die Mikroplastik

und übernehmen. Die Endzeit macht sich

breit. Definieren schafft Sicherheit: Biodiversität

ist kein grünes Gesät, es ist der Rest, der

lebt. Abgenabelt? Die Welt von gestern und

die korrekte von heute, wir haben uns einvernehmlich

getrennt. Klarnamen und verpixelte

Visagen, Onlinevernissagen, kannst du

diese Wörter sagen?

Dann bist du engagiert.

Sei ganz du selbst, und sag nicht was du

denkst, dann bist du authentisch. Sag das,

was wir sagen. Wir wissen, was gut für uns

ist und für dich. Wir schützen dich im öffentlichen

Medium, verwischen dein Nummernschild,

deine Firma an der Fassade, deine

Visage, machen dich weg. Es lebe der Fleck.

Malerisch künstlerisch, wir sind: Künstliche

Intelligenz, Inzidenz, Vakzin und Impfmedizin.

Jede Woche bewegt uns was neu. Mäh,

wir folgen der Herde. Du willst nicht? Dann

bilde eine Gruppe quer. (Du bist nicht allein).

Black Lives Matter, Fridays for Future, Metoo

u.v.m. – wer das nicht kann, der hat’s schwer.

Leugne nicht, was wir dir sagen! In unsrem

Land hat sich’s so böse zugetragen. Schäm’

dich lieber, sei selbstbewusst spontan. Grüße

nicht, auch nicht zum Spaß, mit dem ausgestreckten

Arm. Die Diktatoren der Kunst müssen

wir kulturell entkanzeln. Respektiere die

Migranten und deine Tante. Rede nicht die

klare Kante; sonst!

Wir distanzieren uns.

Vorsicht, bei Strafe verboten: Sei nicht

homophob. Du weißt nicht, was das heißen

soll? Wo lebst du denn, das weiß

heut’ jedes. Sprichst du über mich was

öffentlich, oder im Kommerz, so gendre

mich m/w/d. Bist du nicht konform, folgst

nicht unsrer neuen Norm, oh weh, da bespitzelt

dich der BND, das M.o.n.d (die du bist am

Himmel). Weiß ist mein Schimmel. Der Trojaner

kommt! Sensible Daten werden transparent

maskiert. Sei nett zu den Frauen,

sei kein Sexist. Du weißt nicht, was

das ist: Mann! Du bist von gestern.

Bestell dir keine Zigeunersoße, das

sagt man nicht. Gib deiner Straße

einen neuen Namen. Küchenhofgasse

oder Anne Schmidt Straße;

entscheidend ist, du weißt schon.

Nicht? Wo kommst du her, weißt du

nicht, wie’s sich gehört? Setz auf

den Helm, bevor du radelst, mach

eine Mammographie, rauche nie.

Bio ist ein Muss. Hörtest du nicht

den Schuss? Leb vegan, vergiss die

Kuh, das Schwein, das Lamm. Sonst!

Mäh zwei, kleiner Prinz. Von gestern ist Saint

Exitus: Mal mal selbst dein Schaf. Lebe deinen

Traum! Glück besteht darin, den Menschen

zu finden, der an dir schätzt, was für andere

wertlos ist; da kannst du lange suchen. Keine

Langeweile und nie angekommen sein. Die

andern werden’s dir schon kaputtmachen,

dein Glück. Selbstbeschiss ist möglich, geh’ in

die Politik. Da werden Frauen gebraucht, die

in der Küche stören. Grill den Bruzzler, selbst

ist der Mann. Hast du keinen negativen Test?

(Mal dir einen). Geht doch.

Gute Menschen halten zusammen und tun

gemeinsam das Richtige, was wir jetzt brauchen.

Wir stehen zusammen. Denkt an den

Abstand! Tritt aus, ist grad Mode. Geh deinen

Weg. Aber geh ihn wie wir. Sonst? Geh. (Hau

ab: Putz den Herd, verpiss’ dich in den Hinterhof).

Lauf weg. Ich zünde eine eine Kerze an

und bete für dich …

:)

Apr 15, 2021 - Sprung in der Schüssel, Schatten im Blick 48 [Seite 48 bis 48 ]


Girlande der Schande

Mai 9, 2021

Öffentlichkeit ist ein Teil der Kunst, das andere

ist die Beschäftigung mit den Mitteln, sich

auszudrücken. Nicht nur Künstler, viele Menschen

leben öffentlich sichtbar. Das ist eine

Erfahrung, die diejenigen, die kaum jemand

kennt, eher nicht nachfühlen können. Für die

Masse bleibt das auf der Plattform stehen

nur eine vage Idee. Aber beinahe jeder teilt

seine Ansichten in einer Gruppe. Heute haben

wir im Alltag Möglichkeiten, uns selbst

darzustellen, die Menschen in den Siebzigern

als ich selbst Jugendlicher war nicht kannten.

Warum gibt es das? Vermutlich ist die Selbstdarstellung

und der Wunsch nach Reflexion

menschlich.

# Hass ist die Antwort?

Jeder ist heute Künstler,

allen stehen grafische

Mittel zur Verfügung. Seit

der Erfindung der Kamera,

sieht sich der Maler

vom Laien in der Einzigartigkeit

seiner Fähigkeit

bedroht. Nicht nur

zu fotografieren, auch zu

filmen und eine breite

Form von ästhetischen

Gestaltungsmöglichkeiten der Profis stehen

allen zur Verfügung. Seitdem Menschen sich

kleiden, ist zum rein zweckmäßigem Schutz

gegen die Witterung vielerlei dazugekommen,

womit jemand ausdrückt, wer er ist und

wie das wirken soll. Das schafft Beziehungen

zu Gleichgesinnten. Es bedeutet genauso,

dass unabdingbar Gegner eine Angriffsfläche

bekommen, die die Welt anders interpretieren.

Schon immer mussten sich Künstler einer

kritischen Öffentlichkeit stellen. Wenn

alle die Umgebung abbilden, sich als Model

oder zumindest Typ präsentieren, trifft das

auf jeden zu.

Aus einer feindseligen, aber natürlichen Umwelt

ist eine kritische geworden, die heute

künstlich ist, weil Menschen sie durchgängig

gestalten. Der moderne Mensch wirkt konstruiert

wie etwa seine Architektur und der

ganze Tand drumherum. Unter und hinter den

Masken ist er noch nackt und natürlich, versteht

sich oft nicht. Immer bunter, vielseitiger

und einfallsreicher sind die Influencer, denen

viele folgen, die einfachen Mitläufer sagten

wir früher, die Masse. Die graue Maus ist ein

Auslaufmodell, sie gibt sich bunt, kopiert

den Style. Neid wird maskiert, Schwäche und

Angst überspielt, und es gibt effektive Mittel,

das zu tun. Diejenigen, die etwas an den

anderen finden, dass sie dafür nutzen, sich

selbst aufzuwerten sind raffinierter geworden.

Die „asozialen“ Medien

werden die Netze genannt,

wenn eine böse Community

unterwegs ist.

Ich finde es realitätsnäher,

genau wie beim Mobbing

überhaupt, nicht nur die Opfer

zu beklagen, sondern die

Gesellschaft insofern richtig

einzuschätzen, dass jede

Besonderheit zu Neugierde

führt, eingeordnet wird und

zur Reflexion anregt. Damit

ist das Opfer von Anfeindungen

auch ein Objekt,

welches durch seine exponierte

Stellung aufgefallen

ist und das möglicherweise

selbst gar nicht nachvollziehen

kann. Nur Kurzsichtige

empören sich: „Ach, nun ist

,sie’ noch selbst schuld dran!?“, um ihrerseits

die willkommene Angriffsfläche zu haben,

sich zum Retter zu erheben, ohne anschließend

effektiv zu helfen.

Das Wort „Schuld“ ist nur ein Erklärungsprinzip.

Und damit eine Reduktion der größeren

Wirklichkeit zum Instrument derjenigen, dessen

Handwerksgerät es ist. Diese Definitionen

müssen sich, seitdem Menschen sprechen,

immer neuen Realitäten anpassen. Wir wollen

mehr. Es genügt uns nicht das mittelalterliche

Treiben. Mit dem Atlas

von Kopernikus kann

heute niemand den Mond

erreichen; soll heißen,

je besser wir menschliches

Verhalten verstehen,

desto effektiver können

Hilfen gegeben werden.

Nicht zuletzt wird Selbsthilfe

eher möglich, wenn

Ausgegrenzte lernen, ihre

Individualität stärker auszuleben

statt aufzugeben

und davonzulaufen. Dann

werden immer wieder

neue Böse ihnen schaden. Mit der Akzeptanz

einer nicht zu ändernden Umgebung kann

Angefeindeten eher geholfen werden, Wege

besserer Abgrenzung bei weiterhin individueller

Präsentation zu finden, als sich mahnend

und anklagend zu geben. Die Mode, unbequeme

Beziehungen sofort aufzukündigen, stärkt

nur diejenigen, die von außerhalb jeglicher

Verbindlichkeiten anonym schießen.

Eine grüne Kanzlerkandidatin Baerbock wird

per E-Mail diffus angefeindet wie viele andere

Politiker, fragt sich womöglich, wie das

sein kann, weil sie das Beste und Grünste

für uns will? Sie ist sich in eigener Sache

andererseits sicher, ihren Tübinger Oberbürgermeister

Palmer aus der Partei ausschließen

zu wollen, weil dessen Provokationen

den Rahmen der gutgrünen Partei wiederholt

gesprengt haben. Insgesamt bedeutet

andere abzumahnen, Druck in deren Richtung

hin auszuüben. Wie stilsicher, fair und

gesellschaftskonform wir dabei sind oder

eben nicht; was nun richtig ist, Meinung oder

Persönlichkeitsverletzung, entscheidet nicht

selten ein Gericht. Und auch dieses kommt

erst zur abschließenden Bewertung, weil unsere

Gesellschaft eine Kette von Instanzen

festlegte, die im Streitfall bis zu einem Ende

durchlaufen wird. Das wird aber nie verhindern

können, dass Menschen diesen Rahmen

umgehen. Auch Kinder widersetzen sich,

wenn die Umgebung (für

sie) nicht nachvollziehbare

Grenzen setzt. „Systemsprenger“

ist der Titel eines

Films, den man kaum gesehen

haben muss, um nicht

schon bei dieser Überschrift

und den wenigen Bildern

der Vorschau einen guten

Eindruck davon zu bekommen,

worum es geht.

Wir stehen dem anonymen

und überbordenden Hass

besonders im Internet einigermaßen

hilflos gegenüber.

Meiner Auffassung

nach stellt sich weniger

die Frage danach, warum

es Hass im Internet gibt,

sondern zunächst sollte

darüber nachgedacht werden,

was der Antrieb ist, sich zum Speaker

auf einen Stuhl zu erheben, statt einfach zu

arbeiten oder sein Bier zu trinken und die

eigenen Ansichten nur nebenbei und diskret

zu vertreten. Im Einsehen, dass nur reflektiert

und daraufhin weiter reagiert wird, und

schließlich die Form, in der das geschieht,

explodiert, liegt eine Chance. Ich kann mich

fragen: Wer braucht die Themen, die jemand

öffentlich herausstellt, wer braucht z.B. Kunst,

und wem bedeutet meine politische und gesellschaftsrelevante

Äußerung etwas; das bin

wohl zunächst ich selbst, der sich Gehör verschafft

und deswegen als Verursacher einer

Reaktion zu gelten habe.

Ich habe in einem TV-Beitrag Betroffene

von Hass-Mails gesehen. Ein „Vorreiter der

Transgender-Szene“, der ein kleines Geschäft

betreibt, konnte besonders gut und sensibel

ausdrücken, worin sein Problem besteht. Er

hatte sich zunächst gefreut, vor einigen Jahren

endlich den Mut zum Comingout gehabt

zu haben und viel Zuspruch bekommen. Klar,

die vielen anderen, denen es ähnlich geht,

Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 49 [Seite 49 bis 51 ]


teilen seine Emotionen. Aus einem völlig unbekannten

Ladenbetreiber, der für seine Kunden

bislang einfach ein Typ hinter der Kasse

war, der Verkäufer, wurde mehr. Ein mutiger

Mensch, und man stärkt sich gegenseitig.

Dann kommt, anonym zunächst und bald

auch ganz real, bedrohlich nah der Hass auf.

Der Star einer kleinen Twittergemeinde sieht

sich echten Menschen gegenüber, die feindlich

auftreten. Da steht jemand vor seiner

Wohnung oder ein Kunde im Laden verbalisiert

ihm, was er für „einer“ sei. Allein mit der

Situation: Die angerufene Polizei hat Wichtigeres

zu tun.

Das ist ein weich und empfindsam

auftretender Typ mit einer komischen

Brille und blassem Teint, schmale

Schultern. Er artikuliert zart, im

Tonfall irgendwie „dazwischen“; ein

stimmiges Bild gibt er ab, kann klug

reflektieren, bietet aber zugleich

denen die gewünschte Angriffsfläche,

die darin erkennen, er sei eben

kein „Mann“ wie es richtig gehöre.

Im Buchladen nicht verkehrt, dürfte

er kaum Freude daran haben, wenn

er probierte, eine Ausbildung im

Handwerk beispielsweise auf dem

Bau zu machen. Der mag intellektuelle

Themen oder meinetwegen

kreativen Bastelkram, feine Klamotten

verkaufen, aber auf einem

Gerüst mit Hammer oder Kelle die

Mische für den Zement hantierend,

kann man sich den kaum vorstellen.

Bei seiner Artikulation wäre ein „verpiss dich,

du alberne Schwuchtel“ zu erwarten. Schon

deswegen, weil „echte Männer“ eben auch

Vorbilder haben, sich zu geben, und das nicht

änderbar ist. Wir sollten nicht vergessen, dass

es unmöglich ist, eine ganze Gesellschaft dahin

zu erziehen, sich smooth und genderlieb

zu jedem Zeitpunkt auszudrücken.

Das gilt auch für andere der Öffentlichkeit

zugängliche Äußerungen. Entweder suche

ich mir eine Gruppe, die zu mir passt und töne

mit den anderen weitgehend intern mit, dann

bleibt mir der Hass erspart oder ich profiliere

mich; jetzt muss es Widerstand geben. Das ist

wohl der eigentliche Grund: Man ist auf der

Suche nach einer Grenze, vermutet eine Mauer,

gegen die zu laufen eine Entdeckung der

Realität bedeuten kann. Wo ist das Ende der

Welt? Die Kante, die gerade mich mit meinen

Ansichten zum Absturz bringen wird – der

wahre Grund des Problems ist die individuelle

Sinnsuche. Dass es Abgründe und Mauern

gibt, können wir nicht ändern. Wir können

Türen hinein oder Brücken drüber bauen, und

sie werden nicht immer offen stehen, und

nicht allen genügen.

Bezeichnend fand ich sein Statement zum

Schluss. Im Rahmen einiger andere, die Anfeindungen

erleben, kamen die Auswirkungen

auf die Psyche zur Sprache. Es macht was

mit einem. Leider würden sich viele schließlich

zurückziehen, fanden die Unterstützer,

die eigene Organisationen vertreten, die

grundsätzlich helfen wollen, nicht nur einer

Ansicht den Weg in die Öffentlichkeit

ebnen, sondern den Menschen dahinter

wertschätzen. Genauso der Transgender.

Er habe überlegt, seinen Twitter-Account

abzuschalten … aber „das wär’s irgendwie

auch nicht“, meinte er und verzog sein Gesicht

so unnachahmlich, als hätte er etwas

süßsaures im Mund und wüsste nicht, es

runterzuschlucken oder lieber doch nicht.

Einfach eine Webseite ohne Kommentarfunktion

für sein Bloggen zu nutzen hätte

ihm nicht genügt? Es zeigt: Die Reflexion

ist denen wichtig, die nur reden, weil ihnen

das Material der Sprache als Spielzeug

nicht hinreichend Freude bereitet

wie die Farbe auf der Leinwand dem Maler.

Er bleibt eine arme Sau, wenn allein die

Reaktion auf seine Ansicht das Ziel seiner

Wünsche ist. Er will die Welt ändern.

Alle sollen ihn toll finden, und das wird

nie sein. Er hat sich die Wand zum Gegenanrennen

gesucht,

gefunden und möchte,

dass sie einstürzt. Eine

Trompete kaufen, eine

Posaune und mit den

Freunden um Jericho

marschieren, das will

er? Es gibt Menschen,

die entdecken, was alles

im Instrument, der

Posaune oder dem Buntstift,

Pinsel (was weiß ich:

Kunst) steckt, und diese

überwinden die Mauern

im eigenen Kopf schließlich,

scheren sich nicht

mehr um die der anderen

draußen. Es ist Platz genug,

wenn wir nicht gerade

Sophie Scholl sind

oder Anne Frank damals,

und das wird gern vergessen.

# Neunzehnhundertfünundvierzig

Der 8. Mai gestern ist der Tag „der Befreiung“,

der Kapitulation, des Kriegsendes, und

einige feiern deswegen. Es kam in den Nachrichten.

Ach ja, da war doch was. Anderen

ist es wichtig gewesen, gerade gestern eine

„Girlande der Schande“ aufzuhängen. Müllsammler

waren in verschiedenen Städten

unterwegs und haben die gefundenen Abfälle

öffentlichkeitswirksam an Wäscheleinen

in Augenhöhe aufgehängt. So was kann man

gut in einer Gruppe zelebrieren. Je nachdem:

Eine Abordnung einer Stadt kann sich schick

anziehen und mit demütigem Gesicht einen

Kranz ablegen, einen Kniefall zum Gedenken

von Sophie Scholl machen und wieder

andere machen eben das mit dem Müll. Sie

ziehen sich eine witzige Superheldendeko

drüber und erklären sich zu Müllrettern. Jedem

das seine, aber bitte gemeinsam. Unerträglich

dumm ist wohl, sich gleichzusetzen

mit Verfolgten der NS-Zeit. „Sie fühle sich

wie Sophie Scholl“, in ihrer Freiheit durch

die Coronaregeln beschnitten, meinte eine

junge Frau (aus Kassel) mit um Aufmerksamkeit

heischender, überschnappender Stimme

auf einer Querdenker-Demo vor kurzem?

Da muss sich doch ein Loch im Boden auftun,

diese Person zu verschlucken und einen

dümmsten Plappermund schließen. (Sogar

Gott scheint machtlos).

# Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.

Er bedeutete das Ende der NS-Diktatur und

des Zivilisationsbruchs der Shoah. Es bleibt

unsere immerwährende Verantwortung, die

Erinnerung an die Millionen von Menschen

wachzuhalten, die in den Jahren nationalsozialistischer

Gewaltherrschaft ihr Leben verloren.“

(Bundeskanzlerin Angela Merkel).

# Girlande der Schande: Zusammen mit den

„Stinknormalen Superhelden“ aus Rathenow

und vielen befreundeten Müllsammelgruppen

spannen wir am 8. Mai die „Girlande der

Schande“ quer durch die Republik, um auf die

Müllflut aufmerksam zu machen. Dabei basteln

wir eine Girlande aus dem gesammelten

Müll und hängen diese für alle sichtbar auf.

In Köln werden wir die Girlande rund um den

Ebertplatz spannen. Es gelten die gleichen

Corona-Regeln wie immer! (Auf dem Ebertplatz

gilt grundsätzlich Maskenpflicht und

Abstände sind natürlich jederzeit einzuhalten

/ Krake Köln).

Wir können ein gesellschaftsrelevantes Thema

für eigene Aktivitäten entdecken. Zum

eigenen Nutzen, und wenn wir das gut publizieren,

zum Nutzen aller. Den Widerstand

gegen die Nationalsozialisten auf billige

Weise zu instrumentalisieren, macht nur fassungslos.

Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 50 [Seite 49 bis 51 ]


Wer Kunst mag, kann sich in eine Ausstellung

begeben oder in der Umgebung ein Bild machen.

Da bekommt man wohl einen ersten

Eindruck, was Ästhetik in der Öffentlichkeit

wem einbringt. In Schenefeld gibt es eine

Plastik vor dem Rathaus. „Jörg Plickat, Dialog,

iranischer Travertin, 1997“ steht auf einer

Tafel. Am Markttag nutzt der Gemüsehöker

den Sockel zur Müllablage. Wenn kein Markt

ist, steht das sinnlose Stelenpaar nur so da.

Da gibt es keinen Dialog. (Jeder Grabstein ist

kunstvoller. Der ist noch graviert „hier ruht

Else Soundso“, und das bedeutet handwerkliches

Geschick).

# Kollektivkunst, Dialog oder Monolog?

# Am 22. Februar 1943 wurden die Geschwister

Hans und Sophie Scholl aus Ulm von den

Nationalsozialisten in München hingerichtet.

„So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen –

– aber was liegt an unserem Leben, wenn wir

es damit schaffen, Tausende von Menschen

aufzurütteln und wachzurütteln“, sagte Sophie

Scholl vor ihrem Tod durch das Fallbeil.

(Ulm News, 22. Februar 2020, R. Grimminger).

Unser Fernwärmehäuschen, von Schülern

besprüht, das fällt auf, ist aber aus grafischer

Sicht grottig hässlich. Im schlichten Weiß,

ohne gewurschtelte und kaum authentische

Graffiti, gefiele es mir allemal besser. Und

wäre es beschmiert von den bösen Gesellschaftsfeinden,

könnte

das Auge des Malers, meines

jedenfalls, darin die

echte Wut sehen und den

Wunsch, sich eine Mauer

zum Dagegenrennen zu

suchen, die mich gleichwohl

antreibt. Also?

Selbst ist der Mann!

:)

Ich schreibe, und es ist der neunte Mai 2021,

Muttertag, Europatag … es ist seit Wochen

zum ersten Mal warm und schön. Ein wunderschöner

Tag beginnt. Wolkenloser Himmel,

die BamS liegt auf dem Frühstückstisch. Auch

dort ist Sophie, die Studentin ein Thema. Alle

Jahre wieder, möchte man meinen. Ich weine,

wenn ich das lese und ändere nichts mehr.

„Vor 100 Jahren wurde die bekannteste Widerstandskämpferin

gegen das Nazi-Regime

geboren, sie wurde mit nur 21 Jahren hingerichtet“,

(Bild am Sonntag, 9. Mai 2021).

Die Frage nach dem Nutzen einer Aktion: für

wen den? Kriegsende, Erinnerung an den NS-

Widerstand, die Girlande der Schande, Müll

auf Augenhöhe, eine witzige Aktion, die unser

aller Versagen anschaulich macht. Das stärkt

die Gesellschaft genauso, wie die Erinnerung

an den Krieg und die

Opfer früher. Kann der

Einzelne sich selbst

stärken, wenn er Teil

der Weltretter wird,

sich in einer Gruppe

zum Müllsammeln findet,

mit den anderen

zusammen ein Graffito

gegen die Beschmierung

öffentlicher Wände

anbringt oder gegen

Hass im Netz antritt?

Es bleibt die Frage

nach der inneren Erfüllung, der Suche nach

einer Wand, gegen die ich laufen möchte und

ob mich eine Gruppe dahin führen kann? Um

Sauberkeit zu erzeugen, wäre ein Job bei der

Stadtreinigung vernünftig. Um gegen Hass

im Netz vorzugehen, könnte man probieren

darüber nachzudenken, wie das eigene Leben

ohne negative Emotionen wäre: Ich finde alles

schön, liebe jede …

Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 51 [Seite 49 bis 51 ]


Meine kleine Freiheit

Mai 28, 2021

Nach dem Wehrdienst, der für mich eine

Dauer von 15 Monaten bedeutete, begann

mein Studium an der „Armgartstraße“, der

Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg.

Es war Anfang 1985, und nach zwölf Semestern

bin ich vergleichsweise zügig damit

fertig gewesen, habe ein Diplom bekommen.

Als Regelstudienzeit waren acht Semester

vorgesehen. Ich kenne niemanden, der es in

so kurzer Zeit schaffte. Nicht, weil die Anforderungen

so hart gewesen wären, dass man

länger brauchte, sondern aufgrund erheblicher

kreativer Freiheiten, was es hier eigentlich

genau zu leisten galt oder eben auch

nicht. Es sei „ein Sanatorium“, spottete Otto

Ruths. Im Ausland würde konzentriert und

hart ausgebildet, bei uns könne man machen,

was man wolle. Dementsprechend mau wäre

die Qualität dieses Studiums, fand mein alter

Professor bekümmert. Nichtsdestotrotz: Ich

bin also anerkannt ausgebildeter Grafik-Designer

und habe informative Illustration als

Schwerpunkt studiert, und zwar bei Professor

Gero Flurschütz. Das inzwischen selbstverständliche

Bachelor/Master-Studium wurde

erst später etabliert: Heute heißt dort alles

anders. Unser Grad war dem Wunsch nach

einheitlichen Bezeichnungen geschuldet. Die

FH für Gestaltung sollte als Teil der anderen

Fachbereiche integriert ausbilden. Grafiker

sind keine Künstler. Sie gestalten den Alltag

künstlerisch, sind aber nicht frei, arbeiten im

Auftrag. Man nannte es Gebrauchsgrafik. Für

Kunst gingen die mit dem Abitur ans Lerchenfeld.

Dazu reichte es bei mir nicht. Nach der

Realschule schaffte ich noch ein Fachabitur.

Kunst war von vornherein ausgeschlossen.

Hätte ein „richtiges“ Studium mich zum

Künstler gemacht? Tatsächlich ließ die

Schul- und Studiumslandschaft einen Wechsel

ans Lerchenfeld (Uni) zu. Dazu musste

man einige Zeit an der FH gewesen sein, sich

quasi bewiesen haben. Die exakten Konditionen

weiß ich nicht mehr. Es hat mich nicht

interessiert. Vermutlich stand mir Angst im

Weg, überhaupt über das Leben nachzudenken,

die Zukunft zu planen. Damit Kreativität

funktioniert, muss einiges im Menschen zusammenkommen.

Die Frage, ob Kunst existentiell ist und bedeutet

die finanzielle Existenz miteinzuschließen,

kann nicht korrekt beantwortet

werden. Spielen mit Material, die Welt mit

ästhetischen Thesen zu erreichen; wir streiten

noch, wie’s zu verordnen ist.

Als Belege für diese Unsicherheit,

was das eigentlich sei, mögen die

unterschiedlichen Leben Berühmter

nützen. Wann waren sie anerkannt,

zu Lebzeiten wie Picasso

oder erst nach dem Tode wie

Vincent van Gogh? Meine Eltern

meinten: „Den Fischladen sollst

du mal nicht machen“, Malen sei

brotlos. Tröstlich: „Du kannst es

in der Freizeit tun.“ Ich bin viel

zu unreif gewesen, wusste nicht,

was ich wollte. Ich tat, was manche

geraten haben. Alles geschah

irgendwie.

Trotzdem sperrig und irgendwie

fehl am Platz: Diplom? Das hat

der Ingenieur. Später, bei einer Bewerbung

im künstlerischen Echtleben, konnten wir das

kaum brauchen. Nur die Künstlerin Angela

im Einkaufszentrum, oben im ersten Stock an

der Rolltreppe zum 1-Euro-Laden, nennt sich

stolz Diplom-Bildhauerin. So wird man kaum

eine richtige Rodin. Diese liebe Bildhauerin

kann allenfalls Hunde, Pferde und Enkelkinder

hauen (für ein unterbezahltes Geschenk

zu Weihnachten). Bleibt noch zu unterrichten.

Zu lehren, so zu werden wie wir? Ein Erfolg,

etwas aus dem Leben gemacht zu haben, der

vermutlich nur wenige Schülerinnen davon

überzeugt, dass das eine besondere Sache ist.

Ein Weg, dem nachzueifern sich kaum lohnt.

# Was bitte ist Diplomkunst?

Nach dem Studium wollte niemand eine

Note, einen Titel sehen, wenn wir uns irgendwo

beworben haben. Da zählte nur

die Mappe, eine Sammlung mit guten

Zeichnungen, anstelle der Behauptung,

jemand zu sein. Heute brauchen

wir vor allem eine verblendete Sprache,

um nicht danebenzuliegen, wenn

wir etwas erreichen wollen. Department

Design heißt es nun hinter der

Alster auf dem Mediencampus, Master

of Arts. Das ist unsere Armgartstraße

gewesen. Gebrauchsgrafiker werden

nicht mehr gesucht. Was brauchen

wir?

# Ich benötige dich

Benötigen, ein altes Wort, dringlich

klingt es, eleganter als brauchen, höflich

formuliert: Was tut not? Humor

auf keinen Fall, Ironie funktioniert

nicht! Ich schweife mal ab, treibe das

auf die Spitze. Anders als in der Politik

(der grüne Ministerpräsident Winfried

Kretschmann hat auf diese Weise gerade den

Parteikollegen und Oberbürgermeister von

Tübingen, Boris Palmer, abgestraft und korrigiert)

ist Ironie in der Kunst (noch) nicht fehl

am Platz, so hoffe ich. Ich bin es außerdem

gewohnt, abgestraft und bestraft zu werden,

und es gefällt mir. Ein Kreativer der nicht

stört, ist kein Künstler, sondern nur ein Dekorateur.

Freiheit, sich frei entfalten, ausleben können

und Träume, Wünsche entwickeln, sie sich erfüllen,

das benötigt der Mensch. Druck ausüben,

Macht über andere gewinnen, sie besiegen

wollen, brechen, ist verpönt. Das tut weh.

Menschen an sich zu binden, mitzunehmen,

wem das gelingt, der konnte Grenzen übertreten,

ohne gebremst zu werden. Was dem

einen der erfüllte Wunsch ist, Besitz, wird

dem Gegenüber ein Käfig, Leben, wie mitgeschleift

zu werden, und doch geschieht es.

Wie weit kommt der Mann; denn wir sind ja

die Bösen? „Wir mussten uns immer weiter

ausziehen, wurden wie Spielzeuge herumgereicht“,

eine Party beim Prinzen in England.

Das habe ich so in einem Interview gelesen,

das eine junge Frau gab, die jetzt öffentlich

Klage führt (und ich war ja nicht dabei). Ich

gebe zu, die Vorstellung Teil dieser Veranstaltung

zu sein erregt mich. Kranke Männer

werden dingfest gemacht, und auf der anderen

Seite böse Männer tun es, üben sexuelle

Gewalt aus. Machtmenschen, die ganz offensichtlich

nicht krank sind, nehmen sich, was

sie brauchen. Sie finden auch dazu helfende

Frauen, die das böse Spiel vorantreiben, junge

Menschen auszunutzen.

Die Gesellschaft schaute weg, die Eltern, die

Freunde waren fern, und Gott gerade hinter

dem Pluto unabkömmlich, beschäftigt. Heute

steht hinzuschauen, wenn jemand bedrängt

wird, so hoch im Kurs, dass zweierlei passiert:

Es wird gerade deswegen doch weggeschaut,

weil Zivilcourage eingefordert werden könnte,

und es wird extra hingeschaut, zu intensiv,

im voraus eilenden Sinne, weil eine Belohnung

winkt. Retter sein! Und das Unheil

entwickelt an Fahrt, das Rufmord heißt.

Es ist mein malerisches Thema geworden,

weil’s mich betrifft: Ich bin ein Mann, und ich

war selbst einmal Kind und jugendlich. Ich

möchte nicht als psychopathisches Monster

gesehen werden wegen dem, was ich sagte,

weiter (frech) male und hier im Dorf (selbst

hinschauend) treibe. Das ist scheinbar passiert,

und viel ging kaputt.

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 52 [Seite 52 bis 56 ]


verachtet, verbal selbst zu richten. Er ordnet

dich als Ganzes ein: Das ist „so“ einer! sagt

er anonym. Und ein kleiner Krieg fängt an.

Die Gewalt ist ein Teil der Welt und wird es

bleiben. Die Chance besteht ja gerade darin,

sich auszuleben und eigene Grenzen zu bemerken,

statt hinter der Gardine zu spannen,

wenn unten falsch geparkt wird und die Polizei

zu „informieren“; das ist nicht das Leben.

Nötigen, bedrängen, missbrauchen; ich habe

mich immer gefragt, was sexueller Missbrauch

sei? Nicht das Verbrechen. Ich meine

den Begriff. Wenn wir die Zigeunersoße

brandmarken, den Mohrenkopf nicht mehr

zum Munde führen dürfen, ohne Bauchschmerzen

zu bekommen, wie kann es sein,

dass Menschen missbräuchlich gebraucht

werden, zweckentfremdet?

# Missbrauch

Ein Wort, dass obschon omnipräsent, noch

nicht in den Fokus der Gutmenschen geraten

ist, die täglich ihre Verbots-, Gender- und

Weltverbessrerliste länger machen. Bislang

fand sich keine, die drauf plädiert hat, dass

diese missdeutliche Verletterung dringend

verworfen werden müsste, warum? Impliziert

es für mich doch die gute Gegenseite des

richtigen Gebrauchs. Wer sagt denn so was?

Los geht’s: Ich brauche eine Frau und „gebrauche“

sie lustvoll, das wäre die korrekte

Kehrseite zum Missbrauch? Das habe ich so

noch nie gehört. Das klingt nach benutzen.

Gebräuchlich ist, wie sich’s gehört. Brauch.

Ach so.

# Vollstreckt

9. Mai 1921, ich muss das so schreiben: Weil

es aktuell in den Nachrichten kam, Erinnerung

an eine Heldin damals, vor hundert

Jahren geboren. (Es wirkt tagelang nach bei

mir). 22. Februar 1943, Sophie Scholl, die Widerstandskämpferin

im Dritten Reich wurde

enthauptet. Sie wurde nur 21 Jahre alt.

Ich weiß, dass viele Menschen litten, auch

heute täglich Unheil geschieht, aber meistens

sehe ich darüber hinweg. Ich habe vor

wenigen Tagen einen Mann gesehen, der trug

ein Mädchen auf der Schulter. Sie war etwa

zwölf Jahre alt. Im Fernsehen war das, in den

Nachrichten. Mit vielen anderen, in einem

Strom durch das Bild drängenden Menschen,

eilte er mit ihr auf die Kamera zu. Ich sehe es

noch immer vor mir, wenn ich daran denke: Er

kommt nah heran, passiert die Stelle an der

er gefilmt wird, ohne darauf zu achten. Mit

der Kleinen, wie eine leichte Jacke oder einen

leblosen Sack übergeworfen, hetzt er schnell

rechts raus, direkt im Vordergrund, dass man

die Gesichter erkennen kann. Die Verletzte ist

dünn, hübsch, dunkelhaarig, vielleicht seine

Tochter. Ich erinnere, wie verzweifelt dieser

Mann schaut, obwohl das Bild nur für einige

Sekunden durchlief. Das kleine Mädchen;

dort, wo das linke Auge hingehört, war alles

blutig, matschig geradezu. Krieg in Israel, im

Gaza.

# Verbrauch

Es wird gern vergessen, das Menschen finstere

Sachen tun, wenn wir bemerken, dass Männer

böse sind. Das ist dummes Zeug. Frauen seien

besser? Ich glaube nicht daran. Insgesamt: Es

gibt weder gute noch böse Menschen. Es gibt

Gewalt, auch verbal, und wir alle sind dazu in

der Lage, die Grenzen anderer zu missachten.

Der Krieg ist ein gutes Beispiel dafür, dass

Angriffe, nicht die Menschen böse sind. Wer

ist wem ein Feind? Das böse Spiel ist ein beiderseitiges.

Nur weil eine Gesellschaft nach

innen schauend den jeweiligen Gesetzesbrecher

erkennt, muss respektiert werden, die

Tat zu verurteilen und nicht den Menschen

insgesamt. Das ist unser Fortschritt, seit es

die „Gute Nachricht“ gibt. Der Grund, dass sich

das Christentum so breit machen konnte, ist

nicht, dass religiöse Eiferer damit Missbrauch

trieben.

Es ist schlicht so, dass ab unserer Zeitrechnung

die immer voller werdende Erde und

die sozialer und zivilisierter werdenden Massen

sich derartig auf die Pelle rückten, dass

den zehn Geboten der Teil mit der Barmherzigkeit

noch extradeutlich nachgereicht

werden musste, damit zumindest diese neue

Idee, wie’s auch geht, geübt werden konnte.

Der Rechtsstaat sollte so handeln, und deswegen

gibt es eine komplexe Struktur. Das

hindert deinen Nachbarn nicht, wenn er dich

Unser Altbundeskanzler Gerhard Schröder

war von 1968 bis 1972 mit Eva Schubach,

von 1972 bis 1984 mit Anne Taschenmacher

und von 1984 bis 1997 mit Hiltrud Schwetje

verheiratet. Vierte Ehefrau Schröders war ab

1997 die Journalistin Doris Schröder-Köpf.

Im Januar 2018 stellte Schröder seine neue

Partnerin, seine spätere fünfte Ehefrau, die

südkoreanische Wirtschaftsexpertin Kim Soyeon

vor, die er am 2. Mai 2018 in Seoul heiratete.

(Wikipedia).

Er verbrauchte vier Frauen, bis er glücklich

wurde? Das sagt man so nicht.

Das böse „Vergewaltigung“ ist eindeutig. In

diesem Wort steckt wohl, dass es so nicht

richtig ist, und es gibt keine umgekehrte Formulierung.

Das ist brutal und lässt nicht an

technische Geräte denken, eine Sache. Aber

der bestimmungsgemäße Gebrauch auf der

einen Seite, fälschlich der Missbrauch einer

Sache andererseits, das klingt nur logisch,

(denke ich) wenn wir von Dingen reden. Eine

Kaffemaschine brauche ich zum Kaffee kochen.

Wenn ich sie dazu missbrauche, Wiener

Würstchen zu garen, ist es verkehrt, aber

eventuell geht das.

Die Macht der Worte, die Gewalt geht vom

Gesetz aus, vom Staat. Was ist richtig, was

sollte bestraft werden, und wer im Staat ist

dafür zuständig, Bedingungen zu schaffen,

dass Straftaten dort gesehen werden, wo Leid

und Gewalt real verübt werden? Schmerz und

Verbrechen sind eindeutig am Leib spürbar.

Was weh tut, tut weh. Juristische Bewertungen

dagegen sind eine Welt für sich. Ein Urteil

macht aus dem Leben ein Wort. Und ein

Wort bedeutet dann, über das Leben anderer

zu bestimmen.

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 53 [Seite 52 bis 56 ]


Menschen sind Monster, immer wieder, wenn

sie meinen zu wissen, was richtig ist, wer

Feind. Ich kann nicht länger ausblenden, dass

auch ich ein Mensch bin, und worin deswegen

meine Pflicht besteht. 1943 – ich konnte

nicht darüber hinweg lesen: Es gab einen

Henker, der es schaffte, eine junge Frau

abzuschlachten (wie ein Schwein), die

Flugblätter verteilt hatte, und das galt

ihm und seinem Staat als Recht und richtig.

Und heute gibt es weiter Menschen,

die möchten, dass der Staat tötet, weil

diese Leute mutmaßlich das Rechte kennen?

Es liegt einige Jahre zurück: „Wiedereinführung

der Todesstrafe“, was ich davon

hielte? Sie fände, darüber müsse nachgedacht

werden; eine Frau in meinem Alter

hat mich das gefragt. Wir trabten durch

den sich im Umbau befindlichen Stuttgarter

Bahnhof. Die intellektuell Geistreiche

kannte den aktuellen Weg zur S-Bahn

nach Backnang, wo wir hinwollten wie

oft. Während der Bauarbeiten im Rahmen

des Megaprojektes „Einundzwanzig!“ änderte

sich das einige Male zu gehen, und

der verschlungene Pfad in den Keller der

Bahn ist dort nicht immer logisch wiederfindbar

gewesen. Sie kenne sich aus,

fahre hier jeden Tag, meinte sie. Eine flotte

Dame in schwarz. Wir ließen uns gern

ein wenig an die Hand nehmen, plauderten

vergnügt, im guten Tempo durch das

Gewusel der Massen vorwärts strebend.

Sie sei Medienreferentin beim grünen

Kretschmann im Büro, so hatte sie sich

vorgestellt, während wir beschlossen,

den Regio aufzugeben. Lok kaputt, Hirn

beschädigt? Zu Fuß am Gleis unterwegs,

erst fröhlich interessiert, vielerlei politische

Themen durchhechelnd, machte es

Spaß zu reden; schließlich konfrontierte

sie mich – brüskierte uns, mit ihrem

Wunsch nach scharfem Schwert im Staat.

Unglaublich. Es ging so nett voran. Sie

kannte den Weg. Grün kann so ordentlich

sein, pragmatisch und vernünftig in Baden-

Württemberg. Das gefiel mir. Man läuft mit,

weiter, auch im Text, und dann das. Ich weiß

noch, ich sagte wörtlich: „Da gehe ich nicht

mehr mit“, war schockiert und höflich zum

Schluss.

„Einen schönen Tag noch.“

Widerstand ist immer begründet. Widerstand

zeigt, dass kein Staat das Recht und das

Richtige schon kennt, sondern darum ringen

muss. Natürlich ist unsere Welt besser geworden.

Es gibt aber weiter zu tun, und wir

machen weiter Fehler. Besonders meine Fehler,

mein eigenes Versagen kenne ich nur zu

gut. Andere zeigen mit dem Finger auf wieder

andere Menschen. Das liegt mir nicht so. Ich

probiere, besser zu verstehen. Heute lebe ich,

und es treibt mich um, etwas zu verbessern,

zunächst mich selbst. Ich will wissen: Was ist

krank, was böse? Was tut gut, geht leicht, gefällt

und macht Spaß; wie fühlt sich’s an? Wo

beginnt übergriffige Einflussnahme, Machtmissbrauch?

Mich drängt zu verstehen: Was

schafft die Lenkungskraft der Erziehung?

Möglichkeiten zur Selbsterziehung nicht zuletzt

gesundes Erwachsenwerden, auch die

Entwicklungsmöglichkeiten derjenigen, die

bereits lange volljährig, aber unreif geblieben

sind, probiere ich dort zu sehen, wo diese

gegen sich selbst unterwegs sind. Schwer,

andere zu ändern, beinahe unmöglich. Sie

sind so blöd, man sieht das doch gleich. Ich

möchte ihnen das, was sie so tun, auf diese

Weise nicht nachmachen, kann meine Fehler

bei ihnen erkennen. Ich bin, so scheint es mir,

auf meine Art genauso. Wo setzen wir an, unsere

Gesellschaft besser und menschlicher zu

machen, wenn nicht bei uns selbst?

Stark verkürzt erzählt: Ich wollte das vor einiger

Zeit mit einer Polizistin diskutieren. (Die

Polizei diskutiert nicht). So ist mein neues

Menü „Psycho“ entstanden. Eine Thematik, die

ich so befremdlich und unmöglich wie nötig

dargestellt habe, weil ich Unglaubliches erlebte.

Das hat mich eine Zeit lang von der

richtigen Malerei mit Farbe abgebracht. Das

große Bild, an dem ich seit einem Jahr arbeite,

„Europa von den Socken“, 120 x 100 cm,

Acryl auf Leinwand, stand in der Ecke. Aber

eben nicht ganz fertig. Ich konnte es aushalten.

Das hätte früher nicht funktioniert, ein

Bild lange beiseite zu legen.

# Strafbar!

Ironie funktioniere nicht in der Politik. „Das

sei doch ein Profi, der müsste das doch wissen,

der Palmer“, sagte der Ministerpräsident.

Wir Politiker sind nicht am wirklichen Geschehen

interessiert, „wir stellen es professionell

in unsrem Sinne dar“, heißt das wohl. Zu

unserem grünen Vorteil. „Quotenschwarzer“

bedeute ein rassistisches Unwort,

das sage man nicht. Vielleicht macht man

sich strafbar, wenn man es verwendet? Er

hatte es nur weitergesagt, seine These

illustriert, Cancelling in unserer Kultur

angeprangert. Auch Lehmann, der Fußballer,

hat den Begriff nicht erfunden. Er

stand am Anfang einer Kette von umfallenden

Dominosteinen. Ein Wort, das auf

drastische Weise rassistischen Alltag beschreibt,

wird selbst zum Unwort. „Neger“

ist schlimmer, und die Steigerung davon?

Das dürfen nur die selbst sagen, die es

betrifft; stimmt. Die eleganten Politiker

sagen nur professionelle Wörter.

Wer glaubt etwas verstehen zu wollen, ist

schon vom Ansatz her auf einem riskanten

Weg. Der Mensch ist mit der Größe

der Realität überfordert, schafft sich Ordnung,

verkleinert sie auf einen Schrank.

Er gibt allem eine Schublade. Es steckt

im Wort „strafbar“. Die Polizei ist nicht

daran interessiert, die Wahrheit zu finden.

„Können wir ihn bestrafen?“ ist vielmehr

ihr Ansatz (und falls nötig, helfen wir

nach, damit’s passt).

Daran zu glauben, es gäbe eine Wahrheit

ist bereits falsch, weil wir damit rechnen

müssen, dass diese nur bruchstückhaft

bekannt ist. Es siegt demzufolge die stärkere

Wahrheit. Darin liegt eine Chance.

Jedem Projekt wohnt das Risiko seiner

Fehlerhaftigkeit inne, so auch dem Unternehmen,

andere gezielt gesellschaftlich

ächtend zu bespitzeln.

Ein Teil der strafbaren Handlungen ist

ein argumentativer Rattenschwanz im

Gesetz um den Kern einer Tat herum. So

ist das Verbrechen beispielsweise, Falschgeld

zu verwenden. Dazu muss dieses hergestellt

werden, und derjenige, der es unwissentlich

weitergibt, gerät auch in den Fokus. Deswegen

geht es bei Gericht gezielt um die exakt

zu beweisende Strafbarkeit, weniger um den

Menschen und das verursachte Leid. Der Ruf

nach größerer Gerechtigkeit verhallt ein ums

andere Mal, und nur einfach gestrickte Menschen

beharren darauf. Gerechtigkeit, für wen

den? Milde für den Täter, der Opfer der Situation

sei, wäre gerecht; der empörte Verteidiger

verlangt danach? Das sehen die Ankläger

genau anders herum. Diese sind in der komfortablen

Situation, Schuld benennen zu können.

Das ist denen, die verletzt wurden nur

selten klar. Ihr Verständnis von Gerechtigkeit

bedeutet in der Regel gnadenlose Härte, die

„es geben müsste“.

Es bleibt die Annäherung an ein für die Gesellschaft

zu komplexes Problem. Der Rechtsstaat

kontrolliert sich dort, wo Ordnungskräfte

notwendigerweise Gewalt anwenden, um

polizeilicher Willkür vorzubeugen. Die größere

Wahrheit kann letztlich gewinnen, wenn

eine mobbende Gruppe sich zum Aufpasser

deklariert, aber lügen muss, ihre Ziele zu erreichen.

Lügen haben kurze Beine, heißt es.

Eine Polizei mit kurzen Beinen fällt schließlich

hin.

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 54 [Seite 52 bis 56 ]


# Meine kleine Freiheit

Heute würde ich sagen, dass der

Gewinn des Lebens darin besteht,

dazuzulernen. Während zunächst

der Anteil Meinungen und Ratschläge

anderer mein Leben bestimmt

hat, bin ich heute frei zu

denken, was ich möchte.

So kommt es mir vor.

So fühlt es sich an. Da muss ich,

wenn ich diesen Satz hinschreibe,

gleich an S. denken. Ein Professor im

Studium. Zusammen mit dem Kollegen

M. waren zwei Fachleute für

Trickfilm engagiert worden. Und ein

oder zwei Semester habe ich dort

verschiedene Kniffe der filmischen

Erzählkunst und Techniken erlernt,

diese elegant mit wenig Aufwand

grafisch umzusetzen. Der Kollege S.

hatte zahlreiche kluge Tipps drauf,

wie man eine Geschichte im Film

mit ganz einfachen Mitteln auf den

Punkt bringen kann. Einmal glitten

unsere Gespräche in kleiner Runde

vom Thema ab. Zwei, drei Kommilitoninnen

saßen mit mir dabei,

hübsche Mädchen, deren Augen

geradezu an den Lippen des Profs. hingen, als

der philosophisch wurde. „Was heißt das, der

eigene Wille?“, meinte er.

„Du kannst ja nicht einmal darüber bestimmen,

was du denkst.“

Ein ganzes Leben lang scheinbar … habe ich

über diesen Satz nachgedacht.

# Die Gedanken sind nicht frei

Stimmt das? Ich prüfe es nach. Andere thematisieren

dasselbe auf ihre Weise. Mein

Weltbild kollidiert immer wieder damit. Vor

geraumer Zeit, als es ganz normal war ohne

Maske vor Mund und Nase zum Gottesdienst

zu gehen, singen mit der Gemeinde war üblich,

dicht an dicht sitzend in der Bank eine

Kirche zu besuchen, statt bei ausgewählt

begrenzter Besucherzahl nach vorheriger

Anmeldung hinzugehen. Es geschieht oft,

mal im Alltag, dann im besonderen Moment,

ich stolpere drüber. Eine Predigt mahnt mich,

dass es kein isoliertes Selbst gibt und damit

auch keine Freiheit der Gedanken nach dem

Motto „mein Wille geschehe“, sondern nur die

Freiheit zwischen den anderen. So gesehen

sind die stillen Worte in unserem

Kopf immer bedingte Gedanken, frei nur

im individuellen Kanal. Wie breit kann ich

meine Spur machen?

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

(David).

# Paulskirche

Der neue Pastor Brodowski, hier bei den

anderen, in der Siedlung in Schenefeld,

nicht im Dorf, wo ich „meine“ Stephanskirche

und Rinja mag, gut kenne, spricht vom

Leben in der Beziehung zu Gott. Der Pastor

macht sich lustig über den altgrünen

Joschka. Der Prediger zitiert: „Mein langer

Lauf zu mir selbst“, so hieße ein Buch vom

pensionierten Politstar. Das sei an seiner

Realität, wie er, Brodowski sie verstünde,

vorbei. Leben isoliert von Gott und der

Umgebung ganz auf sich selbst bezogen,

blende doch aus, dass niemand ohne das

Drumherum existiere. So ungefähr erinnere

ich seine Mahnung vor kurzem in unsrer anderen

(großen) Kirche mit dem etwas abseits

stehenden Turm. In diese Richtung argumentierte

auch der Professor für Trick. Nur glaube

ich, dass es weniger „evangelisch“ gemeint

war. Was wäre denn noch freies Denken, Freiheit

überhaupt, wenn wir so festgelegt sind,

dass uns alles bloß geschieht?

# Leben in Beziehung zum Gegenüber

Freier Wille, ja oder nein, glasklar und entschieden

oder fest und vorherbestimmt unterwegs,

irgendwie dazwischen; ich kann

das nicht beantworten, aber das eindeutige

Empfinden, viel selbstbestimmter zu sein, ist

nun immer spürbar. Das wird mit den Jahren

stärker, lässt sich nicht auslöschen, wenn

mich noch irritiert, dass mir nach wie vor so

einiges passiert, worüber ich wenig Kontrolle

habe. Gerade das häufiger vorkommende Erlebnis,

die Wahl zu haben was ich als nächstes

möchte, lässt mich spüren, dass es Momente

gab in meinem Leben, wo ich keine Wahl hatte

und wie unter Zwang funktionierte.

Das fühlt sich nicht gut an. Wer nicht wählen

kann, wird sich fürchten. Schlimm, wenn wir

nicht wählen können, obwohl wir’s könnten,

wenn wir wüssten, dass wir es können. Auf

diese Weise sind viele gefangen in ihrem

Kreislauf, den sie zu denken gewohnt sind. Ich

habe nach einem Ausweg aus diesem Strudel

gesucht. Ich fand den entscheidenden Menschen,

um auszubrechen, kam raus, gewann

meine menschliche, natürliche Freiheit und

Selbstachtung zurück – und habe dabei so

viel verloren. Freiheit vom lebenslangen Alptraum,

eine vollzeitliche Angststörung (wer

denkt sich Begriffe aus, und wie lang dürfen

wir sie verwenden) war mein Leben, was

heißt das schon. Der Schock, schließlich ganz

viel zerstört zu haben; das sitzt noch.

Vor einem Jahr habe ich mit „Das grünere

Gras“ angefangen (Europa von den Socken).

Das ist zu einem Bild mit Malpausen geworden.

Nun hat es beinahe ein Vierteljahr

herumgestanden, eine Zeit, in der anderes

wichtiger war. Seit einigen Tagen male ich

wieder. Zwischendurch kamen mir Zweifel, ob

ich ein weiteres Mal den Zugang finde weiterzumachen.

Aber darauf kann ich mich, so

scheint es, verlassen; die Kreativität versiegt

mir nicht. Ich zeichne nicht seit dem letzten

Sommer, na und? Man wird schlechter darin,

wenn man’s nicht täglich tut, na und? Gerade

mache ich anderes. Es macht keinen Sinn, in

eine Richtung arbeiten zu wollen, aus Angst

man müsse dranbleiben. Für wen denn?

Und vielleicht liegt hier die Antwort auf die

schwierige Frage, wie es denn richtig ist, mit

der Freiheit und dem sinnvollen Gebrauch

unseres Selbst.

Man gehe durch die offene Tür, renne nicht

an gegen die Wand daneben, finde ich. Aber

zu glauben, man könne alles und jedes beginnen,

führt eventuell dazu, nicht wahrhaben

zu wollen, wo man gerade ist. Die Wahl

besteht darin, zwischen den Türen und Mauern

zu unterscheiden und den passenden

Weg zu nehmen. Aber die Unfreiheit, die sich

nicht leugnen lässt, ist die, dass hier eben nur

Türen offen stehen, von uns geöffnet werden

können, die am aktuellen Platz drumherum

montiert sind. Wenn ich gerade in einem

Zimmer bin, ist das bildlich real. Wenn ich

mich auf einem Bahnhof befinde, muss ich,

wenn es mir nicht gefällt, etwa die Bahn als

Verkehrsmittel zu nutzen, zunächst den Weg

zum Flughafen auf mich nehmen, bevor ich

auf diese Weise abheben kann.

Entspannter auf dem Weg, der so vieles bedingt,

das ist mein Leben heute. Und ich bin

um so vieles unglücklicher, trauriger und

enttäuschter als je zuvor – ein Widerspruch

scheinbar: Entspannt aber nicht glücklich,

was soll das denn? Glück ist doch nur ein Höhepunkt.

Enttäuschungen zulassen können,

sich nicht dafür bestrafen, Fehler gemacht

zu haben, das meine ich. Was ich alles nicht

bekam, wo überall ich mir im Weg stand, gegen

wie viele Mauern ich rannte! Nur scheiße

war diese Vergangenheit. Eine Kette von Fehlern,

Versagen und falschen Entscheidungen

drängt sich mir auf, die ganze Zeit ist alles

präsent, was ich verkackte. Meine Erinnerung

tut mir weh; ich komme klar damit. Früher

wollte und konnte ich’s nie spüren, wie unglücklich,

ängstlich und blind ich gewesen

bin. Eine seltsame Sache.

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 55 [Seite 52 bis 56 ]


Es ist für so vieles nun unwiederbringlich

zu spät. Das geben diejenigen,

die gern sagen, sie würden

alles noch einmal ganz genauso

machen, nicht zu. Das ist so blöd,

denn natürlich möchte kaum jemand

das Leben eines anderen

komplett haben, mir jedenfalls

geht es so. Fehler schmerzen, und

es gibt Sachen anderer, die ich ihnen

neide. In diesem Widerspruch

liegt die Wahrheit des nicht anders

Könnens. Weil wir nun mal Individuen

sind. Anderen kann ich vormachen,

der tolle Typ zu sein? Mir

selbst mache ich nichts mehr vor.

Ich hätte ganz anders gelebt, wenn

ich das nur gekonnt hätte. Das gibt

heute und zukünftig unendlich

viele Dinge, die ich ändern möchte,

und es scheint ausgeschlossen,

eine Möglichkeit zu entdecken,

spezielle Wünsche umzusetzen. So

denke ich, es sei zu spät. Na und.

# Verdammt lang her

Es kann niemand mehr kommen, der mich

eines Bessren belehrt. Das müsste ich selbst

entscheiden. Mir fällt eine Erzählung ein, gerade

nur ein Satz aus diesem Roman, er sticht

hervor bis heute: Die anderen sind irritiert,

als Rob (der Rancher auf einem Gestüt) umschwenkt.

„Ein erwachsener Mann kann

seine Meinung doch ändern“, sagt der

raubeinige Pferdezüchter. Die kleine

Familie. Sie hielten den Vater für starrsinnig.

Ein harter Mann, Mutter und die

Söhne, sie hatten bereits aufgegeben.

Aber seine Härte ist kein Starrsinn, ist

nicht egoistisch, es ist mehr. Der knorrige

Rob kann sie noch überraschen.

So lang her! Ich habe das als Jugendlicher

in einem Buch gelesen. Es blieb

irgendwie hängen. Vielleicht, weil mein

Vater es so nie gesagt hätte? Heute, ich

bin traurig, kann vieles nicht ändern,

es tut weh. Ich bin zufrieden. Es macht

mir Spaß, zu tun, was ich kann. Fühlen

und Gefühle sind nun zweierlei. So ist

es unsinnig formuliert? Das kann man

einem jungen Menschen kaum plausibel

machen.

:)

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 56 [Seite 52 bis 56 ]


Fertig.

Jun 19, 2021

Vier Jahre, vier Bilder. „Kalte Küche“ und „Eingänge“,

dann „Gurken und Rosen“, schließlich

ist „Das grünere Gras“ gerade fertig geworden.

Von 2019 bis nun im Frühsommer 2021,

schaffte ich pro Jahr nur jeweils ein einziges

großes Bild fertigzustellen. In 2018 wurden

„Malen hilft“, „Vorsicht Startbahn“ und „Mal

kurz für immer“ fertig, und das hat viel Ärger

gegeben. Ich habe die Webseite gelöscht und

neu angefangen, Schenefeld (und die Welt)

zu erklären. Dann gelang mir tatsächlich

noch „Kalte Küche“. Meine neue Kunst.

Das sind absurde Gemälde, realistisch umgesetzte

Szenen, die es so nicht gibt. Um mir

selbst meine Ideen anschaulich vor Augen zu

führen, besser als eine hingeworfene Skizze

(die mir zu ungefähr wäre), ein Modell von

dem Bild zu haben, das mir vorschwebt, greife

ich auf die zahlreichen Abbildungen zurück,

die ich im Internet finde. Mein Anspruch

ist, eine ganz eigene Welt zu schaffen, und

so findet sich auch keine Vorlage im Ganzen

dafür. Das Haus in „Eingänge“ und „Kalte

Küche“ gibt es so nicht, wohl aber den schönen

Aufgang in das Restaurant, das wirklich

nicht Kombüse heißt. Weitere Gebäude sind

aus anderen Abbildungen dazu gekommen,

sollen einer Bühne die Kulisse sein für das

Bild. Das gleiche Prinzip wende ich bei den

Figuren an. Einzelne Gliedmaßen, eine passende

Hand oder die Füße, muss ich mir für

die exakte Umsetzung zusammensuchen.

Nachdem anstelle einer Skizze ein digitaler

Entwurf vorliegt, übertrage ich die Idee mittels

Pauspapier auf die Leinwand. Ich erzähle

hier (bislang) viermal die Geschichte vom Erwachsenwerden,

und auf jedem Bild ist eine

junge Frau. Hier geht es um Beziehungen,

Erwartungen und Manipulation.

Das neue Bild, Europa ist von den Socken

oder „Das grünere Gras“, wie soll mein Gemälde

heißen? Europa reitet den Zeus. Es gibt

Vorbilder: Tizian. Das ist nicht neu. Beziehungen,

Bindungen, und die anderen schauen zu.

Die Drohne ist neu.

# Ukraine, Paar kettete sich für 123 Tage aneinander

– und trennt sich sofort nach der

Befreiung. Ein Leben in Ketten – Paar will mit

Handschellen Beziehung retten.

(…). Mit den Handschellen wollen Vika

und Alexander ihre Beziehung retten. „Ich

beschloss, dass es eine interessante Erfahrung

für mich sein wird, dass es neue

Emotionen in mein Leben bringen wird,

die ich vorher nicht erlebt habe. Ich liebe

ihn, also kam ich zu der Entscheidung, es

zu tun.“ „Was den körperlichen Komfort

betrifft, so gewöhnen wir uns mit jedem

Tag mehr daran. Es wird leichter. Aber

es sind einige Spannungen aufgetreten.

Das merke ich besonders an Vikas Verhalten.

Sie ist wütend geworden. Meiner

Meinung nach gibt es mehr unbegründete

Unzufriedenheiten. (…)

Früher haben wir uns gegenseitig

viele Anweisungen gegeben. Jetzt

machen wir Routine-Dinge ohne

ein Wort, alles ist für uns beide

klar.“ Drei Monate wollen Alexander

und Vika das durchziehen.

(…). Es war ein Experiment, das

ihre Liebe retten sollte: Ein ukrainisches

Paar ließ sich an den

Handgelenken aneinander ketten

und verbrachte 123 Tage zusammen.

Doch direkt nach ihrer Befreiung war

die Beziehung vorbei. „Ich bin endlich

frei“ – laut „DailyMail“ waren dies die

ersten Worte der 29-jährigen Viktoria

Pustovitova, genannt Vika, nachdem

die Kette, die sie und ihren Freund

Alexander Kudlay seit Valentinstag

dieses Jahres aneinandergebunden

hatte, durchtrennt wurde. Insgesamt

123 Tage hatte das Paar an den Handgelenken

aneinander gekettet in

nächster Nähe und ohne Privatsphäre

miteinander verbracht. Kaum waren

sie von ihrer Fessel befreit, konnten

die beiden es jedoch kaum erwarten,

endlich getrennte Wege zu gehen.

Ihre Beziehung, die durch dieses Experiment

gerettet werden sollte, ist

endgültig vorbei. (Stern, Panorama/

Weltgeschehen, 18.Juni 2021).

Kein Mensch lebt isoliert. Die große

Liebe muss da irgendwo sein. Insofern

bedeutet erwachsen werden, dass

Träume und realistische Möglichkeiten

im Blick liegen und die Freiheit von den

Eltern in neue Abhängigkeiten führen wird.

Dabei erinnere ich meine eigenen Versuche,

schaue aber weniger auf den jungen Mann,

der ich selbst war, sondern mehr auf meine

Träume damals und suche nach ihrer Reflexion

heute. Man kann das nicht sinnvoll schreiben

oder erklären; und deswegen sind hier

vier Bilder entstanden, bei denen es jeweils

um Facetten von Beziehungen geht. Ich bin

also mit im Bild, wenngleich nicht sichtbar

zu erkennen. Ich kann der Stier sein, auf dem

die Europa reitet, der Obelix mit der Gurke,

das „Problemwildschwein“ Kalle, dem ich so

unähnlich nicht bin. Es sind quasi erweiterte

Selbstbildnisse, denn es ist ja meine Fantasie,

mein Traum, der hier zu Bildern wird. So kann

die einzelne Figur der beiden zunächst gemalten

Bilder mit „Eingänge“ im ersten Bild

und dieselbe Figur in „Kalte Küche“ als das

letzte Bild einer Serie verstanden werden.

Die zwei neuen Bilder, die ich anschließend

malte, gehören dazwischen. Ich denke dabei

an eine Art Labyrinth, das von meiner Protagonistin

betreten wird. Wie unsinnige Traumsequenzen

könnten weitere Motive eine Geschichte

erzählen, die dann mit dem zuerst

gemalten Bild „Eingänge“ und dem letzten,

das „Kalte Küche“ heißt, ihren Rahmen und

ein Ende findet.

Das ist der Plan.

In der Schule lernte ich, dass die romantischen

Naturdarstellungen von Caspar David

Friedrich in Wirklichkeit politische Kritik seien.

Meine Bilder sind davon inspiriert. Ein Rebus

ist ein Bilderrätsel, so ungefähr. Nur mit

Humor und Ironie können wir lernen, nicht

zu hassen, sondern kreativ zu schaffen. Was

das alles soll?

# Alliteration: Kalauer

am Kochtopf – und

die Kunst, was wegzulassen

Isoldeweg und Volkerweg

sind kleine

Straßen in Rissen

hinter der Bahn. Da

fahre ich gelegentlich

mit dem Fahrrad.

Ich hatte kurz

die Hoffnung, nicht

nur Isolde wäre weg,

auch Christiane mache

den Abflug (wie

offenbar Volker die

Bühne verlassen hat),

aber die SPD ist gerade

aktuell in Schenefeld

gescheitert, Straßen

zukünftig nach

Frauen zu benennen.

Kalte Küche! Auch

der Hof derselben ist

irgendwann nur noch

ein Hinterhof; diese

Hoffnung bleibt mir.

Man muss Geduld

lernen.

Ich fühle mich frei, die

Personen mit unterschiedlichen

Schauspielern

zu besetzen,

bin nicht darauf versessen,

bestimmte

Figuren abzubilden.

Mir gefällt daran, dass es eine individuelle

Herausforderung ist. Wenn ich nicht wüsste,

auf diese Weise kreativ zu denken und meine

Fantasie zu lenken, könnte ich es nicht

machen. Das scheint nun auf der Basis malerischer

Erfahrung und Selbsterlebtem möglich

zu sein. Das ist gut! Ein eigener Topf, ein

privates Füllhorn mit Einfällen steht mir zur

Verfügung. Dazu kommt die vielfältige Problematik

immer neuer Situationen, etwa ein

Meer hinzubekommen oder einen Schotterpfad

im Gebirge, nicht zuletzt die Anatomie

der Figuren plastisch werden zu lassen. Das

Projekt kann jederzeit abgebrochen werden.

Mit jetzt vier Bildern und dem von Beginn

an gesetzten Rahmen, dazu die kleinen Digi-

Jun 19, 2021 - Fertig. 57 [Seite 57 bis 58 ]


talskizzen aus dem Kalender,

ist das „Kunstprojekt“ immer

fertig und längst abgeschlossen.

Fällt mir etwas ein, das

hineinpasst, bleibt nur der

Erfolgsdruck, das jeweils neue

Bild zu vollenden. Ich habe

diesen Druck, sonst könnte ich

nicht arbeiten.

Die Anerkennung durch die anderen

bleibt (wie gewünscht)

aus, schon deswegen, weil ich

nicht mehr ausstelle. Damit ist

es mir gelungen, ein Problem

meiner Persönlichkeitsstruktur

befriedigend zu erforschen.

Ich konnte den inneren Zwang,

für meine Kunst geliebt werden

zu wollen, klar spürbar

machen und meine Lust am

Gestalten vom Wunsch nach

Anerkennung trennen. Ich habe keine existentiellen

Nöte und hoffe, dass so zu leben

händelbar bleibt. Ich bin nun beinahe alt. Da

wird es nicht mehr allzu lang dauern, bis ich

gehen kann.

Während ich das Meer malte, habe ich oft

an Ahab denken müssen. „Hier hast du mein

letztes Eisen!“, schreit der Alte und stößt

die verbogene Harpune voller Hass in

den großen, weißen Wal. Verstrickt in

die Fangleinen, ist der verbitterte Kapitän

an Moby Dick gefesselt, und während

der Wütende die Harpune tiefer in

das Fleisch des Walfischs bohrt, das Blut

spritzt, taucht der Riese gelassen weg,

nimmt den kleinen Quälgeist auf seinem

Rücken mit in die Tiefe. Bis zum nächsten

Atemzug, den der Wal machen wird, kann

es eine Weile dauern? Als das Tier erneut

auftaucht und wieder die Oberfläche erreicht,

vollendet der Pottwal sein Drama

und versenkt den Dreimaster Pequod, gegen

den er vierkant mit voller Wucht anrennt,

seinen Schädel hinein rammt, dass

die Planken bersten. Ahab ist tot und der

Wal zieht einfach weiter.

Mit einem Fluch gehen oder wie?

Mir liegt wenig am Leben, nachdem wesentliche

Dinge befriedigend klar wurden, und

ich beschäftige mich. Wenn die Zeiten härter

werden, was man nicht voraussehen kann,

wird Kunst oder irgendwelche Hoffnung auf

die Verwirklichung eines Traumes nicht im

Weg stehen. Dann bleibt der stumpfe Kampf,

gegen die Mühsal von Krankheit und Alter

anzugehen. Ich erwarte nichts, langweile

mich kaum. Wie lange noch: Eine möglicherweise

tödliche Krankheit käme mir nicht ungelegen.

:)

Jun 19, 2021 - Fertig. 58 [Seite 57 bis 58 ]


„Selfexecuties“

Jun 26, 2021

Ich habe mit einem neuen Bild begonnen.

Mitte Juni, die „Europa“ hängt, und ich musste

nicht lang warten, da hat sich mein innerer

kreativer Motor bemerkbar gemacht. Ein vertrauter

Prozess, Schicksal. Schon im Kunstunterricht

fiel auf, dass ich freiwillig malte. Auch

außerhalb der Schulzeit entstanden Aquarelle

und Zeichnungen einfach so. Wer einmal den

Zugang fand, sich auf diese Weise zu verwenden,

kennt das. Ein Werk ist fertig, eine kurze

Pause, dann geht es wieder los. Andere reden

vom inneren Schweinehund und Blockaden.

Wie man malt? Mich hat schon immer interessiert,

wie berühmte Kollegen arbeiten oder

meine Professoren an der Armgartstraße, bei

denen ich studierte. Meine Methode ist individuell,

gute Gründe, den Weg fortzusetzen

… es würde mir schwerfallen, eine allgemeine

Antwort zu geben. Rückblickend wäre es

leicht zu erklären, wie Schritt für Schritt ein

bestimmtes Werk entstanden ist.

Warum ich’s überhaupt mache? Wie ich arbeite,

ist einfacher zu beschreiben, als das!

Während ich mich dabei gut vorbereite, nach

einer ausgefeilten Skizze auf der Leinwand

starte, entsteht der Blog leider nicht so kontrolliert.

Inzwischen haben wir Anfang Juli,

und immer noch ändere ich den Text, möchte

herausfinden, was wichtig ist, begreife nur

allmählich. Einen Roman könnte ich so wohl

nicht verfassen?

„Sie kennen doch die Quallen“, so etwa beginnt

C. S. Forester „Meine Bücher und ich“.

Ein Aufsatz, der einfachen Konsumenten

von Kunst und Literatur erklärt (und anleiten

kann), wie es dem Schriftsteller möglich

ist, seine Romane zu schreiben. Der Erfinder

von „Hornblower“ vergleicht sein bildhaftes

Denken, wie es auch von Albert Einstein bekannt

ist, mit autonomen Entwicklungen, die

ein beweglicher Geist zulassen muss. Unterbewusstes

Gären, das der Autor erst wichtig

nimmt, wenn es an der Zeit ist. Der Kreative

setzt sich nicht einfach hin und schreibt aus

dem Nichts los, und genauso wenig beginnt

er, abrupt nachzudenken, was er als nächstes

zu Papier bringen könnte. Er beschäftigt

sich bereits einige Zeit mit verschiedenen,

möglicherweise lohnenden Einfällen, ohne

allzu genau in die Tiefe zu gehen. Während

Forester anderweitig unterwegs ist (eine

Kreuzfahrt um Südamerika regt ihn an, „Der

Kapitän“ zu schreiben), spürt er bereits ein

von ihm kaum registriertes Anwachsen von

Ideen, wie Bewuchs am vollgesogenen Holz

eines Wracks im Meer. Schließlich wird daraus

ein Plot, der ihm schmackhaft vorgekaut

ins Netz geht. Dann erst folgt die Arbeit mit

dem Stoff.

Er denkt erst und schreibt anschließend.

Der Autor weiß sich selbst zu

verwenden, kann auch erklären, wie

er’s macht. Erst beinahe unbewusst,

schließlich konzentriert planend, und

dann kommt bei ihm die Ausführung.

So entstanden die bekannten Romane

(auch die seines Kollegen John Irving,

so wurde die Relativitätstheorie

zu Papier gebracht, so malte Edward

Hopper, so komponierte Beethoven).

Sie alle kannten dieses Zulassen

von innerer Gedankentätigkeit, die

schließlich zu harter Kombinationstechnik

führt, bis dann die eigentliche Produktion

des Werks beginnt. Forester schrieb kaum

skizzierte Ideen auf. Die Angst, er könne sterben,

bevor das Buch fertig sei und ein anderer

würde es vollenden (für den Verlag, der

damit verdienen möchte), hielt ihn davon ab.

Er versuchte, alle Probleme vorab im Kopf zu

erledigen. „Das Geschreibsel, das dabei herauskommen

möge“, wenn ein Fremder seinen

Roman zu Ende schriebe, ängstigte ihn. Eine

unheilbare Krankheit, die zunehmend seine

Beweglichkeit beeinträchtigte, war bei ihm

früh diagnostiziert worden. Das bedrohliche

Leiden war jedoch zur Überraschung der Ärzte

im weiteren Fortschreiten zum Stillstand

gekommen.

Journalisten und Biografen gefallen sich darin,

das Zitat von Irving zu verbreiten, er beginne

seine Romane am Schluss. „Die letzte

Seite tippe er stets zuerst“, heißt es dann. Und

von Edward Hopper gibt man zum Besten:

„Wenn ich mich an die Staffelei setze, ist alles

erledigt.“ Dass das nicht stimmt, sondern vor

allem der Wunsch des

Künstlers ist, es möge

(diese Mal endlich) so

elegant laufen, wird von

denen, die selbst nicht

schreiben, sondern nur

abschreiben, gern übersehen.

Tatsächlich gibt

C. S. Forester an einer

Stelle zu, wie übel es

ihm ergangen ist, als er

einmal mitten in der Arbeit

am Buch nicht weiter

kam. Ich hatte mir

gesagt „hier entfliehen

sie“ und nicht weiter

darüber nachgedacht,

wie genau das vor sich

gehen würde, so etwa

erzählt der Autor sein

Missgeschick. Mitten im

Feindesland die gut bewachte

Kutsche zu verlassen, war nicht eben

einfach für seine Helden. Hopper wiederum

berichtet vom Problem, eine aufreizende Sekretärin

mit üppigen Busen und einen Büroschrank

so in Szene zu setzen, dass uns die

Frau im Bild interessiert und der Schrank

sich der Logik seiner Bildkomposition unterordnet.

Und Irving, im Interview gleich

eingangs naseweis damit konfrontiert, er beginne

ja immer mit dem letzten Satz, nimmt

dem Reporter den Wind aus den Segeln. Der

Autor macht schon deutlich, wie flexibel seine

Arbeit ist. Das habe ich mal (irgendwo) so

herausgelesen. Humor steht immer zwischen

den Zeilen.

Kunstunterricht kann den Weg bahnen, ein

Talent formen. Aber nur wenige Lehrer können

ihren Schülern beibringen, eigene Gedanken

nicht nur zu denken, sondern selbstbewusst

auszuleben.

Die geplagte Britney Spears ist aktuell in den

Nachrichten, sie weine jeden Tag und kämpfe

darum, die Vormundschaft ihres Vaters über

ihr Leben per Gericht wieder los zu werden.

Gut so! Irgendwann müssen wir aufwachen.

Sie klagt, man habe sie gedrängt, Lithium zu

nehmen. Das ist ein Medikament, das man

nicht mehr absetzen darf, wenn einmal damit

begonnen wurde, es einzunehmen. Es

wird sie schließlich schon durch diese zwingende

Abhängigkeit dauerhaft verblöden.

Das ist als vermeintliche Hilfe deklarierte

Unterdrückung. Ärzte glauben, über andere

so gut Bescheid zu wissen, sich derartige

Eingriffe in deren Autonomie erlauben zu

können. Sie schaffen unsichtbare Gefängnisse

und sind noch stolz darauf. Statt sich der

tatsächlichen Aufgabe zu stellen, Menschen

konstruktiv zu trainieren und sie lebendiges

Verhalten zu lehren, flexibel im Leben zu bestehen.

Psychiater sind einfach nur widerlich,

die schlimmste Spezies auf diesem Planeten,

das ist meine Meinung, tatsächlich; und ich

kenne mich damit aus.

Diese Ärzte wollen welche sein. Die Zuverlässigkeit

anderer Medizinbereiche fehlt ihnen.

Sie stehen auf der Seite der Gesellschaft,

sprechen für den Staat, erstellen Gutachten,

nach denen bei Gericht entschieden wird, ob

ein Mensch krank sei oder schuldfähig, damit

andere die Schuld nicht trifft, wenn zukünftig

wieder etwas passiert. Psychiater nehmen es

auf sich, zu beurteilen, was unsichrer ist als

die Wetterentwicklung. Meteorologen sind

frech. Aber sie verweisen auf ihre Satellitenbilder

und die Computerprognose. Psychologen

sind eingebildet

genug, um, falls es

anders kommt als sie

meinten, einfach weiterzumachen.

Sie therapieren

Sexualstraftäter,

nachdem sie eigene

Krankheiten erfunden

haben. Und wir nehmen

es hin, was anschließend

passiert, ein ums

andre Mal. Sie unterstützen

die Polizei, deren

Aufgabe es ist, für

Ordnung, Stabilität und

Sicherheit vom Ganzen

zu sorgen. Sie sind die

Anlaufstelle für verstörte

Kinder und hilflose

Eltern in Not. Die

Erkrankten hoffen auf

grundsätzliche Hilfe,

Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 59 [Seite 59 bis 62 ]


und diese zu geben, ist der Psychiater weitestgehend

unfähig. Diese Fachärzte helfen

der Gesamtheit eines Systems, das bereit ist,

eine durch ihre spezielle Fakultät sich selbst

rechtfertigende Berufsgruppe zu finanzieren.

Menschen haben Angst vor psychisch Kranken.

Psychiater schützen die Angehörigen,

sind der verlängerte Arm der Pharmazie und

überfordert, wenn es darum geht, Kranke insgesamt

gesund zu machen. Sie können eine

akute Not effizient entspannen, mehr nicht.

Britney zitiert Einstein: „Eltern sollten ihren

Kindern Märchen erzählen, wenn sie intelligente

Kinder haben möchten.“ Was mag das

bedeuten? Märchen sind ja nicht gerade

dumme Geschichten. Hier geht

es um die Suche nach Wahrheit.

Wann wird ein Medikament erfunden,

das gegen Dummheit hilft? Das

wird dann sein, wenn Intelligenz für

alle bezahlbar im Regal der Geschäfte

liegt. Das Verhalten der psychisch

Kranken schadet diesen. Diese Menschen

schaden sich selbst, und der

Arzt erkennt darin eine Krankheit.

Man kann untersuchen, auf welche

Weise das Gehirn der Betroffenen in

seiner Funktion gestört reagiert und der zum

Patienten erklärte Mensch zu seinem eigenen

Nachteil fehlerhaft agiert. Nun kommt die

Intensität des Fehlverhaltens ins Spiel und

natürlich die Beurteilung, was daran falsch

ist. Ein Spinner kann gut integriert sein. Ist

genügend Geld vorhanden, zum Beispiel eine

Erbschaft und zuverlässiges Arbeiten mit

Kollegen nicht nötig, damit ein Mensch seine

Existenz bestreiten kann, toleriert die Gesellschaft

einige Schrullen.

Wenn jemand anderen zur Last fällt und nicht

länger arbeitsfähig ist, nennt man das gern

Depression. Tatsächlich helfen Medikamente

in so einem Fall, wo gutes Zureden versagt.

Deswegen, und weil es unzählige Spielarten

des Abnormen gibt, bleibt die Idee, mit einer

Pille gegen selbstschädigendes Verhalten

anzugehen, dennoch eine unzuverlässige

Methode. Das Problem: Eine weitere Person,

der Arzt, kommt ins Spiel. Das geschieht, obschon

die Unselbständigkeit desjenigen, der

beim Psychiater gelandet ist, die offenkundige

Problematik darstellt. Für ein Fußballteam

ist es zwingend nötig, dass es professionell

gecoacht wird. Den Spielern sagt man aber

nicht, dass sie eine Krankheit haben, wenn sie

ohne Trainer schlecht spielen.

Die Ursache jeder psychischen Not ist unzureichende

Funktionalität des Gestörten. Er ist

nicht kaputt, hat keinen Schaden, wird nicht

heil. Die Struktur ist in Ordnung. Der sogenannte

Kranke benutzt sein System zwanghaft

falsch. Gehirn und Körper sind auf unnötige

Weise in einem Betrieb gefangen, der

dem Ganzen schadet. Bildlich gesprochen:

Das ist ein Haus, in dem die Bewohner in die

Spüle pinkeln und die Kartoffeln im Klo waschen.

Das Essen wird kalt im Schlafzimmer

gegessen und man schläft tagsüber (im Stehen)

auf dem Balkon. Im Bett wird anderes

gelagert. Das Haus (die Person) ist korrekt

gebaut, die Benutzung ist falsch. In den meisten

Fällen ist dieser Fehler im Lernprozess

der Anpassung geschehen.

Das bedeutet, bei einigen wurden Lösungswege

der alltäglichen Probleme einstudiert,

die zu ineffizienten Ergebnissen führen. Das

ist nicht krank. Die Lage kann sich durch Wiederholung

zuspitzen. Die Probleme summieren

sich, aber die Dynamik dieser Entwicklung

erkennt niemand, den das angeht, weil man

sich die Dinge schönredet und die Angst zu

scheitern maskiert. Wenn ein junger Mensch

zunächst integriert dasteht, eventuell eine

gute Ausbildung probiert, eskaliert die Situation

möglicherweise überraschend, weil

sich die Bedingungen ändern. Anstelle von

Eltern und Lehrern treten Arbeitgeber oder

Beziehungspartner existentieller Selbständigkeit

auf. Es sind die komplexen Probleme,

ein eigenes Netz als Rahmen des Daseins zu

schaffen.

Generell ist festzuhalten,

das psychische Krankheiten

auf der Basis

sozialer Beziehungsprobleme

entstehen. Das

kann ohne erkennbare

Krankheit (schlecht) gutgehen

und erst später

schwierig werden. Dafür

erfand die Neuzeit das

Wort „Burnout“. Diagnosen

sind Namen, und sie

werden zum Werkzeug

der Ärzte. Diese können

wir aber nicht in die Pflicht nehmen, zur

Verantwortung ziehen, wenn es unser Leben

ist, das uns entgleitet. Den Mut, einem Arzt

zu widersprechen, bringen manche noch auf.

Mir hat der Chefarzt einer Klinik laut spottend

hinterhergerufen: „In zwei Wochen sind

Sie wieder hier!“, als ich auf eigene Verantwortung

ging. Das war schwierig genug. Ich

habe es hinbekommen, ohne dass sich die

böse Drohung bewahrheitet hat.

Nach einem Zusammenbruch wird ein Arzt

zwingend in unser Leben eingreifen. Er probiert

unser normales integriertes Funktionieren

wieder herzustellen und hat es nicht

eilig damit. Je nach Art unserer Störung, setzt

der Arzt ein Medikament ein. Am oben vorgestellten

Beispiel des Hauses, eine sinnvolle

Struktur, die falsch verwendet Probleme

macht, können wir sehen wie so etwas läuft.

Der Arzt verschließt mittels Medikament einige

Türen, und die Bewohner können ihre

Lebensmittel nicht länger im Abort waschen.

Nach einiger Zeit, wenn der Patient besser

zurecht kommt, passt der Psychiater die Dosis

an. Die Tür zum WC wird einen Spalt geöffnet,

in der Hoffnung, dass das System zukünftig

besser genutzt wird. Das mag deutlich machen,

wie unzuverlässig diese Methode ist,

die pauschal in Abläufe eingreift.

Meine Probleme begannen, als ich jung war

und nun erwartungsgemäß selbstständig

handeln sollte. Ein langer Weg, das zu schaffen

mit unendlichem Kummer liegt hinter

mir. Wer schließlich den Mut aufbringt, dem

Arzt den Rücken zuzukehren, muss alternative

Wege zum Besseren finden. Mir ist das

gelungen. Ich zahle einen hohen Preis dafür.

Nicht zuletzt, dass ich die verflossenen

Jahre nicht rückwirkend umgestalten kann

oder heute Dinge tun, für die es definitiv zu

spät ist. Ich kann malen.

Warum geht es im Leben abwärts, anstelle

der erträumten Karriere? Ein Mensch, der

nicht wie die anderen klarkommt, muss

(verständlicherweise) Angst empfinden und

verzagen oder aggressiv reagieren. Jemand,

wie ich einen beschreibe, spürt nicht, dass

er etwas dazu tut, weswegen die Dinge

nicht laufen. Es gibt immer wieder junge

Menschen, die es erfolgreich hinbekommen,

Angst nicht wahrzunehmen. Solange alles

wie bekannt ist, Papa, Mama und die Lehrer

rundherum, fliegt „Alexandra“ zu den Sternen.

Wie es kommt, dass es mit einem Mal einen

großen Rumms in der sausenden Bahn gibt

und unser kleines Wägelchen schlingert, ja

aus den Schienen springt, überrascht. Hat

man seinen Schaden, folgt eine traumatische

Zeit. Mit einem Mal bist du allein und neue

Ratgeber zwingen sich auf. Dann klappte der

Wechsel, die stützenden Eltern wie geplant

in neue Beziehungen zu verlassen, nicht, und

wir stehen am Scheideweg.

Ein Kraftakt, der darin besteht, die Welt noch

einmal neu zu erfinden. Ist man erst einmal

bekannt als „Psycho“, beginnt der Teufelskreis,

dass ein junger Mensch, den anfangs keine

adäquate Umgebung stützte, später weiter

von denen ausgegrenzt wird, die sich lieber

mit anderen zusammen tun. Würde die Gesellschaft

das als Problem vieler ernst nehmen,

könnte effizient geholfen werden und

ein Stigma der Zuschreibung diverser Krankheiten

würde vermieden. Dazu müssten Methoden

entwickelt werden, die Funktionalität

des Menschen zu seinem Besten trainierten,

ohne ihn wie einen Kranken zu behandeln.

Statt den Bescheuerten weiter fertigzumachen,

was die Nachbarn schon erledigen,

sollte es möglich sein, verschüttete Intelligenz

zu nutzen.

Die Selbstverantwortung ist das Kennzeichen

des Gesunden. Wer zum eigenen Vorteil ein

Verbrechen verübt, gilt als schuldfähig und

damit als gesund. Wer seine Firma und sein

Selbst hart an der Grenze der Regeln zum

eigenen Vorteil führt, den nennen wir clever.

Wer gelassen durch die Welt geht, den bezeichnen

wir als weise. Ein vom Arzt geführter,

durchs Medikament betäubter Patient ist

weder Straftäter, noch clever oder weise, und

er bekommt keine Perspektive als die, dass

seine Zukunft eine begleitete sein wird. Das

wiederum macht depressiv und aggressiv,

der Teufelskreis neuer schubhafter Abstürze

ist bei dieser Sichtweise zwingend. Die vielen

Möglichkeiten unserer modernen Welt

sind eine Herausforderung! Gerade Künstler

haben sich auf diesen gefährlichen Weg einer

Sinnsuche gemacht, bei der Genie und

Wahnsinn sich die Hand reichen.

Die gruseligen Details aus dem Leben der

Ausnahmesängerin Spears zeigen die zwei

Seiten des Menschen, wenn es um Kreativität

geht. Die einen hören, kaufen und

vermarkten Musik (und jede andere Art von

künstlerischem Talent). Die anderen schaffen.

Einige, die mit Kunst nur verdienen wollen,

sind skrupellos genug, Menschen krank zu

machen, über deren Talent sie Macht ausüben.

Sie wollen nur absahnen.

Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 60 [Seite 59 bis 62 ]


# Künstler und andere Beknackte

Wer psychisch auffällig wird, sich in Behandlung

begibt oder gezwungenermaßen eingewiesen,

hat es doppelt schwer. Stigmatisiert

wie ein Ausländer, aber ohne die Sozialkompetenz,

die unterdrückte Minderheiten kennzeichnet,

die schließlich Stärke finden, wenn

sie eine Gruppe bilden können. Erste Ansätze

dafür gibt es, seit die digitale Welt uns alle

ändert. Hätten die aus Afrika verschleppten

amerikanischen Sklaven im Austausch vernetzt

twittern können, wäre ihnen schneller

klar geworden, wie viele sie sind und die

Freiheitsbewegung wäre zügig und effektiv

vonstatten gegangen.

Ich glaube, moderne Verschwörungstheoretiker

sind gleichermaßen solidarisch untereinander

wie kollektiv krank. Diese Leute können

im Verbund ihre eigene Normalität gestalten.

Der Mainstream erkennt keine Lügenpresse.

Corona? Die Zufriedenen nehmen es hin, dass

die gefährliche Deltavariante in Indien, dort

wo sie so unheilvoll wütete, sang- und klanglos

abgeebbt ist. In wenigen Wochen sank

die Inzidenz wie ganz von selbst zurück auf

zwanzig. Darüber berichtet niemand. Ob das

daran liegt, dass Indien Impfweltmeister ist?

Badet man nicht länger kollektiv im Ganges?

Hier wird omnipräsent gewarnt: Die vierte

Welle kommt! Es gibt nur dieses Thema. Dann

berichtet der Chefvirologe von den beunruhigenden

neuen Zahlen in Großbritannien und

in Lissabon. Der harte Kern der Wahrheit ist

querdenken. Wer eine Lüge erkennen will,

weil man uns nicht darüber berichtet, dass

es wo besser wird, ist psychisch krank? Die

anderen bleiben unspektakulär auf Abstand

und nehmen hin, dass die Nachrichten ein

Geschäft sind wie alles andere.

Sind verschworene Menschen Spinner, oder

haben wir es mit Kranken zu tun? Sie haben

eine eigene Wahrheit und können diese finanzieren.

Menschen, die durch gegenseitige

Solidarität so gesund handeln, dass sie im

Alltag den Boden unter den Füßen behalten.

Sie wissen in ihrer Angst und Wut nicht allein

zu sein; das hilft. Auf diese Weise gestärkt,

können sie weiter eine Wohnung nutzen,

einkaufen, ein Auto fahren, normale Sachen

machen eben – und sich in Chatgruppen austauschen,

während sie isoliert psychotisch

abdriften würden. Die Gesellschaft hat ein

Problem, wenn die Zahl psychisch Kranker

zu groß ist. Schwierig, wenn verschworen

fanatische Menschen zusammen ein System

bilden und dann handlungsfähig sind, ihre

Aggression in Aktion umzusetzen. Was nicht

übersehen werden darf: Aus dem Blickwinkel

eines aggressiven und gestörten

Menschen gibt es gute Gründe für seine

Sicht.

Bedauerlicherweise mobben Menschen

und stellen sich als positiv dar, wenn

sie andere fertig machen. Ein kranker

Mensch benötigt Hilfe, aber in diesem

Fall werden die Helfer mehr dankbar dafür

sein, als die Hilfe suchende Person. Ist

es ein Fall, an dem die Polizei beteiligt

ist, hat man keinen Freund und Helfer

im Beamten. Es liegt auf der Hand, dass

ein labiler Mensch, der eine Gefahr für

die Allgemeinheit sein könnte, freudig

begrüßt wird von der Kripo, mehr noch,

wenn die Angelegenheit eine sexuelle

Auffälligkeit beinhaltet. Wer als polizeibekannt

geführt werden kann, stellt im

Gegensatz zum noch unbekannten Straftäter,

der alle überrascht, ein definiertes Arbeitsfeld

dar. So jemand kann von Montag bis

Freitag eine Aufgabe sein, nach dem Motto:

„Wir schauen hin und passen auf.“

Desgleichen der Arzt: „Nun sind Sie erst einmal

Patient, und wir schauen mal, wie wir Sie

richtig einstellen können“, wird er sagen. Was

der Arzt nicht leiden kann, ist, genau wie die

Polizei, die nicht zu kontrollierende Notsituation.

Kommt es dazu, dass die Lage in der

Praxis eskaliert, vor den Augen vom Personal

und den anderen im Wartezimmer, genießt

derjenige Patient das größere Wohlwollen

des Psychiaters, den der Arzt bereits kennt.

Kontrolle geht den Menschen über alles,

mehr noch, wenn es im Beruf um die Qualität

der Akteure geht, ob sie selbstbewusst mit

schwierigen Fällen klarkommen. Da liegt es

auf der Hand, dass ein in der Kartei geführter

Kandidat die besten Chancen hat, lange Zeit

Teil des Hauses zu sein. Wir als Betroffene

möchten gesund und normal leben, aber der

Arzt und die Ordnungskräfte möchten uns

führen.

# Gebraucht werden

Die Familie, und im Fall von Britney Spears

der Vater als Vormund und Verwalter des

Megavermögens, das die Sängerin mit ihrer

Kunst erwirtschaftete, hat kein Interesse

daran, dass Klein-Britney eigene Wege geht.

Auch der Papa vom abgeschmierten Michael

Wendler betont, wie scheiße er’s findet, dass

nicht er den Sohn managt (wie anfangs). Er

hat tatsächlich die Kontrolle über „seinen“

Michi verloren, und ihm bleibt scheinbar nur

nachzutreten. Das tun auch alle, die anfangs

voller Neid darauf schauten, dass die süße

Abiturientin Laura einen Narren am Wendler

gefressen hat. Wir können sicher sein, dass

diese junge Ehe von Anfang an immensen

Psycho-Terror ausgesetzt gewesen ist. Und

vielleicht liegt hier die Ursache für den absurden

Verschwörungswahn vom Schlagerbarden

und das spätere Bohlenbeben.

Als Kreativer hast du keinen Freund in deiner

eigenen Familie (das ist auch meine

Erfahrung), sondern nur Spötter, Neider und

die, die mitglänzen wollen, wenn dir was gelingt.

Das sind auch die, die dich fertig machen,

wenn sie meinen, du wärest momentan

schwach. Hast du gerade Geld, geht erst rich-

tig die Post ab! Arme Britney. Künstler, denen

die Anerkennung vornan steht, sind labil, weil

sie abhängig vom Lob und dem Geld sind, das

einigen erst ausdrückt, wie toll etwas ist. Die

Mehrheit kann nicht singen oder malen, hat

eine Sauklaue anstelle intelligenter Handschrift.

Damit bekommt die Masse keinen

ansprechenden Text hin, aber zum anonymen

Anschwärzen anderer reicht ihre Ausdrucksfähigkeit.

Für ihre Botschaft bringen diese Leute

kein Klavier zum Klingen. Sie nehmen ein

Smartphone, um sich auszudrücken. Es gibt ja

die Tastatur. Das sind Menschen, die, obwohl

im Konzert, als Teil vom Publikum Begeisterung

skandierend, keinen Ton mitbekommen.

Sie bemerken nur ihr eigenes Dabeisein. Es

sind diejenigen, die in der Vernissage einer

Ausstellung keine Farben sehen, Prosecco

trinken und reden. Sie haben zuhause wichtige

Bücher im Schrank (für Gäste gut platziert),

die sie nicht gelesen haben. Sie wollen

nur dazugehören.

Ein Bild wird versteigert, es sei von David

Bowie, der hat gemalt? Siebzigtausend! Die

Zeitung beschreibt, es zeige einen Kopf im

Profil und ein Foto davon ist auch abgebildet.

Das zeigt einen hellen Fleck inmitten einiger

Farbspuren. Ein Mann habe das Werk in einem

Spendenzentrum für Haushaltsgegenstände

gekauft, etwa vier Euro dafür bezahlt.

Auf der Rückseite fand sich eine Signatur. Die

erinnerte den Käufer an David Bowie, der vor

einigen Jahren starb. Er hat jemanden gefragt,

der sich damit auskennt. Fachleute haben die

Echtheit bestätigt: tatsächlich von Bowie!

Eine Sensation.

Gut möglich, dass der berühmte Musiker auch

malte; ich habe es nicht gewusst. Udo Lindenberg

zeichnet, der alte Mueller-Stahl möchte

uns mit seinen Werken beeindrucken; ich

hab’s mir (mal auf Fehmarn) angesehen, das

lohnt kaum. Und Madonna veröffentlichte

ein selbstgeschriebenes Kinderbuch! Einige

regen sich auf: Mein Schwager hat sich gelegentlich

abfällig darüber geäußert, dass in

anderen Sparten erfolgreiche Menschen nun

auch beginnen zu malen oder schreiben (die

Zeichnungen von Udo sind toll!). Geld gefällt

mir. Die siebzigtausend aus der Versteigerung

hätte ich selbst auch gern.

Das Porträt von Bowie? Eine Aktie ist das.

Wer schaut sich an, was auf einem Geldschein

zu sehen ist; und dort sind immerhin

qualifizierte Illustratoren tätig gewesen, und

eine raffinierte Umsetzung, grafisch präzise,

ist ein Muss. Die Menschen, die Musik lieben

und diejenigen, die ein Kunstwerk vom Wesen

her erkennen können, einen Film daraufhin

ansehen, wie er gemacht wurde, sind die

absolute Ausnahme. Wohl neidisch, empören

sich manche, dass ein toter Musiker viel Geld

mit einer schlappen Skizze machen kann. Absurd?

Warum sich darüber aufregen, dass ein

Sänger malt und sich drüber lustig machen,

das „Geschmiere“ sei ja nicht zu erkennen:

Zwei Gewinner sind schon mal erkennbar. Zunächst

der glückliche Musiker, dass er auch

das schaffte, zu malen. Danach dieser Typ, der

auf dem Flohmarkt vier Euro investierte, anschließend

mit Gewinn wieder verkaufte. Der

Idiot, der auf der Versteigerung den Zuschlag

erhielt, muss erst noch beweisen, keiner zu

sein. Wer weiß, vielleicht geht das Ding ab

wie eine Rakete? An der Börse und im Kunsthandel

ist alles möglich.

Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 61 [Seite 59 bis 62 ]


Ich lernte zu singen, im Tempo korrekt. Das

konnte ich früher nicht begreifen. Um damit

aufzutreten, reicht es nicht. Aber das Glück,

das ich dabei empfinde, es zu tun, mag dem

entsprechen, das jeder empfindet, der nun

etwas kann, was bisher nicht gelang. Davon,

dass ich Objekte sammle, die ich mir nur

mit viel Geld leisten kann, weil sie von berühmten

Menschen hergestellt wurden (eine

alte Unterhose vom Star, mit noch echten

Kackspuren darin, genetische Expertise inclusive),

habe ich gar nichts.

Jedem das seine.

# Kaiserin Elisabeth von Österreich: Ihre

Leibwäsche wurde nun versteigert. Am

Dienstag sind neben einigen Kleidern auch

drei Stücke von Sisis kaiserlicher Wäsche in

Grasbrunn unter den Hammer gekommen, zu

einem Startgebot von 1000 Euro – laut Katalog

ein ärmelloses „Leibchen an Hals und

Dekolleté mit Spitzenbordüre, sieben

Perlmuttknöpfen und kleiner, in Rot gestickter

Krone“, ein „Beinkleid en suite

gefertigt und mit Bordüre an den Beinabschlüssen“

sowie feine „Strümpfe mit

eingearbeiteter Bezeichnung E.S.“ (1. Juni

2021, Auktion bei München, Süddeutsche

Zeitung).

Kunst beginnt, wenn wir zulassen können,

was in uns geschieht und die Grenze

ziehen können zur Umgebung. Wo

ist das Fenster, und wie weit öffne ich

die Vorhänge, wann singe ich nackt auf

meinem Balkon? Forester nimmt das

Meer, das zu seiner schriftstellerischen

Heimat wurde, da er ja einen Seehelden

kreierte, als Beispiel. Muscheln wachsen

auf modrigen Planken in der Tiefe, und

Ideen formen sich von selbst im Dunkel

des Unbewussten. Dann stoßen die wasserträchtigen

Stumpen unverhofft an die

Oberfläche, und eine neue Idee ist geboren,

muss beachtet werden.

:)

Jun 26, 2021 - „Selfexecuties“ 62 [Seite 59 bis 62 ]


Es tut gleichmäßig weh

Jul 7, 2021

Meckern und töten, böse Welt! Ausgenutzt,

bedrängt und nicht respektiert werden, das

möchte niemand. Tatsächlich ist unser Leben

genauso, dass wir die ganze Zeit angegriffen

werden, wie etwa der Mond von Gestein

getroffen wird und unser Trabant deswegen

mit Kratern übersät ist. Auf der Erde, die unter

dem gleichen Beschuss steht, finden sich

kaum Krater, Spuren dieser andauernden Angriffe

aus dem All. Das liegt an der Atmosphäre.

Die Lufthülle ist nicht nur die vertraute

Basis unseres Alltags, weil wir atmen. Sie ist

das dicke Fell des Planeten, sein natürliches

Immunsystem, das die unzähligen Asteroiden

verglühen lässt, die uns nahe kommen. Luft

ist mehr als nichts. Die rasenden Steine reiben

sich im Bereich unserer Atmosphäre an

winzigen Partikeln. Reibung erzeugt Wärme,

in diesem Fall so viel Hitze, dass die Brocken

verdampfen. Wenn sie nicht zu groß sind. Nur

ganz dicke Dinger fallen uns auf den Kopf.

Die Fachleute fragen sich, ab welcher Größe

wird ein Himmelskörper unserer Welt gefährlich,

können wir ihn rechtzeitig entdecken,

darauf reagieren?

Für den gewöhnlichen Zeitgenossen stellt

sich diese Frage nicht. Wenn die Sicherheitsfanatiker

mit einem Helm Fahrrad fahren,

denken sie nicht, dass ihnen der Himmel auf

den Kopf fallen könnte. Sie fürchten Autofahrer,

die anderen Radfahrer und nicht zuletzt

ihre eigene Dummerhaftigkeit, die zu einem

Sturz führen könnte. Manche ängstigt nicht

der physische Angriff, die Schmerzen durch

einen Knochenbruch. Sie leiden unter verbalen,

akustischen Anwürfen, die unseren Alltag

begleiten: „Platz da, jetzt komm’ ich!“

# Beim entscheidenden Strafstoß von Englands

Stürmer Harry Kane wurde dem dänische

Torwart Kasper Schmeichel mit einem

grünen Laserpointer ins Gesicht geleuchtet.

Nun hat sich die Polizei eingeschaltet.

(08.07.2021 t-online, dpa).

Foul. Es kann nicht bestritten werden: Das

Corona-Virus und der Raub meines Portemonnaies

durch einen geschickten Dieb,

meine Tante, die mich anonym bescheißt,

um mir das Erbe streitig zu machen und der

Staat, der meine Bank zu Strafzinsen zwingt;

wir sind unter Beschuss! Das ist

Leben. Und: Die anderen sind

Schuld.

Es ist alles andersherum.

Liebte ich meine Frau, könnte

ich nicht mit ihr verheiratet sein,

oder umgekehrt, das Wort taugt

nichts. Was in den letzten Jahren

passierte, hat zu einigen Änderungen

geführt, wie ich’s einordne:

Obschon langjährig mit Ring

verbunden, zog ich los mit A. (einer

Kunstfreundin), schrieb ihr,

und sie schrieb mir. Einige Jahre

tatsächlich ging das gut. Ein Fehler?

Ich nehme es auf mich. Sie ist

fünfundzwanzig, wir sind fertig

miteinander. Abitur, intelligent,

schön. Kann sie noch mutig werden, wie sie’s

wollte? Angst ist das Wahrhaftige an ihr. Sie

könnte sich eine Regentonne überstülpen, ich

würde ihre Furcht bemerken, sie am Gangbild

erkennen.

Es hat viel Ärger gegeben. Mein langjähriger

Freund H. ist sich sicher, C. (aus der Politik)

wäre schlichtweg eifersüchtig auf die jüngere

gewesen. Der Einfluss der Amtsträgerinnen

auf die Ordnungskräfte ist in der Bundesrepublik

Deutschland durch das Gesetz

begrenzt.

Die Fehler, die ich in dieser Zeit unbestritten

machte, kann ich nicht entschuldigen. Schon

gar nicht bei A. – sie war so naiv, zwischen die

Fronten zu geraten in einem privaten Krieg,

den zugegebenermaßen ich begonnen habe,

mit dem Staat, der Polizei, der Gesellschaft.

Kontakte verbieten sich. Diese Person ist ein

Fake. Beim Tarnen, Täuschen und Theaterspielen

haben alle verloren.

Ich hatte vor einigen Jahren begriffen, das

Suizide nicht begangen werden, weil diese

Selbstmörder eben so verrückt sind, dass sie’s

leichthin mal ausprobieren wollen. Wie genau

die Sache vonstatten geht, das wollte ich

wissen. Ich begann mit unklarer Fragestellung:

Ein Segelfreund tauchte plötzlich nicht

mehr auf, so etwas verstört. Auf Nachfrage

kam wenig zutage. Aber in den folgenden

Jahren begriff ich nach und nach, wie alles

gewesen war. Es wurde zu meiner zentralen

Lebensfrage.

Was macht Menschen psychisch krank, eine

ganz allgemeine, pauschale Antwort musste

her, fand ich. Mir war aufgefallen, dass man

nicht einfach mal zur Bahn läuft, seinen

Schädel im rechten Moment auf die Schiene

legt und sich gepflegt den Kopf absäbeln

lässt. Ich malte 2011 „Begegnung“, und das

Bild wurde in Ausstellungen gezeigt. Begriffen

hatte ich zu dieser Zeit wenig vom Thema,

und ehrlicherweise muss man zugeben,

dass meine Forschung nicht strukturiert war.

Mir ist nun individuell klar geworden, wie ein

Mensch so unter Druck gerät, eine Krankheit

das normale Funktionieren in Frage stellt

und alles möglich ist.

So bin ich zum zweiten Mal im Thema: „Selfexecuties“

soll das neue Bild heißen. Ich

möchte exakt sein. Beim Malen aber auf eine

andere Weise als im Blog. Mich interessiert

herauszufinden, was genau ich empfinde. Ich

möchte wissen, wie ich denke und beobachte

meine Empfindungen. Deswegen male ich

nicht eine Situation, die es in der Realität

so geben könnte. Während ich probiere, klare

Worte für einen Text zu finden und mich

bemühe, mit präzisen Formen und überzeugender

Farbgebung eine Welt abzubilden, die

realistisch rüberkommt, möchte ich dennoch

lieber deutlich machen, dass meine Produktionen

künstliches Theater sind. Das neue

Bild soll nicht die (tragische) Realität im Sinne

von Berichterstattung in der Presse sein.

Mir geht es um einiges, dass man in einem

Text so nicht sagen kann, wohl aber auf der

absurden Bühne einer verrückten Malerei.

Bei aller Kritik an der modernen Welt, bin

ich froh in einer Kultur zu existieren, die mir

Vorbilder schuf, mich auf diese Weise ausleben

zu können. Ich bin dankbar für die fertig

grundierten Keilrahmen, perfekte Pigmente

und Pinsel in bester Qualität. Mir liegt nichts

dran, echte Ölbilder „wie früher“ zu machen

oder in der Natur „das Licht“ einzufangen. Ich

mache meine Sachen für mich und bekomme

die aufregendsten Anregungen aus dem unglaublichen

Internet.

Die Jahre haben mich verändert. Mir ist die

Umwelt egal, ich unterstütze die grüne Partei

nicht, weil ich annehme, so alt zu sein, dass

ich hinsichtlich der Klimakatastrophe davonkomme.

Ich esse also Fleisch, fahre Auto. Ich

bewundere Greta Thunberg unendlich, ohne

mich verpflichtet zu fühlen, ihren Mahnungen

viel Beachtung zu schenken. Ich mag, dass sie

merkt, wie verlogen die Erwachsenen sind.

Eine böse Gesellschaft ist der Mensch. Ständig

kommt es zu Amok, Krieg und Tod. Der

einzige, der sich wenig damit aufhält, die an

der persönlichen Notlage des Gestörten unbeteiligten

Opfer zu beklagen und stattdessen

den Attentäter beweint, bin ich?

Jul 7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh 63 [Seite 63 bis 64 ]


Die moderne Genderei und überall verlangte

Frauenquote finde ich albern, desgleichen

Klage um homophobe Äusserungen und den

bösen Sexismus. Das ist mir scheißegal. Die

Vorstellung, meinen Penis bei einem anderen

Mann in den Hintern zu schieben, ekelt mich.

Natürlich ist es furchtbar ausgegrenzt zu

werden. Das ändert nicht, dass die geforderte

Korrektheit in allen Themen mit meiner Individualität

unvereinbar bleibt. Ich bin nicht

schwul.

Ich bin kein Papst und auch nicht modern

allen gerecht gegenüber, bin selbstgerecht

und entsprechend unfair. Ich bin mir bewusst,

dass es Behinderte und Benachteiligte gibt,

war selbst schon in der Situation ausgegrenzt

zu werden. Trotzdem: Ich bin kein, auf welche

Weise auch immer, gezwittertes Wesen mit

Penis unten und Titten oben oder nur psychisch

im falschen Körper gefangen. Darüber

mache ich mich lustig, wie Proleten, die bei

Kommentatorinnen im Fußball einen Rappel

kriegen. Ich grenze aus und weiß das.

Ich gab zu, junge Frauen attraktiv zu finden.

Das hat Ärger gegeben! Ich habe mich zum

Thema Sex und Internet geäußert, betrunken

geschrieben und nüchtern verschickt. Das hat

Ärger gegeben. Ich habe entsprechend gemalt,

und es hat Ärger gegeben. Frau von der

Leyen wollte zu dieser Zeit ein Stoppschild,

wie es das bereits in den skandinavischen

Ländern gebe, und sie hat Ärger bekommen.

Die Kommissarin: „Frau von der Leyen ist

blöd. Wenn ein Bild von uns gelöscht wird,

stellt derjenige es eine Minute später auf

einer anderen Seite wieder ein.“ Die Ministerin

wechselte oder wurde gewechselt. Nach

weiterem Stress auf anderen Positionen ist

sie nun in einem Amt angekommen, dass ihr

offenbar so gut gefällt, wie dem Herrn Steinmeier

seines. Mir gefällt, dass ich in mancher

Hinsicht Recht behalten habe. Durch das

weltweite Netz ist eine nach dem deutschem

Gesetz nur schwer beherrschbare Situation

entstanden. Man kann offensichtlich nicht

bestrafen, dass es Nudisten gibt, die ihre Familie

nackt fotografieren und das posten wie

andere ihre Currywurst, die ihnen gerade serviert

wird und dergleichen Quatsch. Moderne

Zeiten schaffen neue Probleme. Na klar, wir

baden alle nackig am Strand, und es werden

Filme gemacht, das verstehe ich schon. Warum

muss ich als Papa meine Tochter im Wald

fotografieren, die einen Baum toll findet,

nackt und in schicken Schuhen, etwa zehn

Jahre alt? Ich habe die Kommissarin gefragt:

„Was ist Kinderpornografie?“ Und sie sagte

schroff: „Die Beine breit.“ Das mag dem geneigten

Leser eine Ahnung davon geben, wie

schwierig es mit der Gerechtigkeit ist.

Die Schülerinnen tragen dünne Hosen heute,

und darin sehen sie aus wie nackt. Die sind

mit vierzehn Jahren geschlechtsreif, wenn

nicht früher, und da soll mir jemand erklären,

was krank daran ist, wenn ich sie auf die entsprechende

Weise anstarre. Inzwischen geht

es auch unter Gleichaltrigen zu wie bei Huxley

(Schöne Neue Welt) vorausgesagt. Das

Equipment (in der Gartenlaube) der gestern

verurteilten Männer in Münster zeigt aber,

was kriminell ist. Das ist eine Dimension von

Missbrauch, die jede Vorstellung sprengt und

nicht damit zu vergleichen, dass ein Mann

beginnt Frauen attraktiv zu finden, sobald die

entsprechenden Anreize gegeben sind. Da

hat sich einiges geändert. Frau von der Leyen

war und ist nie blöd gewesen. Feige ist, dort

zu fischen, wo es vermeintlich einfach ist.

Und dagegen muss der Bürger vorgehen, mithelfen.

Das ist wichtiger, als zu gendern, und

wir sollten unsere Gefühle zunächst kennen,

bevor wir probieren, uns pauschal verschubladen

zu lassen.

Ich gehe nicht mehr zur Wahl, habe beschlossen,

mich politisch zu enthalten. Meine Erfahrungen

mit der SPD hier vor Ort lassen keine

andere Konsequenz zu. Keine soziale Unterstützung

für einen Staat, wie auch immer der

sich selbst lobt. Deutschland ist ein tolles

Land; ich kann es nutzen. Der Rechtsstaat

schützt mich vor einer aggressiven Polizei,

auch die Dorfpolitiker stoßen an Grenzen.

Das gefällt mir. Die falschen Freunde hier

haben erreicht, dass ich Frauen nicht mag

und asozial aus meinem Abseits spotte, isoliert

bin und radikalisiert, ja gewaltbereit?

Die Rufmörder haben es begriffen. Man senkt

den Kopf, geht mir aus dem Weg und auch

ich gehe auf die andere Straßenseite, wenn

möglich. Andere feixen fröhlich.

Ich habe für mich mein eigenes Dorf idiotenfrei

hinbekommen.

Die Gesellschaft hat mich verloren. Corona,

ich bin gut informiert, weiß stets detailliert,

wie es auf den Intensivstationen in Hamburg

läuft. Trotzdem mache ich möglichst keinen

Schnelltest und verzichte lieber auf einiges.

Ich meide Menschen. Ich trage Maske. Ich

gehe nicht ins Restaurant. Ich gehe allein segeln.

Ich mache, wenn überhaupt, Urlaub auf

Fehmarn. Und natürlich lasse ich mich aktuell

nicht gegen das Virus impfen. Erst mal abwarten.

Das ist mein Recht. Ich habe gelernt,

was das wert ist und habe zwei gute Anwälte,

ausreichend finanziellen Spielraum. Früher

dachte ich ganz anders. Damals vertraute ich

einigen Werten und was man so sagt. Ich bin

heute immer „dagegen“. Deswegen schließe

ich mich den Spinnern von „Querdenken“

nicht an. Ich bin Querulant. Das ist individuell.

Ich brauche keine Gesellschaft, die mich

bestätigt. Ich bin durchdrungen von klammheimlicher

Freude, wenn Amtsträger Haue

bekommen, bin Rechts- wie Linksanarchist

und Farbterrorist ohnehin. Ich bin der gestörte

Einzeltäter mit Pinsel. Das haben diese

Gutmenschen erreicht.

Ich gehe nicht zum Arzt. Warum? Niemand

darf an mich ran. Sowieso: Ich raste aus, wenn

man mich bedrängt, etwa im Auto hupt, es

müsse schneller gehen und schlage gegebenenfalls

zu! Ich denke, ich kann das bezahlen

und schäme mich nicht für diese Einstellung.

Das Gefängnis ist überall. (Ich bin verheiratet).

Ich bin grundsätzlich verstört und sehe im

Helfer pauschal den Gegner. Macht über Hilfesuchende,

Diagnose ist bereits Missbrauch:

Ärzte machen Geschäfte mit der Angst; Krebs

ist eine Firma. Nach monatelangen Schmerzen

war ich im Frühjahr in einer Praxis. Der

Aufforderung, eine Blutuntersuchung und

einen Termin für eine Magenspiegelung bei

fachärztlichen Kollegen zu machen, kam ich

nicht nach. Ich kann mich nicht überwinden.

Mir fehlt das Vertrauen in andere. Ich hatte

dreißig Tabletten bekommen, und nachdem

ich drei davon an drei aufeinanderfolgenden

Tagen genommen habe und es nicht besser

wurde, habe ich sie nicht weiter eingenommen.

Die Probleme mit dem Magen sind geblieben.

Ich kann seit einem Dreivierteljahr

kein Bier, geschweige denn Wein trinken,

ohne dass es brennt, drückt im Bereich von

Magen und Ösophagus. Ich freue mich darauf,

dass es doch noch wieder weg geht, von

allein, und genauso freue ich mich auf den

Krebs, falls die Sache schlimmer wird. Es gibt

(solange ich nicht nachprüfe) noch unzählige

alternative Erklärungen, was die Schmerzen

verursacht. Die Vorstellung, eine Krebserkrankung

zu bekämpfen, mit den bekannten

Strategien, irritiert und verstört mich, was

bringt das? Genauso die gängige Methode,

mit Organtransplantationen im Falle zerstörter

Körperteile zu reparieren – und der Gedanke

dahinter, es sei ein guter Einfall, um

nun doch noch länger zu leben – warum lange

leben? Das halte ich für eine vollkommen

bescheuerte Idee.

Zusammengefasst: Weder die alberne Gleichmacherei,

die Schwulenlobhudelei, den Coronaquatsch,

den Klimawandellaberkram,

die Lügenpolitik, die Steinmeierei und Opferscheiße

mag ich noch hören. Ich verachte

Weißkittel, Staat, Polizei. Ich kann mit diesen

Ansichten nicht in respektvollen Beziehungen

mit anderen sein. Das strebe ich auch

nicht an. Ich habe keine Beziehungen mehr,

die auf Empathie basieren, glaube ich.

Herdenimmunität? Das zeigt, wie Montgomery

und Kollegen uns betrachten. Ich bin kein

Schaf. Ich esse welche: Koteletts, Lammkarree,

Filet, Hüfte und bei Massim(ilian)o gern

auch fette Haxe – wenn nur das mit dem

Bauch nicht wär’ …

Verkracht mit der Welt. Ich mochte Rotwein.

Nun denn, irgendwann muss jeder gehen. Das

schafft Platz für andere. Da ist keine Kommentarfunktion

im Blog bei mir, und es gibt

so gut wie keine Mailkorrespondenz. Gut so.

Niemand kann vor anderen damit punkten,

mir zu sagen, wie verkehrt ich drauf bin, es

sei denn im echten Leben. Unbeachtet im Klo

weggespült gibt es keinen Shitstorm. Ich bin

in keinem sozialen Netz aktiv und stelle meine

Bilder nicht mehr aus. Da sind entfernte

Bekannte, die winken mir zu auf der Straße

und einige langjährige Freundschaften bestehen

unverwüstlich. Das muss genügen.

Meine liebe Frau ist noch da und schimpft –

wie Frauen das ständig tun. So ist wenigstens

was los.

:)

Jul 7, 2021 - Es tut gleichmäßig weh 64 [Seite 63 bis 64 ]


Man muss zurückschauen können

Jul 10, 2021

Heute habe ich etwas ganz Wunderbares erlebt.

Ich verlasse gerade unser Einkaufszentrum.

Eine Tüte mit Lebensmitteln schaukelt

lustig in meiner Hand. Ich sehe wohl recht

vergnüglich aus? Eine junge Frau trinkt „Red

Bull“ oder ähnliches aus einer Dose in der

Hand, hält inne und schaut mich lächelnd an.

Ich probiere herauszufinden, ob sie was von

mir will und ändere leicht meine Gehrichtung

auf sie zu. Ich bin schon fast vorbei, während

wir uns wie Honigkuchenpferde angrinsen.

Statt mich nach dem Weg zu fragen, kommt

sie ebenfalls näher (ich denke, vielleicht ist

die bescheuert). Ein wenig entrückt ist dieser

Blick. Ich begreife, wie schön die Unbekannte

ist.

Sie sagt einfach: „Behalt’ dein Lächeln!“

Sie hat einen reichlich großen Mund, finde

ich und überlege, was nicht mit ihr stimmt,

antworte aber automatisch und plötzlich

voller Begeisterung: „Ja!“ Ich wundere mich

über mich selbst, strahle sie jetzt voll an. Ich

registriere ihre Prinz-Eisenherz-Frisur, denke

still für mich an Amélie (aus dem Film) und

irgendwie auch an Imke. Wir haben zusammen

studiert, nur der Mund ist größer. „Ein

schönes Wochenende dir!“, meint sie, „in diesen

dunklen Zeiten …“, und schon sind wir

auseinander. Ich schaue ihr nach und sage:

„Genau so!“ Und noch einmal bekräftige ich

laut: „Ja!“

Magisch.

Ich erinnere mich, das ist ein Pakt! Er muss

aufgefrischt werden, wenn diese Treffen

stattfinden. Wir Beknackten sind die Glücklichen,

denke ich.

# Nudge

Es geht mir durch den Kopf: Waren die Zeiten

nicht immer finster? Wir leben heute und erreichen

morgen die Welt von morgen. Es gibt

kein Zurück. Die Hoffnung auf einen Sommer

ohne allzu viel Corona …

Das habe ich gesehen: Ein Containerschiff

verlässt Hamburg. Während wir unser Boot

im Yachthafen aufklaren, macht jemand ein

Foto. Die „Ever Gifted“ ist groß wie eine Wand.

Zuhause montiere ich den „weißen Schwan“

in den Vordergrund, als würde der Riese unser

schönes Museumsschiff „Cap San Diego“

überholen. Die neue Begegnungsbox vor

Schulau ist fertig ausgebaggert. Vielleicht

könnte das tatsächlich so geschehen: Moderne

trifft Vergangenheit.

Ever gifted, für immer beschenkt.

Die Elbvertiefung ist kein lohnendes

Streitthema mehr. Die Elbe ist tief. Das

ist ein Fakt. Der Streit der Umweltverbände

ist Geschichte. Ich blicke zurück,

und mein Gegenüber ist die Erinnerung?

Ein Geschenk ist, unbelastet

zu sein und emotional frei. Verpasste

Chancen belasten uns. Und banale Bilder

sind die Kulisse; einige reparieren

alte Autos, probieren etwas von früher

festzuhalten, sammeln Fotos. Manche

halten es nicht aus zurückzuschauen!

Das ist auch meine Vergangenheit: Die

bekannten Schiffe der Hamburg-Süd

kamen regelmäßig die Elbe rauf, als ich klein

war. Es gab einige davon. Die waren immer

ganz sauber und schön. Der schneeweiße

Rumpf leuchtete schon von weitem, und der

rote Streifen quer über der Brücke ist das

Markenzeichen der eleganten Frachter gewesen.

Tatsächlich ein vertrauter Anblick und

alltäglich für uns Segler damals.

Das war auch gerade: Nicht lang her, der Russische

Präsident schrieb in der ZEIT.

# 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion:

Wladimir Putin schreibt über seine

Sicht auf Europas Geschichte und Vorstellung

einer gemeinsamen Zukunft. (…).

Putin legt darin auch seine Sicht der jüngsten

europäischen Geschichte dar. Die Ereignisse

2014 in der Ukraine bezeichnet er als von

Europa unterstützten „Staatstreich“, schreibt

vom „Austritt“ der Krim. Die Bundesregierung

und die EU dagegen sprechen (wie auch alle

Kommentatorinnen und Kommentatoren der

ZEIT) von „Völkerrechtsbruch“ und einer „Annexion“

der Krim durch Russland. (Gastbeitrag

von Wladimir Putin in der ZEIT, 22. Juni

2021).

Ich erinnere mich: Putin interpretiere die

Geschichte um, meinte dazu das Schenefelder

Tageblatt vor kurzem in einer kostenlosen

Wochenendbeilage. Aber: Der Präsident

schrieb Geschichte; interpretieren kann jeder.

# Hell scheint die Sonne in der dunklen Zeit

Neue Farben. „Schwarzfahren“ wird bald anders

definiert. „Man wolle keine rassistischen

Begriffe“, das habe ich wo aufgeschnappt. Mit

der Bahn nach Wedel: Vergangenen Sonnabend

bin ich mit der letzten Flut nach Teufelsbrück

gesegelt. „Laroche“ leider geschlossen!

Bei mittags einsetzenden Ebbe kreuzte

ich nett zurück nach Schulau und hatte einen

feinen Sonnenbrand anschließend. Ich

vergaß, mich einzucremen. Es heißt, man

bekomme Hautkrebs, wenn man sich nicht

schützt.

# Der Krebs kommt sowieso

Nun wurde bekannt, die Creme verursacht

selbst auch Krebs, wenn sie vom letzten Jahr

ist und ein bestimmter (in jeder Sonnencreme

enthaltener) Stoff sich inzwischen

verflüchtigte. Ein chemischer Prozess, der das

Produkt unbrauchbar macht. Das Übel beginnt

mit dem Moment der ersten Öffnung

der Verschlusskappe und schreitet unaufhaltsam

fort, bis man das reinste Gift verteilt,

sollte man die Creme noch nach einem Jahr

anwenden.

Das wussten wir ja gar nicht, können nichts

rückgängig machen: Als wir Kinder waren,

cremte meine Mutter uns mit einfacher Nivea

ein. Und das war verkehrt. Oft hatten

wir Sonnenbrand. Das ist falsch gewesen?

Das hat man uns die letzten zwanzig Jahre

stets gesagt, wir hätten nur soundso lang

jeweils in die Sonne gedurft und den Faktor

x je nach Hauttyp regelmäßig nachcremen

müssen. Dann haben wir sparsam immer die

Reste vom vorigen Jahr genommen, und wie

wir nun seit kurzem, aber rechtzeitig vor diesem

Sommer wissen, war das auch verkehrt.

Und es kann nicht mehr korrigiert werden. So

wie die Geschichte, die bereits geschrieben

wurde, von Putin oder der Sonnencremeindustrie.

Der Mensch hat die Klimakatastrophe verursacht,

das ist nicht nur Geschichte, das ist

unsere Zukunft. Das kann nicht einmal die

rechte Partei uminterpretieren. Die Polizei

war unser Freund und Helfer. Das ist auch

Geschichte.

# In Köln verursacht ein Video Aufregung.

Eine Verkehrskontrolle lief mutmaßlich völlig

aus dem Ruder – ein Polizist soll einem

Autofahrer Gewalt angedroht haben. Dem

Beamten drohen Konsequenzen. (…).

„Ich wusste nicht, was der mit mir vorhat. Mit

einem Video schützte ich mich.“ (…). Der Polizist

habe bei der Verkehrskontrolle gesagt:

„Ich würde mir wünschen, dass Sie auf dem

Boden liegen und ich mit meinen Füßen auf

Ihrem Kopf.“ Und weiter: „Genauso wünsche

ich mir, dass alle Salafisten und Rechts- und

Linksradikalisten direkt der Blitz treffen würde.“

(…). „So was kann man als Polizist doch nicht

sagen.“ Ganz ähnlich sieht das auch die stellvertretende

Kölner Polizeipräsidentin, die

sich im „Express“ so äußerte: „Für derartige

Worte eines Polizeibeamten habe ich wirklich

kein Verständnis. Das entspricht nicht

dem Bild der Polizei Köln.“ Gegen den Beamten

sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet

worden. (t-online, 10.07.2021).

Jul 10, 2021 - Man muss zurückschauen können 65 [Seite 65 bis 66 ]


Vorbei sind die Zeiten, wo man sich über die

Bodycam aufregte. Selbst zu filmen ist angesagt!

Was wäre ein Fußballspiel, bei der nur

eine der Mannschaften aus Stürmern und

Verteidigern besteht und die andere lediglich

ihren Kasten verbarrikadiert, sich

hinlegt als ein Haufen Mensch, in der

Hoffnung das genüge.

Wir schauen zurück!

Letzte Woche, schon Geschichte. Ich

habe mir eine Fahrkarte gekauft, die

Maske aufgesetzt, das ist einfach. Mit

meinen Haaren und dem Sonnenbrand

bin ich rotgefahren. Ein Plakat

weckt mein Interesse. „Komm ins

Blaulichtmillieu“, lese ich in Sülldorf,

als ich dort mit der S-Bahn unterwegs

bin: „Bewirb dich jetzt bei der Polizei.“

Blaue und Rote im Krieg … im Kampfe

an der Rotlichtlampe. Und dann kommt noch

die Delta-Variante! Echt gefährlich heute,

und es gibt kein Zurück.

Eine dunkle Zeit?

:(

Jul 10, 2021 - Man muss zurückschauen können 66 [Seite 65 bis 66 ]


Beschränkt und erfolgreich

Jul 15, 2021

Man bekommt, was der Laden hat. Es gibt

noch diese Menschen, sie sagen beim Bäcker:

Ich „bekomme“ (drei Roggen und ein Croissant).

Das hat ihnen Mama so beigebracht?

Ein Leben lang sind diese Leute so ins Geschäft

spaziert: „Ich bekomme.“ Sie fordern

es auf eine Weise, die das Ergebnis vorwegnimmt.

Anstelle offen gegenüber einer Reflexion

zu sagen: „Ich möchte drei Schrippen“,

stellen sie es fest. Der Kunde, ein König.

„Ich bekomme.“

Die überraschende Antwort: „Schrippen sind

heute aus“, irritiert den Käufer? Man meint

schon vorher bestimmen zu können, was es

gibt. Nach einer Formel zu leben, lehrt ein

Selbstbewusstsein, das nur in einer planbaren

Welt funktioniert. Wenn der Bürgersteig

einen Radweg enthält, einander begegnende

Fußgänger mit Hund oder Kinderwagen

Trauben bilden, klingelt der rasende Senior:

„Ich komme!“ Ich bekomme den Weg frei, für

mich.

Meine Spur, mein roter Teppich. Die Gesunden

lieben ihren Nächsten erst an zweiter

Stelle, kümmern sich zu erhalten, was sie

wollen. Dazu gehört verbale Verteidigung:

„Moment. Zunächst komme ich.“ Es ist das

Selbstbewusstsein derer, die in zivilen Verhältnissen

groß werden. Eine solche Erwartungshaltung

kann sich nur erfüllen, wenn

man weiß, was der Bäcker im Regal hat. Dann

kann der Kunde noch meckern: „Die sind aber

klein heute.“ Beschränktheit ist das Normale.

Würden wir differenziert lehren, in der Schule

etwa, könnten wir Einfluss auf die zukünftigen

Generationen nehmen, dass sie flexibler

wären. Wir benötigen aber Beschränkte:

Der spezialisierte Mensch ist das Ergebnis

des Fortschritts. Wir werden darauf ausgerichtet,

im systemischen Ablauf das Element

eines Teams zu sein. Da ist Beschränktheit erwünscht,

und folgerichtig plappert eine Mutter

über ihre Tochter: „Sie hat Aspergerautismus

und kann anderes nicht ausblenden.“

Das Mädchen rastet aus in einer idiotischen

Umgebung. Sie ist die einzige, die etwas

merkt. Oha, das kann ich nur sagen, weil sich

niemand dafür interessiert und etwa was davon

hat, mich zu belehren. Alle nutzen das

Netz, um sich in dem was sie tun, von anderen

Bestätigung zu holen. Die sozialen Systeme

sind den römischen Spielen nachempfunden.

Daumen hoch beziehungsweise runter heißt

folgerichtig: „weitermachen oder den wilden

Tieren zum Fraß vorwerfen.“ So werden diejenigen,

die bereits einige Dislikes haben, ab

einer magischen Grenze inflationär

und exponentiell mehr davon bekommen.

Dabeisein bei den Bösen

lohnt, wenn genügend mitmachen.

Als hochintelligent bezeichnet, hat

ein Mädchen es schwer. Dazu wurde

Asperger diagnostiziert? Was denn

nun, krank oder was ganz tolles;

wir gefallen uns darin, etwas zu beschreiben,

dass wir nur wegerklären

mit unseren Begriffen. Wir können

nicht ändern, dass Eltern sich ein

ganz besonderes Kind wünschen.

Eine dumme Idee, die klug bemäntelt

daherkommt. Natürlich werden

Kinder in der Schule angefeindet, die anders

und besonders sind. Die Erwachsenen greifen

ja auch alle anderen an, neiden Berühmten

den Erfolg. Sie grenzen die Ausländer aus.

Männer verhindern Frauenbeteiligung in

der Wirtschaft. Die moderne Frau wiederum

wird beknackt daran, nichts zu verpassen.

Abgehetzte Mütter, die das großartigste Kind,

dazu die steile Karriere auch noch und den

vorzeigbaren Mann wollen, mit Charisma und

in einer guten Firma, ganz oben, der aber zuhause

macht, was „Frau“ will. Die gibt es.

Steht der Intellekt in einer Familie oben an,

Kultur und die Werte oder die Leistung, der

Kommerz – anstelle trivialer Herzlichkeit –

gut möglich, dass ein Supermonster rangezüchtet

wird, das unser System sprengt. Ein

Gen wird gefunden. Das ist daran Schuld –

Schicksal. Die beunruhigende Frage steht im

Raum, was die Hochintelligenz schließlich

bringt? Ein Netz würde gespannt, schreibt

das Tageblatt. Ein Fisch wurde darin gefangen

und zubereitet, jeder darf mal schnuppern,

einen Happen abbeißen; das steht dort

nicht. Zunächst werden Klassen übersprungen.

Ein Sozialpsychiater oder drei begleiten

die Superpflanze, die wie eine Diva vor Stress

beschützt werden muss und für die keine

vegane Extrawurst genügt. Und nach Schule

und Studium, was kommt dann? Überall das

beste Ergebnis und die größten Werte noch

dazu und mit einer psychosozialen Sonderkrankheit

ausgestattet, wird es schwer werden,

diese Ansprüche zu einer selbständigen

Existenz zu formen. Das ist mehr denn je eine

aus dem Baukasten. Das Wunderkind hat allemal

die Chance, diese Kisten zu sprengen.

Aber man muss sich dann auch eine individuelle

tischlern können.

# Das eigene Boot

Wir wissen, was richtig ist und sich gehört?

Die anderen auch! Jede Gruppe erklärt sich

zum funktionalen wie rechtmäßigen Block.

Die Querdenker, der Flügel der AfD, Nordkorea

und andere von uns als Unrechtsstaat

definierte genauso wie das System Bundesrepublik

Deutschland. Auch unsere föderalen

Bundesländer begehren auf gegen die Gesamtheit.

Wenn wir probieren, eine grundsätzliche

Rechtmäßigkeit zu postulieren,

scheitern wir schnell. Da ist keine profilierte

Ansicht, die irgendwer öffentlich macht, die

nicht Widerspruch hervorruft.

Arten sterben aus, der Klimawandel beschert

uns Gewitter, die wir so nicht kannten. Neue

Gruppen ersetzen alte. Der Busfahrer erzählt:

„Wir haben früher auch demonstriert. Aber

nach der Schule. Die Kiddies von ,Fridays

for Future‘ sind schon morgens im Bus und

machen für die Demo blau. Anschließend

der Versammlung liegen ihre Pappschilder

weggeworfen auf dem Rathausmarkt, und die

Stadtreinigung säubert die zu rettende Umwelt.“

Die Zeiten ändern sich. Und Frau Baerbock

hat einen Kobold, der sie berät? Da gibt

es sehenswerte Videos mit Peinlichkeiten

aller Art, und das ist nicht das Schlechteste

der Moderne. Wir werden unsere Fehler nicht

mehr los und sterben schließlich aus, weil

wir im eigenen Dreck verrecken.

Die Gesellschaft ist eine unreflektierte Herde,

die nur deswegen in einem komfortablen

Jetzt lebt, weil vorangegangene Generationen

einen Rahmen schufen. Viele bilden sich was

drauf ein, etwas zu leisten, aber diese können

das nur tun, weil sie einen Staat erbten, der

ihnen den Boden bereitet, auf dem sie sich

entfalten können. So stimmt tatsächlich, dass

die Gesellschaft ein Team ist und den Fortschritt,

die Stabilität des Ganzen sichert. Die

Gesundheit des Gesamten hängt also davon

ab, dass im Kollektiv zielgerichtet funktioniert

wird und das schränkt individuelle Freiheiten

ein. Die Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür.

Auf der anderen Seite schürt der Druck auf

Einzelne Aggression. Diese können,

formt sich daraus ein eigenes System,

eine alles gefährdende Untergruppe

bilden.

Gerade ist ein Journalist vor Gericht

gescheitert. Er hatte ein

Video zu bieten, auf dem er von

einer Gruppe Polizisten angegangen

wird. Offensichtlich trägt der

Reporter eine Kamera am Leib,

die alles aufzeichnet. Ein Polizist

stößt den Filmenden zu Boden, ist

sichtlich aufgebracht, er ließe sich

nicht beleidigen. Das Verfahren gegen

den Beamten wurde jetzt zur

Überraschung einiger eingestellt.

Auch die anderen Beteiligten werden

nicht bestraft. Natürlich, eine

Revision steht noch aus. Der Journalist

und etliche, die das Video

gesehen haben, folgern, hier decke

der Staat sich selbst. Allerdings,

dem Film fehlt die möglicherweise

vorangegangene Sequenz, denn es

wird nicht deutlich, was den über-

Jul 15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich 67 [Seite 67 bis 68 ]


griffigen Uniformträger so in Rage gebracht

hat. Unser System spricht im Zweifel für den

Beschuldigten. Sonst würde gelyncht wie damals.

Bleibt die Lage ungeklärt, soll der Richter

Mäßigung üben. Kein Wunder, dass dieses

Verfahren eingestellt wird. Niemand rastet

mal so aus, weil es ihm gerade gefällt. Da ist

sogar der Polizist nur und tatsächlich auch

ein Mensch wie wir anderen.

Die Polizei macht die Drecksarbeit

für den Bürger. Dafür ist sie da.

Der Normale mag sich nicht selbst

wehren, wenn es zu schmutzig

wird. Darum gibt es auch hier die

Spezialbereiche der Ordnungshüter.

Die Unordnung zu bekämpfen,

bedeutet sauber zu machen und

aufzuräumen. Am Rande einer

Demo kommt es zu Reibereien, das

ist wohl klar. Wir können froh sein,

dass überbordende Polizeigewalt

durch aufmerksame Beobachter

erkannt und festgehalten wird.

Diese Journalisten erledigen für

uns eine Grenzziehung. Sie selbst

werden im Weiteren in ihrer Berichterstattung

beschnitten durch

den Staat, der sich gegen Berufsspanner

wehrt, logisch. Kein Staat

der Welt lässt sich bieten vorgeführt

zu werden.

Nie zuvor ist dem Einzelnen klar geworden,

wie differenziert jede Betätigung heute eine

Spezialaufgabe ist. Die Beschränktheit der

jeweiligen Berufe: Sogar der Arzt arbeitet in

einem Geschäft! Sein Krankenhaus ist eine

Firma. Nur die Ewiggestrigen möchten die

staatlichen Gesundheitssysteme zurück, die

gute alte Zeit, wo die Medizin noch zum Wohle

der Menschen schuf.

Der Arzt ist ein Laden wie der Bäcker. Er hilft

dem Patienten nicht, er arbeitet nach System.

Kein Mediziner sieht den ganzen Menschen.

Er probiert es nicht einmal. Der Orthopäde

spricht eventuell von Stress, immerhin, aber

was genau dieser Begriff individuell meint,

skizziert der Spezialist höchstens. Ein Wort

für alle. Einlagen für Schuhe werden bei verschiedenen

Beschwerden verschrieben, weil

es möglich ist, so etwas anzufertigen. Es gibt

sie aus Korkleder oder Kunststoff. Eine Firma

verdient Geld damit. Es gibt unglaubliche

Apparate in der Medizin und Menschen, die

davon leben, sie zu entwickeln. Eine Magenspiegelung

kann entscheidende Hinweise auf

eine Erkrankung geben. Sie wird gemacht,

weil es technisch durchführbar ist. Deswegen

bedeutet die Untersuchung nicht, dass der

Hilfesuchende durch die Inanspruchnahme

des Fachmannes anschließend beschwerdefrei

ist. Ein Urologe hat der Sparte nach zugehörige

Geräte und Techniken, der Orthopäde

hat seine, und der Handchirurg „kann“ ausschließlich

Hände. Wie in der Landwirtschaft

und anderswo: Es ist naheliegend, dass einer,

der täglich Schweine schlachtet, es kann. Wer

es gewohnt ist, Spargel zu stechen, tut das

besser als irgendeiner.

Bezogen auf die Medizin, können wir feststellen,

dass es Ärzte gibt, die in ihrem Spezialgebiet

geradezu Wunder vollbringen. Es gibt

Chirurgen, die sich einen Namen machen wie

Operntenöre. Weil spezialisierte Menschen

Bestleistungen erbringen können, heißt das

noch nicht, dass der Intellekt automatisch

unsere Welt verbessert, indem Erscheinungen

unserer Natur Namen gegeben und

Fachgebiete kreiert werden. Im Fall einer

operierten Hand ist der Erfolg exakt messbar.

Diagnosen, die eine psychische Abnormität

definieren, kommen über Kaffeesatzlesen

kaum hinaus. Das hört der Fachmann ungern,

aber es ist schlimmer: Unendliches Leid wird

durch Fehleinschätzungen verursacht. Das ist

bei verpfuschten Operationen

an der auf komplizierte Weise

beweglichen Hand schmerzlich

– und wenn der entlassene

Sexualstraftäter wider die Vorhersage

erneut vergewaltigt.

Am Beispiel der falsch operierten

Hand ist die Schuldzuweisung

präzise möglich. Bei

der Beurteilung psychischer

Krankheiten steht schon von

Beginn an die Frage im Raum,

inwieweit ein Außenstehender

kompetent ist, verantwortlich

für andere zu entscheiden.

Dazu kommt, dass psychisch

Kranke sich nicht effektiv gegen fachlich

deklarierte Bevormundung wehren können.

Ihre Krankheit besteht unisono darin, dass

sie entweder aggressiv (auch gegen sich

selbst) oder depressiv handeln. Sie schlagen

zu, ritzen sich die Arme, zwingen Angehörige

durch unzählige Blödheiten, sich nur mit

ihnen zu beschäftigen oder lassen alles mit

sich geschehen. Sie verprügeln den Arzt, töten

die Mutter, anstelle sich einen Anwalt zu

nehmen. Gewalt dosiert angewendet ist normalgesundes

Handeln.

Wir erfinden Krankheiten. Darum gibt es heute

nicht den gelegentlichen Zappelphilipp,

sondern das ADHS-Kind und den Asperger in

der Klasse; Störer. Daraus werden anschließend

Gestörte. Wir haben sie solange fertig

gemacht und in ihrer Entwicklung gestört,

der Name verrät es. Der moderne Mensch ist

das Opfer seines Intellekts. Alles bekommt

einen Namen, eine Schublade, und das sind ja

auch Berufe, die wir schaffen: „Entstörer“ benötigen

wir. Was uns bislang noch fehlt, sind

Menschen, die diese Berufe so gestalten, dass

ihnen die Erfolge, falls es zu einer Besserung

kommt, auch erkennbar zugeschrieben werden

können.

Im Falle der Sexualstraftäter wird unsere

Hilflosigkeit deutlich. Während die Justiz bei

denjenigen, die zur finanziellen Oberschicht

gehören, Strafbarkeit feststellt, falls es gelingt,

ihre gutorganisierten Sexpartys, bei denen

Minderjährige die Lustobjekte sind, auffliegen

zu lassen, werden weniger betuchte

mit der Zuweisung einer Krankheit bestraft.

Dann kommt es bei Resozialisierung zu

Rückfällen? Auf die Idee, dass unser System

grundsätzlich von falschen Voraussetzungen

ausgeht, scheint niemand zu kommen. Das ist

die Beschränktheit, die uns so gut funktionieren

lässt, und sie schafft Arbeitsplätze.

:(

Jul 15, 2021 - Beschränkt und erfolgreich 68 [Seite 67 bis 68 ]


Wir sterben und wissen

es

Jul 17, 2021

Als freier, künstlerischer

Maler kommt man nicht

umhin zu denken. Alle

denken, auch die, die

keine Künstler sind, tun

es. Manche bilden sich

was drauf ein; niemand

stellt es ihnen ab, wenn

Denken nervt, krank

macht oder lästig wird. Es geschieht uns.

Nicht alle denken darüber nach, wie sie es

tun und ob es anders geht. Alle Aktivitäten

werden von Gedanken begleitet. Manche reden

von Bauchentscheidungen, und das soll

wohl heißen, dass dabei gerade nicht gedacht

würde. Dann kommen Gefühle ins Spiel. Einige

sagen, Emotionen lösen Gedanken aus,

und andere finden die Gedanken ursächlich

für die Entwicklung einer Gefühlslage. Tatsächlich

gibt es die Möglichkeit, einen Kurs

zu besuchen oder Literatur zu konsumieren,

die einen befähigen soll, auf das eigene Denken

manipulativ einzuwirken. Dadurch würde

derjenige selbstbestimmter, und das hätte

sowohl Einfluss darauf, gesteckte Ziele zu

erreichen wie das Gemüt zu beruhigen. Die

Logik dahinter ist klar: Lasse ich mich von der

Umgebung steuern oder nehme das Ruder

selbst in die Hand?

Ich habe schon Segelanfänger in meinem

Boot an die Pinne gelassen. Es ist erstaunlich,

dass es ihnen, wenn sie besonders unbedarft

sind, nicht gelingt mit dem Boot eine zielgerichtete

Fahrt zu machen. Nichtsegler, die gar

nichts von der Bedienung einer Jolle wissen,

können nicht segeln. Das bedeutet, ihr Schiff

dreht Kreise, treibt irgendwie, die Segel flattern

oder stehen back. Die Unfähigen können

den Sinn vom aufgeholten oder tief herabgelassenen

Schwert nicht verstehen, die Platte

unter dem Boot, die sie Kiel nennen und die

eine planbare Fahrt erst möglich macht. Sie

wissen nicht, mit der Pinne umzugehen. Sie

drücken diese nach Lee von sich weg, wundern

sich erst, dass das Boot nun genau in

die andere Richzung segelt, als sie meinen,

und im nächsten Moment flattern die Segel

usw. – da sind wahrscheinlich wenige, die

dann schnell ganz von allein lernen. Mit einigen

helfenden Worten bessert sich die Lage

jedoch bald.

Angenommen, wir Menschen sind so ein Boot

selbst; das soll heißen, unser Körper wäre die

bedienbare Struktur, der Kopf mit dem Gehirn

und seinen Richtorganen der Kapitän. Das

habe ja nicht ich mir ausgedacht, als ein Bild,

und das kann man auch mit einem anderen

Fahrzeug darstellen. Eine Kutsche mit Fahrgästen,

und die sollen dann zu einer Einigung

kommen, dem Kutscher Anweisungen geben,

und der wiederum kennt sich mit den Pferden

aus, ist mit der Straße vertraut und kann

notfalls bremsen.

Normal Arbeitende

mutmaßen,

dass Künstler

nicht wissen,

was sie tun und

das Talent ihnen

hilft, Sachen zu

machen, für die

sie selbst zu hart

arbeiten müssten.

Viele glauben,

dem Künstler

falle alles zu.

Andere meinen,

Maler würden

erst nach dem

Tod berühmt und

seien deswegen

dumm, weil sie

am Hungertuch

nagten. Noch

wieder welche

verweisen auf

Van Gogh und

erkennen das Kranksein in der Kunst, bei Musikern

bemerken sie vordergründig nur das

ungezügelte Leben mit Alkohol und Drogen.

Verdient jemand außergewöhnlich, steht der

Neid im Raum; das ist ja auch beim Fußball

ein Thema. Keiner bewegt sich annähernd wie

ein Ronaldo, aber alle schauen begeistert zu,

und schon geht wieder die Debatte los über’s

Geld. Ich gehe dann aus dem Raum, und das

ist einer der Gründe, warum Kreativität einsam

macht. Ganz wenige nicht künstlerisch

schaffende Normale erkennen die Leistung

der Kreativen deutlich und reflektiert an. Das

sind die wenigen, die nicht neiden, spotten

oder plappern, was schon gesagt worden ist.

Wir kommen auf die Welt an einem Ort, den

wir dann zum Ausgangspunkt unseres Lebens

machen müssen (und diese Unfreiheit

am Beginn akzeptieren). Im günstigen Fall

werden Eltern, Großeltern und Geschwister

sowie bald auch Freunde den Rahmen so garnieren,

dass wir schnell lernen, uns zurechtzufinden.

Damit wächst der Anteil an

Eigenverantwortung, aber das Gefühl

und die Erfahrung, alles durch einfaches

Schreien erreichen zu können,

weil Mama dann kommt, genügt nicht

mehr. Wenn wir beim Boot als Sinnbild

weiterdenken, stellt sich die Frage,

welcher Typ der unsrige ist und in welchem

Revier wir starten? Wer sind wir,

was werden wir sein: Eine kleine Jolle,

die man sowohl dafür nutzen kann, am

Wochenende wie zum Camping eine

Tour zu segeln, bei der man in einem

nahen Hafen am Flusslauf übernachtet,

am Sonntag zurückkehrt und auch

mit Gleichgesinnten Regatten segelt –

oder ein auf der Werft im Bau befindliches

Containerschiff, das, wenn es fertig

ist, zu den größten der Welt zählen

wird und von dem andere erwarten,

dass es seinen Dienst wie geplant auf

den Ozeanen der Welt tut – das sind geerbte

Erwartungen unserer Umgebung und eventuell

genetische Anlagen dazu.

Niemand kommt umhin, bald über den Tod

nachzudenken, schon als kleines Kind. Kinder

fragen ständig. Es dauert nicht lange,

das Leben grundsätzlich zu beschreiben. Wir

werden geboren, wachsen einige Zeit lang

auf und lernen, erreichen unsere Körpergröße,

begreifen Geschlecht, Sexualität. Im

mittleren Teil des typischen Menschenleben

steht, so sollte es sein, eigenverantwortliches

Dasein, Existenzsicherung, individuelle

Entfaltung persönlicher Vorlieben, Sexualität

und Familie, bis dann Rente und Tod unausweichlich

näher kommen. Den Sinn von

Fehlern, Feindseligkeit und Krankheit lernen

wir kennen. Wir stellen die Befriedigung von

Trieben, intellektuelle oder anderweitige Vorlieben

den erstgenannten Schwierigkeiten

gegenüber, wenn wir verstehen lernen, dass

an einem selbst gesteckten Ziel anzukommen

befriedigt. Ob das bedeutet, aus einer

kleinen Segeljolle einen Großsegler oder

Öltanker machen zu müssen – sich zeigen

wird, dass derartige, grundsätzlich operative

Änderungen nicht gelingen können oder ob

wir das Revier wechseln müssen, uns letztlich

genügt, die Segel anzupassen, je nach Wind

und Wetter – das wird unser spezielles Leben

sein.

Irgendwann müssen wir beginnen, darüber

nachzudenken.

Erstaunlicherweise scheinen einige das

nicht nötig zu haben und andere mehr. Und

wieder welche müssten nachdenken, tun es

aber nicht. Ich habe mit Herrn B. gesprochen.

Dieser Mann betreut sterbende Menschen im

Hospiz. Meine Mutter ist in dieser Einrichtung

verstorben. Sie war exakt vier Wochen dort.

Meine Mutter hatte, schon im Bewusstsein

ihres Todes in den Tagen vor dem Umzug in

ihr Sterbezimmer, noch in der eigenen Wohnung

allein, den Verstand verloren. Sie wurde

möglicherweise aufgrund von Angst nicht

mehr wirklich klar, während wir ihr Sterben

begleiteten. Noch wenige Wochen vor dem

endgültigen Abschied in Wedel hatte sie

vehement postuliert: „Ich verlasse meine

Wohnung nicht mehr!“ Damit konterkarierte

sie den ursprünglichen Plan, den durch eine

Krebserkrankung unausweichlich vorhergesagten

Tod im Hospiz zu erleiden, wofür wir

Angehörigen mit ihr zusammen mehrere

Häuser kontaktiert hatten.

Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 69 [Seite 69 bis 70 ]


Die Angst vor dem Tod muss jeder erleben,

keiner im Hospiz komme drum herum, ich

habe den klugen Sterbebegleiter danach gefragt.

Meine Eltern beneideten ihren Segelfreund

Hannes. Er „habe es gut gemacht“, fanden

sie. Kann man das machen? Hannes war mit

Ehefrau nachts auf dem Nachhauseweg von

einem Opernbesuch am Kantstein direkt vor

dem eigenen Wohnhaus unvermittelt tot

zusammengebrochen. Auch Olaf, ein Freund

vom Onkel meines langjährigen Segelfreundes

Bernd, stürzte, sagt man, (vor dem kleinen

Kino in Blankenese) im noch nicht so fortgeschrittenen

Alter auf dem Gehweg – und

überlebte das nicht; wir waren aber überrascht

und entsetzt. Der war gerade am Beginn

einer möglichen Rente und hatte noch

viel vor. Ebenso der im Ort bekannte Kassierer

einer Bank in Wedel. Dieser Pechvogel

segelte am ersten Tag seiner Verrentung

bei Freunden auf der Ostsee mit. In einer

plötzlichen Bö vor Schleimünde kenterte der

zum Segelboot ungenügend umkonstruierte

Kutter, und der Mann ertrank. Das waren

Beispiele für einen gelungenen Tod, fanden

meine Eltern. Wie man das „mache“, haben sie

tatsächlich darüber nachgedacht? Sie hatten

beim Anwalt eine Verfügung formuliert, was

sie im Falle eines unvermittelt nötigen Krankenhausaufenthalt

ohne Bewusstsein wollten

und was nicht.

Das Hospiz liegt räumlich direkt angeschlossen

nah einem Hamburger Krankenhaus. Es

ist ein Zaun, der beide Anlagen trennt, und

typischerweise gelangt man von einer Nebenstraße

zum Gebäude. Dabei gerät man

gar nicht in den Betrieb der Klinik. Es ist ein

kleiner Parkplatz dort und eine Tür, an der

man sich als Angehöriger legitimieren muss.

Ich erinnere Sylvie. Sie war vorher im Kindergarten

beschäftigt gewesen. Die junge Frau

hatte sich bewusst entschlossen, eine Zeit

lang hier zu arbeiten. Eine Herausforderung,

eine Pflicht für sie. Das war ihr bewusst geworden.

Es tat Not, weil sie begreifen wollte.

Ich denke noch oft daran, wie gut es getan

hat, wenn sie mit ihren Putzkram in der Nähe

still die nötige Arbeit machte. Ich habe ihre

Telefonnummer auf einem Zettel. Ich solle

anrufen, sie koche gern für Freunde und habe

dann original afrikanische Spezialitäten aus

ihrer Heimat bereit, die sie unmöglich alle

allein essen könne. Das habe ich nie getan,

mit dem Tod meiner Mutter war Schluss. Es

ging nicht, nur deswegen.

Ich sehe die Zeit wie im Nebel,

wenn ich daran denke:

Die Leitung, Frau E., die ich

über eine Freundin in einer

ähnlichen Einrichtung als

Ansprechpartnerin empfohlen

bekam. Sie machte es

möglich, dass meine Mutter

noch am selben Tag das angemeldete

Zimmer bekam,

als ich anrief, beschrieb, wie

sich die Lage zugespitzt

habe.

Das war unglaublich.

Der direkt am Sterbenden

verantwortlich begleitende

Herr B. sagte mir, jeder im Hospiz wäre

irgendwann damit konfrontiert, den nahen

Tod als unausweichlich zu bemerken mit der

entsprechenden Angst. Er erzählte von einem

Bewohner, der nach einigen Wochen wie erwartet

starb. Dieser Mann war ganz dünn und

ausgemergelt geradezu, unübersehbar von

seiner schweren Krankheit gezeichnet. Der

scherzte aber nur und war immer auf eine

aufgesetzte Art fröhlich, hatte Geschichten

drauf, als unterhalte er das Personal in einem

Hotel. Dem Herrn B. sagte er gelegentlich:

„Man sagt ja, ich hätte diese schlimme Krankheit,

aber Sie wissen doch, dass das

nicht wahr ist.“ Daraufhin probierte

der Pfleger regelmäßig, behutsam

die Realität in das Empfinden seines

„Gastes“ einzubauen: „Doch. Es

stimmt. Sie sind todkrank und werden

in wenige Wochen oder sogar

schon in einigen Tagen hier bei

uns sterben. Das wissen Sie auch.“

Der Mann bestritt es ein jedes Mal

und machte Scherze. „Darum sind

Sie hier. Weil Sie sterben“, meinte

der professionelle Sterbebegleiter

trotzdem, nicht um den Mann zu quälen. Dann

kam, was kommen musste, erzählte B. mir, es

wäre heftig und unausweichlich über den

knochendünnen Todgeweihten gekommen.

Jeden Tag habe er sich’s einreden können, er

wäre zum Spaß an diesem Ort. Erfolgreich

scheinbar, habe der Mann seine unübersehbare

Endlichkeit im Spiegel und beim Blick

auf seine Gliedmaßen verleugnet.

Aber dann wäre es schließlich passiert. Da

hätte sich der Sterbenskranke eines Nachts

für viele Minuten, ja Stunden weinend an

B. geklammert, gekrampft geradezu. Er griff

zu, ein Kind, das um Hilfe ruft. Hatte rotzend,

schluchzend und zuckend den Pfleger rundum

mit den Armen wie ein Krake unlösbar

eingefangen, bemüht mitgeschleppt auf diesem

unvermeidlichen Weg, wenigstens solange

es geht, noch Kraft in den abgemagerten

Ärmchen ist, Eisenkrallen daraus zu machen.

Es ist immer präsent. Ich erlebe es: Als wäre

auch ich noch dabei gewesen, hätte den Sterbenden

selbst gekannt.

Der Pfleger erinnerte sich, erzählte. Die Flure

hatten gebohnerte Fußböden, und hinter

jeder Tür befand sich ein Sterbezimmer, und

keines der Betten dort ist leer geblieben.

Mit jedem Gestorbenen bekam ein weiterer

Mensch von einer Meldeliste die Gelegenheit,

hier behütet zu sterben. Vor meinem inneren

Auge lebt jetzt gleich alles auf, während ich

diese Zeilen in das Pad tippe: Die Kerze im

Erdgeschoss. Sie wird dort angezündet, wenn

ein vertrauter Gast die letzte Reise antritt

und das Haus verlässt. Als B. erzählte, glaubte

ich dabei zu sein. Ich sah den Mann scheinbar,

während wir im schummrigen Flur leise

redeten und meine Mutter Greta oben im ersten

Stock schlief. Ihr blieb noch Zeit.

Wie viel davon, und was dann?

Der Pfleger, ich selbst und der Mann: Wir

drei schienen nun unentrinnbar unterwegs,

magisch gefangen vom Tod selbst. So plastisch

beschrieb B. mir, wie es war, mit in das

nicht länger auszublendende Schicksal des

Kranken gebunden zu sein. Umklammert. Der

konnte nicht mehr – und hatte die Angst zugelassen.

Er war am Morgen anschließend der Nacht

ganz friedlich gestorben.

:)

Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 70 [Seite 69 bis 70 ]


Ich bin

nicht bescheuert

Jul 18, 2021

Wir kannten nur Ampeln, keinen Kreisverkehr,

die Dänen hatten das; wir nicht. Inzwischen

gibt es auch in Deutschland viele Kreisel.

Man kann immer fahren, kaum, dass man

stoppen muss. Schon bist du drin! Es nervt,

an der Ampel zu stehen. An einigen „Lichtzeichenanlagen“

ist zusätzlich noch ein Schild

angebracht: Bitte bis an die Haltelinie fahren,

Kontaktanlage. Das heißt wohl, halte ich zu

weit ab vom Strich, kann ich warten, bis ich

schwarz werde. Oder besser, es bleibt rot für

immer. Man muss vorsichtig sein. Wer die falsche

Farbe im Munde führt, gilt den anderen

als Rassist.

Heutzutage möchten wir alles korrekt haben.

Laschet darf nicht lachen, wenn Steinmeier

die Opfer der Flutkatastrophe würdigt, bäh.

Auch nicht hinten im Bild. Einer hat es gesehen.

Dann wissen es alle. Wer

schreibt, bleibt. Wer filmt, der

blimpt? Ein neues Wort wird benötigt,

wenn die Plagiatsjäger auf

der rechten Spur überholt werden,

von denen, die Deepfakes

„in echt“ können. Jeder pupst mal.

Politik, Kunst, alles Öffentliche ist

massentauglich, die Themen entsprechen

dem Konsens. Wer das

nicht begreift, bleibt allein. Das

ist auch gut so. Ich möchte nicht

gestört werden durch Hassmails.

# Gendersternchen* nachträglich

Auch: Wir würdigen Frauen! Gestern

kam eine Astro-Doku. Die Mädels spielen

neuerdings eine Rolle in der Geschichte,

die es möglich macht, alles noch einmal neu

zu erzählen. Das Fernrohr, das Galileo nahm,

wurde ihm von seiner Cousine geschenkt. Die

Galaxien, die Hubble entdeckte, konnte er nur

sehen, weil seine Geliebte ihm … usw. – bald

wird es eine neue Vergangenheit geben.

Es ist vorgekommen, ich erinnere mich an

eine Meldung vor längerer Zeit, da musste

die Polizei einen Autofahrer stoppen und

behutsam aus dem Kreisverkehr lotsen. Eine

Überwachungskamera oder zufällige Beobachter

hatten bemerkt, dass ein Fahrzeug

im Kreisel verbleibend kreiste, immer wieder

und unzählige Male. Von zweihundert Ringen,

die derjenige bereits gedreht haben soll,

bis die Beamten einschritten, ist die Rede gewesen.

Der moderne Satellit der Landstraße

in seiner Umlaufbahn hält die Stellung. Ich

habe das nicht so genau in Erinnerung. Wahrscheinlich

hat man den Fahrer psychiatrisch

untersucht. Es kann eigentlich nicht verboten

sein, sollte man meinen, zumindest ein paar

Mal rundherum zu fahren?

Wenn im Verkehrsfunk von Staus

die Rede ist, sagen die Moderatoren

dieser Sendung gern, wie viel Zeit

die Verkehrsteilnehmer extra benötigen.

Dann heißt es gelegentlich:

Zeitverlust hier eine Dreiviertelstunde.

Ich merke immer auf: Was

ist Zeitverlust? (Der Planet hält an).

Dann kommt mir der Beknackte in

den Sinn, der, warum auch immer,

nicht aufhörte, in einem Kreisel zu

kreisen. Ich muss an unsere Küchenuhr

denken. Die ist so in der Art einer

Bahnhofsuhr eine große, runde

Platte, schneeweiß mit einem Rand wie eine

Pizza, und rundherum sind die Zahlen, eben

fast wie man das am Gleis kennt, so sieht

sie aus. Ein kleiner, schwarzer Zeiger für

die Stunden, ein langer zur Anzeige der

Minuten. Er ist ebenfalls schwarz. Und,

ganz wie bei der Bahn, hat unsere große

Wanduhr in der Küche auch einen

dünnen, schnellen Sekundenzeiger in

Signalrot.

Diese vorangestellten Beschreibungen

münden in die Idee: Zeit wird sichtbar in

der Bewegung. In einem Weltall sausend,

dürfte es schwierig werden, sie zu bemerken.

Insofern ist Zeit relativ, auch für

jeden Normalen, nicht nur den schlauen

Albert Einstein. Es kommt schon sehr

darauf an, wer, und wo wir sind, gerade

tun. Reißt mir andauernd der Geduldsfaden,

während andere locker traben? Was

bin ich auf der Weltuhr: ein Sekunden-,

Minuten- oder Stundenanzeiger? Dasselbe

Tempo für alle auf

dem Planeten, Zeit,

mit der wir um die

Sonne sausen und

mein eigenes Boot

im blauen Meer.

# Segeln

Ich weiß noch gut,

wie es „nach Bermuda“

war. Fünf

Tage über See,

und dann tauchte

die Insel an der

Kimm auf. Natürlich

haben wir

uns an Bord bewegt. Und ja, auch der Wind

traf unsere Wangen, wir spürten die Zeit.

Es wurde abends dunkel. Und die See rollte

an. Mittags knallte die Sonne, nachts war

es kühl, und die fliegenden Fische krachten

gegen die Kajütaufaubauten und klatschten

ohnmächtig an Deck. Wir hatten zu tun mit

den Segeln, gingen zum Essen in die Kajüte

und spuckten anfangs, weil wir zunächst

noch seekrank waren. Dann wurde es besser,

und auch das bedeutete, dass sich etwas geändert

hatte. Gestern übel, heute besser; das

ist Zeit. Aber das Wetter blieb scheinbar

gleich. Der Himmel war immer blau. Jeder

Tag war warm und ähnelte dem vorangegangenen.

Und nur in der Karte konnten

wir anhand der ermittelten Position begreifen,

dass wir Virgin Gorda und zuletzt

Anegada hinter uns gelassen hatten, das

Ziel, Bermuda näher kam. Ohne die Karte

wäre es nicht nachprüfbar gewesen. Das

rauschende Kielwasser, die besonders unter

Deck im Vorschiff (wo ich meine Koje

hatte) knallende Bugwelle, machte einem

klar, wir drängten nordwärts.

# Dasselbe Bild wie zeitlos gleich an jedem

Tag

Die Segel standen in derselben Position fest.

Ich meine, es war raumschots. Unter Vollzeug

waren unsere weißen Schwingen jedenfalls

gleichbleibend und immer gutgefüllt von einem

konstanten Wind gerundet. Man spürte:

„Capella“ ist unterwegs. Fünf Mal tagaus, tagein

rollte die See aus derselben Richtung heran.

Gleiche Windstärke, gleiche Wellenhöhe

kamen die Buckel dichter, sie hoben uns an,

unterliefen die Yacht und wir ritten unspektakulär

darüber hinweg. Rundherum gleich war

das Meer, der täglich identische, blaue Kreis

bis zum Horizont. Es änderte sich scheinbar

gar nichts.

Und dann tauchte

das Land auf, morgens,

noch vor dem

Frühstück!

Bermuda, Hamilton.

Die Einfahrt später:

Wie im nordischen

Schärengarten lagen,

beschaulich

verteilt, einige Inselbrocken

seitlich

des gewundenen

Fahrwassers. Inzwischen

tuckerte der

Motor, die Segel waren

nach Tagen zum

ersten Mal wieder

hübsch aufgetucht. Wir waren einigermaßen

unsicher, wo wir die Yacht jetzt festmachen

sollten. Hans-Jürgen, unser Kapitän, studierte

die Karte. Lars und ich probierten Landmarken

auszumachen, den passenden Liegeplatz

zu finden. Dann ließen wir uns von Ansässigen

helfen und fanden einen feinen, kleinen

Hafen, der privat zu einem Hotel gehörte,

steuerbords des Wasserweges zwischen den

Ufern. Eigentlich war nach der anderen Seite

hin eine Marina zu erwarten, und auch ein riesiger,

blauer Kreuzfahrer mit dickem Schornstein

hatte dort mächtig aufragend seinen

Liegeplatz gefunden. Unserem Kapitän passte

aber einiges nicht, oder dem Hafenmeister

gefiel es nicht, die Yacht dort hinzuweisen.

Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere einige

Tage im Hotel; und dort war dieser perfekt

gekleidete Manager des Restaurants

(mit blauem Sakko und rotem Schlips), der

uns servierte, wenn wir an Land gegessen

haben. Wer die Sahne zunächst in die Tasse

nahm, dann den Kaffee von ihm eingeschenkt

mochte, dem sagte er: „You don’t need to stir

it up.“ Der trug kurze Hosen und Kniestrümpfe

und war dabei eine Respektsperson. Die

Aufmerksamkeit selbst. Das sah nicht einmal

lustig aus, so selbstbewusst war dieser Mann

mit der typischen Klamottenkombi dort. Jetzt

war Zeit wieder wie immer.

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 71 [Seite 71 bis 74 ]


Dieser Chef vom Restaurant ist im mittleren

Alter gewesen und servierte am Abend auch

in der Hotelbar. Um nach Hamilton zu kommen,

nutzen wir ein Boot, glaube ich. Eines

Abends waren wir tatsächlich zusammen in

einer Diskothek tanzen. Der sportliche und

lebensgewandte Restaurant-Manager begleitete

Lars und mich. Er hatte seinen freien

Tag, zog scheinbar gern mit den Youngsters

aus Germany los, während unser alter Hans-

Jürgen auf seiner „Capella“ blieb. Mir wurde

schnell klar, dass ich mich in der Disco nicht

wohl fühlte, und ich nutzte die kleine Fähre,

den Abend vorzeitig zu beenden. Ich weiß

noch genau, wie ich damals, das ist nicht

lang nach meinem Studium gewesen, Anfang

der Neunziger, immer gekniffen habe, wenn

es nachts was zu unternehmen gab. Mein

Mitsegler und dieser Fremde hotteten die

ganze Nacht ab und machten später (als ich

längst auf der Yacht schlief) noch ein Mädchen

klar?

Party, was mit Leuten unternehmen? Ich

stand nur daneben, das war immer so. Dieser

Mâitre d’ Hotel zeichnete sich, wenn er

im Hoteldienst beschäftigt war, durch eine

exzellente Zuvorkommenheit aus. Saßen wir

mit Hans-Jürgen am Tisch, und in der Nähe

waren vielleicht einige weitere Gäste mit

dem Frühstück beschäftigt, stand der Ober

gern einige Meter entfernt. Gut möglich, er

räumte etwas im Betrieb auf. Der bermudabritisch

korrekt gekleidete Head-Waiter sprach

mit einem Gast, richtete Geschirr auf einem

Tisch an? Dann genügte eine unter Umständen

nur zufällige Bewegung mit dem Gesicht

in seine Richtung, dass er seine Tätigkeit aber

auch sofort unterbrach. Er schaute dich im

selben Moment an; man konnte ihn nicht beobachten,

ohne dass er blitzschnell reagierte,

eventuell fragte, ob man etwas wünschte.

Dabei war dieser Profi nicht unnötigerweise

überaufmerksam. Er checkte nur ab: Muss ich

zum Gast? Es ist das einzige Mal in meinem

Leben gewesen, dass ich jemanden wüsste,

der das beruflich auf diese extreme Weise so

exakt und kontrolliert hinbekam. Es gelang

ihm scheinbar ganz leicht. Sein einstudiertes

Training war in Fleisch und Blut übergegangen.

Der war sympathisch und immer bereit.

Es ist normalerweise ein Zeichen des unsicheren

Menschen, der sich auf neurotische

Weise beobachtet fühlt. Die schauen dich

ständig an, wenn du in ihre Richtung siehst.

Das war hier anders: Dieser Chef vom Dienst

war extrem souverän und selbstbewusst. Er

war beruflich dienend perfekt und nicht ansatzweise

unterwürfig, ganz im Gegenteil.

Was bedeutet es, wie fremdgesteuert auf das

Drumherum fixiert zu sein? Menschen achten

ständig auf mögliche Dislikes oder bleiben

in sich ruhend gelassen. Ein Problem unserer

Zeit, wo alles dargestellt wird, gepostet.

Das gab es damals noch nicht, wohl aber im

Alltag selbstbewusst auftretende Menschen,

und die unsicheren gab es auch schon immer.

Ich bin sehr unsicher gewesen, unreif

und habe es überspielt, nicht gewusst, dass

ich’s tat.

# Selfexecuties

Ich komme mit dem Bild voran. Ich habe es

nicht eilig. Ich übertrage nach

meiner Vorlage. Zunächst

zeichne ich das ab. Dann verfestige

ich diese Kontur mit

einem kleinen Pinsel und

dünner Farbe. Anschließend

beginne ich, grob zu malen,

schließlich werde ich genauer.

Ich habe einen Plan. Ich werde

die drei Mädchen relativ exakt, eine nach der

anderen, auf die Leinwand übertragen. Wenn

die Figuren isoliert stehen, verbinde ich die

Flächen im Hintergrund, male die Räder der

Wagen, Schienen und Details. Auf diese Weise

wird Chaos auf der Fläche vermieden. Es

ginge auch anders. Es ist meine Entscheidung

für genau dieses Bild, es so umzusetzen.

Viele Wege führen nach Rom heißt es,

und so ist auch ein Bild zu malen eine Reise.

Du kannst zu Fuß pilgern,

oder im Reisebus den touristischen

Konzepten einer

Gruppe folgen. Es gibt kleine,

entspannte Ausflüge und

haarsträubendes Survival,

Scheitern in der Kunst, beim

Versuch, eine Leinwand in

eine gelungene Darstellung

zu verwandeln. Mal

arbeite ich so, dann wieder

ein wenig anders. Es gibt

Gründe. Bei dem Bild mit

dem Floß musste ich es anders

machen, weil mir das

Wasser als Vorlage fehlte.

Ich hatte keine Lust gehabt

und auch keinen Sinn darin

gesehen, das Meer auf die

Welle genau schon vorher

am Computer zu entwerfen.

Bei diesem Bild arbeite ich

konkret, entsprechend der

digitalen Komposition. Ich

denke, die eigentlichen Absonderlichkeiten,

die es jedes

Mal gibt, wenn sich die

ursprüngliche Idee wandeln

muss, habe ich bereits in der

Skizze erlebt.

Ein Leben ohne Liebe, Romantik

und tiefe Gefühle,

das muss doch möglich sein! Es kann wohl

nicht sein, dass wir Tag für Tag einer Vision

nachjagen. Das Geschenk und dazu die passende,

stoische Einstellung, von einer tödlichen

Krankheit innerlich zerfressen zu werden,

nun gelassen abzuwarten, bis kein Arzt

der Welt einen noch therapieren kann, wird

den wenigsten zuteil. Die See soll uns aufnehmen,

das Hochhaus möge einen Sprung

ermöglichen und die Bahn tötet zuverlässig

mit tonnenschwerem Gerät und hochgespanntem

Strom, oder wir saufen. Auf Probe

leben, bis zu leben gelingt? Oder: Mutprobe

ohne Hose. Das geht mir durch den Kopf,

wenn ich dieses Motiv fassen will! Was hilft

es, zu lieben, wenn nur Gleichgültigkeit und

Verarsche unser Gegenüber ist auf diesem

Planeten? Da ist kein anderer Stern in Sicht,

nur Finsternis.

# Mutig in die Extreme

Ich probiere etwas Unmögliches, glaube ich.

Das Thema ist aus einer bildhaften Erinnerung

in Gang gekommen, die sich dann zu einer

Idee formte, schließlich konnte ich nicht

geradlinig zu Ende komponieren und habe

akzeptiert, was jetzt entstanden ist. Farben,

Formen und eine geradezu unmögliche Kombination

von Inhalten.

Mich beschäftigt, wo

Dinge sind, Bildelemente

sind Teil formaler

Richtungen für das

Auge; ich male kein

vorhandenes Foto ab,

das es gibt und muss

alles erfinden. Ich

male nach montierten Fotos in einem neuen

Zusammenhang. Es geht also, grob beschrieben,

um drei junge Frauen. Sie sind einigermaßen

nackt, und wir können annehmen, das

sie sich dabei fotografieren. Handys werden

später herumwirbeln, Schuhe. Die Szene ist

eine Art Bühne. Ich möchte einen künstlich

eingefrorenen Moment schaffen.

# Tödliches Blitzlicht

Der Raum und Boden der Darstellerinnen

in einem absurden Spiel

bildet sich aus den Plattformen am

Wagenende zweier Güterwagen. Im

Hintergrund ist dunstige Wiesenlandschaft

am Abend. Man sieht einen

Oberleitungsmast und ein zweites

Gleis. Links und rechts wird das Arrangement

durch die Stirnwände der

Container gerahmt. Ich möchte eine

Inszenierung, kein reales Unglück

abmalen, sondern ein künstliches

Konstrukt schaffen. Die Elemente

gestalten eine emotionale Bindung

aus Farbformen und Gegenständen,

können bestenfalls das Auge des

Betrachters fantasievoll führen. Eine

Achterbahn mit Horrorstationen, eine

Jahrmarktpsychose, die recht hübsch

gemalt sein soll, das schwebt mir

vor. Im Entwurf ist bereits ein Symbol

auf einer Seite des Güterwagens

integriert: „Lebensgefahr auf dem

Waggon durch Hochspannung“. Aus

kompositorischen Gründen lasse ich

den überspringenden Lichtbogen in

den vergleichsweise niedrigeren Teil

knallen, wo sich die Frauen befinden.

Ich möchte diese fiktive Bühne

haben. Das ginge nicht, würden sie

oben auf den Güterwagen klettern,

wo es ja tatsächlich vorkommt, das

Jugendliche getötet oder schwerstverbrannt

vom überspringenden Strom erwischt werden.

Ich habe mir gesagt, das feuchte Wetter

macht eventuell möglich, glaubhaft werden

zu lassen, was ich zeigen möchte. Obwohl sie

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 72 [Seite 71 bis 74 ]


unten sind. Es ist auch ganz gut, dass alles

wie ein absurdes Theater dargestellt ist. So

können wir als Betrachter denken, dass es

nicht wirklich passiert. Es ist dann ähnlich

dem Pictogramm, nur ein Bild und nicht ganz

wahr.

# Kunst muss nicht real sein

wollen

Ich frage mich, warum wir

immer eilen? Das gehört

dazu, zu beschreiben, wenn

ich in Worten sagen möchte,

wie diese Idee sich verselbstständigte.

Es wäre

möglich gewesen, eine Erinnerung

an einen bestimmten

Moment, den verstörenden

Blick – hier breche ich ab. So

angesehen zu werden, dass ich es nie mehr

vergesse, als exaktes Bild, so, wie und wo das

einmal war, zu malen? Das schaffe ich gerade

nicht. Deswegen ist diese überladene Kunstsituation

zu meiner Szene geworden. Ich

kombinierte also weitere Gedanken hinein,

die mir in der Arbeit an der Skizze in den Weg

ragten wie Stolperdrähte. Ich möchte deswegen

eine synthetische Szenerie entwickeln.

Das Drängen, Protzen und Angeben mit dem,

was einer mit jemandem machen kann – der

schließlich nicht aus der Situation kommt,

ohne zu reagieren. Das ist so ein Stolperstein.

Ein Gedanke musste beachtet werden. Das

hat mich zum modernen Tand gebracht, als

ein Element, die gewünschte und leider nötige

Synthese zu entwickeln.

# Selfie

Du wirst nicht umhinkommen, etwas zu tun,

wenn man es dir aufzwingt. Das Tempo deines

Lebens wird fremdbestimmt sein. Auf

manches müssen wir eine Antwort finden.

Und sei es, den anderen zu ignorieren. Man

erlebt es beim Autofahren. Das kann jeder

beobachten, beispielsweise als unbeteiligter

Fußgänger von außerhalb der Fahrbahn. Da

fahren oft zwei Autos zusammen. Das vordere

Fahrzeug hat ausreichend Abstand zum

Verkehr, mehrere Längen oder hundert Meter,

je nachdem wo das geschieht,

in der Stadt oder

außerhalb. Dem Wagen

klebt ein zweiter hintendran,

der nicht genügend

auf den Abstand achtet.

Das ist entweder unbewusst,

dann düngern

diese einander Fremden

imaginär verbunden

vorwärts, und der zweite

überholt nicht – obschon

das naheliegend wäre.

Oder der hintere Wagen

drängt noch heftiger, und

das geschieht bewusst

nach der Methode: „Platz

da, Idiot!“ So einer wird

eventuell überholen.

Aber es gibt auch blöde Opas, die drängen

dich und überholen nie. Sie möchten nur,

dass du tust, was sie wollen. Sie probieren

gar nicht, schnell zu fahren. Sie ärgern andere

prinzipiell, benötigen ihren Zorn, damit sie

nicht merken, dass sie demnächst ohnehin

altersbedingt sterben werden. Dumme Rentnerärsche,

wohlstandskrank im Benz unterwegs

sind typisch.

# Der Rollator wartet schon …

Das haben wir im Supermarkt an der Kasse.

Erst durch die Pandemie wurde der Abstand

erzwungen, der die Situation entspannt.

Aber nicht immer. Bei Warteschlangen vor

dem Bäcker, der coronabedingt nur

zwei Kunden innen erlaubt oder vor

der Bankfiliale gibt es gelegentlich

Streit. Manche können nicht warten.

Es wurde ein Wort erfunden:

„Entschleunigung“. Wir wissen nicht,

wie man es anwendet? Was ist der

Grund, dass wir eilen um des eilens

willen? Nur zu oft ist es Gewohnheit,

ja Zwang. Das heißt, wir könnten die

Dinge langsamer machen, die Gründe

warum’s pressiert sind nur vorgeschoben.

Es ist ein Machtkampf,

andere zu bedrängen. Wenn es uns

gelingt, andere zu scheuchen, löst

das Befriedigung aus, ich gewinne Zeit und

Stärke – das ist der Grund?

möglichen Vater,

ihrer bislang nur

erträumten Kinder.

Wer kann das sein?

Die Eroberung der

Angebeteten, wird

Warum leben wir in Beziehung; es ist nicht

der Sex allein, wir möchten Familie und einiges

mehr. Um diesen Zustand zu formen, müssen

wir eine Partnerin finden, sogar rechtzeitig,

im Sinne der

gesellschaftlichen

Erwartungen, die

uns eventuell unter

Druck setzen. Und

Frauen wünschen

sich den ganz bestimmten

Mann,

gelegentlich genannt,

was nun passiert. Die Frau suche in

Wahrheit den Mann aus, halten welche dagegen.

Gekränkte Eitelkeit nagt oder explodiert

im Zurückgewiesenen, wenn die Versuche, jemanden

für sich zu gewinnen, scheitern.

Und hier kommt tatsächlich ein Zeitfaktor

ins Spiel. Wir sehen diesen Zusammenhang

zunächst kaum bewusst. Aber dass unser Leben

endlich ist, spielt eine Rolle dabei, möglichst

viel in bestimmter Zeit zu erreichen.

Ein „neues Leben“ möchten einige beginnen.

Es sei nie zu spät für einen Neuanfang, meinen

welche; das ist Unfug. Es klingt wohl

absurd zu sagen, die Angst vor dem nahenden

Lebensende lässt den Menschen hasten,

rasen, eilen und drängen? Ein junger Mensch

glaubt, das Leben vor sich zu haben. Wir

rechnen unsere Zukunft aus und beurteilen

die Erwartung, was noch kommen wird mit

zwanzig entsprechend. Dazu passt

das ganze Gebaren, was Menschen

so tun, um zu wirken; Selfies sind

ein Teil dieses Prozedere. Und eine

gefährliche Umgebung zu nutzen,

etwa ein Bild von sich in einem

kleinen, natürlichen Pool in den

Bergen zu fotografieren, dessen

Wasser sich hunderte Meter in die

Tiefe stürzt und einen mitreißt bei

einem winzigen Fehler, ist anerkannt

bei vielen.

# Das will ich auch: Dabeisein

Jetzt gebe ich zu, dass ich gern

nackte Frauen ansehe. Ich mag

auch erotische Gewaltdarstellungen.

Das Internet macht es einfach.

Google genügt, um zu begreifen: Ich bin nicht

der einzige. Da sind auch Frauen dran beteiligt.

Sie sind ja die Hauptpersoninnen dieser

Fotos, und insofern verwundert die Klage,

Männer seien auf eine fiese Weise sexistisch.

Wir dürfen annehmen, dass nur ein Teil der

Pornobilder unfreiwillig aufgenommen wird.

Das weiß ich ja nicht beim Schauen, wie’s

zuging, ob das ein Theater ist oder die böse

Realität im Rape.

Vorsicht! Die Kombination bestimmter Themen

verbietet sich von selbst.

Kunst muss Falsches zu Wahrheit machen,

wenn mir meine Gefühle zeigen, dass pauschale

Konventionen lügen. So kombiniert,

entsteht die alternative Wahrheit, bis das Motiv

kreativ überzeugt und andere es akzeptieren.

Wenn peinlich ist, was jemand tut, dem

wir für gewöhnlich gern folgen, werden wir

uns fremdschämen und die öffentliche Beziehung

beenden. Innerlich verstörend wird das

Band aber fortbestehen und der bekannte

Verdrängungsprozess beginnt. Für den Kreativen

bedeutet diese Erfahrung, abgestoßen

zu werden vom Ganzen, umzukehren und der

Gesellschaft nachzulaufen oder die eigene

Insel der Glückseligkeit nun allein weiter

zu suchen. Ein Gemälde soll den Betrachter

auf die Reise durch emotionale Handlungsstränge

mitnehmen. Sie gehören

scheinbar nicht zusammen, bekommen ihren

Sinn durch die gemeinsame Betrachtung

in zeitlicher und räumlicher Nähe, die

eine Leinwand schafft. Die Pfade, denen

wir mit dem Auge folgen, ging der Maler

im Geiste bei seiner Arbeit. Einige dieser

Wege lassen sich parallel zum Malprozess

auch schriftlich fixieren.

# Das offene Atelier

Das gehört dazu: Mir war nicht wirklich klar,

was den Widerstand im Dritten Reich kennzeichnet,

obwohl es unterrichtet wurde und

jeder sich umfangreich informieren kann.

Das gebe ich zu. Natürlich habe ich von Anne

Frank gehört. Im Regal bei uns steht ein schmaler

Band, „Tagebuch Anne Frank“. Das hat

meine Frau mit in die Ehe gebracht. Vielleicht

hat sie das gelesen?

In einer Erzählung, in einem dicken, langen

Roman gefällt es dem Schriftsteller, verschiedene

Handlungsstränge zu verfolgen,

die dann schließlich in einem fulminanten

Höhepunkt der Story zusammenkommen. Oft

nimmt der Autor die übergeordnete Rolle eines

unabhängigen Erzählers ein. Der Schreibende

führt uns an verschiedene Schauplätze.

Er beleuchtet erst die Wege und Motive

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 73 [Seite 71 bis 74 ]


Angst und Sexualität malen? Mein Thema,

das ist Porno, und die Frauen sind unfreiwillig,

aber absehbar tot, entstellt mindestens.

Das Bild zeigt unabsichtlichen, gemeinschaftlich

provozierten Suizid. Der „tragische

Unfalltod“, das kann wohl nur sein, wenn ein

Bahnarbeiter im Job vom Strom erwischt

wird. Die scheinbar alles erklärende, verbalisierende

Welt macht es sich gern leicht. Was

haben Jugendliche auf den Wagen verloren?

Und die Flut von Nacktbildern heute verstört

Ältere. Das Schimpfen, Ermahnen und nach

mehr Sicherheit rufen erklärt nicht die Motive

der untereinander Verstrickten im Netz.

Ein gemaltes Bild kann, wie eine Sequenz im

Traum, eine andere, umfassendere Sicht bieeiner

Person, dann die Linie der anderen Protagonisten.

So geschieht es im Film, im Theaterstück,

und so kann man auch zu einem

einzelnen Bild gelangen, mit verschiedenen

Emotionen, deren Synthese ein absurdes,

formal interessantes Farbgeflecht bildet. Die

Logik, nach der wir die Fläche mit den Augen

abtasten, folgt unserem Instinkt. Provozierte

Blickführung in der Kunst spielt mit typischen

Sehgewohnheiten und natürlichem

Verhalten. Ob ein Betrachter auf Helldunkel,

dynamische Richtungen und Farbgegensätze,

Grenzen reagiert, wird zur Basis von Harmonie

und Spannung. Das zweite Gleis unserer

Motivation, warum wir Dinge anschauen, ist

unsere emotionale Bewertung, eben nicht

nur der Farbstimmung; Themen und intellektuelle

Inhalte der abgebildeten Objekte

spielen eine Rolle, ob wir uns für etwas interessieren.

In der Malerei haben wir nun die

Möglichkeit, realistische Abbildung auf eine

abstrakte Weise im absurden Zusammenhang

zu kombinieren und eine individuelle Realität

zu schaffen.

# In diesem Jahr war ein Sophie-Scholl-Erinnerungsdatum

Die Widerstandskämpferin wäre jetzt einhundert

Jahre alt geworden? Gestern kam eine

N3-Reportage, eine 101-jährige alte Dame

badete an der Holzbrücke in der Förde bei

Kiel. Dabei hätte Sophie sein können, wenn

sie nicht unter dem Fallbeil der Nazis getötet

worden wäre. Man konnte nicht daran vorbei

lesen – in diesem Frühjahr. (Markus Söder

machte einen Kniefall). Der Bruder Hans wur-

de auch erwähnt, er starb zur selben Stunde.

Und wie ich eben auf Wikipedia gelesen

habe, waren sie zu dritt, die für uns gestorben

sind. Die weiße Rose.

Warum habe ich auch in diesem Jahr keine

Notiz vom Bruder Hans Scholl genommen?

Und vom Christoph Probst hatte ich noch nie

etwas gehört.

# „Der Volksgerichtshof verurteilte am 22.

Februar 1943 im Schwurgerichtssaal des

Justizpalastes in München den 24 Jahre alten

Hans Scholl, die 21 Jahre alte Sophia Scholl,

beide aus München, und den 23 Jahre alten

Christoph Probst aus Aldrans bei Innsbruck

wegen Vorbereitung zum Hochverrat und

wegen Feindbegünstigung zum Tode. Das

Urteil wurde am gleichen Tag vollzogen.“ (Wikipedia).

Es sind die Bilder von der jungen Frau, die

niemand vergisst, und die bekannten, tapferen

Sätze. Das kann keiner aushalten, und das

macht gerade sie zur Ikone.

Es trifft ins Herz.

Wie primitiv muss der Maler denken, das hier

zu vermischen?

Denkt, was ihr wollt: seid Follower, Mitläufer

irgendwo.

Einige Fotos von Sophie sind leicht abrufbar,

und manches kam im Boulevard. Ich gebe es

zu, ich lese die BILD am Sonntag. Ich besitze

keine nennenswerte Geschichtsliteratur. Ich

mag das gar nicht schreiben: Ich habe das

Gesicht ständig vor Augen, wie diese Studentin

uns ansieht. Da ist einmal ein undramatisches

Gruppenbild, jeder kennt es. Am

Schlimmsten berührt mich das vermutlich

erkennungsdienstlich gemachte, dreifache

Porträt, das man findet, wenn man googelt.

Ich sehe, was der Gefangenen bevorsteht,

wenn ich glaube zu sehen, was sie denkt. Jemand

hat diese Kamera betätigt. Jemand hat

das Fallbeil niedersausen lassen. Könnte ich

das tun, wer wird Henker von Beruf?

Und ich kenne diesen Blick, die Angst, sah es

genau so selbst schon bei einer lieben Freundin

– in banaler Situation scheinbar. Das verstört,

und das Begreifen kommt spät, zu spät

um die Dramatik zu erkennen, einzugreifen.

Wir denken: Nazis, das war früher? Geschichte,

und heute sind wir klüger, meint man. Aber

der Tod ist damals nicht gestorben. Und die

Angst auch nicht.

# Ich habe jeden Boden des Anstandes verlassen?

ten. Denkschubladen machen es einfach, aber

sie sind nur eine Erklärung der Realität, nicht

die Wahrheit an sich. Wie und warum ein absurdes

Bild seinen Sinn bekommt, kann ein

Text nur bruchstückhaft wiedergeben. Sich

noch daran aufgeilen, wie krank ist das denn;

wie ist es möglich, ein Bild zu kreieren, aus

diesem ekligen Konglomerat von Emotionen?

Darum habe ich das begonnen. Weil ich

sogar glaube, dass unsere Realität auf diese

Weise stimmt – und was allgemein gesagt

wird, ist unehrlich. Üblich ist, unangenehme

Gefühle und atypische Kombinationen, übergreifende

Querverbindungen des Denkens zu

maskieren. Bei Empfindungen, die niemand

wahrhaben mag, fürchten wir, machte man

sie öffentlich, von den anderen abgestraft zu

werden. Alle wollen nur positiv wirken.

Und ich denke: des Kaisers neue Kleider, aua.

Ich empfinde das normale Tagesgeschehen

als verstörend. Gerade wird wieder eine uralte

Frau vor Gericht gestellt in Itzehoe. Die

habe Akten im KZ sortiert oder so. Das lese

ich nicht mehr. Nach Jugendstrafrecht wird

ihr Fall verhandelt. Sie sei, als die „Taten“

begangen wurden, nicht volljährig gewesen.

Man muss Jurist sein, so zu denken. Christus

stürze vom Kreuz.

# Ich morde auf der Leinwand aus Überzeugung,

lebe im normalen Irrenhaus

Ich habe noch dieses Lied im Ohr, der Major

Tom im Weltall. Warum driftet seine Kapsel

weg? Es scheint, als löse sich der Astronaut

mutwillig ab. Er „zerstöre das Projekt“, wie es

im Text heißt, und das Ende bleibt offen.

„Mir wird kalt.“

Was wäre, wenn ein Raumflieger vom Kurs

abkommt und nichts dafür kann? Er biegt

ab, wie die Voyager-Satelliten Schwung holten

am Jupiter. Ein Astronaut verlässt das

Sonnensystem, weil’s ihm unausweichlich

geschieht. Verpatztes Billard. Eine spontane

Begegnung, das Schicksal selbst ist schuld.

Die Leere ausserhalb der bekannten Bahnen

wäre unfassbar. Nur zwischen Galaxien ist es

noch um ein Vielfaches einsamer? Die Zeit

würde vergehen, es käme dem Flieger endlos

vor, nie mehr trifft er auf andere. Sein Bruch

mit der Vergangenheit ist unumkehrbar. Der

Tod ist ewig. Der Horizont steht fest. Die Aussicht

darauf, später dem Mâitre d’ Hotel in Hamilton

oder anderswo zu begegnen, sich ein

Zimmer im Paradies zu nehmen, geschweige

denn eine süße Alien irgendwo da draußen

zu finden, gibt es nicht.

Ich habe nachgedacht. Es kommt eine Zeit im

Leben, da ist es zu spät für Liebe.

Fernsehen, in die Ferne schauen, Zukunft –

was ist das? Gestern die Alte, in der Seebadeanstalt

Holtenau, wie sie ins Wasser klatscht,

wo sie bereits als Kind gebadet hat. Als ich’s

sah, wusste ich wieder genau, warum ich dieses

beknackte, absurde, kindisch blöde, verbotene

Bild malen will.

Ich bin doch nicht bescheuert.

:)

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 74 [Seite 71 bis 74 ]


Veränderung im Volksgemurmel

Jul 29, 2021

Niemandem ist geholfen, eine überschäumende

Glosse mit wiederkehrenden Erzählfragmenten

zu lesen, das weiß ich schon. Aber

zu schreiben hilft dem, der es tut. Jedes Jahr

wiederholen sich Wetterperioden, das ist auch

neu und vertraut zugleich. Ein gefährlicher

Beigeschmack hat sich in die Beobachtung

der Extreme, unser Schietwetter eingeschlichen?

Das Vertrauen ist erschüttert: Es gibt

sie wirklich, die Klimakatastrophe. Da wechselt

die mediale Angst zwischen der Pandemie

und der neuen Bedrohungslage am Himmel

hin und her. Die moderne Sintflut wird

nicht vom queeren Regenbogen gestoppt.

Das ist kein Thema für einen Schlagermove.

Spaßgesellschaft war gestern, Kanzlerkandidat

Laschet hatte seinen Fettnapf. Niemand

lacht ungestraft angesichts der Katastrophe.

Es sei denn, unbemerkt vor dem Fernseher zu

Hause? Aber keiner pupt noch ungehört. Das

soziale Ohr wächst aus jeder Alex, die es hinausträgt

zu besseren Menschen, die sich gern

daran weiden. Das kollektive Netz wird eng.

Wir stricken uns eine Solidaritätsschlinge,

hängen uns rein, machen den Sack zu.

Harmlos waren die Klagen früher: „Wann

wird’s mal wieder richtig Sommer“, fragte

seinerzeit unverwechselbar der beliebte Entertainer

Rudi Carrell; und heute jammern

manche, wie lange es dauern mag, bis alles

wieder so ist wie vor der Pandemie? Musik

hilft immer. Jazz etwa, ist eine Inspiration,

weil diese Musik sich mit jedem neuen Spiel

erfindet wie eine gute Kunst auf der Leinwand.

„What’s New?“, ist ein Standard. Eine

rhetorische Frage! Neue Probleme und neue

Antworten sind Alltag. „The New Standard“,

heißt ein Album von Herbie Hancock. Und

auch im schönen „There’ll Be Some Changes

Made“, weist ein alter Titel im Jazz von

1921 (ein „Standard“) darauf hin, dass es gelegentlich

Änderungen gibt in der Musik, der

Kunst, im Einzelnen und in der Routine einer

Gesellschaft; nicht zuletzt in Beziehungen

überhaupt.

Aktuell machen wir eine Phase des Umbruchs

durch. Klimadrama und Pandemie halten die

Gesellschaft in Atem. Das ändert alles im

Ganzen und auch Einzelne finden neue Wege

für sich. Es gibt kein Zurück. Was es mit uns

macht, hängt ab von unserer persönlichen

Situation. Menschen, die

sich nicht gegen Corona impften,

handelten unsolidarisch, meint

man neuerdings. Vor kurzem gab

es keine breite Mehrheit für diese

Ansicht. Das hat sich geändert.

Etwa die Hälfte der Bevölkerung

ist geimpft. Diejenigen, die weiter

beschwören, es würde auch zukünftig

keine Verpflichtung dazu geben,

wirken bereits bemüht. Wir sind

zu einigem verpflichtet, besitzen

beispielsweise einen Ausweis und

zahlen Steuern. Wir sind in Solidarität

verbunden, die Verkehrsregeln

einzuhalten, und viele ignorieren

das. Alle sind aufgefordert, den Müll

korrekt zu entsorgen, aber es liegt ständig

Abfall auf den Wegen. Egomanisches und unsolidarisches

Verhalten ist ganz normal. Wir

benötigten den Staat und die Polizei nicht,

hielten sich alle an das, was richtig ist. Darüber,

was das ist, kann zudem noch gestritten

werden.

# Das ist unsere moderne Freiheit

Sich eine Spritze geben zu lassen, mit etwas,

dass man nicht möchte, ist einfach zu verhindern.

Kein Arzt setzt das Ding mit Gewalt an,

und der widerspenstige Bürger würde von

Helfern festgehalten, sie kommen mit der

Polizei zu dir nach Hause? Nein, so ginge es

nicht. Käme die Pflicht, sich impfen zu lassen,

müssten neue Gesetze geformt werden. Ein

Streitthema! Aktuell wird gern von der Impfpflicht

durch die Hintertür gesprochen, wenn

es um mehr Freiheiten für Geimpfte geht, und

genauso würde die gesetzliche Impfung auch

vorgehen, nur umgekehrt: Freiheitsentzug

oder alternative Strafen drohten denen, die

es nicht machten.

Es müsste eine rechtliche Grundlage geschaffen

werden. Das bedeutet, was heute Unrecht

ist, muss zum Richtigen umerklärt werden.

Dem dürften sich einige Juristen und Politiker

vehement entgegenstellen. Fände sich

die Mehrheit doch, hieße es, wir seien Rechtsstaat

und die Chinesen beispielsweise nicht,

weil bei uns demokratisch die Gesetze geändert

worden wären. Eine Bewegung vom Volk

ausgehend? Dazu müsste eine Welle wechselnder

Stimmen, hin zur neuen Ansicht und

dem deswegen geänderten Regierungswillen

beobachtet werden, die reflektiert zeigte,

wir wollten es selbst so. Letztlich würde

der Beweis erbracht, dass Demokratie funktioniert.

Um so eine neue, alternative Wahrheit

zu schaffen, worin das Recht und damit

die richtige Weise sich zu verhalten besteht.

Eine ausgehandelte Pflicht kommt zustande,

indem die neue Ansicht durch überzeugte

Bürger in die Masse einsickert. Das hieße,

wir würden sehen, dass die Bereitschaft gegen

eine Impfpflicht zu demonstrieren, kleiner

würde, bis sie als Sand im Getriebe, der

hinzunehmen ist, übergangen werden kann.

Das müsste Grusel auslösen, bei denen, die es

gewohnt sind, gegen Atomkraft zu demonstrieren

oder Friedensmärsche planen. Viele

haben schon zurückstecken müssen.

Frontal mit der Spritze in der Hand, kommt

mir kein Arzt ins Haus. Erzwungene Herdenimmunität

mittels Impfung hieße, man

gängelte die verstockten Böcke, schließlich

selbst hinzugehen. Erst kostet der Test, dann

verlierst du den Job. Steht das neue Recht

endlich, droht Ungeimpften die Geldstrafe,

zum Schluss tatsächlich das Gefängnis. Wer

auf dem Weg dorthin noch weiter ausflippt,

den steckt man in die Klappse. Und dort

kommt der Knackidoktor tatsächlich mit

seinen Schergen. Die Unfreiheit marschiert

immer erst durch die Hintertür. Schleichende

Einbrecher mutieren zu eloquenten Sozialarbeitern.

Geschulte Berufsredner manipulieren

aus dem guten Grund, nicht hinter die

stramm gelenkten Demokratien der anderen

zurückfallen zu dürfen, mit unserem zerstrittenen

System. Der Altkanzler mahnt zu Recht,

man dürfe nicht ständig die bösen Staaten

belehren: „Mit wem soll Deutschland dann

noch Handel treiben?“, fragt Gerd Schröder.

Schimpfen und anprangern sei falsch, endlose

Diskussionen stören die gesunde Funktion

einer Gesellschaft, meinen nicht wenige.

Politikprofis müssen uns einnorden, damit

Deutschland weiter funktioniert. Sie treten

im Fernsehen auf, kommen bald wie Drücker

an deine Haustür. Auf „die Rente isch sicher“,

folgt „Impfstoffe sind sicher“, bis das Vieh

in blökender Herde ausreichend willig zum

Schlachter läuft. Hier und da noch knüppeln,

ist die neue Partei oder Meinung etabliert,

schlägt das Gewaltmonopol endlich frech

von vorne zu. Die hässliche Fratze Staat.

Der Vorwurf, unsolidarisch zu sein, ist zunächst

ein verbaler Angriff. Das ist das Gegenteil von

Motivation, die auf eine positive Weise andere

mitnimmt. Eine Drohkulisse unterstützt

die Mahner. Wir leben noch immer, wie schon

zur Zeit der Nationalsozialisten oder als eine

Meute forderte, Jesus zu kreuzigen, in einer

Gesellschaft der Mitläufer. Dieses Wort war

verpönt, als ich jung war. Heute ist das englische

Follower etabliert. Justiz ist anstelle

von Lynchjustiz getreten, und das Recht gewährt

dem Angeklagten einiges. Strafen fallen

geringer aus, als es der Mob verlangt. Der

Einzelne ist aber nach wie vor aufgefordert,

Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 75 [Seite 75 bis 79 ]


etwas aus seinem Leben zu machen, den Sinn

zu suchen, Bewusstheit zu entwickeln, mitzulaufen

oder gegenzuhalten. Nur der Rahmen

ist detaillierter, das gesellschaftliche Netz ist

dichter. Das gibt stützenden Halt und andererseits

bedeutet es Bindung, die unsere Freiheit

begrenzt. Wir tragen den Colt nicht offen

im Holster. Dass wir bessere Menschen seien

als frühere, die Hexen noch verbrannten, meinen

welche. Jedenfalls ist es uns schwieriger

gemacht worden von

denen, die es mitansehen

mussten. Wir

erbten den demokratischen

Staat.

Heute sitzt manche

Hexe oben im Rathaus;

wir schmeißen

kraftlos einen Farbbeutel

dagegen. Gut

und Böse sind nicht

abgeschafft in der

Moderne, die Rollenverteilung

ändert

sich, das ist der

Fortschritt.

Googelt man es mit

dem Übersetzer,

kommt als Antwort

eine zweifache auf

deutsch. Links, im

englischen Bereich,

frage ich: „Follower?“

Es erscheint: „Anhänger“ bzw. „Anhängerin“ in

der maskulinen und femininen Form erklärt

als Übersetzung. Anhänger*Innen hängen

sich dran, sie laufen nicht mit, sie werden

mitgeschleift oder gezogen im Wagen. Dafür

ist kein eigener Antrieb vonnöten, nur der

feste Griff nach dem Stern.

Ich erinnere (etwas abschweifend) an dieser

Stelle meinen Vater. Er war der Auffassung,

„Deutsche“ seien obrigkeitshörig und verwies

gern auf den Film „Der Hauptmann von Köpenick“.

Nun war es nicht eine Obrigkeit, die

unsere Sprache verdoppelte. Das Gendern

hat sich vom kurzen Rasen, flach am Boden

des rasenden Weibervolkes, hochgearbeitet.

Vorbei an der Gras- und Blinddarmnarbe, den

wegrasierten Schamhaaren der missachteten

Frauen, die wie kleine Mädchen aufgeilen

möchten? Und doch respektiert sein, wie erwachsene

Königinnen und richtige Männer

in der echten Wirtschaft. Es durchströmt das

Wollen der Weiber, die blauen wie roten Arterien

aller Geschlechter.

# Da rinnen Reden durch Regen und Regenrinnen

in kanale Tuben, treiben verbale Motore

und Moderatorinnen, virale Wortungethüme

zu spucken ...

Ein Sprachunkraut gilt jetzt als Zierpflanze.

Aber mein Vater (in memoriam) liefert auch

hier die Antwort. Die Deutschen hätten sich

Adolf Hitler selbst gewählt, betonte er oft.

Erich hatte erfahren, dass nicht ein Böser

allein schuld gewesen ist, wie man es mich

in der Schule lehrte. In den Siebzigern verurteilte

man die Altnazis nicht. Erst die

fünfunddreissigjährigen Staatsanwältinnen

von heute, sie greifen durch und suchen die

letzten Überlebenden heim, sie gerade noch

rechtzeitig anzuklagen. „Mutig gegen Extremismus“,

schreibt die brave Abiturientin ein

Buntstiftessay nieder, ohne erfahren zu haben,

was weh tut. Gut und besser ist die junge,

juristisch gewiefte Frau heute, die noch

eine Oma wegsperren kann.

# Mitlaufen

Es ist wohl so, dass ein Verhaltenskodex ganze

Gruppen erfassen kann und diese nun Mitschnackerqualitäten

entwickeln, die nicht nur

rechthaberisch sind, sondern zu Recht und Gesetz

geformt, wirklich Druck machen. Eine latente

Bereitschaft, den Nachbarn zu gängeln,

wenn es einen verbalen Hebel dafür gibt, ist

typisch bei uns. Kleine, harmlose Änderungen

kommen sowieso vor. Ein schleichender Prozess,

auch in der Sprache, ist ja nicht grundsätzlich

schlecht. Alles ändert sich, und das

ist auch gut so. In diesem Zusammenhang ist

es vielleicht (weiter schweifend) interessant

zu erwähnen für nicht Maritime, dass während

meiner Jugend alle Bücher, in denen das

Kap Horn beschrieben wurde, dieses nun neu

und anders als in älteren Ausgaben als Kap

Hoorn bezeichnet wird. Das wiederum regte

meinen Großvater auf. Er hatte ein Problem

und Diskussionen im Verlag bei seinem Titel

„Mit der Pamir um Kap Horn“, den er nicht verhunzt

haben wollte. Die ganze Welt schriebe

es mit einem „o“, nur wir Deutschen würden

so ein Geschieß machen wegen der Holländer.

Es sei eine harte Ecke, segelnd schwer zu

schaffen, und der Seemann sage, er habe „die

Horn“ gerundet, the horn. „Hoorn“, namensgebend,

entsprechend der Stadt in den Niederlanden

aus der die Entdecker kamen, mache

es weich im Klang. Mein Opa rollte nun das

„r“ kurz und scharf,

stieß das Wort aus

wie eine Harpune.

Er machte gern

klar, wie das klingen

müsse: Horn =

hart. Mein Großvater

war nicht „in die

Partei eingetreten“,

als es alle machten,

und nicht nur das

habe ihm die Karriere

bei der Hapag

versaut, meinten

Angehörige.

Der vorauseilende

Gehorsam wäre

dem Deutschen typisch,

das Volk der

Denunzianten sind

wir? Erfinden Probleme,

wo noch keine

sind, entwickeln Vorschriften, die es nicht

braucht. Deutsche retten, wo es geht, das

Gute, sind es selbst. Da gibt es schnell den

Willi(gen), der darauf hinweist, jemand habe

Regeln gebrochen. Die Deutschen benötigen

zwei Worte, Bürger und Bürgerinnen, wir vereffen

die Schifffahrt dreifach korrekt in der

Mitte – bis wir uns unseren Turm zu Babel (in

Berlin) hin bauen? Und im anarchistischen

Zorn der wackelnden Demokratie preist sich

schließlich ein „Führer“ an, für Ordnung zu

sorgen, Klarheit zu schaffen. Alles wieder wie

früher, wo es noch richtig gewesen sei. Das ist

eine mögliche Zukunft.

Den müssen wir ja nicht wählen. Ich bin prinzipiell

unsolidarisch. Das hat sich erst entwickelt.

Ich gehe grundsätzlich nicht mehr

zur Wahl, bin zum dummen Nichtwähler

mutiert. Ich lasse mich nicht gegen Corona

impfen. Das bin ich ja nicht allein. Wir Verstockten

sind eine größere Gruppe, sollten

möglicherweise ernstgenommen werden wie

Menschen im Rettungsboot, die sich weigern

zu rudern.

Bequemlichkeit, der Vorwurf unsolidarisch

zu sein, was kann helfen? Eine Bratwurst geschenkt

im Impfzentrum, hat manche schon

überzeugt. Das habe ich in einem Beitrag

gesehen; typisch, dachte ich, als ich den

Mann hörte: „Er wäre gerade vorbeigekommen,

und man hätte ihm Grillwurst und Moderna

geboten; prima! habe er gemeint und

sich einen Ruck gegeben.“ Vielleicht ein von

Spahn bezahlter Statist? Eine Gefahr für das

System sind diejenigen, die nicht mitmachen.

Wie viele Menschen kann eine Gesellschaft

durchschleppen, die grundsätzlich bocken?

Mich hat eine persönliche Erfahrung mit dem

Staat abgebracht vom Pfad der Tugend. Es

bleibt nur zu maulen. Verachtung. Nie wieder

ein Wort mit dieser Frau wechseln, nie wieder

eine Politik, gleich welcher Couleur unterstützen,

und nie wieder eine Beziehung zu

einem anderen Menschen eingehen, die auf

Empathie, Vertrauen setzt. Das ist das Mindeste.

Was soll mir Zukunft und Erwartung

von visionären Zielen, wenn es ohne geht?

Ich bleibe für mich wie Diogenes in der Tonne.

Ich kann Freundschaften (und Ehe) führen

auf der Basis vom gegenseitigen Nutzen. Ich

verzichte auf imaginäre Kraft gemeinschaftlicher

Bande. Niemals romantisch sein ist

möglich. Freunde, Kunden, Vertragspartner:

Wann muss es fertig sein, was kostet es? Das

sind Fakten. Die kalte Welt. Ich bin Arschloch,

wie die in der Partei

oben im Turm und

ihre Freunde. Ich sehne

mich nach einer

Erkrankung, das restliche

Ende meines

Lebens abzukürzen.

Eine schwarzgetönte

Hochglanznelke

wachse aus meinen

Gebeinen. Ein Rest

wird aus der Zukunft,

wenn dich die Obrigkeit

ans Bein pisst.

Der Staat, das ist eine

Frau, die du kennst?

Dann halte Abstand.

Wir sehen in Tunesien,

dass es nicht so

einfach ist, aus einem

arabischen Frühling

eine stabile Demokratie

zu formen, erschrecken mit der Erkenntnis,

dass die Vereinigten Staaten einen

Trump empor brachten, getragen von breiten

Mehrheiten, sollten begreifen, dass auch Europa

und die Bundesrepublik Deutschland

nicht automatisch freie Gesellschaften sind.

Wir machen uns lustig über verschworene

Querdenker, belächeln den smarten Christian

Lindner bei seinen Dauermahnungen? Der

hätte mitregieren können und all das besser

umsetzen können, was er heute kritisiert. Wir,

die wir uns nicht impfen ließen, seien unsolidarisch?

So kämpfen die anderen verbal. Es

geht nicht darum, dass zu impfen gut oder

schlecht sei, oder dass eine Herdenimunität

nötig wäre. Es geht ums Mitlaufen mit den

Schafen in der Herde oder eben nicht. Wer

die Masse als solche sieht, wie ich, weil der

differenzierte Blick auf Einzelne nicht länger

möglich ist, kann nicht solidarisch mittun. Ich

nehme andere nicht mehr als zu respektierende

Individuen wahr, es sind noch „Personen“,

mehr nicht. Ich habe an Empathie verloren,

stelle Freundlichkeit und Humor nur dar,

weil es mir eingefleischt und automatisch

Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 76 [Seite 75 bis 79 ]


wie früher geschieht. Nett zu sein, ist meine

alte Hampelei, die bekannte Maske. Das geht

immer. Ich bin verändert. „Black And Blue“

andersherum. Schwarz ist mein Wesen, und

weiß bleibt meine Haut. Die Revulotion ist

innerlich.

Mit mir geht gar nichts mehr. Da ist kein Chor,

der mich noch als Bass bekäme. Mich schulen

dürfe, endlich verlorene Töne wieder zu

treffen, emotionale Saiten innerlich meiner

Seele anzuzupfen und herzlich Geselligkeit

schenken könne. Singt besser ohne mich,

Leute. Keine ehrenamtliche Vereinsarbeit

geht mit mir. Und kaum mal ein Treffen mit

Segelfreunden, das mich reizen könnte, nehme

ich an. Bald fragen sie nicht mehr. Ich

besuche keine Vernissage, gehe nicht zu Veranstaltungen.

Ich probiere niemals, Partner

für eigene Ausstellungen zu gewinnen. Ich

möchte keine Kooperation. Ich unterrichte

nicht, könnte spenden für dieses und jenes,

mache es nicht. Ich bin der unsolidarische

Bremser. Ich fahre Auto unterhalb

der vorgeschriebenen

Geschwindigkeit, 49 km

pro Stunde in der Stadt, 29

km (stumpf auf voller Länge)

in der langsamen Zone

vor der Kita. Jede gestresste,

typgerecht stylische, modern

und männermordende, frigide

Helikoptermutter, am Ziel

ihres Kinderwunsches nach

Plan angekommen, rotiert

schneller. Ziege unterwegs

im (vom sich abrackernden

Gatten finanzierten) Supersuv.

Ich nötige meine Mitmenschen

durch Einhaltung der

Vorschriften und weide mich

daran, was ich im Rückspiegel

erlebe. Fährt mir eine auf

wenige Meter auf, behalte

ich meinen Abstand zum vorderen

Wagen ungerührt bei.

Nervt es zu sehr, gehe ich rechts raus in eine

Nebenstraße und nehme meine Fahrt im Anschluss

wieder auf. Ich habe mich hinreißen

lassen, bin vernünftigerweise unvernünftig

ausgerastet und probierte, mich gewalttätig

abzureagieren. Ohne Erfolg. Die Welt hat sich

an dieser Stelle nicht geändert. Sie hört nicht

auf, mich zu provozieren. Ich sehe es aber anders.

Gelegentliche Einzelfälle angegriffen zu

werden, wirken undramatisch, im Vergleich

mit der nahen Vergangenheit, die stressig gewesen

ist, weil alles zusammen kam.

# Eine kurze Geschichte der Zeit

Das Erbe meiner Eltern wurde von meiner

Familie mutwillig und bösartig zerschlagen.

Raffgier: Tante, Vetter, Schwester, die klebrige

Melange ist weiter unterwegs. Geht mir am

Arsch vorbei. Schweigen hilft. Parallel: Die

Umgebung von humoriger Vertrautheit mit

den oberen Zehntausend hier aus dem Dorf

ist restlos und vollständig zerstört. Ich sei

selbst schuld daran, sagen sie. Ein Trümmerfeld

kaputter Beziehungen. Sie haben alle

ihren Spaß gehabt, sage ich. Schweigen hilft,

Teil zwei. Fortsetzung folgt. Meine Bereitschaft,

interessiert der Politik zu folgen, die

Demokratie zu stützen, ist dahin. Mein Vertrauen

in den Staat, die Polizei, Hilfe durch

das System der Ärzte und Therapeuten in der

Not annehmen zu können, habe ich grundsätzlich

verloren. Ich gehe nicht freiwillig,

aus eigenem Antrieb, mit irgendwelchen

Beschwerden

zum Arzt. Ich ertrage, warte

ab, nehme Einschränkungen

hin. Da muss mich schon

der Notarztwagen holen,

den sonst wer ruft, wenn ich

mich in Schmerzen krümme?

Ehe, Familie – der Rest einer

klein gewordenen Welt. Meine

Fehler muss ich als keine

darstellen, sonst wär’ ich tot.

Meine Kunst? Die aufrichtige

Beziehung zu einer wunderbaren

Freundin entpuppt sich

als Eingangstor zur digitalen,

asozialen Hölle, die andere

so lieben. Das ist mir nun

reichlich wurscht: Malen hilft.

Ziviler Alltag ist nicht Krieg. Keine Maschinengewehre

im Verbund, keine Feuerstöße

aus der Uzzi, keine drohende Panzerkette am

Horizont. Einzelfeuer versprengter,

im Feld verlorener

Hohlköpfe ist hinzunehmen.

Das zusammenhängende

Bild gemeinschaftlicher Boshaftigkeit

ist in den lockeren

Haufen zufälliger Ärgernisse

zerfallen. Pfosten stakt auf

Krücken, „Coole Brille“ informiert

– und Bartels spielt

Omi; wer das braucht? Paranoia

für Anfänger. Ich schaffte,

ein Puzzle zu begreifen

und konnte es auseinander

dividieren. Es gelingt mir

nun oft, Idioten Stand zu halten.

Tatsächlich, ich lernte,

Frauen sind um nichts besser

als Männer.

Ich hasse andere Menschen

pauschal so sehr, dass ich es

nicht mehr bemerke, empfinde

mich als ausgegrenzt und

habe, dauerhaft verstört und

verletzt, ein Prinzip draus gemacht. Ich spiele

mich gut genug, nett. Ich empfinde nichts.

Nicht einmal am eigenen Nervenkostüm bin

ich besonders interessiert. Flippe ich aus,

geschieht es, ohne dass es mich lang stört.

Der Anwalt mag es richten. Ich lebe, mehr

nicht. Ich passe meine Meinung nicht an. Ich

ändere mich nur, wenn ich’s selbst entscheide,

bin gern dumm, weil ich es will. Zorn gehört

dazu? Im schlimmsten Fall saufe ich ab,

wie der alte Ahab mit seinem Walfischbein.

Er nimmt die ganze Mannschaft mit in den

Tod für seine ignorante Rache. Ein Vorbild?

Besser Melville folgen: Es hilft mir, meinen

Hass zu begreifen, in Worte und Gedanken zu

gießen. So male ich, schreibe und bleibe notgedrungen

fröhlich am Leben.

# Trotz

Es geht nicht um

verbotene Vergleiche

mit der bösen

Nazizeit, oder dass

alles anders sei,

weil früher Dumme

den Bösen nachliefen

und heute

Dumme das Gute

verhinderten, weil

sie gerade nicht

mitmachten. Es

zeigt sich einmal

# Statistik

mehr, wie viel Dynamik

eine Gruppe

entwickelt, wenn

sie sich erst formen

kann. Und das gibt

es tatsächlich zum

Guten hin, wie etwa

sinnvolle Revolutionen

gezeigt haben.

Dann muss es der

Masse aber erkennbar

schlecht gehen.

Das ist bei uns nicht

der Fall. Wir sind

wohlstandskrank,

aber nicht coronakrank.

Jeden Tag haben deutlich mehr als tausend

Personen einen zumindest leichten Unfall im

Straßenverkehr bei uns. Jeden Tag infizieren

sich einige tausend Menschen neu mit Covid.

Andere Zahlen: Einer von hundert ist schizophren.

In einen Gelenkbus vom Hamburger

Verkehrsverbund passen 105 Personen. Ein

Verrückter befindet sich in jedem Bus, wenn

das Fahrzeug randvoll im Feierabendverkehr

unterwegs ist. Heute werden gut dreitausend

tägliche Neuinfektionen mit dem Corona-Virus

gemeldet. Tendenz steigend. In Deutschland

leben 80 Millionen Menschen. Zum

Vergleich: Ein Prozent davon ist schubweise

oder dauerhaft psychotisch krank. Das sind

wohl reichlich mehr, als die derzeit täglichen

etwa dreitausend mit Corona Infizierten,

Spreader der Krankheit, denen wir in die Statistik

der Erkrankten folgen dürften, sollten

wir ihnen zu nahe kommen. Doch schlimmer?

Wir sollten sie vorsorglich doppelt rechnen,

jeder wurde angesteckt. Wir könnten den sich

neu infizierenden Pechvögeln begegnen und

zusätzlich denen, die diese gerade ansteckten?

Gefährlich ist die Mathematik in den falschen,

querdenkenden Händen und Hirnen.

Äpfel und Birnen sind wieder unterwegs. Ein

Milchmädchen rechnet wie ein Kunstmaler,

und das bin ich.

Gut zwei Millionen Verkehrsunfälle im Jahr

werden in Deutschland registriert. Das sind

sechstausend Mal „Bumm“ am Tag. Ich fahre

Auto, Fahrrad und gehe zu Fuß am Straßenrand.

Mein Risiko seit Jahren, ich bin nicht

unbeschadet davongekommen. Wie oft passiert

etwas im Verkehr, und wen traf ich mit

dem schlimmen Covid selbst an; ich probiere,

den eigenen Vergleich zu kreieren. Was ich

noch weiß: Ich habe direkt nach dem Führerscheinerwerb

einen Spiegel bei einem

parkenden Fahrzeug abgefahren. Ich war mit

dem Fisch-Bulli auf der Bahnhofstraße in

Wedel zu forsch gewesen. Ach ja, und dafür

kann ich ja nichts: Mit Greuli, dem Grafiker

bei Schlotfeldt, drehte ich einen Kreis auf der

Rothenbaumchaussee,

da war es glatt

und das Auto voll

mit vier Personen.

Ich war Praktikant,

nur Beifahrer und

wohl gerade achtzehn

geworden. Es

gab nicht einmal

einen Blechschaden,

glaube ich.

Bundeswehr: Mit

dem schweren MAN

unterwegs, schlug

mir ein Ast der seit-

Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 77 [Seite 75 bis 79 ]


lichen Straßenbüsche einer schmalen Landstraße,

vom in Kolonne vorausfahrenden

Lkw abprallend, gegen meinen großen Außenspiegel,

der deswegen mit Wucht gegen

das Türfenster einklappte. Auch dieser zweite

Unfall in meinem Fahrleben kostete einen

Spiegel. Ich hätte nicht genügend Abstand

eingehalten, meinte seinerzeit Peters, mein

lieber Feldwebel aus dem Ruhrpott. Mystisch,

diese Scherben: Sieben Jahre Pech zweimal,

so ist es gekommen! Mit meinem Golf später,

blieb ich bei Brenneke an der Mauer hängen,

Schramme. Familie? Mein Vater setzte den

Mercedes beim Zahnarzt in den Zaun bei

Glatteis. Er schob mit dem Fischtransporter

drei Pkw auf der Elbchaussee ineinander,

weil er auf die Elbe sah und abgelenkt war.

Meine Frau rammte einen Pfosten in der Tiefgarage

bei Dello. Freunde: Norbert wickelte

sich um eine Verkehrsinsel. Er brach sich alle

Knochen und den Kiefer auch noch. Er ist

dann lang beim Sport ausgefallen. Furchtbar:

Kornklaus starb, weil er helfen wollte. Das

war auf der Autobahn, kurz vor dem Tunnel.

Zu Fuß auf dem Standstreifen, ein Lkw war

verunfallt und der Hilfsbereite hatte seine

Fahrt gestoppt (Urlaub zu Ende, Hamburg in

Sicht) und ist ausgestiegen, um Erste Hilfe

zu leisten, im Dunkeln, aus. Peter hat das erzählt.

Mein Leben ist Erinnerung. Ich werde

bald siebenundfünfzig Jahre alt und weiß

von einigen Karambolagen in dieser Zeit zu

berichten, kenne einen Mann, der mit dem

Coronavirus einen Schnupfen durchlebte.

Vierte Welle. Die Fallzahlen steigen! Ballungen

in Ballungszentren. Wer weiß, bald

könnten es viele hunderttausende am Tag

sein? Dann wäre in jedem Waggon der S-

Bahn schon einer dabei, der das Virus in sich

trägt. Wir könnten dort gefährlich nah seine

Aerosole schnuppern. Gut, dass es die Masken

gibt: Keine nennenswerte Grippewelle,

niemand hatte Schnupfen im vergangenen

Winter. Auch andere meldepflichtige Infektionskrankheiten

treten zur Zeit weniger auf.

Jeden Tag stehen wir Deutschen der Gefahr

gegenüber, auf zufällig rund 800.000 Geisteskranke

(meistens harmlose Spinner) zu treffen

und alternativ aktuell am Tag auch noch

3.000 Covidpositive obendrein, schlimm. Und

einige tausend Menschen lenken ihr Fahrzeug

auf eine Weise, dass es kracht jeden Tag.

Die könnten gerade uns treffen, die wir draußen

unterwegs sind.

# Wie gut, dass Schizophrenie nicht ansteckend

ist!

Nötig wäre, damit wir uns echt mutig in Gefahr

brächten, täglich quer durchs ganze Land

zu kreuzen und so aber auch jedem Bürger

und den infizierten Bürgerinnen nach Kräften

vollständig zu begegnen. Wir öffnen jede Tür,

steigen in jeden Bus, besuchen jede Gastro

außen und innen, machen eine Coronaparty

deutschlandweit täglich. Da könnten wir am

Tag dreitausendmal mutig sein und achthunderttausend

Spinner kennenlernen. Nicht

mit hinein gerechnet, könnte uns ein Stück

gefrorener Weltraumschrott aus dem Klo von

Bezos in seiner Millionärsrakete treffen, der

unversehens aus dem Himmel scheißt? Der

Kluge trägt den Helm.

Unsere Krankenhäuser geraten an den Rand

der Belastbarkeit? Das sind auf Kante genähte

Geschäftsmodelle. Klar, dass diese

kollabieren, wenn dauerhaft pandemische

Mehrarbeit gefordert ist. Da kann das gutflorierende

Krebsgeschäft nicht routiniert abgewickelt

werden. Werden wir chinesisch, wird

die Welt so, wie Orban es sich für Ungarn

wünscht? Also straff geführt oder wird eine

multikulturelle Vielfalt dagegenhalten? Eine

reale Bedrohung, die uns unmittelbar betrifft,

ist kein Wortfeuerwerk, das ist mehr. Und eine

spürbare Gefahr in direkter Nachbarschaft,

persönliche Bekanntschaft

mit

der Krankheit, die

Freunde und Familie

betrifft, hat

es isoliert gegeben

mit Corona.

Aber nicht flächendeckend.

Es

war furchtbar in

New York. Hier in

Schenefeld kenne

ich nur einen einzigen,

der mir sagte,

er habe „es“ gehabt;

ein leichter

Schnupfen. Und

natürlich sind da

viele, die mir von

schlimmen Verläufen

berichten,

die habe „soundso“

durchlebt. Ein

Urologe, gerade

in den Vierzigern,

sei tot. Ein mir

zugeheiratet, nun quasi fremd erworbener

Cousin im entfernten Familienzusammenhang,

den ich einmal bei diesen Leuten auf

einer Feier im Süden wo traf, war mit Corona

im Krankenhaus. Ein Segelfreund vermietet

im großen Stil, er hat Erkrankte in den Immobilien.

Es gibt Covid. Ich weiß, wie es auf

der Intensivstation ist. Ich bin bestens informiert.

Ich zähle mich bestimmt nicht zu den

Verschworenen. Ich sehe Nachrichten, glaube

an die Not im Krankenhaus, die ich vielerorts

gesehen habe, im Film. Das reicht nicht für

Panik oder zu begreifen, handeln zu müssen?

Es ist doch ganz klar, dass nur Impfen weltweit

nützt, die Pandemie einzudämmen. Das

zu bestreiten, wäre nicht nur menschenverachtend,

sondern auch die Wissenschaft und

erkennbare Verbesserungen bestreitend. Besonders

Ältere erleben den gefährlichen Verlauf,

wir könnten nicht ertragen, diese andauernd

isoliert sterben zu sehen. Der Lockdown

killt unser System. Und ja, natürlich werben

die Geimpften für ihren Status, und verständlicherweise

drohen sie „dem dummen Rest“,

er sei unsolidarisch. Das halte ich aus. Meine

Nachbarin, sie plaudert mit uns durch die

Hecke, während wir grillen. Die arbeitet beim

Hausarzt um die Ecke: „Du lässt dich nicht

impfen John? Bist du dumm!“ Bescheid zu

wissen, macht so stark. Der Maler, der unser

Bad saniert, drückt sich diplomatischer aus.

Ich bin sein zahlender Kunde. In der Sache

aber genauso, wer sich nicht impfe, gefährde

sich und andere. Das ist jetzt Standard. Meine

liebe Frau beschimpft mich deswegen täglich.

Da sollte man gelassen bleiben.

Warum klug sein, wenn’s dumm auch geht?

Das Wetter hat sich dem Menschen angepasst,

es ist Unwetter geworden. Der Planet

hat Fieber. Ich habe mich den Mitmenschen

angepasst. Ich bin zum asozialen Unmenschen

mutiert. Mir wurde aufgezwungen,

mich zu wehren. Ich war gutgläubig, und es

tat schließlich weh, verarscht zu werden. Man

riet mir, ein dickes Fell müsste ich haben, und

nun habe ich es bekommen, bin stumpf und

bockig, wenn man meine Solidarität einfordert.

Ich reagiere spät oder gar nicht darauf.

In der Summe der Erfahrungen bin ich zu

oft angelogen worden von guten Bekannten,

meiner Familie, dem Staat (persönlich),

schließlich von Medizinern, in deren Einflussbereich

ich kam. Ich habe gelernt: Der für

meinen Lebensweg nebensächliche

Tischler

oder einem nicht näher

vertraute Musiker, dessen

Kunst lediglich imponiert,

die Verkäuferin im Supermarkt

an irgendeiner Kasse;

sie unterscheiden sich

vom Arzt, nahen Angehörigen,

der Politikerin und

dem Polizisten dadurch,

dass ihre Macht auf uns,

die es gegebenenfalls direkt

betrifft, geringer ist.

Sie werden dir helfen in

der Not!

Man hüte sich, enge Beziehungen

zu denen, deren

Beruf eine Dienstleistung

ist, etwa mit Einfluss auf

unsere Freiheit oder die

Gesundheit, einzugehen.

Das sind die, die dich gegebenenfalls

hängen lassen.

Es gibt Menschen, die

ihre Position in der Gesellschaft gegen mich

verwendet haben und Einfluss auf meine

Gesundheit und die Motive, die ich verfolgte,

genommen haben, zu meinem Schaden und

ihrem vermeintlichen Vorteil, den sie aus

meiner eventuellen, momentanen Schwäche

ziehen mochten. Ich habe Fehler gemacht?

Mich zu entschuldigen, sie einzusehen, ist unmöglich:

Das führte zu neuem Spott und Anwürfen.

Ich musste lernen, mir Luft zu schaffen,

bin nicht allein mit diesen Erfahrungen.

Ein Frauenbuch trägt den schönen Titel: „Wer

sich nicht wehrt, kommt an den Herd.“ Davon

Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 78 [Seite 75 bis 79 ]


können auch verstörte

Männer lernen, danke.

Christ zu sein, ist eine

echte Herausforderung.

Es ist ein Irrtum, anzunehmen,

dass rationale

Gründe überwiegen,

man solidarisch

sein kann, schon deswegen,

weil es eine

Winwin-Situation sei,

ließe man sich gegen

Corona durch einen

Impfstoff schützen.

Die guten Argumente

für vieles, z.B. eine

gesunde Ernährung,

sind bekannt. Dass

Drogen zu nehmen

ein Fehler ist, wissen

wir. Abstand zu halten,

wenn gefährliche

Aerosole unterwegs

sind, ist geboten. Das

hat jeder mitbekommen.

Es gibt Dicke, es gibt Süchtige und es

gibt Unbelehrbare. Warum borniert sein? Es

ist die Wut darüber, in der Vergangenheit von

irgendwem missbraucht zu sein – im weitesten

Sinne. Vertrauensbruch, der sich pauschal

verselbstständigt, als ein diffuses Gefühl. Das

siegt über meinen Verstand. Ich weiß das.

Viele Künstler haben nicht gesund gelebt,

waren und sind mit dem Gesetz in Konflikt

gekommen. Ich weiß nun, warum.

Mir liegt nichts mehr am Leben! (Behaupte

ich). Leck’ mich am Arsch, Welt. Ich ertrage,

dass es weitergeht, mein Leben. Ich kann

das ganz gut aushalten. Mich hat es noch nie

nach Mallorca hingezogen, ich finde es leicht,

zuhause zu bleiben. Ich höre im Sommer

jeden Abend unmittelbar die tumbe Masse

Mensch auf Pavlos’ Terrasse lachen, labern

und spotten über irgendwas. Einer grölt immer

rum. Ha-ha. Die Regieanweisung „Volksgemurmel“

wird im Theater umgesetzt mit

„Rhabarber, Rhabarber usw.“ – das ist, was ich

denke, innerlich antworte. Ich weiß, wo die

Bühne endet. Es ist meine Haut. Niemand je

berühre mich noch. Allein sein ist nicht übel,

wenn es nett zu malen gibt.

:)

Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 79 [Seite 75 bis 79 ]


Heilige Scheiße

Aug 3, 2021

Man stelle sich vor, wie lang es dauert, ein

Bild zu malen? Nicht irgendeinen Schmierhin.

Nein, die einigermaßen realistische

Malerei. Anspruchsvoll. Das zieht sich. Eine

ausgeklügelte, abstrakte Kunst ist nicht weniger

schwierig zu erlernen. Nur Laien führt

diffuse Intuition, banaler Geschmack. Selbst

zu arbeiten, heißt zu bemerken, was tatsächlich

besser sein könnte. Und was individuell

Gutes wie Schlechtes bedeutet. Du wirst sehen,

es benötigt viel Selbstkritik; hier stimmt

die Perspektive nicht, da ist es zu dunkel

oder dort müsste noch Glanz drauf. Im fertigen

Bild nicht sichtbare Schwierigkeiten des

Künstlers bei der Umsetzung eines Themas

gestalten die Arbeit langwierig. Die Bedingungen

im Schaffensprozess sind gelegentlich

schlecht. Der Maler ärgert sich über das

Material, wird anderweitig in der Konzentration

gestört. Wer nicht willkürlich schreddert,

benötigt Präzision. Er übermalt Fehler, die im

Endprodukt nicht zu sehen sind. Reichlich Irrtum

und viel Zeit, Widerstände aus dem Weg

zu räumen. Je länger du arbeitest (nicht nur

an einem Bild), Zeit vergeht, sich mit Malerei

auseinanderzusetzen, wächst der Respekt vor

den Kollegen, die man als bessere neidlos

anerkennen muss. Was sind ihre Motive, wie

definieren sie Erfolg?

Hängt das Bild, und nie kommt Besuch vorbei,

hieße das einseitige Kommunikation. Ein langer

Weg in die Sackgasse erzeugt möglicherweise

Frust. Das kann auch zum Antrieb werden.

Eigentlich gehen wir davon aus, unser

Bild werde von anderen angesehen. Jemand

spricht, in diesem Fall mit Farbe und Form,

andere rezipieren. Sie nehmen Inhalte, statt

über die Ohren, sehend auf. Malerei kommuniziert;

lang wird geschaffen, kurz geschaut.

Meine Reise ist, wie mit einem Boot durch alle

Wetter kreuzend, fertig werdend, schließlich

beim Motiv anzukommen. Dagegen genügt

uns eine schnelle Fahrt mit den Augen, alles

zu betrachten. Einen Quadratmeter Fläche

kann jeder zügig erfassen. Sekunden reichen

aus, wesentliche Inhalte zu bemerken.

Ein gutes Bild wird dem Liebhaber nie müde

zu betrachten. Da gibt es immer wieder Neues

zu entdecken. Wir assoziieren eigenes,

interpretieren das Gesehene individuell.

Erfrischende Kunst entsteht im Auge des

Betrachters. Emotionen sprießen, Fantasie

blüht oder ein gruseliger Moment lässt den

Betrachter kalt erschaudern, das ist ein Bild!

Wir denken die Motive,

Themen kreativ weiter,

vergleichen innere Bilder

damit, die uns kommen

wie im Roman, den

wir gern verschmökern.

Quatsch begreifen wir mit

einem Blick und gehen

darüber hinweg, uns nie

wieder darauf einzulassen.

Da kann gewichtig drübergeredet

werden in der

Vernissage, egal.

Eine Radiosendung muss vorbereitet werden.

Unterrichtsstoff des Lehrers einer Schule benötigt

kritische Beschäftigung, bevor er Lernenden

präsentiert wird.

Nicht selten wird der Inhalt

einer Kommunikation ineffektiv

vom Empfänger aufgenommen.

Wenige schalten

das Radio ein, während

gesendet wird? Die Schüler

sind abgelenkt, der

Stoff ist dröge. Als Künstler

muss man sich die Frage

stellen, worauf es ankommt: Resonanz oder

Produktion? Den Schwerpunkt setzen, ihn

gegebenenfalls verschieben, bedeutet mehr

Kontrolle darüber zu gewinnen, was man tut.

Zu prüfen, ob und wie die Arbeit bewertet

wird, gehört dazu. Einen Monolog zu halten,

macht nur Sinn, wenn man sich darüber klar

ist, was das Ganze soll. Ein Idiot ist auf jeder

Party, redet, und niemand hört zu? Darüber

sollte nachgedacht werden. Die

Bilder der alten Meister im Museum

werden angeschaut, obwohl

die Künstler tot sind und eventuelle

Zuneigung durch staunende

Besucher nicht mitbekommen. Der

Betreiber einer Kunstausstellung

oder Biograf eines Verstorbenen

mag annehmen, gemocht zu werden,

wenn Interessenten erscheinen?

Das ist etwa so, wie wenn jemand

eine alte Platte online stellt,

Kommentare gepostet werden.

Deswegen bist du nicht der Duke

(Ellington).

Man sei kein Künstler, weil man

Bilder sammelt, meint David

Hockney.

Die Ausstattung einer Präsentation

ist eine Form der Kunst. Ein Bild in die

Öffentlichkeit zu bringen, bedeutet einen Teil

der Kommunikation zu leisten. Eine Sammlung

schaffen, zu präsentieren, ist als kunstverständiges

Tun mehr, als einen Spruch zu

lassen. Geltungsdrang und Leistung machen

nur Sinn im persönlich befriedigenden Verhältnis

zueinander.

# Gute Unterhaltung!

Es drängt zur Kunst? Wir können die Welt

nicht gestalten, aber eine Leinwand. Die Natur

besiegen wir nie, wir passen sie künstlich an.

Menschen gehen nicht auf die Toilette, weil

das Wasserklosett erfunden wurde. Schöner

Wohnen, besser schietern? Eine Glosse muss

nicht wahr sein, es genügt zu unterhalten.

Wir haben gerade unser Bad saniert, und ein

Kunstkreis weit westlich von Hamburg lädt

zu einer neuen Ausstellung ein. Was das miteinander

zu tun hat: Es kommt auf die individuelle

Sicht an!

Zunächst das schöne Badezimmer. Rundum

gelungen, dank an die Handwerker. Wir ließen

das neue WC gemäß Angebot einbauen, und

ich habe im Ausstellungsraum des Händlers

auch zur Probe gesessen. Nicht nackt. Das

hätte ich tun sollen! Wer ahnt denn, dass es

ein Klo für Eunuchen ist? Das Dianawandklosett

einhundert scheint mir für Frauen und

Vollkastraten ohne Hodensack oder Hängepenis

konzipiert. Nur mit kurz geschrumpften

Klüten und Pinkelstummel (an einem kalten

Tag), wäre es (gerade) noch möglich, sich

kontaktlos draufzusetzen …

# Wind muss wehen!

See steiht vun achtern und von

vorn, zurück darf kein Seemann

schaun. Hans Albers kommt mir in

den Sinn. Sturm im Waschbecken,

in der Kloschüssel: „Nordwest“ gift

krusen Büdel un’ lütt’n Pint, heißt

es an Bord.

Ich hoffe auf kalte, windige Herbsttage.

Flache Schüssel. Und was noch schlimmer

ist, ich habe diese Diana selbst gekauft, abgehakt,

ohne weiter darüber nachzudenken.

Wie doof ist das denn? Und nun ist sie fest

mit der Wand verkachelt. Wahrscheinlich

male ich Schwachsinn, weil das so einfach

ist, mein blödes Hirn für Design nicht taugt:

Das ist zu schick für mich.

# Feuchtgebiet

Morgens, wenn ich mit Wasserlatte

den kurzen Weg ins Badezimmer

mache und entsprechend lang

abhänge, liegt mein Gemächt auf

dem glatten Porzellan auf. Kalt,

nass und möglicherweise feucht

vom Pipi der ganzen Familie?

Brr. Sich stocksteif aufrichten und

weit hinten sitzen, hilft. Je nach

Länge, und das ist beim richtigen

Mann verschieden. Nur durchgegenderte

Transtanten mit Regenbogenarsch

können jederzeit

kurz sitzpieschern. Immerhin, es

hat einen tollen Hall: Das dröhnt!

Eine echte Furztrompete. Pavlos

und seine trinkfesten Freunde auf

der nahen Terrasse vom „Lindos“

benötigen nur noch die kleinen Ohren der

indischen Elefanten für das Vergnügen, dabei

zu sein: Mein Rüssel ringele sich. Es ist

hübsch und kurz, dieses „Diana“, dicht bei der

Wand; darum hat man es uns empfohlen. Unser

Bad ist klein.

# Assoziationen

Kunst muss anstoßen. Die Fettecke von

Beuys polarisierte noch, weggeputzt! Sauber.

Neue Themen reizen, mal dir selbst den

Schwamm fürs Klo. Der große Bogen eines

schrägen Gedankens führt Inhalte kreativ

zusammen: Und dann aktuell der Kunstkreis.

Aug 3, 2021 - Heilige Scheiße 80 [Seite 80 bis 81 ]


Ich bekomme Einladungen. Diese Leute sind

wichtig. Sie sind vergleichbar mit den Herstellern

von Sanitärporzellan. Als Künstler

ist man darauf angewiesen, wie

der Mensch auf das Klo. Wo ablassen,

wenn nicht beim Aussteller?

Ich werde regelmäßig beworben,

mir was anzuschauen und habe

mich in der nahen Vergangenheit

zurückgehalten mit Spott. Ausgetreten

war ich (aus dem Vorstand),

nachdem Details über eine

Kollegin mich nachdenklich machten. Was

mochten die Tanten über mich zum Besten

tratschen? Milde geworden, habe ich Ausstellungen

besucht. Was sollen alte Frauen, die

selbst nichts Gescheites an den Tag bringen

mit ihrer Zeit anfangen? In der hochberühmten

Drostei, im Barlachhaus ist es vermutlich

nicht anders. Die Kunst ist fest in der Hand

vertrockneter Schrapnelle mit intellektueller

Brille. Gut, dass die Pandemie den Kulturbetrieb

maßgeblich lahmgelegt hat. Dünnsinn,

mit Steuergeld subventioniert, muss beendet

werden. Aber Unkraut vergeht nicht, kommt

jetzt glatt daher wie meine neue Schüssel.

Ich ertrage (gutgläubig) Beschiss im Hof, der

angrenzenden Küche, im Badezimmer.

Schöne Neue Welt und schönen Gruß!

:)

Aug 3, 2021 - Heilige Scheiße 81 [Seite 80 bis 81 ]


Das

Wundermittel

Aug 6, 2021

Viele Menschen gestalten das eigene

Dasein ansprechend, nutzen die Freiheit

unserer zivilisierten Welt. Sie erringen einen

grundsätzlichen Erfolg, den sie aus ihrem

Leben gemacht haben, weil sie anwenden,

was ihnen beigebracht wurde. Wer es nicht

hinbekommt, normal zu leben, kreist um

bekannte Fehler. So einer ist der Satellit

der persönlichen, fixen Ideologie, zwanghaft

in der Wiederholung von Stereotypen

gefangen. Individualität ist gleichermaßen

speziell, wie unter Umständen selbst

schädlich. Einige stehen im Lauf der Welt

geradezu angenagelt auf dem Fleck, den sie

nur irgendwie erreichten. Sie treten auf der

Stelle, als wären sie mit Koffern beladene

Reisende am Bahnsteig, aber ohne den Zug

zu nehmen.

Aussenseiter wirken unnötig blind, unfreiwillig

komisch, sogar hässlich und beschränkt

nur deswegen, weil es wie offensichtlich

rüberkommt, dass diese Menschen sämtliche

Perspektiven ignorieren. Kritische Freunde

verstünden die spezielle Lage nicht, meinen

diese Unglücklichen, wenn sie darauf

angesprochen werden, warum sie eine

Chance nicht wahrnehmen und stattdessen

Frust zementieren. Vielleicht stimmt es, und

umgekehrt macht es sowieso Sinn.

Wir urteilen gern nach dem Prinzip, Schuld

zu beweisen. Wer nicht schuldfähig ist im

Falle einer Tat gilt als krank. Was ist mit

denen, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt

kommen, nicht diagnostisch erfasst werden

und die selbst daran schuld seien, wie es

heißt, am eigenen Unglück? Täter gegen

sich selbst: Es scheinen Menschen zu sein,

gegen jede Wand unterwegs, ohne eventuell

offen stehende Türen zu erkennen, die ihnen

neue Möglichkeiten der Entwicklung bieten

könnten. Der Begriff der Schuld verblasst

als kraftlos, bei dem Versuch zu beschreiben,

wie jemand gegen die eigene Person

handelt, die guten Wege nicht sieht. Jahre

scheinen nutzlos zu verstreichen. Psychische

Krankheiten werden diagnostiziert. Dieses

Leben ist begleitetes Fahren mit Therapeut.

Und nur einige lernen schließlich dazu, aus

einem individuellen Grund, den sie endlich

begreifen. Das sind wenige. Werden diese

in der Regatta des Lebens tatsächlich noch

einen führenden Platz ersegeln? Umgekehrt

könnten andere, gesunde und erfolgreiche

Menschen, deren persönlicher

Erfolg nur einem zufälligerweise

leichten Start geschuldet ist, erfahren,

wie schwer es ist, ein Rennen

siegreich zu beenden, bei dem am

Ziel keine Medaille vergeben wird.

Die Ersten werden die Letzten sein,

heißt es. Die vernetzte, integrierte

und erfolgreiche Masse verhält sich

gern wie nebenbei, unabsichtlich

ausgrenzend gegenüber anderen.

„Das geht gar nicht“, werten sie manches

Verhalten ab, und es fällt ihnen

leicht, unter Ihresgleichen überheblich

zu tun, ohne dass es den Freunden

anstößig erscheint. Gut maskiert

und besser dargestellt kommt

es vermeintlicher Stärke gleich.

Scheinbar selbstbewusst, drängen

nicht wenige nach dem Motto, erst

komme ich, und Hauptsache, es geht

schnell. Sie werden langsamer, wenn

später der Rollator ihr tägliches Fahrzeug

geworden ist? Wir haben keine Möglichkeit

unser Miteinander mit Egomanen, Dränglern

und Provokateuren einfacher zu gestalten,

indem wir notorische Windbeutel belehren.

Die Freiheit zu zaudern, Risiken zu meiden

und das Leben dadurch zu verpassen oder

unverdient Macht zu missbrauchen mag

uns gegeben sein. Wege zu suchen, ist die

lohnende Alternative.

# Das ganze Leben ist Ausweichen

Abstand, wir müssen lernen, dass allumfassende

Transparenz und Nähe zu anderen auf

Grenzen stößt. Das Virus lehrt uns Distanz.

Die Bürger möchten wissen, was Donald

Trump verdient, aber ihr eigenes Privatleben

nur kontrolliert und selektiv posten. Beim

Nachbarn Mäuschen spielen, gefällt vielen

trotzdem. Lebensentwürfe sind so: Trennwände

setzen, selbst drumherum navigieren.

Ein Irrgarten oder das Kabarett, je nachdem.

Mit dem Kopf durch die Wand, sich dabei

noch stark fühlen, und bei Schmerzen werfen

wir was ein. Das ist moderne Zivilisation.

Willenskraft, sich anzustrengen und Ziele zu

erreichen, wird gelobt. Wir twittern erfolgreich,

bis zum kompletten Selbstbeschiss.

Wenige gehen manchen Idioten geschickt

aus dem Weg. Die Masse schwimmt im

Strom, ob nun mit der Welle oder gegenan.

Erst durch Schaden wird man klug, lernt,

dass es an der Kante vom Fahrwasser auch

und möglicherweise eleganter ist, eigenen

Wegen zu folgen.

Seit die Rede vom digitalen Missbrauch in

aller Munde ist, wir den Begriff Fake News

verwenden, verblüffende Deepfakes irritieren,

steht unser Verständnis von Wahrheit

auf dem Prüfstand wie nie zuvor. Bereits

ein Schulkind wie Greta Thunberg mit

Pappschild entdeckt, dass alle „des Kaisers

neue Kleider“ spielen. Ehrgeizige Klimaziele

werden ausgerufen, Friedensgipfel, aber es

ist immer irgendwo Krieg, und das Klima

schmiert weiter nahezu ungebremst ab.

Irrational ist diese Hoffnung: „Wir werden

alle sterben!“, ruft jemand in Panik, und dann

entschärft Bond die Bombe rechtzeitig?

Manche erwarten eine Zeit nach der Pandemie,

in der alles wieder wie früher ist und

Malle wie gewohnt ballert. Das wird so nicht

wahr werden.

Vielen, um ihre Fehler kreisende Menschen,

denen es nicht gelingt, aus ihrem Leben

einen Erfolg zu machen, wird empfohlen,

einfach wie die anderen, normalen

Menschen zu sein. Ich denke, mit diesem

Rat gefüttert, wird der Kreislauf wasserdicht

und verewigt im Gegenteil noch das

Problem. Der Begriff der Normalität ist ein

armseliges Erklärungsprinzip. Normale

wissen für gewöhnlich gar nicht, warum sie

klarkommen (obwohl sie das behaupten).

Dem Künstler beim Zeichnen kurz über die

Schulter zu schauen, lehrt nicht sofort alles.

Ich habe lange Zeit gelernt. Warum sollte es

funktionieren, anderen zu sagen, man mache

etwas einfach so? Wenn jemand einen

Handwerksbetrieb übernimmt, sein Geschäft

in der zweiten oder dritten Generation führt,

werden ein paar Worte an den Gesellen

kaum genügen, das Wunder der Existenz zu

erklären. Genauso Ratgeber, Therapien – sie

funktionieren bedingt. Der Eigenanteil des

Lernens ist entscheidend, will jemand aus

Schwierigkeiten raus kommen.

# Wir benötigen Zeit zu lernen

Tempo und Tipps gehen nicht selten am Individuum

vorbei. Die jetzt Schlauen mögen

die Dummen von morgen sein. Wir werden

gelehrt, uns korrekt zu verhalten und das

Vertrauen in Helfende wird vorausgesetzt.

Allein klar zu kommen funktioniert durchaus

anders. Das grundsätzliche Problem ist,

dass die Umgebung unzuverlässig, quasi

immer unehrlich ist. Kaschiertes Chaos ist

das Drumherum. An den Scheidewegen des

Lebens stünden keine Wegweiser, meint

Chaplin dazu. Kein Gott nimmt uns so

allumfassend an die Hand, wie derjenige, der

uns das Geld aus der Tasche zieht, in unser

Haus einbricht oder behauptet unser Freund

zu sein. Unser Nächster, den wir aufgefordert

sind zu lieben wie uns selbst, wird sich

immer verhüllen und später anders rüberkommen

als erwartet. Nur ausnahmsweise

werden wir vom Leben und den anderen

beschenkt, mit einem Lächeln, Anteilnahme

und gelegentlich der allerliebsten Nähe

oder selbstloser Hilfe in unserer Not. Im

Alltag gehen die Menschen oft grußlos

aneinander vorbei und verbergen die Motive

ihres Weges. Zu lügen oder die Dinge besser

darzustellen, wie in der Werbung, ist auch

anderswo möglich und Menschen tun, was

ihnen möglich ist. Die Welt ist nicht erst

seit kurzem den Fake News ausgesetzt. Die

Wahrheit, was immer das sei, darzustellen,

anstelle sie exakt wiederzugeben, ist normal.

Es entspricht der gesellschaftlich akzeptierten

Maske, positiv zu wirken. Vom Lügen

sprechen wir erst, wenn zum eigenen Vorteil

und Schaden des Rezipienten berichtet wird.

Aber wer erkennt diese Grenze, ab der das

Maß zu übertreiben oder Dinge wegzulassen

voll ist? Selektive Darstellung steht uns

frei, außerdem ist niemand allwissend. Wir

erwarten Aufklärung vom Falschen, weil wir

annehmen, gerade dieser wüsste das Detail,

das uns noch fehlt. Der Mensch beschuldigt

seinen Freund und folgt lieber dem

Dieb. Wir vertrauen demjenigen, der uns

kaltlächelnd betrügt. In der Summe kommt

fortwährend Desinformation dabei heraus,

wenn der Mensch darauf angewiesen ist,

seine Umgebung in gegenseitiger Kommunikation

zu begreifen. Und das sind wir.

Aug 6, 2021 - Das Wundermittel 82 [Seite 82 bis 83 ]


Wann stellen andere die Dinge nicht zu

ihrem Besten dar? Das ist eine fließende

Grenze, ab der manche das Gefühl beschleicht,

betrogen worden zu sein oder

gerade noch hinnehmen, eine gute Werbung

etwas herunterzurechnen, um in der Realität

zu bleiben, sich nicht unnötigerweise zu

ärgern. Nur wer sich darüber im Klaren ist,

die Angst vor einer Reklamation bremse ihn

zornig zu werden, kann die Entscheidung

selbst treffen, angemessen zu reagieren. Die

anderen rasten zwanghaft, neurotisch aus

oder kneifen jedes Mal, wenn sie begreifen,

dass sie übervorteilt wurden. Aber ein wenig

betrogen werden wir bei allem, was uns

widerfährt. Unsere Erwartungen werden

immer anders sein, als das Ergebnis ausfällt.

Manche finden ein Haar in jeder Suppe.

Das Geschick besteht in der individuellen

Wahlfreiheit, Emotionen still auszuleben,

laut oder maßvoll.

# Wir schaffen den Rahmen künstlich

Gerade ist Olympia. Doping im Sport ist

mehr als eine Regelverletzung. Es geschieht

dennoch. Sollten bessere Läufer generell

bestraft werden, für ihre Leistung, die dann

etwas runtergerechnet würde, wie manche

Politiker höhere Steuern für Reiche vordern?

Eine absurde Idee. Im Sport möchten wir,

dass die Bessere gewinne. Aber kaum, dass

eine herausragende Leistung beobachtet

wird, taucht der Verdacht der Manipulation

auf. Dem geht schon ein kompliziertes

Reglement voraus, nachdem trainiert und

speziell ernährt die Athleten antreten. Du

kannst nicht saufen und Burger fressen,

so viel ist klar. Ab wo die Vorbereitung ein

strafbares Doping ist, steht in der Regieanweisung

für fairen Sport. Man probiert,

gleiche Bedingungen herzustellen. Männer

treten nicht gegen Frauen an im Sport.

Aber es gibt Mädchen, die biologisch den

Männern nahe sind, schon als Jugendliche

davonrasen und sich nun Hoffnungen

machen, auf eine Karriere im Laufen? Bittere

Enttäuschungen laufen parallel zu diesen

Siegen mit. Irgendwann kommt das Begreifen,

dass Äpfel und Birnen im Regal nur Sinn

machen, wenn die Früchte, also die Natur

selbst, sich an die Regeln hält. Begeistert ändern

Retter die Welt m/w/d und fordern uns

auf, niemanden auszugrenzen. Immer wieder

müssen wir lernen, dass soziale Geländer

in Dicke, Länge und Griffhöhe noch an der

Vielfalt der Angreifenden gemessen werden.

Der Mensch schafft sich künstliche Stabilität

in einer unübersichtlichen Welt. Brücken

müssen auf ihre Haltbarkeit geprüft werden.

Das gilt auch für die Luftbrücken kreativer

Selbstverblendung.

Als Wohlstandskranke plagt uns, dass die

gewohnte Stabilität gefährdet sein könnte.

Andere sind neidisch auf die Fata Morgana

des Glücks, also nicht darauf, dass jemand

mehr Geld hat. Die zivilisierte Welt ist

wachstumsorientiert. Da muss wohl auch

das Glück im Laufe des Lebens anwachsen?

Tatsächlich kommt dieser Idee die Mühsal

des Alters in die Quere. Wir können das Leben

medizinisch verlängern und zahlreiche

Krankheiten werden scheinbar effizient

behandelt, dass alle älter werden als früher.

Damit wurde zugleich das Problem geschaffen,

eine Illusion gefährlich glaubwürdig zu

machen. Sie besteht in der Idee, etwas ganz

Tolles komme noch.

Ich kann ein Zitat von Edward Hopper nicht

wiederfinden und deswegen nicht belegen,

woher es stammt: „Depressiv? Wird man das

nicht im Alter?“, er sei „nicht stolz darauf“,

bekundet der Maler an einer Stelle. Hopper

wurde immer mit der Frage nach Einsamkeit

konfrontiert, wenn Betrachter ihn auf

seine Motive angesprochen haben. Nun ist

dieser Künstler sehr produktiv gewesen, und

Deprimierte sitzen normalerweise tatenlos

herum und jammern. Ein Arzt verschreibt

etwas, damit es dem Kranken wieder gut wie

früher ginge. Wir sollten annehmen, dass die

Kunst malen zu können auch nützt? Aber

viele Kreative kennen den Verlust eines ganzen

Lebensabschnitts an das Nichtschaffen

während einer lethargischen Episode. Ich

habe etwa gelesen, dass Miles Davis pausierte

und seinen Ansatz verlor, erst wieder

Trompete üben musste. Als Maler sind wir

gewohnt, hinter die Fassaden zu schauen.

Wir stellen im Bild selbst potemkinsche

Dörfer auf und müssen deswegen deren

Statik kennen. Damit sind wir den Normalen

einen Schritt voraus, können als Explorer

aber auch vor ihnen in das Unbekannte abstürzen.

Wir müssen lernen; andere kommen

durch mit dem, was man ihnen beibrachte?

Mein Onkel stellte es andersherum dar.

Wollte er sich und seine Leistung aufwerten

oder mich ermahnen, nicht auf das Glück zu

vertrauen, alles gelinge nach der Schule von

selbst? Er sagte: „Du hast ja Talent. Wir anderen

müssen arbeiten.“ Ich glaube, dass sich

hier niemand erfolgreich verpisst und jeder

sein Päckchen trägt, das irgendwann merkt.

Für einige sind die letzten Wochen im Angesicht

ihres unabwendbaren Todes die bittere

Zeit, in der sie das erste Mal resümieren, wer

sie sind und was hätte sein können. Ganz

schön spät, denke ich, um aufzuwachen.

# Die nur eingebildete Gesundheit der

Normalen

Alle sind verrückt und die Kranken sind

gesund, so ist es nicht. Doch viele machen

sich was vor. Ihr dickes Ende kommt, wenn

es keine Geschenke gibt, für ein Rennen,

dass manche gar nicht mit ihnen in

Konkurrenz gelaufen sind. Du kannst nie

gegen dich selbst gewinnen (oder den Krebs

besiegen als ein Gewächs im eigenen Leib),

auch wenn ein Arzt es behauptet. Menschen

lassen sich geradezu ausschlachten und

reparieren wie das eigene Auto. Sie werden

sich noch gegenseitig aufessen, wenn die

gewohnte Nahrungskette der Welt einmal

endgültig zusammenbricht.

Der Mensch selbst benimmt

sich als ein Krebs dieses

Planeten, und einjeder von

uns stiftet seinen Nachbarn

dazu an, greift sich

selbst ein Stück der Welt.

Schicksal? Die Aufgabe, sich

dem Leben und dem Wissen

zu sterben (irgendwann), zu

stellen, nimmt einem keiner

ab. Eine Impfung gegen

den Frust, alt zu sein, ist

bislang nicht im Angebot.

Wie das wohl wäre, mit den

bekannten Ratschlägen:

„Nimm besser Moderna

oder Biontech, aber nicht

Astrazeneca“, und sollten

schon Kinder es bekommen:

das Medikament, das uns

blendet, Kummer niemals

wahrzunehmen?

# Das Wundermittel

Es gibt ewige Sicherheit, bedeutet gerechte

Gesundheit und Sicherheit und Frieden für

alle auf Rezept, beinhaltet aber, den Bürger

gesetzlich verpflichtend, das Geschenk der

Medizin auch anzunehmen? Man stelle sich

diese Debatte vor. Die aktuelle Situation regt

mich an, weiter zu denken. Der omnipräsente

Krampf, sichere Verhältnisse zu kreieren,

ist mehr als Wahlwerbung. Es ist die Tüte

über dem Kopf, die Hände vor die Augen zu

halten, den Kopf in den Sand zu stecken für

alle. Eine Impfung der Bevölkerung gegen

das neue Virus macht deutlich wie nie, dass

unsere Leben endlich sind und wir, im selben

Boot sitzend, stets dem grundsätzlichen

Gegner Krankheit und Tod gegenüberstehen.

Das ist zunächst einmal hinzunehmen. Und

die individuelle Antwort darauf, wie damit

umzugehen sei, kann bei kollektivem Druck

auf die Gesellschaft nur zu Widerstand führen

mit den bekannten Ausreißerqualitäten,

die Menschen immer entwickeln.

Menschen haben noch Angst. Das ist tatsächlich

der Rest vom natürlichen Verhalten,

der uns geblieben ist. Dagegen gibt es jede

Menge Medikamente, Geld scheint auch zu

helfen, aber einige haben weder das, noch

Medizin.

:(

Aug 6, 2021 - Das Wundermittel 83 [Seite 82 bis 83 ]


Wo ist Goethe jetzt

Aug 17, 2021

Es ist wieder August. Durchwachsen ist

dieser Sommer. Am Anfang war das Wort,

denke ich oft abschweifend bei diesem

Text, wenn es auch mal um die Ostseeinsel

Fehmarn geht. Ich zeichne hier, wie jedes

Jahr. Ich möchte gern einige Fotos integrieren,

habe bereits passendes Material parallel

zur Schreibarbeit aufgenommen. Eine Arbeit

ist es, die kaum je Geld einbringen wird, aber

keine Spielerei rund um ein vorgedrucktes

Feld darstellt, mit bunten Hütchen drauf, die

nach Anleitung gezogen werden

müssen, mit den anderen albernd

am Tisch sitzend. Das zu mögen,

ist für mich die Kunst! Die Natur

des Kreativen besteht darin, nicht

normal oder gewöhnlich zu handeln.

Urlaub und Arbeit, geht das?

Wer sich langweilt, dem ist nicht zu

helfen. Eine lange Geschichte. Die

ich nicht kurz mal so hinbekomme,

aufzuschreiben. „Das muss man ja

nicht lesen“, meint die beste Lektorin

von allen in so einem Fall.

Das sei warnend vorangestellt.

Freak oder was? Ich bin ja nicht normal.

Als Künstler gehöre ich zu den besonderen

Menschen. Das ist nicht gerade was Großartiges.

Ich möchte nicht überheblich wirken.

Mir geht es, wie den anderen auch. Es kann

aber schon sein, dass ich ungewöhnlich

reagiere. Wem nützt Kunst? Darauf habe

ich eine Antwort: Mir tut gut, zu malen. Ich

schreibe gern. Es ist nicht etwa, weil fieser

Überdruck dringend entweichen muss, ein

Ventil, dass andere nicht haben, eine Art

Schornstein? Meine Furze entweichen normal

am Hintern. Ich mochte es von Anfang

an, schon als Kind, Bilder zu machen, und

die Wut über Unänderbares ist nur eines von

vielen Gefühlen, die eine Rolle spielen.

Sich auf eine Weise ausdrücken können, ist

schon mal was. Ich bin genauso hilflos wie

andere manchmal, zum Beispiel kann ich

mir keine Gesundheit kaufen. Möglicherweise

würde jemand mit meiner Kunst Geld

machen? Das kann ich nicht. Ich habe auch

nicht aus einem therapeutischen Grund angefangen.

Mein Leben begann ganz normal,

ich war so gesund wie die anderen Kinder,

nur dünn. Ich hatte einen kleinen Spielkameraden

in der Nachbarschaft. Das waren

die Jahre, bevor ich im Kindergarten auf

gewöhnliche traf, viele auf einmal (Monster).

An meinen Freund musste ich mich nicht

gewöhnen. Der war einfach so da, wie das

Gras, der Kastanienbaum und unser Gemüse.

Mit Kai spielte ich in unserem Garten, und

zwar noch bevor meine Schwester geboren

wurde. Wir waren so klein, dass

meine Erinnerung an diese Zeit

wohl nur bleibt, weil meine Mutter

erzählt hat, wie besonders wir

Kinder redeten:

„Willst du jetzt gern mal das

Zementmischauto haben? Dann

nehme ich den Kipper.“

„Ich könnte auch das Rollerdings

fahren, was meinst du?“

„Oder wollen wir wieder rote Steine

malen für Matschfarbe machen?“

Es habe nie Streit gegeben, erinnerte

sie sich. Einmal hätten wir beide, der kleine

Kai und ich, voller Eifer gemeinsam und fleißig

aus eigenem Antrieb alle roten Wurzeln

auf einmal im ganzen Beet ausgekriegt!

Aber jahreszeitlich viel zu früh. Das wären

noch ganz kleine Mohrrübchen gewesen,

nicht bereit, geerntet zu werden.

„Wir haben dir heute geholfen Mama und

sind schon fertig. Die ganzen Wurzeln aus

dem Garten haben wir für dich ausgebuddelt.

Sie sind alle in dieser Wanne, sieh mal.“

Dann zog

diese Familie

mit meinem

allerersten

Freund fort,

keine Ahnung

wohin. Ich

war wohl erst

vier Jahre

alt, so lange

ist es her.

Manche Menschen fehlen irgendwann. Mein

Großvater hatte so eine feine Ironie, die selten

geworden ist. Das tut weh: Ganz allein

Witze zu machen, die nicht mehr ziehen,

schon Neunzehnhundertdreißig erkennbar

lahmten. Meine Eltern fehlen. Sie sind tot.

Eine liebe Freundin fehlt auch, und das ist

furchtbar, weil es durch mich maßgeblich so

wurde, wie es nun ist. Was andere ihr sagten,

mag richtig sein. Was sie daraus machte, ist

so falsch, wie alles, was ich tat. Jeder für sich

ist auch scheiße. Ich hoffe, sie lebt. Es bleiben

noch Erinnerungen und Geschichten.

Bilder oder Text, ich mag es, zu erzählen.

„Das hier nicht Schenefeld, ist New York“,

meinte Steve gelegentlich, wenn ich in

seinem Shop die Post zustellte. Eine kleine

Straße, etwas nördlich vom Schenefelder

Platz. Es war eben doch nicht New York.

Sein Gesicht schien auf seltsame Weise vom

schummrigen Dämmerlicht im Kiosk verschluckt,

wenn ich, geblendet von der Sonne

draußen, in den Laden stolperte. Beinahe

unerkennbar dunkel wie gar nicht vorhanden

war da ein Loch über den Schultern?

Gerade

noch die

hellere

Fläche

eines

Shirts

zeichnete

sich

vor dem

Sammelsurium aus Zeitschriften, Zigaretten

und allerlei Lebensmitteln im Hintergrund

ab. Das Bild für den Moment, Rembrandt

hätte Freude daran gehabt. Amerika ist eine

farbige Person. Nur die Kontur einer anderen

Kultur, wenn er hinten am Tresen zugange

war. Vielleicht war das doch die Bronx? „Du

musst einem ein Bild schenken“, meinte er,

wenn Zeit zum Reden blieb, „Uwe Seeler

oder irgendeinem Berühmten“, er habe

Beziehungen – und so mache man das eben

mit der Kunst.

Meine kleine Geschichte.

Als ich einmal Briefträger war und Alexandra

noch ein Schulkind.

# Ein Psalm Davids, vorzusingen

„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe

am äußersten Meer, so würde auch dort

deine Hand mich führen und deine Rechte

mich halten.“ (Lutherbibel, Psalm 139).

Ferien auf Saltkrokan,

ein Buch

von Astrid Lindgren.

Da habe

ich den Psalm

gelesen, als Kind.

Manchmal glaube

ich, nur eine Seite

vom Roman zu

sein. Fetzen der

Erinnerung und

Alltag gleiten

ineinander, wie

rote Marmelade

in den Joghurt. Plötzlich gerät mir irgendwie

Senf da rein? Falsche Farben in der Tube

verschmieren meine Palette.

Eine kleine Welt, Europa. Und Italien zwinkert

mir zu. Weiß wird der Zucker oben vom

Tablett gereicht? Fremde Rätsel und eigene

Puzzlestücke sind wie Fragmente unserer

Geschichte. Eine Insel löst sich, fährt auf den

Atlantik raus.

Brexit.

Kontinentale Verschiebungen reißen durch

die Edinburgh und unsere Herzen. Das

Leben geht weiter: Dies ist mein New York!

Ich habe nur ein kleines Boot und kein

Wohnmobil, aber Fehmarn ist auch schön im

Sommer.

Diese Insel kann nicht davonschwimmen.

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 84 [Seite 84 bis 94 ]


Eine Ferienwohnung am Rande der Welt.

Und ein Flügel der Vogelfluglinie schwingt

seinen schönen Bogen, geleitet uns durch

luftige Baustellen mit nur dreißig Kilometern

stündlich, langsam. Wir schauen

entspannt auf den Sund, sehen noch die

rot-weiße Tüte flattern, bis irgendwann der

Pfad zum modernen Hades drüben fertig

ausgebaggert ist und ein Charon uns in das

lange Loch führt, das alle Blechdosen frisst?

Warten auf die

Liebe lohnt

nicht. Hoffnung

ist nur was für

Literaten, und

die werden vom

Leben selbst (am

Ende) verraten.

Ein alter Mann

muss schließlich

gehen.

# Goethe kommt

ja auch nicht

mehr vorbei

Erzählt das Leben seine Geschichten, füttern

sie kostenlos und unbeworben diesen Blog.

Und einen echten „Bücherstall“, unauffällig.

Leicht zu übersehen. Nicht einmal ein Geheimtipp

ist diese Wörterkiste, abseits vom

Stream. Steht nur so rum. Man nähre sich

gern an neuen Worten. Der graue Schrank

fällt kaum auf. Halber Weg zum Hafen und

kurz mal links raus abgebogen. Hier wartet

ein Regal und Selbstbedienungsladen, die

eigene Bücherkiste, offen für jedermann.

Gib ein Buch, nimm eines. Die Box hat ein

Schild an der Seite: „Hier war Goethe“, steht

dort. Geht man aber nah dran, zeigt sich

(verschmitzt) noch ein ganz winziges „nie“

darunter.

Warum, warum nur geschieht alles – ich

kann es nicht begreifen, kann mir nicht

besser helfen.

Das sei mal so dahingestellt.

Verballhornen ist nötig. Poetrisch Schlamm

schlagen, urban mit der Gruppe gesketcht!

Das trendige Englisch erheitert doch. Ich

mag das modische Zusammenhocken nicht,

will auf Beifall

verzichten. Ich

kann mich im

Ausland zurechtfinden,

spreche

ein wenig

englisch. Das habe ich in der Schule gelernt.

Es gibt auch Anlass zu erzählen, wortreich in

die Ferne zu schweifen, in verschiedene

Geschichten zu kommen. Mir fällt noch

einiges (dazu) ein. Das kann ich erzählen:

Nachdem mein Versuch auf dem

„Rist“ in der Altstadt von Wedel ein Abitur

zu schaffen, nach nur einem Schuljahr

kläglich scheiterte, begann ich auf

der Ernst-Barlach-Schule neu. Schräg

versetzt, von Klasse fünf nach Klasse

fünf. Ich habe schließlich unspektakulär

im Sommer 1981 mein Zeugnis bekommen,

Realschulabschluss. Befriedigend

überall, Erdkunde zwei, Kunst eins.

In die letzten Schuljahre mit der „e“,

wir gehörten zu den geburtenstarken,

fünfzügigen Jahrgängen (in meiner Klasse

waren immer gut dreißig Schüler), fielen

zwei bemerkenswerte Dinge. Unvergesslich

bleibt ein etwa vierzehntägiges Praktikum

im Beruf, das jeder machte und die ungefähr

gleich lang dauernde Klassenreise (mit der

„d“ zusammen, glaube ich war das) nach

England.

Großbritannien für uns Wedeler Dorfbacken,

wir wohnten paarweise in einer Gastfamilie.

Das machte die Schule seit Jahren nach

einem erprobten System. Die Stadt Ipswich,

wo wir unterkamen, liegt nicht allzu weit

von London entfernt. Und über die Zeit bei

„Markenfilm“, das Praktikum in der Werbeund

Trickfilmbranche oder meinen Klassenlehrer

Gerd Kröger, einen guten Aquarellisten

und wunderbaren Menschen, mit dem

wir während der Schulzeit viel unterwegs

waren, habe ich bereits geschrieben. Nicht

nur der alte Reklamezeichner und dieser

Lehrer Kröger in der Realschule haben mich

nachhaltig beeinflusst und mein Leben

geprägt.

Diese Geschichte

kann nicht umweglos

erzählt

werden. Ich muss

abschweifen: Andere

Umstände

und Menschen,

denen ich begegnet

bin, mögen

dazu beigetragen

haben, wie sich

manches ergab.

Ich sehe mit Mitte

fünfzig anders

aus als nach dem

Schulabschluss

oder zum Ende

meines Studiums und beurteile die Umgebung

in einer veränderten Weise. Zu altern

hat mich insgesamt geändert. Die Kraft, zum

Beispiel für sportliches Engagement, ist

geringer, auch meine Interessen sind nicht

mehr dieselben. Mit fortschreitender Zeit im

Verlauf des Lebens sollte es gelingen, eigene

Entscheidungen zu treffen. Das ist bei mir

der Fall. Wenn diese Entwicklung günstiger

verlaufen wäre, könnte ich darüber reden

seit den beginnenden neunziger Jahren, und

es hieße einfach Erwachsenwerden.

# Die eigene Entscheidung

Eine aktuelle Beschreibung vom Urlaub auf

Fehmarn mag illustrieren, was ich absolut

wichtig finde, selbst für mich zu tun. Banale

Entschlüsse können ungemein befreiend

sein. Das war gestern, am Tag vor Ulis

Geburtstag, und den vergesse ich schon mal.

Im Vorraum

vom Supermarkt

wollen

einige den

plötzlich hereinbrechenden

Schauer

abwarten. Sie

haben sich

mit ihrem

vollgepackten

Einkaufswagen neben die Pfandautomaten

gestellt, scharren mit den Hufen. Es pladdert

vor der Ladenöffnung, es dampft und nebelt

drinnen, wo wir überlegen, ob das Ganze

dauert und wie darauf zu reagieren sei.

Niemand scherzt. Regen ist nicht Teil der Zivilisation.

Wenige Meter zum Auto möchten

die Leute nicht im Schietwetter gehen. Schüler

huschen durch: „Das wird scheiße gleich

im Bus, wenn wir nass sind!“ Ich bin mit dem

Fahrrad gekommen. Unsere Ferienwohnung

ist zwei Kilometer südlich vom Zentrum,

etwa Grüner Weg, da muss ich hin. Ich kann

das Rad sehen, allein die wenigen Meter bis

dorthin genügten, komplett durchzunässen,

so heftig hat sich der Sommer von eben

verabschiedet. Als ich losgefahren bin, sah

es prima aus in Luv, wer denkt denn so was?

In der Sardinendose.

Das hintere Maul von Edeka an der Osterstraße,

die Abteilung für Pfandflaschen und

abgestellte Einkaufskörbe anschließend der

Kassen. Der Ausgang eigentlich nur. Rentner

schieben nach. Die benötigen keine Maske

im feuchtvernebelten Innenraum auf Tuchfühlung

mit den anderen, weil sie ja geimpft

sind und nicht jeden Blödsinn mitmachen?

Wir wenigen, die den verordneten Mundschutz

noch brav tragen wie im Laden – und

weil hier weiter aerosole Enge herrscht, sind

bereits in der Minderzahl.

Da kommt eine besonders

penetrante Olsch, so eine Else,

wie sie in jedem Kaff einen

(ehrenamtlichen) Trulla-

Bläla-Treff betreibt (vermutlich)

heran. Die dumme Omi drängt

ungebremst vorwärts. Sie hat

einen Sabbelmund. Eine Maske

würde sie schöner machen,

aber sie hat die nicht mehr

nötig? Ihr kleiner Mut und

Anarchismus überzeugt mich

nicht. Ich kann einen wirklichen

Feind erschlagen, wenn

das sein müsste, ohne Skrupel

– aber eine banale Regel einhalten. Ich habe

einen Führerschein dabei, wenn ich Auto

fahre, ein Ticket im Bus, erneuere meinen

Pass, zahle Steuern.

Ich blockiere anders: Ich gehe nicht zur

Wahl, aus Verachtung einer mir mal nahestehenden

Person in der Politik, meine

Entscheidung. Ich enthalte mich. Das ist in

unserer

Demokratie

Teil des

Wahlrechts.

Rechte und

Pflichten

sind die

Freiheit

innerhalb

von Grenzen

und als

Ergebnis

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 85 [Seite 84 bis 94 ]


langjähriger Erfahrung der Menschheit, die

sich erinnern kann, zu begreifen. Corona ist

ein kollektives Problem, aber nur ein überschaubares

Risiko für den Einzelnen. Die

Pandemie bedroht die Systeme insgesamt

in einem nie gekannten Ausmaß. Aber den

einzelnen Menschen nur dann, wenn er

davon direkt betroffen ist und sich ansteckt.

Bei derzeit achttausend Neuinfektionen in

einem Land mit achtzig Millionen, hieße das,

einer von zehntausend wird mir gefährlich

pro Tag. Dazu kommt die Unwahrscheinlichkeit,

sich direkt in dessen Aerosole hineinzubegeben.

Und dann kann es noch einen

milden Verlauf bedeuten, symtomfrei sogar,

wenn man diese Krankheit wie nebenbei

bekommt. Da kann kein Drosten eine sichere

Vorhersage machen. „Wer sich nicht impfen

lässt, wird sich

infizieren“, sagt

dieser Virologe.

Bei einer Impfquote

von gut der

Hälfte der Bevölkerung

dauert es

ein ganzes Jahr, bis

jeder verbleibende

Dussel Corona

gehabt hat, wenn sich (…) pro Tag infizieren.

Ich habe mich das gefragt, denn der Chefmahner

spricht vom heißen Herbst, den wir

bekämen. Ich mag falsch liegen. Zu rechnen

ist nicht meine Stärke. Ich denke für uns so:

Etwa zweiunddreißig Millionen Deutsche,

die Ungeimpften, müssten sich mit circa

einhunderttausend Infizierten an der Zahl

(täglich) anstecken, um nach knapp einem

Jahr deutschlandweit damit durch zu sein.

Als Vergleich mag die Not im Iran, einem

Land, der Zahl nach in vergleichbarer Größe

dienen. Eine Meldung der Tagesschau vom

Anfang des Monats macht deutlich, dass

bereits bei knapp der Hälfte täglicher Infektionen

davon, der Staat und seine Einwohner

an ihre Belastungsgrenze kommen.

# Fast 40.000 Neuinfektionen im Iran. Noch

nie seit Beginn der Pandemie war die Zahl

der Neuinfektionen und der Corona-Toten

im Iran so hoch. Die Delta-Variante bringt

Krankenhäuser an Kapazitätsgrenzen. Die

Impfkampagne kommt nur schleppend

voran. (Tagesschau, 08.08.2021).

Über zwei Millionen Verkehrsunfälle nimmt

die Polizei pro Jahr in Deutschland auf. In

diesem Winter werden wir zwei Jahre mit

der Pandemie gelebt haben. Dann sind

etwa vier Millionen von uns damit als

infiziert in der Statistik geführt. Eine gute

Vergleichszahl, um für sich selbst das Risiko

einzuschätzen. Man

kann sich fragen,

wann der letzte

Unfall mit einem

Fahrzeug irgendwo

mit den eigenen

Augen beobachtet

wurde, ob man

selbst daran beteiligt

war und wie

viele Personen im

Bekanntenkreis mit

Covid infiziert sind

und wie schwer?

Die breite Bevölkerungsmehrheit

in Deutschland ist durch

Corona nicht in Angst und Schrecken zu

versetzen, wohl aber dadurch, dass ihnen soziale

Nachteile entstehen. Sie möchten das

gewohnte Leben

führen, deswegen

gibt es die Bereitschaft,

dem Staat zu

folgen, der das Impfen

anmahnt. Die

lebensbedrohlichen

Umstände auf den

Intensivstationen

beherrschen nun

kein Medienportal

mehr.

Ärzte werden noch immer gezeigt, und es

wird weiter gewarnt. Patienten und Angehörige

klagen aber nicht mehr, wie anfangs in

der Pandemie. Weder aus Indien oder sonst

wo im Ausland, noch bei uns. Betroffene

tauchen selbst in den Nachrichten gar nicht

auf. Eine Drohkullisse der Fachleute steht,

denn der Herbst stünde vor der Tür: „Die

Menschen im Krankenhaus und auf den

Intensivstationen würden jünger und seien

ungeimpft“, mahnt ein Arzt. Aber ein junger

Patient oder Angehörige, Freunde, die uns

glaubwürdig versichern könnten, wie furchtbar

dieser Schock für ihre Familie wäre,

erscheinen gerade nicht vor der Kamera.

Klammer auf: (Das Tal der Aussätzigen.

„Ben Hur“, daran denke ich oder „die

Schwulenseuche“, eine nicht mehr erlaubte

Bezeichnung für die HIV-Erkrankung aus den

Achtzigern. Schon immer fürchteten sich

Menschen vor dem qualvollen Tod, und nicht

weniger davor, mit der Schuld bezichtigt zu

werden, andere mit der Übertragung ihrer

Krankheitserreger zu gefährden.

Covid?

Natürlich haben sich die Bewohner der

Altenheime gern durchgeimpft. Die Alten zu

Hause haben sich geradezu überschlagen,

schimpften ganzseitig in der Bild, auf die

Unfähigen, die alles verkehrt organisiert

hätten, die nicht funktionierende Hotline.

Opa und Oma regten sich über diejenigen

auf, die ihnen mittels digitaler Windhundsoftware

zuvorgekommen waren, wollten als

erste einen Termin im Impfzentrum bekommen.

Inzwischen sind in unserem Land die

allermeisten Senioren vollständig geimpft.

Das hat die Lage merklich entspannt.

Die Senioren werden aber weiter sterben,

wenn nicht an dem neuartigen Virus, dann

eben an anderem. Und die Gesellschaft hat

damit ein Problem, dass überhaupt Alte

in nie dagewesener Zahl versorgt werden

– müssen. Es kommt ab meinem Alter, ich

nähere mich bereits der Sechzig an, das

Bewusstsein auf, selbst von der „Krankheit“

zu altern bedroht zu sein. Ich sehe mit

Schrecken die vielen „Betroffenen“, die mit

einem Rollator unterwegs sind. Nicht wenige

kenne ich, die noch vor einigen Jahren agil

herumspazierten und ihr Rentnerleben

genossen haben. Ich war in den letzten Jahren

oft im Altersheim, im Hospiz, als meine

Eltern erkrankten, gepflegt werden mussten

und schließlich starben. Das kam nicht in

der Tagesschau. Obwohl ich nicht mehr vor

Ort bin und einen Bogen um diese Einrichtungen

mache wie früher, als ich jung war,

wird dort weiter gelitten. Ich weiß das und

erinnere mich jeden Tag mit ganz eigenen

Bildern daran.

Das Sterben der durch

das Rauchen am Lungenkrebs

erkrankten Menschen

wird nicht gefilmt.

Die letzten Tage eines

Aidskranken zeigen die

Nachrichten nicht. Nicht

wenige beschuldigen

Homosexuelle bis heute

dafür, welche zu sein,

weil sie sich selbst vor

gleichgeschlechtlichem

Sex ekeln würden, und weil es ihnen gefällt,

sich über andere zu erheben. Raucher werden,

besonders wenn sie an Krebs erkranken,

angefeindet. Menschen, die aufgrund von

Fettleibigkeit oder übermäßigem Alkoholgenuss

krank werden, schließlich auf einer

Intensivstation sterben, sehen wir kaum

einmal in einem Bericht.) Klammer zu.

Leicht finden sich dagegen authentische

Flutopfer.

Die reden erschüttert über ihr Unglück, und

müssen nicht herbeigeredet werden. Wir

sehen im Fernsehen die Not von Menschen,

die bei der Flutkatastrophe im Ahrtal alles

verloren haben. Da wird ein Zahnarzt in

seiner

zerstörten

Praxis

gezeigt.

Der Behandlungsstuhl

und

sämtliches

Inventar

erinnern

gerade

noch an

medizinisches Gerät, während die Helferin

und der alte Doktor resigniert aufräumen,

so weit das geht. Alles ist mit braunem

Schlamm überzogen. Er hätte vorgehabt,

sagt der Geschockte, die Rente noch zu

verschieben und einige Jahre Arbeit als der

vertraute Arzt seiner Patienten zu leisten,

daraus würde nun nichts.

Eine Frau steht auf einer wie gepflügt wirkenden

Freifläche. Hier habe bis vor ein paar

Tagen ihre Bäckerei gestanden. Das wäre

eines der Häuser gewesen, die komplett

abgerissen werden mussten, berichtet die

frustrierte Chefin einiger Mitarbeiter. Sie

zeigt uns ein Foto und hofft mit finanziellen

Hilfen auf den Neubeginn.

Die Flut kam so plötzlich! Alles verloren:

Ein Mann klopft Dachbalken vom ersten

Stock weg, soweit das aus dem Erdgeschoss

seiner ehemaligen Werkshalle eines kleinen

Handwerksbetriebes Sinn macht. Es geht

darum, herauszufinden, ob dieses Haus

bleiben kann. Unten erkennt man die eingeschlammten

Konturen zerstörter Maschinen.

Menschen entsorgen ehemals wichtiges

Arbeitsgerät in einen Container. Zerstörte

Existenzen ganz normaler Zeitgenossen wie

du und ich.

Auch die abgedeckten Häuser von Großheide,

ein umgestürztes Fahrzeug und eine

Trümmerlandschaft wohin das Auge blickt,

nach dem Tornado vor wenigen Tagen,

machen deutlich, dass es ganz normale

Menschen in furchtbarer Not gibt. Nicht zu

reden von den dramatischen Bildern und

den Berichten von jungen Frauen, Familien,

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 86 [Seite 84 bis 94 ]


die es gerade noch zum Flughafen in Kabul

geschafft haben. Das ist echtes Weh, wenn

eine Betroffene von ihren Todesängsten

spricht. Und unser armseliger Außenminister

stammelt rum im feinsten Zwirn.

Drei Beschreibungen von Angst machender,

aktueller Not einfacher Mitmenschen. Die

gezeigten Afghanen sprechen deutsch wie

wir.

Wo sind Bilder von aufgebrachten Nachbarn,

Familienangehörigen oder Freunden, denen

Nahestehende fehlen, weil sie gerade an

Covid gestorben sind oder schwerkrank auf

einer Intensivstation liegen? Zu diesem

Thema hören wir Politiker, Virologen und

Ärzte, aber es gibt keine Schilderungen

persönlich Betroffener, wie wir das schon

hatten. Solange die echte Not für Leib und

Leben derart ist, wie etwa ein Bericht hier

und da von einer schweren Karambolage auf

der Autobahn, ein beklagenswerter Todesfall

auf der Baustelle – ein Arbeiter geriet unter

eine umfallende Betonplatte – steht die

Argumentation im Vordergrund, Schüler zu

impfen und ob das Druck ausübe. Man fragt,

was Luftfilter in der Klasse nützen könnten

und mehr dieser Art.

Das mag deutlich machen, wie sehr wir ein

systemisches Problem ausleben. Wir sind

nicht krank und flächendeckend in Gefahr,

infiziert dahinzusiechen. Wir haben ein

Problem, uns so zu organisieren, dass wir als

Staat und Gesellschaft insgesamt funktionieren.

Natürlich sind vier Millionen Betroffene

mit einer bislang nicht bekannten

Erkrankung furchtbar viele einzelne Schicksale.

Deswegen kann man aber durchaus

realisieren, dass ohnehin Menschen sterben

oder mit etwas Schlimmen krank sind. Das

bemerken wir solange nicht, bis diese im

Begriff „Corona“ vereint genannt werden.

Gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner

unseres Landes, reicht es nicht aus, alle in

Panik zu versetzen, weil die persönlichen

Berührungspunkte mit diesen Covid-Schicksalen

kaum anders sind, als würden wir in

der Zeitung von einem schlimmen Geschehen

sonst wo lesen. „Drei Menschen starben“,

steht in irgendeinem Zusammenhang in

einer Nachricht.

# Und wir lesen darüber hinweg

Die vier Millionen, die bereits in Deutschland

erkrankten, fallen in dieser primitiv

gerundeten Statistik nicht auf. Das ist die

Zahl Einwohner, um die ich unser Land

auf achtzig Millionen verkleinerte. Sicher

sind so viele Kranke bemitleidenswerte

Schicksale. Menschen sterben, und das ist

schlimm. Schlimmer wäre, niemand würde

sterben. Wie voll wäre Planet A dann? Greta

Thunberg hätte vielfache Not der Sorte

Umweltprobleme, die sie nicht müde wird,

uns zu erklären. Natürlich wird man sich mit

dem Gedanken beschäftigen müssen, der

jeweils Betroffene zu sein. Das muss jeder

selbst für sich entscheiden, das Haus noch

zu verlassen, weil ja vielfach Gefahr droht

von irgendeiner Bedrohung und derjenige

welcher zu sein, diese abzubekommen. Damit

dieser Herbst die angedrohte Not einer

furchtbaren Infektionszeit bekäme, in der

sich sämtlich die nicht Geimpften infizierten,

müssten die täglichen Neuinfektionen ein

Vielfaches der oben genannten Zahl von

einhunderttausend am Tag erreichen. Das

wird nicht passieren.

Es kann nur bedeuten, dass Corona noch

jahrelang bleiben wird, möglicherweise für

immer. Eine kalte Ewigkeit lang. Ein heißer

Herbst wird es in jedem Fall im Krankenhaus.

Gefahr besteht sehr wohl. Es droht

ein Lockdown, weil die Intensivstationen

kollabieren, Ärger für die Verantwortlichen.

Den schwarzen Peter wird man der

Regierung zuschieben, die Politiker hätten

nicht dazugelernt. Die Virologen sind fein

raus, wenn sie jetzt bereits mahnen, dass wir

uns impfen lassen müssten. Und schließlich

wird, mehr noch als neuerdings, der Zorn

über Menschen wie mich hereinbrechen, die

(verstockte) Impfverweigerer sind. Deswegen

ist der Versuch, die Pflicht zur Impfung

politisch zu erzwingen nachvollziehbar. Das

ist aber solange äußerst problematisch, wie

die reale Gefahr für den Einzelnen unscharf

bleibt. Der Marktplatz in Burg auf Fehmarn

sieht aus, wie immer, wenn wir hier Urlaub

gewesen sind. Das ist ein friedliches Treiben

bunter Massen.

Wir haben Pflegenotstand,

und das nicht

erst, seitdem wir in der

Pandemie leben. Niemals

kann es gelingen, dass

eine ganze Nation

geschlossen solidarisch

an einem Strang ziehen

wird. Ein nicht unerheblicher

Teil bockt. Ich selbst

blockiere gern, aus Wut

über diese Frau in der

sozialen Partei, die mich

verarschte. Kein rational

überzeugender Grund, natürlich, und auch

kein guter. Ich setze mich dem persönlichen

Risiko aus, aber mit mir werden gut zwanzig

Prozent der Bevölkerung (wir Idioten) stumpf

dagegen halten, wenn der Staat mahnt.

Wenn mich, weil es der blöde Zufall will, ein

fremdes Auto abrammt, kann ich sterben.

Wenn ich der eine bin, der sich (von den

Zehntausend, denen ich kaum am Tag begegne)

heute auf Fehmarn infiziert, kann ich

sterben. Wenn ich von einem Alien entführt

werde, weiß ich nicht, was das bedeutet. Das

sind so Wahrscheinlichkeiten.

Fehmarn ist wahrscheinlich so normal wie

alles andere auch. Das gefährliche Leben

kann hier ganz real nachempfunden werden.

Die Aliens sind selten, aber es kracht schon

mal. Ich habe so Unwahrscheinliches nicht

auf der Insel erlebt. In Burg auf Fehmarn

ist es reizvoll für mich, in der Hauptstraße

zu hocken und etwa das Rathaus zu

zeichnen. Nicht isoliert, was auch schön

wäre, weil es hübsch dasteht und architektonisch

interessant ist. Ich möchte das

Treiben der Touristen vor den Geschäften

und die geparkten Fahrzeuge mit in meiner

Skizze haben. In der Nähe von Edeka,

Café Junge und dem griechischen Restaurant

hocke ich auf einer kleinen Treppe,

die mit drei Stufen den Eingang zu einem

privaten Haus darstellt. Ein Zierbaum mit

überschaubarer Krone von nur knapp drei

Metern Höhe und schmalen Stamm steht

zu meinen Füßen. Er gibt ein wenig Schutz,

falls der leichte Niesel wieder einsetzt.

Das ist nur eines der Probleme, wenn man

draußen skizziert.

Zweimal, während ich zeichne, kommt

die Post. Einmal ist es ein Paketbote. Er

klingelt, niemand öffnet, und vermutlich

hat er irgendwo eine Benachrichtigung

hinterlassen. Der normale Postbote kommt

einige Zeit später. Er stellt einfach zu

und wir reden nicht. Ich zeichne, und der

junge Mann nimmt mich kaum wahr. Seine

Professionalität gleicht dem Kollegen von

Hermes oder was es vorhin war. Ich habe

nicht darauf geachtet. Ich konzentriere mich

auf die Autos, Menschen und das Rathaus,

ob ich abbrechen muss wegen Feuchtigkeit.

Für einige Minuten pausiere ich tatsächlich

zu zeichnen, weil ich nicht möchte, dass

das Buch mit den Skizzen (von jetzt drei

Jahren auf Fehmarn im Sommer) durchfeuchtet.

Dann mache ich weiter, und nach

einiger Zeit, so etwa einer knappen Stunde

herumhocken, bin ich fertig. Während dieser

Episoe in meinem Leben, sind massenhaft

Menschen vorbei gegangen. Wenig davon

habe ich in die kleine Skizze mit hineingenommen.

Es kam tatsächlich zu einem Verkehrsunfall.

Das habe ich nicht richtig sehen können,

aber hören. Es war aus meiner Perspektive

links von mir, von

Fahrzeugen verdeckt,

zu einem

leichten Crash

beim Parken auf

der steilen Schräge

gekommen.

„Oh Gott!“ oder

dergleichen hatte

eine Frau gerufen,

als ein Geräusch

zu hören war, das

an das Zerknüllen

von Pappkartons

erinnerte, nur etwas kraftvoller, lauter. Ich

beobachtete einen VW-Transporter, der

schon älterer Bauart, mich an das Fischauto

erinnerte, wie meine Eltern es für ihr Geschäft

nutzten. Von meiner Position aus war

nur der obere Teil des Fahrzeugs erkennbar.

Ich sah eine kastenförmige Plane hinten

und den Teil vorn, wo man sitzt und lenkt.

Das ragte über die Buckel davor geparkter

Pkw. Ich glaube, es war ein roter Transporter.

Dieser Bulli sackte nun, nach dem Blechschaden,

einige Zentimeter rückwärts den

Hang runter, um dann unvermittelt erneut

vorzuhupfen! Da krachte es wieder, als das

Ding sich an der selben Stelle in einen

anderen verbissen hatte. „Oh Gott. Noch

mal!“, rief die Passantin. Die Leute standen

inzwischen in einer kleinen Gruppe und

gestikulierten. Es war aber außerhalb der

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 87 [Seite 84 bis 94 ]


Gegend, die Teil meiner Skizze sein konnte.

Deswegen habe ich alles wie eine Störung

meiner Konzentration empfunden. Das hat

mich kaum interessiert. Später kam die

Polizei. Ich sah nie etwas, aber ein Beamter

schien zu fragen: „Wie geht es Ihnen jetzt?“

Einmal angenommen, zeitgleich hätte es

einen Zwischenfall vor dem italienischen

Restaurant gegeben. „Aaahrg!“, hätte ein

Passant geschrien und wäre wie getroffen

zu Boden gesackt. Mit letzter Kraft, wie von

einem Projektil abgeschossen, hätte der

Arme ausgestoßen: „Jetzt habe ich mich

mit Corona infiziert.“ Eine Frau könnte

gestöhnt haben, während sie die Hände vor

das Gesicht schlug: „Oh Gott! Wieder einer,

nochmal.“ Das hätte ich kaum mitbekommen.

Unwahrscheinlich, dass zur gleichen Zeit,

während ich zeichnete, beides geschah – jemand

crasht seinen Bulli, und ein Fehmaraner

infiziert sich mit Covid – ist es nicht.

Viele werden weder den Verkehrsunfall,

noch die arme Sau, die sich ansteckte bemerkt

haben. Unspektakulär und unsichtbar

ist dieses Virus. Selten macht es schwer

krank, aber einige sterben, und manche

leiden noch lange. Das kann nicht ernsthaft

bestritten werden. Da ist kein Grund, an eine

Verschwörung zu glauben. Wir bemerken

einiges nicht, und doch geschieht es. Auch

dass ich zeichnete, wurde von niemandem

registriert, und diesen Text, versteckt im

weltweiten Netz, liest gar niemand auf der

Welt.

# Das ist meine Realität, und ich lebe ganz

gut damit

Ich lasse mich nicht impfen, aus purem Trotz

gegen diese Gesellschaft, die mir herzlich

zuwider ist – aber wenn ein Test zu bezahlen

ist, habe ich damit kein Problem oder lasse

es eben, die entsprechende Veranstaltung

zu besuchen.

Ich kann die

Abläufe, die

unser System

modern verändern,

prima

nachvollziehen.

Ich ändere

mich nun auch.

Meine Anpassung

an die

unaufhaltsame

Sozialisierung

ist kreativ und

individuell. Ich

verschwöre

mich nicht,

schon gar nicht kollektiv. Ich bleibe für

mich zu Hause. Friseur? Ich kann mein Haar

lang wachsen lassen. Restaurant? Ich koche

selbst sehr gern. Geselligkeit? Ich kann mich

gut allein beschäftigen.

Weiter mit Edeka. Dieses vertrocknete

Schrapnell mit Rentnerschnauze ist

anders: Ohne Not, mir in diesem Kabuff

auf die Pelle rücken zu müssen, das

durchaus noch einige Plätze bietet,

steuert sie bis auf Zentimeter (ohne

mich überhaupt anzusehen) gegen

mich an, dabei ununterbrochen mit

einer anderen Trutsche im Fahrwasser

quasselnd. Sie watschelt, wie es

gewöhnlich für ihresgleichen ist, wölbt

unnötigerweise ihren Busen gegen meine

Brust, tritt mir beinahe auf die Füße,

obschon auf der anderen Seite genügend

Platz für drei ihrer Sorte wäre. Die dumme

alte Tante, die doch zu jung ist, den Krieg

noch erlebt zu haben, knallt eine Tasche

auf die Ablage neben mir. Das ist der Grund,

warum sie gerade hier in die hinterste Ecke

stapft? Jetzt verstehe ich ihre Zielstrebigkeit,

gerade mich anzurempeln. Wie konnte ich

missverstehen, es ist die bessere Seite vom

Raum. Klug sein kann sie! Ich denke nun

selbst rüberzugehen, mir ist es gleich; doch

sie verstopft den

Fluchtweg, blubbert

Bildzeitungsweißheiten.

Ich spüre (angewidert)

den Atem im

Gesicht.

Ihre Brille ist vom

Sprühnebel beschlagen.

Unentwegt

erklärt sie der

kompakten Freundin

im selben Alter

längsseits, wie irgendwas sich gehöre. Sie

hat mich übersehen wie die abgestellten

Bierflaschen, die auch noch stapelweise stinken.

Draußen regnet es jetzt Blasen, Regen

ist nun immer Unwetter.

Es muss sein. Ich stoße die Blöde beinahe

grob weg, bahne mir den Weg mit meinem

Beutel und den Bratwürsten; ich muss hier

raus! Blasen in den Pfützen, so klatscht es

runter.

Es schüttet?

Regen ist kein Wort dafür, was ich gern

eintausche gegen die.

Natürlich habe ich auch damals, als ich mit

der Schule fertig wurde, selbst Verantwortung

übernommen. Illustration studieren,

eine Jolle kaufen und Regatten segeln, das

wollte ich und habe es gemacht. Ich

begann mit dem Rauchen, gab es nach

Jahren wieder auf. Ich suchte Partner,

fand Auftraggeber und illustrierte jahrelang

Zeitschriften, Bücher, zahlreiche

Guides, nicht nur für Radfahrer. Ich

heiratete, und dazu gehören zwei; aber

das ist eine Entscheidung, ja zu sagen.

Jeder trifft Entscheidungen. Heute

aber würde ich sagen, sind Emotionen

und Ratio bei mir viel näher beieinander.

Äußeres beeinflusst das, aber ohne

mich fremdzusteuern.

Was ich meine ist, dass es in meinem Leben

zu lange dauerte, als Erwachsener bewusst

zu handeln. Ich stolperte nicht in meine Ehe,

ich rauchte nicht, ohne das damals doch

wirklich zu mögen, und ich habe mit viel

Interesse studiert und illustriert. Ich möchte

aber etwas anderes sagen. Schwierig ist es,

sich genau auszudrücken. Selbstbewusstsein,

so wie ich es inzwischen verstehe, bedeutet

gesundes Verhalten. Damit beginnt die

Überlegung, dem Wort „gesund“ noch eine

Definition voranzustellen. Die bekannten

Ernährungstipps oder Hinweise, Sport zu

treiben, möchte ich gerade nicht aufzählen.

Ich meine beinahe das Gegenteil der guten

Ratschläge zur Gesundheit, schreibe über

Gefühle und möchte doch nicht die Psyche

vom Rumpf abtrennen. Das ist nicht typisch,

so zu argumentieren.

Viele verhalten sich gewöhnlich, normal.

Sie arbeiten, leben in Beziehungen, sind

erkennbar wenig selbstbewusst, laufen nur

mit. Die Gesellschaft nutzt sie, und diese

Menschen existieren, weil die Zivilisation,

die modernen Techniken und soziale Sicherungssysteme

den Rahmen dafür schaffen.

Integrierte ohne Profil nutzen die Umgebung

auch, durchaus, aber wenig individualisiert

sind sie anfällig für eine unbewusste

Sehnsucht, es würde

ihnen etwas fehlen.

Die Perspektive wäre,

sich noch loszulösen,

etwas aus dem Leben

zu machen, was ganz

Persönliches. Das

kann schiefgehen.

Auch die andere, bereits

eingeschlagene

Richtung beinhaltet

die Gefahr, existentiell

zu scheitern, ohne

sich je zu Besonderem

aufzuraffen. Das kann genauso heißen,

gesundheitlich zu kollabieren, weil gerade

das Mitlaufen bedeuten kann, ungesund

abzubiegen. Käme es schlimmer, würden

diese Menschen als Bausteine unserer Gemeinschaft

nun eher zum Ballast. Nur Ärzte,

Arbeitsvermittler und soziale Einrichtungen,

mit Reintegration beauftragte Helfer könnten

einen Rest von gesellschaftlichem Nutzen

aus ihnen ziehen. Es würde noch Geld

an ihnen verdient, weil sie hilfsbedürftig

existieren, und das, inklusive der Perspektive

von Besserung, gibt den Individuen einen

Sinn und der Gesellschaft ein Motiv für die

bekannten Strukturen.

Das muss nicht abwertend sein, eine defekte

Uhr ist noch eine. Wer nichts leistet, kann

lernen, sich zunächst als Mensch ohne sonst

was zu akzeptieren. Die anderen bewerten

uns danach, worin wir ihnen nützlich sind,

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 88 [Seite 84 bis 94 ]


ihnen etwas geben können, sie erheitern.

Es wird erwartet, wir möchten etwas bieten,

verkaufen, helfen? Es ist möglich, dass

Fremde aus manch andrem Grund gerne

in unserer Gesellschaft bleiben, aber was

bedeutet das uns? Was haben wir individuell

der Welt draußen anzubieten, womit auch

wir zufrieden sind?

# People who need people, are the luckiest

people

Barbra Streisand hat das gesungen. Unser

Fortschritt bedeutet, keiner möge aus dem

fahrenden Boot stürzen, und verglichen mit

früheren Zeiten, ist es besser geworden.

Deswegen erlischt aber nicht das Bedürfnis

einzelner, mehr

aus dem eigenen

Leben zu machen

als normal oder

(sogar) nur unter

Zuhilfenahme

von Beratern

und Therapeuten

mitzulaufen. Das

gelingt nicht

allen Begabten,

und manche

erreichen mit

Findigkeit und hartnäckigem Lernen, Fleiß

schließlich besser, was Talentierte könnten.

Da sind nicht wenige, die ihnen das von

der Natur wie geschenkt überantwortete

Kapital dem Lob nachlaufend verpulvern.

Zu scheitern droht denen, die blindlings

Großes wollen. Ich habe das selbst erfahren

und möchte mich nicht exponieren, besser

zu sein. Nur ein selbstbewusster Mensch

ist in der Lage, im chaotischen Drumherum

die Ordnung für seine gesunde Existenz zu

erkennen. Das war schon so, als wir in der

grauen Vorzeit der Wildnis für uns sorgen

mussten. Die Gesundheit, eine gewöhnliche

Krankheit zu überstehen, ist nicht gemeint,

wenn von Selbstbewusstsein die Rede

ist, sondern die gesunde Fähigkeit, sich

zurechtzufinden. Eine solide Haltung den

unausweichlichen Problemen gegenüber zu

haben, ist weniger normal als es sein könnte.

Wir nehmen einige mit, die besser für sich

sorgen könnten – und so war mein Leben.

Ich habe schon oft Hilfe angenommen und

bin dankbar für vieles.

Ich habe spät gelernt, andererseits Unterstützung

dennoch abzulehnen, weil ich

erkennen musste, dass man mich für den eigenen

Lustgewinn vereinnahmen will – und

kann heute Menschen

ganz entschieden zurückweisen.

Je nachdem.

# Fehmarn

Es war vor fünf Jahren.

Ich verbrachte den

Sommer auf der Insel,

und wir wussten, meine

Mutter würde in wenigen

Monaten sterben. Dann,

vor vier Jahren machten wir Urlaub hier im

August. Und das war direkt anschließend

der furchtbaren Monate bis zum Tod (der

Streit um das Erbe begann, noch bevor wir

uns zum Leichenschmaus setzten), nachdem

mein Vater beerdigt wurde. Ja, wir waren

schon vor den schwierigen Jahren hier.

Anfangs genossen wir den „Urlaub auf dem

Bauernhof“ in Gammendorf.

Wir wurden vertraut mit der Insel, einigen

Dörfern, Landkirchen, Nord- und Südstrand,

schließlich Burgstaaken mit dem Hafen im

Süden, dem Adventure-Golf drinnen in der

Halle hinter der Werft, draußen in Meeschendorf

und natürlich Burg, dem bunten

Städtchen, das Zentrum, das doch nicht in

der Mitte ist. Puttgarden, die Fähre nach

Dänemark war anfangs das Einzige, was wir

mitbekamen, als diese schöne Insel von uns

achtlos überfahren wurde. Das ist heute

anders. Ich kenne einige Leute ein wenig.

Ich fahre mit dem geliehenen Rad, kaufe

die Brötchen beim Bäcker, lese montags

das Fehmarnsche Tageblatt, weil an diesem

Wochentag die „Lübecker“ pausiert. Die

Bildzeitung täglich. Kabul ist gefallen, welche

Zeitung könnte drastischer sagen, was

unsere Regierung vertorfte?

Schmerzen und Tod.

Weiter mit Fehmarn, ich bin einen ganzen

Sommer lang gehumpelt, weil mein Knöchel

schmerzte. Ich ging damit nicht zum Arzt.

Nach gut einem Jahr geduldigem Zuwartens,

hat es doch aufgehört wehzutun. In einem

folgenden Sommer machte ich Urlaub hier,

mit der besten Ehefrau von allen und wusste,

dass rechts mein Meniskus großflächig

degeneriert ist. Anfangs hatte es kurz sehr

weh getan. Dann wurde es von selbst ganz

allmählich besser. Das war vor zwei Jahren.

Ich war vorsichtig. Ich habe nichts unternommen,

obwohl mir zur Operation geraten

wird. Es tut nicht mehr weh. Bestimmte

Dinge lasse ich, laufe nicht mehr Schlittschuh

und jogge nie. Fahrradfahren ist

gelegentlich unklug. Beim Segeln trage ich

eine Bandage.

Das Alter verändert einiges. Seit einem Jahr

sind das Trinken von Alkohol und reichliche

Mahlzeiten, besonders

abends vor dem

Schlafengehen, unangenehm.

Das ist auch ein

Fehmarnproblem; im

Urlaub möchte ich gern

ins Restaurant. Der Arzt,

zu dem ich im Frühjahr

ging (weil meiner Rentner

ist), überwies mich zur Spiegelung und

deutete die Möglichkeit an, es könne (sogar)

Magenkrebs sein.

„Er wolle das abklären“, meinte der

Fachmann, und benötige dazu ein

Blutbild die kommende Woche. Ich

sagte den Termin ab und ließ auch

die Magenspiegelung nicht machen.

Die Überweisung für das Quartal ist

verfallen. Sodbrennen und Völlegefühl

haben sich langsam, aber kontinuierlich

gebessert. Vermutlich, weil es

mir schwer fällt, mein Essverhalten zu

ändern. Ich habe sehr lange wenig oder

keinen Alkohol getrunken, und das finde

ich schwierig.

Jetzt sind wir auf der Insel. Wir stehen

wieder bei Barnacle in der Schlange und

essen fett Eis. Ich trank schon Jever und aß

Rumpsteak in der Stadt. Ich habe mich gern

nach „der Pilotin“ erkundigt. Alles wie immer.

Nicole ginge es gut, das Kind beschäftige

sie, meinte der sympathische Ober mit

Hosenträgern, der immer dort ist. Ich habe

üppig Schlagsahnestreusel bei Pilar am

U-Boot vertilgt. Ich trinke Kaffee wie sonst.

Genauso fein, Georgia hat mir einen Grappa

angeboten, den ich gern getrunken habe.

Der erste Schnaps seit Oktober, und ich

habe gut geschlafen. Wir essen und trinken

abends am Hafen. Ich hatte anderntags mittags

zwei Becks in der „Haifischbar“, während

ich (heimlich wie immer, ohne zu fragen) die

Leute zeichnete.

Die Sonne schien, und die „Jeanny“ wurde

erwartet.

Und abends hat das Kornmehl die Gäste im

„Zum goldenen Anker“ gülden eingestaubt,

dass es eine Freude war, lieber in Billies

Bistro hinüber zu radeln und sich über die

unkundigen Touristen zu amüsieren. Ein

Kümo kriegt das Korn. Magischer Glitter

staubt rund um die zaubrische, blaue Jeanny?

Hustensymtome muss ich ja nicht haben.

Es geht uns gut, und ich gehe doch nicht

zum Arzt.

# Der Sohn von Tom Hanks sei wegen

Corona ausgerastet, und der nehme ja auch

Drogen lese ich im Netz. Einen Shitstorm

habe er bekommen. „Wenn es nicht kaputt

ist, dann repariere es auch nicht!“, hätte er

in die Kamera geschrien. (t-online,

11.08.2021).

Das Recht und die Möglichkeit,

eine vermeintlich asoziale

Entscheidung zu treffen, gegen

die der eigenen Person geratene

Gesundheitsempfehlung

zu konsumieren, gibt manchen

Menschen das Gefühl von Freiheit. Trotz der

empörten Haltung vieler, gibt es noch immer

Menschen, die rauchen, Alkohol trinken oder

ein Motorrad ohne Seitenairbag fahren.

Es gibt Bergsteiger, und Rettungseinsätze

kosten unser aller Geld, wenn diese in Not

geraten. Menschen machen keinen Sport,

sind fett, und das kostet! Es gibt Sexismus.

Menschen weigern sich, zu gendern. Zu viele

Idioten (Billie sagt das) lassen sich nicht

gegen das Coronavirus impfen. Die Umweltziele

werden weiter von bösen Konzernen

missachtet. Die Politik versagt. Wir sind noch

nicht klimaneutral u. v. m. stört.

Die Gastronomen klagen, aber finanziell

läuft es ganz gut an der Ostsee. Die Touristen

seien so pervertiert. Sie wollten alles

sofort. „Penetrant fordernd, seien die Gäste

geworden“, das höre ich an verschiedenen

Stellen. Stimmt: Ich erlebe bei Börke dasselbe,

wie zu Hause bei Allwörden. Beim Bäcker

ist man ungeduldig, drängelt – auch zur

Urlaubszeit. Es wird blöde vor dem Laden

sich behindernd ein- und ausgeparkt. Einmal

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 89 [Seite 84 bis 94 ]


hat ein Kunde die alternativ für Rollstuhlfahrer

gebaute Rampe genutzt, mich auf der

Treppe noch zu überholen, war so im Laden

zuerst am Tresen.

Frechheit siegt und formt die neue Welt.

Das ist kurioserweise mein Grund, den Arzt

zu meiden. Das ist kein Fehmarnthema; es

ist grundsätzliche Kritik: Der Konsumkranke

verlangt die Reparatur, geht zum Arzt, wie

wenn er gerade seine Brötchen fordert. Er

„kauft“ sich Gesundheit, und so ist diese

dann auch strukturiert. Mich schreckt das ab.

Auch deswegen scheue ich den Doktor und

die Impfangebote, die mir aktuell gemacht

werden. Ich fürchte den Apparat, unseren

Staat, die unkritische, aber vorwärts drängende

Masse, das Baukastenbezahlsystem.

Ich riskiere meine Gesundheit, hoffe (naiv)

auf das kürzere Ende, missachte die Perspektive,

länger, aber geflickt lebend zu leiden,

abhängig vom begleitenden Arzt. Ich will so

nicht geholfen werden.

Die Schräge vor der Inselbäckerei zeigt, dass

es den Fortschritt im Positiven wirklich gibt.

Im Geschäft drinnen an der Wand hängt eine

alte Fotografie.

Das Bild in

schwarz-weiß

ist vermutlich

aus den Sechzigern.

Ein alter

Kombi parkt

auf der linken

Seite vor dem

„Café Börke“,

und auf dieser Abbildung gibt es zwar die

Treppe wie heute an der selben Stelle, aber

die Rollstuhlrampe noch nicht. Die Gesellschaft

ist vielseitiger, schafft neue Räume

und Rechte für viele, die Benachteiligte sich

jeweils erkämpfen konnten. Dienstleister

und Geschäfte sind heute kunden- und menschenfreundlicher.

Die einzelnen Menschen

für sich genommen, sind aber insgesamt

durchaus nicht freundlicher zueinander

geworden.

# Die Regengeschichte geht noch weiter!

Diese blöden Rentnertanten sitzen beim

Arzt. Senioren verstopfen die Wartezimmer

gern. Es gibt nur wenige, die weise sind, wie

es sich für Alte gehört. Das ist kein Märchen,

das ist auch Fehmarn. Wenn sie mir nicht

auf die Füße treten, mich in den Schüttregen

treiben, nicht gestorben sind, leben sie noch

heute – morgen dement im Heim.

Ich bin raus aus Edeka.

Ich gehe durch das Megapladdern zum

Fahrrad, als wäre das gar nichts. Ich lege die

Einkäufe im Stoffbeutel in den Drahtkorb

über dem Hinterrad auf den Gepäckträger.

Ich bücke mich zum Vorderrad auf den

Fußboden, wo in kleinen Strandkieseln

das Schloss von Frau Grimm mein Rad im

Bügel vor dem Laden hält und schließe

auf.

Das Wasser knallt spürbar auf meinen

gewölbten Rücken, und die Jeansjacke

gibt schon jetzt nach.

Während ich im kleinsten Gang gelassen

treppelnd vom Parkplatz rolle, grinsen die

ersten Schlauen, die an der Ecke unter

einem großen Reklameschirm Zuflucht

gefunden haben. Sie tragen Sportjacken,

klammern sich an ihre Bikes und haben den

(sicheren) Helm mit gelber

Regenplane aufgesetzt. Ich

bin schon jetzt nass wie

nackt, nach nur dreißig

Metern Strecke.

Ich biege auf den gegenläufig

doppelten Einbahnweg

verkehrt herum nach

Süden und nehme den

heute menschenleeren

Bürgersteig für meine

Radtour, ohne jeden Schutz

vor diesem Unwetter.

Sturzbäche, Kaskaden von

Himmelsgewalt klatschen

runter. Der Himmel weint

nicht, er kotzt mich an. Das

ist ein Schwimmbad. Die

Ostsee selbst ist über mir

und nach unten offen.

Wo bin ich, in Hamburg? Ich sehe linksseitig

von mir auf der Fahrbahn eine still stehende

Blechlawine. In Zweierreihe nebeneinander,

ein Stau mit Komplettblockade schaut mich

an. Wie glotzende Goldfische im Aquarium

sitzen die Leute in ihren verglasten Kisten.

Nur das dieses Wasser draußen ist, und ich

bin der Fisch auf dem Fahrrad. Der Stau

ist genauso am Parkplatz der Inselschule.

Dort stehen überall Wohnmobile auf der

breiten Fläche, größer als das gewöhnliche

Fußballfeld. Rundherum führt die Zubringerstraße,

und da steht auch alles. Blech in jede

Richtung verkeilt und klatschendes Wasser

aus der Luft. Ich radele gemächlich durch.

Links rein kurve ich, rechts biege ich durch

die Verkeilten, und dann schräg zwischen

ihnen hindurch auf den schwimmenden

Radweg. Ich sehe in ihren Augen und vom

Zorn verformten Mündern, dass es nicht

weitergeht.

Sie leiden.

Ich kann, ohne zu stoppen, die

Kreuzung nach Süden passieren.

Da ist keine Vorfahrt zu beachten,

gar das Stoppschild zu befolgen

oder die kleine Ampel zu

betätigen. Sie stehen auch hier.

Längs in meine Richtung und

rechtwinklig dazu von Meeschendorf

kommend und raus aus Burg

nach Meeschendorf stehen auch

alle. Kreuzweise in sämtliche

Richtungen ist alles festgefahren.

Ich gleite, schwimme, grinsend

inzwischen, flott zwischen ihnen

durch. Glupschige Karpfen, im Glas

gefangen, schauen unverständlich

blöde, offenmäulig zurück.

Ihre Wischer wischen.

Ich bin nun durch und durch klatschnass.

Die Haare kleben auf der Stirn, Wasser rinnt

in meine Augen und wieder raus. Ich weine

nicht. Ich lache wie irre vor Vergnügen. Auf

der Mathildenstraße sehe ich sie rechts von

mir. Autos, Autos und noch mehr Autos. Die

stehen zu Blocks, seitdem sie den Südstrand

panisch verlassen haben? Das ist keine

Blechlawine, es ist eine Schlange, eine

Blechperlenkette ist festgeteert. Ich federe

leicht vorbei, als wärs die schönste Sonne

und die Fische blubbern in ihren randvoll

abgefüllten Aquarien mich unverständig an.

Wer hat denn den Schaden?

Es ist nur nass.

Ich nehme die Parade ab.

Inzwischen kann ich mich

nicht mehr halten vor Lachen.

Ich stürze vor Freude

beinahe vom Rad, während

ich die innendrin doppelt

gefangenen Autofahrer demonstrativ

angrinse. Meine

Frechheit wird nun immer

öfter belohnt! Es sind

eher die Einheimischen,

vielleicht mit einem Handwerkerfahrzeug

unterwegs,

die auch gern lachen, mit

Daumen hoch salutieren.

Sie stehen trocken, ich

fahre nass, aber es sieht

nicht so aus.

Ich quere den Stiftsweg, passiere dann

ungebremst den Kappellenweg, und es

staut. Quertreiber, ein roter Opel probiert es

gerade von links durchzukommen, können

mich nicht stoppen, nicht einbiegen, weil die

Längsverbohrten eisern blockieren. Das geht

bis dort, wo sich Mathilden- und Strandstraße

vereinen. Als die Schotterspur vor

dem Grünen

Weg beginnt,

kann ich leicht

hinüberkreuzen.

Hier ist

Stauende.

Es ist nicht

alles schlecht. Gesundheit ist die Freiheit,

wählen zu können. Ich schweife noch mehr

ab, um den Bogen zum Trafalgar Square

eleganter hinzubekommen. Tatsächlich, ich

sehe ein, es könnte zu weit führen (ich bin

quasi mit einer Großbäckerei großgeworden),

das hier ausführlich zu erzählen. Es

würde probiert,

Wasser zu Brot

zu machen, hörte

ich einmal. Aber

eine Entwicklung

überschneidet

sich mit der Urlaubsreise

nach

Fehmarn.

# Backen heute

Bei mir zu Hause

in Schenefeld

sind Geschäfte

vor Ort, die

frische Brötchen,

Brot und Kuchen

(auch Sonntags)

anbieten. Es gibt

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 90 [Seite 84 bis 94 ]


Zeitungen. Die wie

alltäglich gekauften

Brötchen haben wir

als Vesperpaket mit

zur Fahrt auf die

schöne Ostseeinsel

ins Auto genommen.

Das Sortiment der

vormals regionalen

Bäckerei ist neu, wurde nach dem Verkauf

der Geschäfte auf deutschlandweiten Industriestandard

umgestellt. Während Lunchpakete

vom „Mildenberger“ in Backnang, wo

wir auch hinreisen (das ist bei Stuttgart),

eine Bahnfahrt lang frisch bleiben, altbackene

Brötchen von „Börke“ auf Fehmarn prima

sind – hier breche ich ab.

Ganz gewöhnliche Brötchen möchte ich

essen.

Auf der Megaraststätte „Ostseeblick“, die gerade

vom Verkehrsminister Andreas Scheuer

als bester „Rastplatz der Zukunft“ eingeweiht

wurde, kamen wir nach kurzen

zwei Stunden an. Wir probierten die

mitgenommenen Baguette, Dreikornkrustis

und Dinkelknacker mit Käse

und Wurst belegt zu essen. Das waren

ungenießbare Schwämme. Wir haben

alles weggeworfen. Die hatten nicht

ansatzweise vertrauten Brötchengeschmack.

Die Dinger schmeckten nach

gar nichts. Zäh zu beißende Gummifasern

mit Käse. Ich begriff: Lebensmittelersatzprodukte

erzeugen warm

aus dem Ofen kommend den Eindruck

wohlduftender Brötchen. Ein „Dreikornkrusti“

kostet fünfundneunzig Cent!

Billie hat recht: Ich gehöre zu den

Idioten. Aber nicht wegen der Impfverweigerung.

Weil ich noch Morgen für Morgen

dieses Zeug fresse.

# Feldenkrais

Seit den Neunzigern

beschäftigt mich ein auf

den Körper und die Motive

unseres Verhalten bezogenes

Training, das ich aus

Büchern, in Gruppen- und

Einzelstunden entsprechender

Angebote kennengelernt

habe. Es ist sinnvoll,

diese intelligenten Ideen

publik zu machen, kreativ

weiterzudenken. Ich möchte

Gelerntes individuell

kommunizieren: Künstler,

anderweitig Aktive wie wir,

die auf eine mehrjährige

Ausbildung in der Methode,

sie qualifiziert zu lehren verzichtet haben,

interpretieren diese Erfahrungen aus ihrem

eigenen Blickwinkel. Geschult im Weitergeben

durch Berührung und mit gesprochenen

Anweisungen, sich koordiniert in entsprechenden

Lektionen zu bewegen, helfen weltweit

vernetzt Lehrer, die ungewöhnlichen

Anleitungen zu verstehen und einen eigenen

Weg zu gehen. Eine gute Sache.

„Lebe lieber ungewöhnlich“, heißt eine

bekannte Filmkomödie, die ich tatsächlich

nie gesehen habe. Die Story hat vermutlich

nichts mit dem hier zu tun, aber das ist dabei

herausgekommen; mein Leben ist nicht

gewöhnlich. Der Titel gefällt mir! Auf dem

Boden liegen und sich einfach bewegen,

hilft. Ein gewöhnliches Leben ist geschenkt.

Zu scheitern, ohne zu begreifen wieso,

wird zu einer lohnenden Aufgabe, wenn

Erkenntnisgewinn die Bedingungen

verbessert.

Krankheiten mögen unser Leben bestimmen;

bei mir und über mich herrschte

die Angst? Das wusste ich nicht. Eigentlich

ist das keine Krankheit. Erst der Arzt,

den die Überforderten hinzuziehen, verewigt

die Probleme und macht sie zu seiner

Berufung. Ein Patient ist kein selbstständiger

Mensch mehr. Und eine Diagnose ist

eine Schublade. Von Angst wird nicht gern

geredet, und ich habe gelernt, dass auch der

Fachmann die Dinge nicht versteht. Viele

Namen ein und derselben Sache machen

es nicht einfach. Medikamente möchten

die Qual vermeiden machen (und die böse

Schwester Aggression). Der Arzt fürchtet

die Angst des Patienten und der Arme wird

nun doppelt gebunden. Das hat man mit mir

gemacht.

Alptraum. Ein böser Geist ergriff von mir

Besitz. Die finsterste Macht verzauberte

mich auf die Abmessungen von Gulliver,

aber nicht in das Kapitel mit den Liliputanern.

Der Kleine sollte ich sein? Überriesen

hatten gegen die Liebe gewonnen. Eine Fata

Morgana der glücklichen Zukunft hatte sich

als solche entpuppt. Dem war nichts entgegenzuhalten:

Ich wurde in eine Kommode

gedrückt, hinterste Schublade unten. Mein

Leben schien zu Ende. Es wurde dunkel, als

der Mann mit dem weißen Kittel kam, und

die Lade mit mir darin zugeschoben wurde.

Dann knallte (frech) noch kurz ein Buch

hinein, und das war es. „Das starke Selbst“,

Moshe Feldenkrais.

Schwierig, im Dunkel einer Kiste zu lesen, in

der du gefangen bist. Das schwache Selbst:

Sich zu fürchten, ist gelegentlich normal.

Das war bei uns nicht gern gesehen. Tempo

und Fröhlichkeit mussten sein. Das „reiß

dich zusammen“ prägte die Zeit nach dem

Krieg, wo es aufwärts ging und alle sich zu

verkaufen lernten. Wir begriffen nicht wie

man es macht, nur was zu tun sei. Heute ist

es nicht besser. Zwischen modern geschiedenen

Eltern, Geschwistern und manchen

Matzen, ziehen wir fröhlich mutige Fratzen.

Autodidakten wissen oft nicht, „wie“ sie

etwas tun. Manche üben lange, bis sie bemerken,

sich nur zu wiederholen, ohne dass

eine Sache voran geht.

Das Training, das ich meine? Wir nennen die

Übungen lieber Lektionen, um zu betonen,

dass nicht die Geläufigkeit an sich das Ziel

ist, sondern die Erweiterung von eingeschlagenen

Wegen. Die Beobachtung „wie“ etwas

geht, möge wichtiger genommen werden, als

was es sei.

Das ist nicht Gymnastik à la Qi. Frauen

auf einer Lichtung im Wald! (Ein Mann ist

immer dabei). Sie schauen angestrengt auf

die (konzentrierte) Leiterin, während sie

mühsam ein Bein heben, lauschen krampfgewohnt,

alles ganz richtig wie gesagt zu

machen und möchten doch loslassen? Es

geht anders. Wir folgen keinesfalls dem

Tempo eines Chingdong nach dem Motto:

„Einatmen jetzt eins, zwei, u-und drei!“

Man benötigt den Guru nicht und keine

Räucherstäbchen, kann es zu Hause allein

auf dem Fußboden anwenden oder im Alltag

draußen unterwegs. Das soziale Miteinander

Gleichgesinnter ist dabei nicht vonnöten.

Mich würde es inzwischen auch definitiv

stören.

# Orthopäden kennen keinen Kopf

Mitbewerber zocken ab. Was braucht es das

Hirn, wenn der Körper zickt: „Mein Rückenbuch“,

Medizinprofessor Grönemeyer. Der

Rest vom Doktor tut ihm nicht weh, und

wenn es doch passiert, wir lassen morgens

den Arsch einfach im Bett! Sprüche wie:

„Ein starker Rücken kennt keine Schmerzen“

(Kieser Training) oder plakative Videos,

versehen mit einem roten Pfeil in Richtung

eines bestimmten Muskels der Protagonistin

in Sportkleidung: „Hier musst du dehnen!“

(Liebscher und Bracht), erscheinen billig,

wenn man gelernt hat Unterschiede wahrzunehmen.

Lieber drüber gähnen, als dehnen …

Der Initiator der nach ihm benannten Methode,

die ich erlernte, selbst anzuwenden,

Moshe Feldenkrais, vertrat die Auffassung,

Erziehung und Selbsterziehung wären der

Schlüssel dazu, wie sich ein Mensch entwickelt.

Das Verhalten als dynamische Spur

durch die Zeit zu betrachten, machte der

(eigentlich: Physiker) Trainer seiner Methode

zum Ansatz, Schüler und sich selbst Beweglichkeit

zu lehren. Körperliche Blockaden

aufzulösen, war ihm vor allem ein Mittel,

die Möglichkeit zu schaffen, beweglicher zu

denken.

Es geht

bei diesem

Training

nicht ums

Turnen

in einer

Gruppe,

dabei

verklärten

Ideen

anzuhängen

oder artistisches Ballett für jedermann

zu ermöglichen. Wir folgen nicht der Lehre,

richtig zu atmen. Wem es typisch ist, in den

Bauch zu atmen, kann begreifen, alternativ

den Brustkorb zu weiten, und die daran

gewöhnt sind, ihren Unterleib flach zu halten,

lernen Zwerchfellatmung. Die mit dem

geraden Rücken verstehen sich zu biegen,

andere, sich besser aufzurichten. Es geht uns

nicht darum, hübsch zu gehen. Wir glauben

daran, dass Flexibilität sich gut anfühlt. Die

Erfahrung, leichter voranzukommen und

durch Schmerzen geleitet, bald den Weg in

weniger davon zu gehen, überzeugt diejenigen,

die es gewohnt sind, sich anzustrengen,

weil es uns immer gesagt wird. Wir möchten

nicht andere Gedanken, streben besser an,

das Gehirn an sich umzuschreiben, wie etwa

die vom Schlag Getroffenen es müssen,

wenn sie wieder gehen lernen. Die Höchst-

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 91 [Seite 84 bis 94 ]


leistung menschlichen Vermögens selbst

nachbiegen und Gliedmaßen über Gebühr

dehnen zu können, ist kaum das Ziel, aber

sich keine Grenze für mögliche Verbesserungen

aufzuerlegen.

Ein „starkes Selbst“, das der Erfinder dieser

Ideen anstrebte, sollte nicht mit der Herde

zu laufen sein. Ich habe davon unendlich

viel gelernt und scheue mich nicht, fremdes

Gedankengut auf meine Weise selbst hinzuschreiben.

Das ist mehr als zitiert: Ich habe

so viel verinnerlicht. Es ist mir in Fleisch und

Blut übergegangen und besser als jede Religion.

Der Autodidakt Feldenkrais: „Ich fasse

an, fasse mit meinen Händen an“, ist nicht

drumherum gekommen, große Gruppen zu

unterrichten (mit auch drolligen Ergebnissen,

die nebenbei unausweichlich sind, wenn

eine ganze Turnhalle voll Menschen auf dem

Boden herum

rollen).

Was für ein

Spaß, das

anzusehen:

YouTube

ist das

Beste,

einen

Eindruck

zu bekommen.

# Religion

Warum hängen Menschen dem Glaube an

oder folgen einer Lehre, die ihnen das Leben

besser, angenehmer machen soll? Meiner

Auffassung nach kann es nicht gelingen,

Krankheit oder gar den Tod selbst außen vor

zu lassen, bei den Überlegungen, bewusster

zu existieren. Es ist allenfalls möglich, die

Gegebenheiten wie sie nun mal sind anzuerkennen

und den bestmöglichen Weg zu

nehmen, der von hier aus zu sehen ist. Gerade

das aber scheint nicht zu sein, was die

in einer Gruppe trabende Mehrheit erwartet.

Die Meisten scheinen dem goldensten Kalb

zu folgen, zum grünsten Gras aufbrechende

Kälber sind sie.

Statt mit dem Leib, der ihnen wie lästig am

Denkapparat baumelt, Frieden zu schließen,

reden viele sich die Gegenwart schön.

Sie rechtfertigen alles und möchten ihren

Schmerz betäuben. Anfällig für jede neue

Idee, sind manche Zeitgenossen bereit, aber

auch jeden Blödsinn zum eigenen zu erklären

und dabei zu sein, nur aus diesem Grund.

Die eine glaubt, wiedergeboren zu werden

oder ein Himmelreich schenke (mal später

dann) den ewigen Frieden. Wie soll das dort

sein, wer will es wissen? Absurd erscheint

doch, den jeweiligen Zustand des Körpers

auszublenden. Der individuelle Rumpf und

seine Glieder sind Teil jeder Erfahrung und

Erinnerung. Als könne mein Selbst unabhängig

davon in eine andere Körperlichkeit

switchen? Eine originelle Idee, genauer

darüber nachzudenken ist: „Beeing John

Malkovich“, ein wunderbarer Film! Ich

erinnere mich auch an eine Kurzgeschichte

von Guareschi. Es gelingt dem Priester Don

Camillo, das Denken eines Dorfbewohners

(quasi ein Schaf seiner Herde), mittels eines

Zettels und dem darauf notierten Wort „Seele“,

zu binden. Der Listige kann den Bauern

in seinem Sinne positiv manipulieren, weg

von den armseligen Kommunisten um den

Bürgermeister Peppone.

Es kommt dicke. Die moderne Welt schlingert.

Mach mit! Lippen aufspritzen bis zum

Entengesicht, denn wir schauen ja gern vorwärts

in das Selfie und bemerken unser Profil

nicht? Im falschen Körper gefangen, bitter.

Am falschen Ort gelesen, von der Links- zur

Rechtshändlerin. Goethe war gestern für die

Buchhändlerin. Der zeitgemäße Intellekt

ergreift Besitz von unseren Gehirnen. In der

Welt der Worte, sei besser keine Torte.

Das eine ist, die ganz besondere Problematik

zu kreieren und nun den Ausweg zu suchen.

Auf der anderen Seite spült unvermittelt

der Sturzbach ganze Häuserzeilen und

Existenzen fort. Luxus- und Echtkrankheiten

unterscheiden sich noch. In der vernetzten

Welt gefangen oder mit der Planetin

gemeinsam den Hitzetod sterben? Es wird

sich zeigen, was stärker ist, der eingebildete

Mensch oder die Natur.

Schon immer hat sich unsereiner mit

manchem herumschlagen müssen. Was es

damit auf sich hat, individuell zu denken,

zu empfinden, und ob sich’s getrennt ereignen

könne? Mal davon abgesehen, dass

ich getauft, konfirmiert, aus- und wieder

eingetreten bin in die evangelische Kirche,

kann ich mir nicht wirklich vorstellen, wie

ein ewiges Dasein gestaltet sein könnte. Das

verlangt auch kein Gott. Nur die Eingebildeten

beharren drauf. Ich bin Maler, und

meine Werke sind abgebildet vom äußeren

Eindruck und

eine Reflexion.

Dass ich mir

kein fixes Bildnis

ins Hirn mache,

wie angeraten,

sondern meine

Hand zum Werkzeug,

hilft. Das

ist der schwache

Trost, der mir

bleibt, die anderen könnten’s genauso wenig

begreifen wie ich selbst. Jeder schaffe nach

seiner Art und Talent. Ein Glaube, der mich

insgesamt von der Geißel jedweder schweren

Krankheit befreit, wenn ich der Lehre nur

fest genug anhänge, erscheint mir dicht am

Wahnhaften zu sein und letztlich Quatsch,

aber viele verfolgen ihre Wege (auch von

sich überzeugte Atheisten) mit der starren

Idee, gerade ihnen könne nichts geschehen.

Sie reden sich eventuell Übles, wenn’s passiert,

schön: Dann „solle es wohl so sein.“

Die Angst, als ein starkes Gefühl wahrzunehmen

und zu beherrschen lernen, ist

aber mehr. Die statische Idee, Gene oder

Schicksal bestimmten uns, hindert so viele

daran, einen besseren Weg zu nehmen. Autor

Moshe Feldenkrais macht gern klar, dass ein

Mensch nur für den gegenwärtigen Augenblick

so ist, wie er sich gibt und schon im

nächsten Moment um die aktuellen Erlebnisse

der nahen Vergangenheit bereichert

sein wird, sie zu dem hinzuzählen muss, das

nun unänderbar zu seiner Geschichte gehört.

Die Frage ist nicht, ob wir uns verändern,

sondern ob wir bereit sind, das zu beobachten

wie es genau geschieht und die daraus

gezogenen Schlüsse einer Selbstkontrolle

unterwerfen, zu unserem Besseren verwenden.

# In seiner Autobiografie schreibt Ralph

Giordano: „Die Befreiung von der Angst vor

dem jederzeit möglichen Gewalttod, weil

ich eine jüdische Mutter hatte, war, ist und

wird das Schlüsselerlebnis meines Daseins

bleiben.“ (Wikipedia).

Ich bin mit meiner Schwester, Eltern,

Großeltern und von Freunden begleitet in

das Leben gestartet. Vorbilder sind darüber

hinaus Lehrer gewesen, denen ich probierte

nachzueifern, weil ich mich für ihre Motive

begeistern konnte. Die Reise mit dem „Prinz

Hamlet“, der damals noch regelmäßig verkehrenden

England-Fähre, die Unterelbe abwärts,

an Cuxhaven und Helgoland abends

vorbei, bleibt unvergessen. Es ging über die

raue Nordsee nach Harwich (unten an der

Ostküste der britischen Insel), anschließend

folgte der

Aufenthalt

bei einer

Gastfamilie

am Stadtrand

von Ipswich,

zusammen

mit Steffen,

meinem

Mitschüler.

Wir verbrachten

Zeit mit

diesen Engländern, passten auf Little Justin

auf und besichtigten die Werkhalle, wo ein

wahrhaft riesiger Bagger von unvorstellbarer

Größe eines Hauses auf seine Reparatur

wartete, die Arbeit unseres Gastgebers.

Das kleine Auto, mit dem die humorvolle

Familie uns oft herumfuhr, machte bei jedem

Kuppeln ein quietschendes Geräusch. Wir

mutmaßten, eine verborgene Maus würde

gequält und schmissen uns weg vor Lachen.

Im Treppenhaus unserer Gasteltern hing

ein farbiger Druck oder Ölgemälde, ein

Aktbild. Das war eine nackte Dschungelfrau

oder jedenfalls eine gebräunte Schönheit

am Fluss. Steffen und ich bekamen,

pubertierend und doof wie wir waren, auch

dort bei jedem Vorbeigehen unerklärliche

Lachanfälle. Das Haus hatte in der Art

des Reihenhauses einen kleinen Garten.

Einmal war unsere Aufgabe, das kleine

Kind zu hüten, und ich meine mich daran

zu erinnern, dass es auf den Weg zwischen

das selbstgezogene Gemüse schiss. Die

Decken der Engländer bestanden (natürlich

genauso für uns, die Gäste) aus mehreren

einzelnen Lagen anstelle der gewohnten,

einteiligen Sommer- oder Herbstdecke, wie

das in Norddeutschland üblich ist. Drei oder

vier dünne Lappen übereinander hatten die

lästige Angewohnheit, des Nachts eine nach

der anderen davon zu gleiten.

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 92 [Seite 84 bis 94 ]


Wenn wir nicht mit diesen lustigen Gasteltern

zusammen waren (das Essen wurde

tatsächlich erst auf dem Teller gewürzt, und

am Bus standen alle brav in einer Schlange

an), unternahmen wir in Gruppen einiges mit

Kröger und Frau S. Die Englischlehrerin der

Parallelklasse „d“ war natürlich mitgefahren.

Vor allem eine Sache, die ich damals nur am

Rande registrierte, kommt mir heute wieder

in den Sinn. Nicht nur die englische Lebensweise

in der Gastfamilie war ganz anders als

zu Hause. Es gab auch etliche Ausflüge, etwa

nach London. Dort machten wir an verschiedenen

Stationen Halt und lernten die Briten

und ihre Besonderheiten kennen.

Ich kann mich an einen kurzen Aufenthalt

am Speakers’ Corner erinnern. Was damals

daran faszinierte, kann von jungen Menschen

heute nicht ansatzweise nachempfunden

werden. Es gab kein Internet, nur so viel

zur Erklärung.

# (…). Von diesem Glanz sei heute nur noch

wenig übrig. Zwar trete

hin und wieder mal ein

Mitglied der Sozialisten

auf, so Lewis. Die

großen Parteien und

Politiker jedoch scheuen

Speakers’ Corner seit

Jahren. „Die Ecke hat

nicht mehr die Relevanz

wie früher. Seitdem die

Religiösen das Zepter

in die Hand genommen

haben, ist sie zu einem

Ort für Fanatiker und

krude Verschwörungstheorien

geworden“, so

Lewis. (Welt – „Genau

genommen ist das

ein absoluter Freak-

Zirkus“, Veröffentlicht

am 22.07.2015, Florian

Schmidt, London).

Als Kreativer habe ich mit den Jahren lernen

müssen, dass Grafik zu schaffen, Bilder zu

malen oder Illustrationen anzufertigen

Kommunikation bedeutet. In gewisser Weise

ist mein Lebensweg durch ein früh zutage

getretenes Talent vorgezeichnet gewesen.

Meine individuelle Sprache, das eigene Bild?

Schon als ganz kleines Kind fiel ich auf,

anders zu sein: Begabt. Ich bin in der Folge

gar nicht umhin gekommen, Entscheidungen

zu treffen, wie ich diese Fähigkeit in meine

Existenz integrieren kann. Meine Auffassung

auf welche Art und Weise ich damit umgehen

möchte, kreativ zu produzieren, hat sich

insgesamt gewandelt.

Nach den Anfängen, aus dem Talent mithilfe

fundierter Ausbildung einen Beruf zu

machen, musste es weitergehen. Es zeigte

sich bald, dass die Frage: „Wem nutzt es?“

zu stellen ist. Schon in der weiterführenden

Schule am Steinhauerdamm in Hamburg, die

uns mit einem Fachabitur die beschränkte

Hochschulreife ermöglichen sollte, lehrte

uns meine liebe Klassenlehrerin Angelika

das theoretische Grundmodell. (Die könnte

ich, glaube ich, noch wo mit dem normalen

Apparat anrufen, und deswegen fehlt sie ein

wenig weniger).

Kommunikation bedeutet, jemand sendet,

andere nehmen Inhalte auf, und dann

kommen noch weitere Parameter dazu. Die

psychologisch relevanten Bausteine können

je nach Sektor der tatsächlichen Anwendung

dargestellt werden. Der Werbung, beim

wissenschaftlichen Vortrag, Radiosendung

oder Theatervorstellung, dem Konzert mit

Publikum und bei vielem mehr gereicht

das bekannte Modell seine Struktur.

Diskussionen auf der Arbeit und Themen

in der Familie werden so wissenschaftlich

beleuchtet, mit der vielseitigen Infografik

erklärt. Die ästhetisch motivierte Botschaft

einer Abbildung beinhaltet darüber hinaus

den Eigenwert künstlerischer Ausgestaltung

eines Themas. Die ungewöhnliche Sprache

des Gestalters: mehr als tausend Worte und

dergleichen.

# Zwitschern

Was heißt das, kommunizieren? Moshe

Feldenkrais, der oben skizzierte Lehrer eines

speziellen Bewegungstrainings, geht an

einer Stelle im Buch „The Potent Self“ davon

aus, dass die Kontrolle des Menschen, der

beginnt laut mit sich selbst zu reden, ungenügend

ist und hier möglicherweise

eine krankhafte

Änderung im Selbst ihren

Anfang nimmt. Wehret den

Anfängen! Kommunikation,

die erkennbar nicht bei einem

Rezipienten ankommt,

sei krank, nimmt der

bekannte Verhaltenstrainer

an. Stimmt das?

Der Drang zur Kunst.

Feldenkrais publizierte

seit den vierziger Jahren

des vergangenen Jahrhunderts.

Zu der Zeit, und als

ich jung gewesen bin, in

den Achtzigern, wäre uns

eine entgegenkommende,

mit sich selbst redende

Person auf dem Gehweg

unterwegs, unstrittig als krank erschienen.

Heute ist das ganz normal, nur dass diese

Menschen per Headset oft kaum erkennbar

anderen wichtige Nachrichten senden: „Bin

jetzt am Bus und gleich bei dir.“ Das ist nicht

krank, das ist nun nur normal. Es muss immer

irgendwo ein zuhörendes

Gegenüber sein,

dann ist zu reden legal.

Glaube dran, dass das,

was du zu sagen hast,

irgendwo ankommt:

Bete deine Gebete, iss

rote Bete und pflanze

Blumenbeete.

Inzwischen ist es leicht,

mithilfe eines aufgeschnappten

Namens

und Bildersuche im

Netz die unglaublichsten

Künstler kennenzulernen.

Da sind ganz

bestimmt einigermaßen

unbekannte Könner unterwegs. Sie werden

nie Millionen am Markt machen. Auch nicht,

wenn sie einmal gestorben sind. (Wenn ich

tot bin, wirft meine Familie alles weg. Davon

bin ich überzeugt).

Das bringt mich gelegentlich dazu, die

Frage nach dem Wert eines Bildes anders

zu stellen. In meinem Wohnzimmer hängt

kein Druck, sondern die jeweiligen neueren,

von meiner Frau akzeptierten Bilder, die ich

gemalt habe. Die anderen sind im Dachgeschoss,

das meine liebe Gattin vermeidet,

allzuoft aufzusuchen. Die selbstgestellte

Frage muss sein, inwieweit ein Bild gerade

mir, dem Schaffenden nützt? Das sei auch

anderen geraten, die staunen, wie viel ein

echter „Picasso“ oder „Van Gogh“ einbringt

– wem denn? Es mutet mir, dem quasi Kollegen,

seltsam an, den zu bedauern, der es

in seinem doofen Unglück richtig fand, sich

das Ohr abzusäbeln. Vielleicht war das nötig

für ihn, wie sich welche heute ritzen? Etwas

merken: Er lebte ungewöhnlich.

Noch heute bewundern manche den Trompeter

Chet Baker, der nicht wenigen Zeitgenossen

als verschmutzter Junkie galt (der

auch Musik machte). Das starke Motiv, ein

Leben lang zu malen oder der Trompete intelligente

Töne

zu entlocken an

sich, bleibt ein

Geheimnis, das

der Konsument

mit Geld nicht

kaufen kann. Wie

will ein solcher

wissen, wer hier

der Unglückliche

sei?

# Gewöhnlich

doof

Nun gibt es

Menschen, die

ein Tagebuch

führen, das sie nur selbst gelegentlich lesen.

Dies mag dem Modell einseitiger Kommunikation

ohne schnelle Rückkopplung die

gesunde Variante bieten, den Weg (und das

Verständnis, wie Kunst zu begreifen ist)

weisen. Das könnte den leicht zu begreifenden

Eingang in das Selbst zeigen, erklären,

wie wir eigentlich schaffen. Einfach gegen

die Wand zu reden oder im Club Leute zu

bequatschen, die nicht wirklich zuhören und

auf einer Straße ins Nirgendwo unterwegs,

im Wahn zu rezitieren, mag krank sein.

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 93 [Seite 84 bis 94 ]


Vielleicht hilft Schreiben auch zu denken

und zu malen nützt dem, der es tut, allein

wegen der Aufgabe, zwingend den eigenen

Stil zu kreieren? Wir sollten ehrlicherweise

zugeben, dass anderen zuhören nicht eben

leicht gelingt, und mit Reden glänzen zu

wollen die Regel ist.

Genie und Wahnsinn

lägen dich nebeneinander,

glauben wir zu

wissen. Die moderne

Welt, vernetzt wie nie

zuvor, muss sich fragen,

ob Schwarmintelligenz

der Antrieb

unseres digitalen und

in der Folge nicht

selten politisch wirksamen Tuns ist? Oder

ob genauso oft Schildbürger das Licht ihrer

Weisheit ins Dunkle unserer Denkfabriken

bringen, die behaupten, es mit Säcken eingefangen

zu haben.

Moderne Kulturfreunde kämen wohl nie

auf die Idee, in den Bildern von Vincent van

Gogh armseligen Quatsch zu sehen? Eine

Einschätzung, die Zeitgenossen des Malers

angetrieben haben mag, seine möglicherweise

wenig zielgerichteten Versuche

auszustellen und Anerkennung zu erlangen,

nicht nur zu torpedieren, sondern den

später Berühmten als kranken Spinner zu

ignorieren.

Damit wären wir erneut bei der Theorie, dass

jemand, der einen Monolog im Wohnzimmer

hält, einen Roman für die Schublade schreibt

und inzwischen sogar jemand, der sich am

Speakers’ Corner auf einen mitgebrachten

Tritt stellt und lamentiert, krank ist.

# Freak

Heute muss es Instagram oder Twitter, Youtube

oder eine andere, anerkannte Plattform

sein, wie ja auch Kunst nur dort etwas zählt,

wo entsprechendes Publikum auftaucht.

Wer auf die Idee verfällt, seinen Stuhl am

Feldrand einer Weide mit einigen Kühen

aufzustellen, den Tieren einen Vortrag hält,

gilt nur dann als normal, wenn derjenige

sich dabei filmt, noch besser,

streamt und eine nennenswerte

Zahl von Followern

kommentiert. Wir können

demzufolge beruhigt sein, alles

ist ganz normal geblieben.

Es sieht nur anders aus.

:)

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 94 [Seite 84 bis 94 ]


Kurze Arbeit

Aug 26, 2021

Meine Doktorarbeit

ist anders. Nur „Spitzenfreunde“

begrüßen

mich schon mal

mit: „Herr Doktor.“ Ich

weiß das zu schätzen.

Es wertet diese Leute

kaum ab. Augenzwinkernd

schwanken

sie zwischen petzen

oder Klappe halten.

Die sind unsicher,

was sie mit ihrem Wissen machen sollen?

So kommt es mir vor. Als wären wir allesamt

Spione und scheinbar eingewoben ins Netz,

zinken mir die Kollegen Bedeutsames zu.

Das ist der beste Tratsch, zur Selbsthilfe

empfohlen.

# Pss - st!

Ein treibender Eisberg scheint unterwegs.

Das Meiste verborgen, nur eine Spitze

davon kennend, pusten mir Fremde ein paar

Schneeflocken vom Gipfel ihres Wissens ins

Gesicht. Ich habe Ian Fleming gelesen, bin

kein Plagiat. Normale Freunde werden mit

Spitznamen geadelt. Von einigen Seglern auf

der Elbe unterwegs, wissen manche nicht

einmal richtige Namen. Jeder kennt Toddel,

Telle, Adje, Plüm, Schampus, Müschen oder

Petrus. Das ist durchaus ein

Netzwerk. Was macht einen

guten Freund, wie er im Lied

besungen wird, aus? Nur Kocki,

Piet und Niels nennen mich

Jonni.

Anders die Frau, die ich kannte:

Das hat mich klüger gemacht.

Keine Freundin, Politiker bilden

Seilschaften. Verbindung gerissen.

Hätte ich besser zugehört,

begriffen? Unsere Lieblingsbürgermeisterin

bevorzugt die

untadelige Gesellschaft. Ein

pervers ausspionierter Hofnarr, war ich das?

Gehörig abserviert. Zur Karrierefrau passt

besser, man hat sauber promoviert. Blasiert

gebildet, anstelle schmutziger Bilder ist so

toll: „Einer der klügsten Menschen, die ich

kenne“, Christiane über ihren Doktor Harvard.

Er grinst hochgehängt von der roten Laterne.

Wadenbeißern fällt schwer zu lächeln. Um

sich nach oben zu fressen, braucht es die

sichere Witterung und moralisch reines, rotes

Parteifleisch. Aber Vorsicht, ich erinnere

mich: Dem Genossen Heiko bescheinigte die

Plakatschönheit einst „der sei taff.“ Kabul

zeigt, manche denken anders drüber heute.

Glatt wie Olaf Teflon „und ab dafür“, wenn’s

wo brennt. Die soziale Partei, das weiche

Ei. Meine Stimme geht nicht in die Urne,

sondern in die grüne Tonne wie abgebildet.

Ich habe meine Lektion gelernt – von den

Spitzenfreunden. MfG Dr. John ;)

Aug 26, 2021 - Kurze Arbeit 95 [Seite 95 bis 95 ]


Frisch gestrichen!

Aug 30, 2021

Den Worten Taten folgen zu lassen, ist eine

berechtigte Forderung, wenn Enttäuschte

annehmen, mit einer Absichtserklärung bedient

zu werden. Heute verstehen wir unsere

Umgebung als konstruierte Realität, weniger

die Dinge zum Anfassen und Reinbeißen

um uns herum. Wir wissen mehr als frühere

Generationen, sind darauf angewiesen,

belastbare Informationen zu bekommen.

Der Anteil verstörter Mitglieder unserer

Gesellschaft, die vieles

anzweifeln, wächst. Nach

dem Sommerurlaub bin

ich damit beschäftigt, das

begonnene Bild weiter zu

malen. Kurioserweise begreife

ich den Sinn, das zu

tun und die nötige Motivation

mich dranzusetzen,

auch darin, dass mir die

Brötchen von gegenüber

nicht mehr schmecken.

Die im Urlaub genossenen

Backwaren der Inselbäckerei

kamen dem früher

Üblichen durchaus nahe.

Echte Brötchen meine

ich, nicht aufgebackene

Teiglinge.

# „Frisch gebacken“ klingt lecker knusprig

und ist ein beliebter Marketingbegriff.

Bäckereien, Backshops mit Selbstbedienung

oder sogar Discounter bewerben ihre

Backwaren gerne mit dieser Aussage. Doch

viele Anbieter stellen die „frisch gebackenen“

Brötchen aus vorgefertigten, gekühlten

oder tiefgefrorenen Teiglingen her und

backen sie vor Ort nur auf. Verbraucher

haben allerdings ein anderes Verständnis

von frisch gebackenen Brötchen. Das zeigen

eine Studie, eine Umfrage sowie (…). Im

Lebensmittelrecht ist „frisch gebacken“ nicht

definiert, und auch die Rechtsprechung gibt

keine klare Orientierung. So ist die Angabe

oftmals eine leere Werbefloskel ohne jeglichen

Anspruch an die Art der Herstellung.

(Verbraucherzentrale, 2018).

Farbe auf die Leinwand aufzutragen, befriedigt

als eine echte Herausforderung.

:)

Aug 30, 2021 - Frisch gestrichen! 96 [Seite 96 bis 96 ]


Leben wie gemalt

Sep 2, 2021

Es ist eine These: Menschen lieben nicht, sie

nutzen andere für sich selbst. Wir werden

nicht geliebt. Wir suchen Liebe, aber wenn

wir wo ankommen, ist es eine Täuschung.

Das Ganze hält nur so lang, wie unser

Gegenüber bekommt, weswegen wir in

Beziehung sind. Veränderungen beinhalten

das Risiko, dass eine Verbindung emotional

verarmt und möglicherweise zerbricht. In

guten und schlechten Zeiten: Es kommt

vor, dass Menschen nicht nur einen Vorteil

daraus ziehen, wenn da ein Partner ist,

der ihre Bedürfnisse reflektiert, sondern

andere mittels vorgetäuschter Identität

gezielt ausgenutzt werden. Die Erfüllung in

romantischer Liebe zu suchen, ist der Beginn

visionären Denkens, möglicherweise der

Antrieb überhaupt unterwegs zu sein – und

der Anfang unendlicher Irrtümer.

Was treibt den Menschen, der Wunsch nach

Anerkennung oder die Wut, etwas nicht zu

bekommen? Möglich ist es, mit gefährlicher

Atomkraft zu fahren wie im hochtechnisierten

Unterwasserboot, vollgepackt mit

finsteren Raketen, und andere segeln bloß

naiv mit der Jolle oben rum.

# Beziehungen

Wir sind miteinander in Verbindung, die

Liebe erschafft Paare; mit unsere Familie,

Freunden, während der Arbeit. Und mit

der Gesellschaft insgesamt, pflegt oder

erleidet jeder einzelne Mensch individuelle

Beziehungen. Ein Beispiel ist der finanzielle

Aspekt unserer Existenz, der uns alle verbindet.

Wir drucken uns kein eigenes Geld nach

Bedarf. Die Solidargemeinschaft ist nicht nur

ein christliches Gebot, es ist der akzeptierte

Zwang unserer Gegenwart. Wir

können uns alternative Lebensformen

ausdenken. Wir können aber

Großbritannien nicht auf die andere

Seite des Atlantiks verschieben oder

Deutschland aus der Mitte Europas

nehmen.

Zwei Menschen, die sich damit

beschäftigt haben, bewerten die Idee

eines monatlichen Grundeinkommens

vom Staat für jeden von uns.

Der Befürworter stellt die gewaltige

Summe, alle mit gut tausend Euro

monatlich auszustatten, dem Gewinn

an fehlender Bürokratie gegenüber,

die wir bislang benötigen, um Einzelfälle

zu prüfen. Er rechnet vor, dass es

billiger käme, jeden gleich zu bezuschussen,

anstelle Sozialschwachen

differenziert nach Antrag zu helfen

wie die bisherigen Systeme es tun.

Die Alternative, sämtliche steuerliche

Abgaben um eben diese Summe pro

Person zu reduzieren und im Gegenzug

jegliche Sozialhilfe, Arbeitslosengeld

und dergleichen abzuschaffen,

steht dahinter? Das hieße, einem

Gutverdiener zwanzigtausend zu erlassen,

einem der nichts tut, dieselbe Summe zu

schenken, und das System muss insgesamt

das Bonbon für jedermann erwirtschaften.

Die schöne Utopie kränkelt, wenn wir uns

einer modernen Idee des Finanzministers

erinnern, die Renten zu besteuern. Ähnliches

könnte ein bedingungsloses

Grundeinkommen zukünftig

ad absurdum führen. Dann

finge das Spiel, einen größeren

Bierdeckel zu benötigen, um

darauf die inneren Finanzen

des Systems zu berechnen, von

vorne an. Etwa, wie die Briten

mit der Europäischen Union

nach dem Brexit verhandeln, bis

alles wie dazumal geregelt ist.

Es ist die typische Verblendung

innovativer Menschen, die für

uns alle am Besten zu denken

meinen, nicht an den zukünftigen

Zeitgenossen zu denken,

dem dann wieder einfällt, seine

Gegenwart im eigenen Sinn

umzugestalten.

Der Ökonom, im Gegensatz zum

davon begeisterten Studenten,

glaubt nicht an das bedingungslose Grundeinkommen

als Anreiz, das Leben freier und

sozial gestärkt in Angriff zu nehmen. Er führt

als Argument an, dass die Freiheit zu handeln

nicht durch diese Beziehung zum Staat,

etwa, als wären wir sicher gefüttert wie

das Tier im Zoo, beschnitten werden dürfe.

Während der Befürworter in der grundsätzlich

zur Verfügung stehenden Summe einen

Anreiz erkennt, das Leben angstfrei zu gestalten,

meint der Gegner dieser Unterstützungsform,

dass es gerade nicht motiviere,

noch zu jagen, wenn Futter ungefragt von

oben ins Gehege gelegt würde. Der Spezialist

gibt zu bedenken, dass die Freiheit ein

hohes Gut sei und unser Risiko, das Leben zu

fürchten und deswegen aktiv zu werden, ein

Bestandteil derselben.

Dem kann entgegengehalten werden, dass

es keine Freiheit ohne Abhängigkeit gibt. Insofern

bleibt es eine organisatorische Frage,

wie der Wohlstand eines funktionierenden

Systems Teil des Ganzen sein kann und

Steuern auf der anderen Seite verpflichtend

dagegen halten. Ein Leben auf dieser Welt

ist nur in Beziehungen vorstellbar. Tatsächlich

wählt der Erwachsene sich seine Abhängigkeiten,

löst sich vom Elternhaus und geht

neue Beziehungen ein. Von besserer Freiheit

zu reden, einer Unabhängigkeit, die vollkommen

wäre, nie bindet, treibt den Begriff auf

die Spitze bis ins Gegenteil. Realität ohne

jede Bindung gibt auch keinerlei Halt. Um

einen Schritt zu tun, müssen wir ein Gewicht

haben und benötigen Boden zum Ausschreiten.

So kann jede Beziehung nach dem

jeweiligen Nutzen für uns begriffen werden.

Wollen wir bis zu den Knien im Matsch

stapfen oder bevorzugen die asphaltierte

Bahn für unseren Porsche? Es macht Sinn,

genauer darüber nachzudenken, wenn wir

vom fernen Glück träumen, wo individuell

die Bedürfnisse sind und wie sie befriedigt

werden könnten.

Es gibt reichlich Raum, sich kämpferisch zu

geben: Da sind Aktivisten bei Greenpeace

wie anderswo welche, die für das bedingungslose

Grundeinkommen kämpfen. Da

finden sich Organisationen, die zu rauchen

verbieten möchten wegen der gesundheitlichen

Risiken. Auch im Bereich gesunder

Ernährung für die Gesellschaft sind einige

unterwegs, uns zu ändern. „Fridays for future“,

Frauenrechte überall und das Schlagwort

„Gerechtigkeit“ führen nicht wenige im

Mund, wenn sie uns drankriegen möchten,

die Gesellschaft zu bessern. Das ist unser

Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 97 [Seite 97 bis 99 ]


Fortschritt. So kritisieren wir den sich zurück

entwickelnden Talibanstaat in Afghanistan

als mittelalterlich. Ein Unkraut frisst die

ganze Region, so scheint es vielen. Unsere

Ordnung, der saubere Garten Demokratie.

Wir werden nicht müde zu stöhnen, Gesetze

müssten auf einen Bierdeckel passen. Nicht

einmal ein islamischer Staat kann darauf erklärt

werden. Und Adolf Hitler als gottloses

Ungeheuer darzustellen, hilft kaum zu verstehen,

was geschah. Gern wird die Zeit des

Nationalsozialismus auf seine Singularität

als bösen Führer reduziert. Das suggeriert,

wir Guten hätten nichts damit zu tun.

# Böses isoliert zu betrachten verkennt, dass

es trotzdem bleibt

Die Gegner der Zigarette sind am Widerstand

rund um den harten Kern der Raucher

festgefahren, welche sich, nicht irritiert vom

Warnhinweis, unbelehrbar dem blauen Dunst

hingeben. Dazu kommen die Tabaksteuer

einziehende Behörden, die mit diesem

Geld wirtschaften. Die Gesundheitsapostel

scheitern an der Gruppe, die unbeirrt frisst

und säuft. Die böse, fette oder süße Nahrung

wird weiter hergestellt. Menschen beziehen

ihren Lohn davon, dass es geschieht. Die

Umweltretter beißen sich am Widerstand

einiger fest, die nicht zurückstecken möchten.

Die gute Gesellschaft verzweifelt an den

Idioten, die (wie ich) sich nicht gegen die

Coviderkrankung impfen lassen, und mehr

davon. Unbelehrbaren nutzt emotional, nicht

mitzumachen. Dieser Lustgewinn erschließt

sich vielen kaum. Die Guten sind immer die

Doofen? Nicht, weil sie übervorteilt werden,

sondern weil ihnen der Horizont fehlt, einer

Lehrmeinung Erfahrung entgegenzustellen.

Nur wer blockieren und schlagen kann, wird

bewusst darauf verzichten. Ein kleiner Anteil

der Bürger entscheidet sich nach Überlegung

für oder gegen eine Empfehlung. Die

anderen wissen nicht, wie verletzend sie

trampeln. Sie meinen hilfsbereit und gut

zu sein oder schlauer als der Rest. Sie sind

doch nur Brei, der gegebenenfalls sonst wo

hin marschiert – wie befohlen.

# Allzumenschliches

Liebe und Nutzen: „Was du von dem Mädchen

wolltest, ist ja klar, aber was wollte

sie von dir?“, werde ich gefragt. Jahre sind

vergangen, und es ist bekannt, dass ich

verheiratet bin. Was wollte – ja, wie soll ich

das sagen? Es scheint so klar nicht zu sein.

Eine große Blase könnte geplatzt sein. Ein

Blockwart hat sich den Schädel verbeult.

Schenefeld ist gerettet, hat mich verändert.

Ich vertraue niemandem, verwahre Emotionen

wie nie zuvor.

Ich lehne andere ab. Freundlich sein, ist

einfach. Was heißt das schon. Ich blockiere,

bin dagegen! Ich gehe nicht zur Wahl, nicht

ins Restaurant, zum Arzt. Ich schneide mein

Haar selbst. Ich respektiere

keine Frau, weil sie eine

ist. Ich achte, respektiere

Menschen – manchmal. Das

kommt auf den einzelnen

Moment und mein jeweiliges

Gegenüber an. Dann bin

ich authentisch und empfinde

Empathie. Eine zarte

Pflanze in meinem Biotop

für schützenswerte Gefühle

mit Seltenheitswert. Ich

missachte aufgezwungene

Regeln. Ich verachte

Polizei, begrüße Attentate

(unsere Lebensweise

kränkt, macht zornig und

verstört), gleich welcher

Motivation und beweine

den Täter anstelle der

„sinnlosen“ Opfer. Ich

erkenne mehr als genug

Sinn im Tod. Gewalt abzulehnen, scheint

mir der krampfhafte Versuch, sie plakativ

auszublenden. Ich verspüre keine Solidarität

mit anderen, nur weil sie Menschen

sind. Ich grenze mich ab. Ich bin gewaltbereit,

wann immer man mir auf die Pelle

rückt, riskiere meine Existenz, statt mich

anzupassen, wenn ich provoziert werde.

# Ich werfe die Gegenwart und jeden

zukünftigen Tag bewusst weg

Ich kann auf eine Zukunft verzichten. Das

bedingungslose Grundeinkommen habe

ich de facto, ohne es gewollt zu haben:

Tod, Nachlass, Streit und endgültiger

Bruch mit der Vergangenheit. Ich hätte

gern auf dem geerbten Land und für unsre

kleine Farm gearbeitet wie bisher. Familie

ist der kleine Tisch. Statt dem fetten

Steinbutt, der uns alle nährte, bedeutet mir

die eigene Scholle heute ein schmales Boot

und ist keinesfalls sättigend aufzuessen. Mir

bleibt als klügste Beschäftigung, im

Hof der selbstgemauerten Wallanlage

Kreise zu gehen. Da türmen sich

übrig gebliebene Brocken, die ich

nicht (auch noch) auf andere werfen

mag, und Frust ist der Zement. Ich

kreiere meine Kunst im isolierten

Kosmos. Anerkennung, entsprechend

meiner Lebensleistung, dem

geschaffenen Œuvre, ist weder zu

erwarten noch ernsthaft wünschenswert.

Dafür müsste ich viel weiter als

über den eigenen Schatten springen

und fühle mich dafür nicht nur zu alt,

entsprechend deprimiert, sondern im

überschaubaren Bereich zu Hause

vergleichsweise frei.

Kapitän auf eigener Leinwand, ein kleiner

König bin ich. Treffender wäre das Eingeständnis,

verkleidet als Farbterrorist durch

das Leben zu schippern. Zur Flucht nicht

mehr fähig, arbeitet hier ein vom Schicksal

unweigerlich eingefangener Sträfling,

welcher nun wirklich gern sämtliche Wände

seiner Zelle bekritzelt. Das ist mein Modell,

dieses Haus im Dorf und den Rest da draußen

zu verstehen, wo die Menschen scheinbar

leicht das Richtige tun. Meine Freiheit

ist die größere! Unbedeutend genieße ich

den Vorteil eines Übungsfeldes, die anderen

nicht zu beneiden, wenn sie wirklich gut

sind und amüsiere mich über unzählige

Spinner in der Szene. Meine Perspektive ist

mitnichten ein Aufbruch. Mich treibt der

Zorn, dicke Mauern stärker zu machen und

Gucklöcher

für

Spanner

zu lassen,

wo es mir

gefällt.

Widerlich

ist die

Verwandtschaft,

wenn

es zu

erben gibt.

Widerlich

hoch zwei

ist die

Politik. Das

ist meine

Meinung

bis vor das

Gericht,

über den Tod hinaus. Hass treibt mich, wenn

ich unter dem Meer fahre. In meinem Alter

ist zu einer noch romantischeren Liebe

suchend aufzubrechen ohne Sinn. Dass wir

ohnehin sterben und das ganz Tolle nicht

kommt, hilft den jeweiligen Tag wahrzunehmen.

Ich begreife mich, und für andere

genauso unser Selbst, in Bewegung – und

unsere aktuellen Möglichkeiten, den Weg zu

gestalten – mehr nicht. Eine Beziehung zum

Drumherum ist bindend hinzunehmen. Aber

nicht bedingungslos. Meine Bedingungen

definiere ich selbst. Damit riskiere ich auch

meine Gesundheit auf meine Verantwortung

hin. Das tun die anderen auch: Die einen

wissen, wie sie etwas tun, die anderen nicht.

Was wir tun, ist nicht so einfach zu bestimmen,

wie wir das machen schon.

Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 98 [Seite 97 bis 99 ]


# Dass Liebe die Welt zusammenhalte?

Die Einsicht mag uns zwingen und dahin

geleiten, etwas zu empfinden, das möglicherweise

gar nicht real ist wie etwa

Gewalt und Schmerz. Liebe entsteht im

Nichts zwischen den

Menschen, sogar denen,

die einander ablehnen

und ist deswegen nicht

fassbar. Manchmal wissen

wir das erst, wenn

alles nicht mehr im Hier

und Jetzt erlebbar ist.

Ein Bild ist geblieben.

Ich kann sehr viel Wut

bemerken und unsere

Schwierigkeit standzuhalten.

Mit offenen

Augen und Findigkeit

lässt sich manches vermeiden, was böse

enden kann. Gottes Liebe, wenn man daran

glaubt, kann in Beziehung zur Umgebung

bemerkt werden und hilft, individuelle Wege

zu gehen. Dass wir andere hassen, ist nur

logisch und sollte nicht verdammt werden.

Erst in der Reflexion findet sich die persönliche

Antwort.

Wenn der Wunsch nach Anerkennung unser

Motiv ist, kreativ zu sein, kann das abgelöst

werden vom Verstehen, dass eine Leinwand

nur die Bühne ist, auf der ein Maler sprechen

kann. Damit wird ein Bild zum Theaterstück.

Zu Ende überlegt, kann die Suche nach

romantischer Erfüllung in der Realität als

abgeschlossen gesehen werden. Der Kletterer

muss nirgendwohin, wenn ihm klar wird,

gerade vom Gipfel abzusteigen, weil da oben

nichts ist. Weiteres entscheide die Zukunft.

Malen wird zu einer Beschäftigung, durchaus

einer Suche nach dem gelungenen Ausdruck.

Kunst ist eine Erfindung und eine Vision

nur dann, wenn der Schaffende sich dessen

bewusst ist. Für Fantasten gilt, was der

Altbundeskanzler meinte: sich behandeln

lassen. Als Maler können wir selbst handeln

und ansonsten die Liebe vergessen – weil

sie nie existierte. Ein Wort treibt Menschen

in die Irre.

Wir sind modern und gut aufgestellt, die

Freiheit immer gerechter zu gestalten. Ratio

und die zu erreichende Sicherheit finden

dennoch Grenzen. Da hilft kein Unglaube,

mich von diesen alltäglichen Befürchtungen

zu befreien, etwa ein finsteres Virus könnte

mich vernichten, nicht die erste, zweite und

dritte Impfung, wenn ich in einem

kleinen Geschäft bedient werde

und nach einiger Zeit die verrotzte

Chefin ausschnaubend aus dem

Hinterraum dazukommt, die Maske

halbherzig zurecht zupfend.

# Es gibt keinen Helm gegen

Weltraumschrott

Es gibt keine Anleitung, wann

man am besten im Straßenverkehr

seinen Besorgungen nachkommt,

um Idioten zu entgehen, die drängen,

hupen oder überhaupt rasen. Weniges

hilft gegen Menschen, die nur renommieren

möchten. Nie wieder unterstütze ich eine

mit ansprechendem Gesicht oder weil sie

eine Frau ist. Ich muss die sozialen Parteien

ertragen und ihre Gerechtigkeit, von der diese

Leute reden. Es gibt so viele Augenblicke,

in denen Abgrenzung nötig ist im banalen

Alltag. Meine (liebste) Umgebung kann ich

nicht zum Verstummen bringen, wenn sie

mich, nachdem sie es gerade im Fernsehen

sah, telefonisch drangsaliert, ich müsste die

medizinische Maske auch in der Wohnung

tragen, um meine (geimpfte) Familie nicht

zu gefährden (als Impfverweigerer, der ich

sei) usw.

:)

Hass ist erlebbar. Auf die Zuneigung der Umgebung

bin ich angewiesen. Ich bin wirklich

glücklich im Moment. Liebe, alles hat seine

Zeit. Einmal war ich auf dem höchsten Berg

in der dunkelsten Nacht nicht allein – und

denke jeden Tag daran und Weihnachten

noch mehr.

Sep 2, 2021 - Leben wie gemalt 99 [Seite 97 bis 99 ]


Zu spät

für dich

Sep 16,

2021

Es gibt nur einen Papst auf dieser Welt, die

anderen Religionen sprechen mit den vielen

Stimmen ihrer jeweiligen Prediger. Hierhin

und dorthin weisen sie die Gläubigen, die

sich für einen Gott entschieden haben,

der ihnen gerade passt. Die Kirchen bei

uns klagen über Mitgliederschwund. Der

Missbrauch ist weiter das Thema bei den

Katholiken, und wenn Herr Bedford-Strohm

spricht, klingt er wie der Frank-Walter aus

dem Bellevue. Der Bindestrich verbindet beide

irgendwie. Als ich jung war, wurden wir in

der Schule vor Sekten gewarnt. Schon immer

hatte der Glaube diese gefährliche Seite,

dass Menschen bereit sind, sich religiöser

Führung unterzuordnen und andere es ausnutzen.

Kann der Mensch sich seinen individuellen

Gott maßgeschneidert designen? Es

scheint zu funktionieren. Das moderne Bild

vom lieben Gott, der gut in eine smarte Welt

passt, Frauenrechte und sexuelle Vielfalt bejaht,

hat sich erst mit den Jahren entwickelt.

Parallel zum differenzierten System unseres

Rechtsstaates formulieren moderne Prediger

angepasste Spiritualität, die jeden in der

Gesellschaft mitnehmen kann. Andernfalls

verlassen Ausgegrenzte diese Kirche wie einen

Verein. Die Gruppe derjenigen, die nicht

Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sind,

sich jedoch nicht zum beherzten Atheismus

durchringen können und weiter „irgendwie“

suchen, ist groß geworden.

# Kein Stress mehr mit dem Herrn Jesus

Der moderne christliche Gott scheint sozial

unterwegs zu sein, so beschreiben manche

das Wirken und Wollen, entsprechend unser

Sollen; prägend ist seine wohlmeinende Gesamtheit

– wie die demokratische Regierung,

die das Beste für uns alle will. In der Politik

ist nicht angreifbar zu sein empfehlenswert,

um gut voranzukommen. Dementsprechend

groß ist die Sehnsucht nach Menschen, die

noch klare Kanten aufweisen. Die Vereinigten

Staaten haben gezeigt, welche Risiken

das birgt. Ein Donald Trump kann nicht

Präsident einer demokratischen

und vielfältigen Gesellschaft

sein. Die uns alle betreffenden

Probleme werden dazu führen,

dass der kollektive Druck auf

einzelne zunimmt. Gerade die

Anführer der großen Kirchen

hätten die Möglichkeit, ihre

Stimme für den Gläubigen an

sich zu erheben und weniger

die geschmeidige Gesamtheit

als erstrebenswertes Ziel. In

unserer Zeit, wo sich zunehmend

Gruppen für manches

profilieren, sollte dem Einzelnen

ein Angebot gemacht werden,

sich besser zu verstehen.

Weil bekannt ist, wie diktatorische

Züge an der Spitze vom

Staat dazu führen, dass das

System in Schieflage gerät und

in der Folge das Unrecht, andere

auszugrenzen Staatsräson

ist, möchte die Kirche nicht ins

Hintertreffen geraten und stößt

ins soziale Horn: Was allen

diene, sei auch Gerechtigkeit

für jeden einzelnen.

# Fühle, wie es sich für alle

gleich gehört?

Wer bin ich denn, wenn die Schule aus ist

und das Erwachsenenleben beginnt? Zu

Moses Zeiten ein Familienvater, der seine

Leute durchbringen muss: ein Mann. So

formt sich die bekannte Großfamilie und hat

zwei oder drei Probleme. Beim Pharao ist es

scheiße, und der Weg durch

die Wüste in das gelobte

Land ist weit. Buchstäblich

eine Durststrecke. Kein

Wunder, dass der Anführer

ein paar Gebote für seinen

wandernden Wüstenstaat

ganz gut gebrauchen kann.

Sicher haben die Juden, die

nach dem Ersten Weltkrieg

das damalige Palästina

(nach der Balfour-Erklärung)

besiedelten und schließlich

den modernen Staat Israel

gründeten, ähnlich empfunden.

Auch der gewöhnliche

Amerikaner mag sich dran

erinnern, wie das Gebiet,

das heute die Vereinigten

Staaten von Amerika darstellt, besiedelt

wurde – und sich deswegen Israel verbundener

sehen, als manch’ anderer mit weniger

der Identität, irgendwo für einen Neuanfang

weggegangen zu sein. Was dem einzelnen

hilft, der im Land bleibt, aber von Menschen

umzingelt ist, die anders empfinden,

lehrte Jesus und wurde zum Begründer der

christlichen Religion. Die Homosexuellen

als Gruppe mit gemeinsamer Identität oder

die Menschen mit Migrationshintergrund

(in einem Ausland für sie) bei uns Lebenden

und die Jugend, die vom Verhalten der

umweltfeindlichen Erwachsenen in ihrer

Zukunft bedroht ist; das sind Beispiele für

moderne Großfamilien. Bleibt noch der

einzelne Mensch, der Zugehörigkeit zum

Ganzen sucht. Seine individuelle Perspektive

muss er erst entwickeln, wie eine Aufgabe

lösen. Sogar als Migrant unter anderen, die

hier pauschal Ausländer genannt werden, ist

jemand zunächst für sich selbst verantwortlich.

Wenn ich nicht durch Herkunft

oder Hautfarbe eine Schublade bekomme,

in die mich die Umgebung steckt, bleibt

die Herausforderung, die eigene Kiste, das

persönliche Boot für eine gute Reise erst

einmal selbst zu zimmern.

# Herr Rossi sucht das Glück

Beim Regattasegeln heißt es, wer die wenigsten

Fehler mache, gewinnt. Der Bildhauer

glänzt mit dem Spruch, er müsse nur alles

Falsche vom Block weghauen, das Pferd

(oder was es sei) wäre schon im Stein gewesen.

Und vom Schwimmenlernen wissen wir,

dass Anfänger zu viele Bewegungen machen,

bis nur noch welche ausgeführt werden,

die dem Vorgang tatsächlich nützen. Das

Leben gelingt also leichter, wenn jemand

weniger Fehler macht. Zu kommunizieren,

ist wesentlicher geworden. Wir stehen mehr

als früher im Austausch mit anderen. Es

erfolgt ein ständiger Abgleich, wie in einer

Partnerschaft oder zusammen mit Freunden,

Kollegen richtigerweise etwas unternommen

wird, das bereits methodisch erforscht

wurde. Das bietet unendliche Vorteile, da

eine unglaubliche Flut an Erfahrungen

geteilt wird, aber auch einige Nachteile, zum

Beispiel effizientes Mobbing.

Wir kannten, dass Feuerwehrleute und

Polizisten sich auf eine gestelzte Art und

Weise äußerten, wenn sie im Fernsehen

zu einem Unfall oder Verbrechen Stellung

beziehen mussten. „Der Verunfallte, die

männliche Person, ist in seiner Eigenschaft

als … unterwegs gewesen.“ So reden wir

unter Freunden nicht. „Dieser Typ arbeitet

bei der Firma dahinten, und da vorn hat es

gekracht“, beschriebe

uns ein Bekannter, was

passierte. Beamte und

Helfer sprechen eine

Berufssprache. Die

seit dem Aufkommen

des Fernsehens in den

Siebzigern bekannten

Floskeln erreichen mit

dem Genderstreit die

Politik und haben die

Sprache insgesamt

erfasst. Nie jemanden

auszugrenzen, vermeidet

verbale Angreifbarkeit,

wie früher nur

Polizei oder Feuerwehr

aufpassen mussten,

Persönlichkeitsrechte

Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 100 [Seite 100 bis 103 ]


zu wahren, Ermittlungsdetails geheimzuhalten

und dennoch zu informieren, nicht

für deplatzierte Äusserungen belangt zu

werden. Die Flut von Wortmeldungen wird

unsere Sprache noch mehr ändern. Da

können Menschen, die im geschlechterneutralen

Sprechen schlicht Blödsinn erkennen,

keinesfalls gewinnen. Nächste Generationen

finden nichts falsch daran, alle mitzunehmen

und werden sich auch unter ihresgleichen

äußern wie gegenwärtig die Offiziellen.

Ich käme wohl kaum auf die Idee, privat

von den Mitseglern und Mitseglerinnen auf

meinem Boot zu reden. Auf die Frage nach

meinem „Vorschoter“ sage ich: „Sie (oder

nenne ihren Namen) ist mein Mitsegler“

und empfinde das als normal. So war es

üblich. Das wird sich ändern. Sprache ist

selbst zu einem Instrument geworden, weil

wir häufiger als je zuvor eine technische

Apparatur dafür benutzen? Wir schreiben

hin, was wir sagen, und es bleibt. „Fasse

dich kurz“, war früher ein Hinweis, wie

korrekt zu telefonieren sei. „Wir sehen uns

morgen Nachmittag um drei“, sagte man,

und bis zu diesem Moment fand keinerlei

Abstimmung mehr statt. Den verabredeten

Treffpunkt musste man finden, ohne den

gesamten Weg bis zum letzten Meter auf

das Smartphone zu schauen. Während zu

kommunizieren nur einen Teil des Lebens

ausmachte, ist das heute eine andauernde

Beschäftigung geworden. Es ist ein nicht

mehr wegzudenkender Bestandteil unseres

Daseins und existentiell.

Damit hat die Sozialisierung Ausmaße

erreicht, die Ältere erstaunt, wenn sie denn

fähig sind, die Veränderung bewusst zu

registrieren und ihr Verhalten anzupassen.

Nur zu oft werden Unbewegliche mitgenommen,

ohne zu begreifen, wie es ihnen

geschieht. Wenn nun alle öffentlichen

Äußerungen – und durch die Digitalisierung

ist vieles öffentlich, das früher privat still

vonstatten gegangen wäre – dem sozialen

Abgleich der Korrektheit unterworfen

sind, muss die gruppenweise Bindung

individueller Standpunkte zwangsläufig

über banale Einzelmeinungen siegen. Es

sei denn, diese wären tatsächlich originell,

wirklich neu und auf eine intelligente Weise

zielführend. Mehr denn je sollte

die verbale Klugheit den Sieg über

dumpfes Mitlaufen erringen können,

wenn zu kommunizieren ständigen

Angriffen ausgesetzt ist. Jede wirklich

selbstbewusst vertretene Ansage, die

einem logischen Konzept folgt, muss

zwingend Follower auf den Plan

rufen. Eine Gruppe, die böswillig zum

Ziel hat, Einzelne zu beschädigen,

dürfte nach anfänglichen Erfolgen

durch alltägliche Fehler Schwierigkeiten

bekommen, weil Fakes mühsamer

zu installieren sind, als den

Weg eines Menschen zu gehen, der

redlich seiner Motivation folgt. Der

Unterschied zu früher besteht darin,

dass es mehr Gruppen gibt, sie sich

leichter bilden, wenn ungewöhnliche

Formen des Verhaltens und neue

Ansichten bekannt werden und diese

nun gern torpedieren. Egal ob derjenige

welcher polarisiert, es offen mitbekommt

oder eine klebrige Melange der Gegner verdeckt

unterwegs ist – entscheidend bleibt

das Selbstbewusstsein des Individuums, in

verbaler Welt zu überleben oder sogar zum

meinungsbildenden Anführer zu werden.

Gerade deswegen sollten wir Stimmen

begrüßen, denen es gelingt, dem kollektiven

Druck, was dem Gesamten nütze, mit einer

originellen Idee Widerstand zu leisten. Es

ist üblich geworden, mit der sozialen Keule

zu drohen. Die wohlmeinende Forderung,

das große System zu stärken (und dass es

uns gut ginge, beteiligten wir uns daran)

ignoriert schon mal, dass der Einzelne selbst

ein empfindsam fühlendes System ist, das

mehr als abstrakte Worte bedeutet. Jeder

Mensch ist eine kleine Ordnung. Was jemand

sagt und denkt, entspricht bestenfalls Ideen,

die derjenige untrennbar von den Gliedmaßen,

seinem Rumpf, Schädel und typgemäßer

Kleidung im Ganzen darstellt und lebt.

Ein nicht unerheblicher Teil der Menschen

verhält sich aber so, als würde (bildlich gesprochen)

Deutschland tun, was Dänemark

(resp. Frankreich, die

Vereinigten Staaten)

befiehlt; also sinnbildlich

fremdmotiviert ist

das Verhalten Einzelner,

die doch über ihr eigenes

System verfügen

könnten.

Das Wort vom Querdenker

war anfangs

nicht negativ wie heute,

wo Verschworene

einen Block formen, der

auf diffuse Weise gegen die breite Meinung

einen unklaren Gegenpol bildet. Wir sollten

darüber froh sein! Vergleichbar mit einem

Biotop, werden hier die neuen Meinungen

wachsen, die später wirklich belastbar sind.

Quatsch kann sich nicht behaupten.

Es mag so sein, dass geborene Künstler auf

die Welt kommen oder Manager, aber wahrscheinlich

ist es nicht. Kommen Schwerstkriminelle

mit einem Gen dafür und einer dementsprechend

vorgezeichneten Laufbahn

als talentierte Mörder zur Welt oder ist es

von Beginn an klar, das Dasein als psychisch

kranker Zeitgenosse fristen zu müssen; ich

glaube nicht daran. Es heißt, Autismus sei

erblich? Das zweifle ich an. Einige Beschreibungen

mögen skizzieren, was ich denke.

Da ist die Mutter einer entsprechend

diagnostizierten Tochter, inzwischen ein

Teenager. Das Leben dieser Familie wird

durch die Erkrankung des Kindes bestimmt.

Die in einer Doku anstrengenderweise

nervende, von sich mehr als nur überzeugt

auftretende Frau beherrscht den Film. Das

mag mein subjektiver Eindruck sein. Sie

hätte „vom ersten Moment an, schon gleich

nach der Geburt am Ausdruck der Augen

ihres neugeborenen Mädchens erkannt“, dass

dieses krank sei. Die Penetranz mit der sie,

zur Dauerpflegerin mutiert, alles darstellt,

was rund um dieses Sonderkind getan wird,

weckt in mir die Lust, die Frau sofort aus

dem Verkehr zu ziehen. Jedenfalls weg vom

beinahe erwachsenen Kind, so angewidert

bin ich. Für mich ist das eine Zuweisung

des Fehlers, der Störung ausschließlich ans

Kind, um keinesfalls selbst angegriffen zu

werden. Dazu kommt spürbar der Wunsch,

als barmherzige Pflegemutter geadelt und

anerkannt zu sein.

Ein Erwachsener kann sich dem sozialen

Druck der Umgebung entziehen. So jemand

kann einschätzen, wofür er bestraft würde

und sich entsprechend risikobereit oder

defensiv in die Gesellschaft einfügen. Ein

heranwachsendes Kind kann sich dem

Drängen, täglichen Forderungen an das

gewünschte Verhalten und der Strafe, falls

es den Eltern nicht genügt, nur stellen,

wenn es im nachvollziehbaren Verhältnis

Freiheiten, Grenzen und Liebe erfährt. Viele

meinen, es sei wie es ist und ein Charakter

bestimme. Und wenn nicht dieser, dann lege

ein Gen uns sowieso fest. Das ist gemein

und dumm. Die aus dem Boden sprießenden

Hundeschulen könnten uns lehren, dass

die blödesten Köter stets an der Hand von

frigiden und frustrierten Ziegen laufen. Ein

Babyersatz beißt noch zu, eine Kinderseele

schreit, bis ihr auch das verboten wird.

Ich kenne drei Frauen, die ein vergleichbares

Schicksal teilen wie diese Mutter in der

Dokumentation. Ihren Kindern wurde die

Diagnose Asperger verschrieben, nachdem

die Entwicklung einen schwierigen Verlauf

genommen hat. Meiner Auffassung nach

ähneln sich die Frauen im vergleichsweise

plakativen Ausdruck. Eher arm an Mimik,

präsentieren sie anderen ihr Gesicht schön,

aber auf individuelle Weise immer gleich.

Das wirkt erwachsen und beherrscht, ist

aber möglicherweise schwierig für ein Kind

zu verstehen, darin begriffen zu lernen

welche Bedeutung dahinter steht. Ich könnte

mir vorstellen, dass nun andere Prioritäten

vorherrschen, das Gehirn selbst zu

verwenden: Kinder also Dinge lernen,

die sich gut anfühlen, intelligent sind

und erst Schwierigkeiten machen,

wenn sich die Bedingungen ändern,

vermehrt andere Menschen auftauchen.

Damit erfolgt eine Anpassung,

die so lange effizient ist, wie die

Familie unter sich ist und formt ein

kleines Gehirn, das nachweislich

untypisch geprägt ist. Ich mag hier

als vollkommener Laie weit über das

Ziel einer hilfreichen Einschätzung

pauschal hinausschießen.

Außer dieser massiven psychischen

Störung gibt es eine Reihe von anderen,

welche die Entwicklung junger

Menschen beeinträchtigen, und

neben oft früh diagnostizierten Depressionen

oder selbstverletztenden

Erkrankungen wie das Ritzen, ist besonders

die manische Phase einiger Depressionen

bzw. die schizophrene Psychose in ihren unterschiedlichen

Formen ein Schock für alle

Betroffenen und Angehörige. Auch weil die

jungen Menschen bereits am Anfang eines

selbstständigen Lebens nach Abschluss der

Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 101 [Seite 100 bis 103 ]


Schule davon erwischt und aus der Bahn

ihres Lebens geworfen werden. Das geschieht

für die engere Familie überraschend,

während Außenstehende durchaus früh

bemerken könnten, dass etwas nicht stimmt.

Alle psychischen Krankheiten haben gemein,

dass sie soziale Störungen sind. Mal davon

abgesehen, dass wir uns über die Erblichkeit

streiten oder frühzeitige Erkenntnisse theoretisch

nützen würden, sollte im Vordergrund

stehen, was getan werden kann, wenn

„das Kind in den Brunnen gefallen“ ist. Dabei

ist kritisch zu sehen, dass die Spezialisten

insgesamt helfen mit Medizin und Therapie

selbst- und fremdgefährdendes Verhalten

zu minimieren, aber Menschen dauerhaft zu

Patienten umerklären. Diagnostizierte, die in

der Folge nicht selten ein Leben lang vom

Arzt begleitet werden.

Eine leistungsorientierte Therapie, die

den Anteil der Behandlung des Arztes zur

vollständigen Gesundung des psychisch

Kranken, dass er keinerlei Medikamente

benötigt und die Ziele

seiner Existenz durch diese

anfängliche Unterstützung bis

in eine Unnötigkeit, weitere

Hilfe zu brauchen, begreift

und erreicht, ist selten

erkennbar. Dazu kommt, dass

der überforderte Hausarzt

aufgesucht wird oder der

nächstbeste Psychiater. Im

glücklichen Einzelfall gelingt

es von psychischer Krankheit

Betroffenen, die Ausrichtung

an der Umgebung dahingehend

anzupassen, dass ihnen

ihr Selbst schließlich klar

erkennbar wird. Dann kann

noch vieles gut werden.

Wir haben jetzt die Möglichkeit

selbst zu wählen, was

wir lernen möchten. Können Wege gehen,

ohne dass es uns gesagt wird, was gut

sei, auf eigenes Risiko hin leben wie die

Gesunden. Unsere Fehler: Möglicherweise

vorausgegangene emotionale Wechselbäder,

von den Eltern (oder einem Elternteil) mal

gemocht zu werden und dann wieder nicht,

überfordert von den aufgezwängten Aufgaben,

mögen eine Reihe von Anläufen nach

sich gezogen haben, kurioserweise nach

ebensolchen Partnerschaften zu suchen.

Anderen nachzulaufen, welche zu begehren,

die wechselnd liebend oder manipulierend

Menschen für uns werden, unzuverlässige

Rahmen bilden (wie früher zu Hause) bedeutet,

in diesen Konstellationen zu kollabieren,

in toxischen Verbindungen zu scheitern.

Selbstbewusstsein meint nicht, damit

vertraut zu sein, was die anderen sagen

und es entschiedener als diese auszusprechen.

Das hieße Follower zu werden und ist

meistens dumm. Sich bewusst sein, bedeutet

allgemeine Thesen daraufhin zu prüfen,

inwieweit sie individuell verträglich sind.

Dazu ist Empfindsamkeit nötig. Sport, Kraft

und Ausdauer werden empfohlen, psychologisches

Training auf der anderen Seite,

aber Kraft oder Belesenheit führen kaum

zum Ziel, wenn wir uns nicht als individuelle

Einheit bemerken und ob uns etwas gut tut.

Was wir alles vermeiden sollen: die verkehrte

Ernährung, den zu großen biologischen

Fußabdruck, andere zu verletzen, die Liste

ist lang. Warum sollten wir uns an alle diese

Sachen halten? Individuelle Freiheit und

entsprechende Vitalität, natürliche Leistungsfähigkeit,

freiwillige Disziplin auf ein

selbstgestecktes Ziel hin, können nur unter

persönlicher Auswahl der vielen Möglichkeiten

und Regeln zu unserem eigenen Erleben

werden. Was ich möchte, unterscheidet sich

durchaus von dem, was ich tun sollte. Wenn

beispielsweise klar ist, dass eine Impfung

dem System Deutschland, Europa oder der

Menschheit insgesamt nützt, lohnt es kaum

das zu ignorieren. Da sollte ich dem Aufruf

folgen und das wird nutzen, die Pandemie

schnell zu beenden.

Ich bin aber nicht die Menschheit insgesamt,

empfinde zunächst einmal für mich ganz

allein; und dann möchte ich bocken: weil

ich mich als einzelner Mensch weit weniger

gefährdet sehe, als die Gesamtheit und

Funktionalität des Ganzen. Besonders, wenn

ich für mich bleibe und Kontakte gering

halte. Das Ganze wird durch die Leitung desselben

vertreten, und die sagt mir, was ich

tun sollte. Das macht durchaus Sinn. Wenn

Helge Braun, so habe ich den Sprecher der

Regierung vor wenigen Tagen verstanden,

mahnt, in diesem Herbst würden sich samt

und sonders die Ungeimpften infizieren

– dann müssten etwa dreißig Millionen

Menschen in wenigen Monaten an Covid

erkranken um alle miteinzubeziehen. Drei

Monate dauert der Herbst, das hieße etwa

zehn Millionen neu Erkrankte pro Monat.

Das wären dreihundertdreißigtausend neue

Infizierte am Tag. Und der Chef der kassenärztlichen

Vereinigung prognostiziert das

Ende der Pandemie zum Frühjahr, das passt

zusammen. Mit dieser Mathematik gehen

erwachsene Menschen in anerkannten

Positionen an die Öffentlichkeit. Tatsächlich

droht der Kanzleramtsminister nur damit,

dass die Geimpften nicht erkranken und deswegen

die Ungeimpften den Lockdown, falls

das nötig würde, verschulden. Da kann er

auf Nachfrage sagen, er hätte gemeint, nur

Ungeimpfte erkranken, und nicht, dass die

allesamt im Herbst die Krankheit erleiden.

Im Frühjahr werden wir keinesfalls mit der

Pandemie durch sein, wie viele Menschen

müssten erkranken, damit jeder es gehabt

hat oder wie massiv müsste der Anteil der

Impfungen zunehmen? Wir zählen nach

knapp zwei Jahren mit der Pandemie etwa

vier Millionen nachweislich Erkrankte.

Dabei sind zudem viele alte Menschen mit

eingerechnet aus der Zeit ohne Impfung.

Etliche dieser Senioren wären ohnehin aus

Altersgründen inzwischen verstorben. Wenn

es weiter pro Jahr (nur) zwei Millionen Erkrankte

mit Covid gibt, wird es noch dauern,

bis die rund dreißig Millionen Deutschen,

die derzeit (noch) nicht geimpft wurden,

betroffen sind.

# In fünfzehn Millionen Jahren ...

… ist es hier vorbei, wenn sich jährlich zwei

Menschen in Deutschland damit infizieren,

in fünfzehn, wenn es zwei Millionen von uns

pro Jahr erwischt wie aktuell. Wahrscheinlich

ist doch, dass wir diese Zahl senken können.

Gerade dann wird es eine Krankheit für

immer bleiben, weiter ausgedünnt, was das

Risiko betrifft, sie tatsächlich zu bekommen,

und natürlich schützt die Impfung

den einzelnen Menschen. Bleibt die Frage,

ob nicht auch ein Ungeimpfter viele Jahre

lang frei von einer Ansteckung bleibt, wenn

die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken

geringer wird? Die andauernde Mahnung,

die Ungeimpften würden sich alle infizieren,

wird bösartig in Kombination der daran

gekoppelten Behauptung, dass es kurzfristig

passiert. Dazu kommt, dass „Infektion“

nicht gleichzusetzen ist mit einer schweren

Erkrankung. In der Summe dieser Überlegungen,

bedeutet die asoziale Haltung, sich

einer Impfung zu verweigern, nicht dumm zu

sein, sondern ausschließlich egoistisch. Das

könnte ein forscher Gott gezielt bestrafen,

und wir sollten uns deswegen fürchten?

Jedem die seine Auslegung.

# So steht es geschrieben

Seis drum. Sich impfen zu lassen, bedeutet

zunächst, ein vergleichsweise soziales

Leben mit den anderen wie früher führen

zu können und dem Ende der Pandemie

insgesamt näher zu kommen. Die eigene Gefährdung

einer schlimmen Erkrankung kann

als sekundär begriffen werden, wenn man

Statistik als Maßstab nimmt. Das heißt nicht,

die furchtbare Realität dieser Krankheit zu

verleugnen, sondern sie in Kauf zu nehmen,

wie etwa versehentlich erschossen zu werden

am falschen Ort zur falschen Zeit oder

zufällig Opfer eines Verkehrsunfalls zu sein.

# Hier wäre unser Glaube gefragt ...

... stärker als die Furcht vor dem Zufall zu

sein. So darf kein Prediger öffentlich reden.

Wir laufen Gefahr, dass diese Spürbarkeit des

eigenen Organismus’ im Zusammenwirken

von Denken, Fühlen, Gefühlen und Handlungen,

die wir ausführen, verloren geht, wenn

es scheinbar befriedigt zu tun, was gesagt

wird. In einer Welt, die zunehmend auf den

Schultern früherer Generationen steht oder

in der Stärke der gesellschaftlichen Kollektivität

definiert ist, haben wir die Möglichkeit

zu überleben, ohne die Notwendigkeit zu erleiden,

unserer selbst bewusst zu sein. Dafür

zahlt der Einzelne einen hohen Preis. Viele

merken das erst, wenn eine potentiell tödliche

Erkrankung oder hohes Alter ihnen die

Endlichkeit ihres Daseins vor Augen führt.

Dann kann es zum Aufwachen und sich von

der Fremdbestimmung der Mehrheitsmeinung

zu befreien reichlich spät sein. Für

einiges, was man gern getan hätte – wozu

nötig gewesen wäre, damals zu wissen, sich

genau das zu wünschen, als die Zeit dafür

war – ist es nun zu spät.

Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 102 [Seite 100 bis 103 ]


Zu vermitteln, einen Platz für individuelles

Entdecken persönlicher Vorlieben zu finden,

der dem Druck der anderen gewachsen ist,

und zwar früh, wenn die eigene Persönlichkeit

noch Perspektiven entwickeln kann,

sollte wichtiger genommen werden, als uns

zu bedrängen, was gut für alle und deswegen

richtig sei. Die Schwierigkeit besteht

nicht darin, zu wissen, dass Kreativität oder

geniale Sportlichkeit befriedigen. Das Problem

ist ein individuelles Wunschbild, wer

man sein möchte zu entwickeln – und den

existentiellen Platz dafür zu finden. Finden

ist das Ergebnis von suchen und der Verzicht

auf einen unnötigen Kampf. Somit wäre

der Respekt anderer Meinungen erst die

darauf folgende Erkenntnis. Die modernen

Kirchen scheinen diese Reihenfolge, erst

merke ich, was ich möchte und schaue, wo

ich es finde, dahingehend umzukehren (wie

es vernünftigerweise jeder Staatsmann von

seinen Bürgern fordert), dass auch sie das

Allgemeinwohl über das Selbst stellen. Im

„Römer“ heißt es noch: „Stellt euch nicht der

Welt gleich“; aber das ist ja auch lang her.

Das kollektive, sozial bindende Anprangern

(und denunzieren) böser Nachbarn,

unredlicher Firmen usw. erklingt aus jeder

öffentlichen Stimme. Dabei wird ein ums

andere Mal vergessen, dass die Toleranz

anderer vernünftigerweise dem Selbstschutz

dienend anzuwenden ist. So herum wird

jemand als Egoist verschrien, aber wen

das nicht stört, der kann bemerken, dass

jede Existenz zunächst für sich selbst zu

sorgen hat und sich nur deswegen sozial

verhält, weil es dann eleganter läuft. Um

gekonnt durchs Leben zu schwimmen, wird

man nicht umhin kommen, anfangs auf das

Wasser einzuschlagen, bis man merkt, wie es

leichter geht. Sozialer Verhaltensdruck kann

Menschen (zunächst unbemerkt) zu emotionalen

Krüppeln machen. Sie probieren,

Auseinandersetzungen und jegliche Gewalt

zu vermeiden, so zu empfinden wie es

richtig gehöre. Man kann gut voran kommen,

funktionieren als ein Teil vom Ganzen, dabei

die eigene Funktionalität erst schmerzhaft

bemerken, wenn unverständlicherweise die

eigene Leistung einbricht.

# Burnout ist ein neues Wort für den späten

Kollaps

Der moderne Staat hat sehr gut gelernt, was

gut für die Menschen im Land ist. Unsere

Politik, die Kirchen und alle Gruppierungen

passen sich zur gemeinsamen Mitte hin an.

Gebote des Sollens werden lauter als die

des Wollens, Möchtens oder Könnens propagiert.

Die Kanten der Härtesten werden

scheinbar gebrochen. So darf der Einzelne

nicht vergessen, es den Größeren von uns

gleich zu tun und muss seinen individuell

gepflegten, autistisch und narzisstisch

verbrämten Egoismus lernen, ihm einen

salonfähigen Namen verpassen.

Der gesunde Mensch spaziert vernünftigerweise

bruchsicher kantig oder smart auf Teflonbasis,

dickfellig oder alternativ glibschig,

wendig wie unfassbar aalglatt nach Talent

und Naturell herum.

Sonst gibt’s immer Stress.

:)

Sep 16, 2021 - Zu spät für dich 103 [Seite 100 bis 103 ]


Unter- und oberflächlich

Sep 19, 2021

Bevor ein großes

Bild gemalt werden

kann, müssen Kreative

wissen, wo genau

auf der Leinwand

die Inhalte des

Motivs dargestellt werden könnten. Dem

geht eine Entwurfsphase voraus, und dann

erarbeitet sich ein Maler für gewöhnlich

diese Basis mit einer „Untermalung“. Das ist

eine Konkretisierung der ersten Bleistiftlinien

auf der Leinwand mit dünner Farbe,

so etwa in der Form, wie es einmal werden

soll. Ein Motiv zeichnet sich durch unterschiedliche

Qualitäten aus, das Thema und

die Mittel, dieses zu kommunizieren. Exakte

Abbildungen unserer Umgebung sind keine

Kunst mehr. Man muss nicht Maler sein. Die

natürliche Wiedergabe der Realität, Farbe

und Helldunkel, die Perspektive, das wird mit

der überall verfügbaren Technik ganz leicht.

Sogar zu filmen ist einfach.

# Alle sind Künstler

Der im Ganzen künstliche Mensch ist noch

weitgehend Utopie, künstliche Intelligenz

entwickelt sich bereits, künstliche Details

bemerken wir überall. Sie bilden einen

Großteil alltäglicher Gegenstände, animieren

unser Tun und verändern das Denken,

weil ihre Verfügbarkeit unsere Erwartungen

beeinflusst. Wir tun ganz einfach Dinge,

die einmal sehr mühselig gewesen sind.

Aber was ein Künstler ist, und ob dafür

eine besondere Fähigkeit nötig sei oder

Talent, darüber streiten manche. „Alle sind

Künstler“, meinen welche. Sich selbst und

damit die eigene Natur genau zu erforschen,

wäre nötig, finden die anderen. Natur und

Künstliches sind miteinander verwoben

wie nie zuvor.

Das Privileg, die Natur und das Drumherum

festhalten zu können, ist längst

keines mehr. Heute machen alle Bilder.

Sie nutzen ihr Handy oder fotografieren

mit einer guten Ausrüstung. Als ich

Schüler war, bin ich durch manches

Fotoprojekt unterrichtet worden, konnte

Negative, Fotos in eigener Dunkelkammer

entwickeln. Anfangs ausschließlich

in schwarzweiß, erweiterte ich später die

Ausrüstung noch und traute mich auch an

farbige Abzüge ran. Dafür war es nötig, in

völliger Dunkelheit zu arbeiten, und die

Chemikalien mussten exakt temperiert sein.

Wenn die Aufnahme belichtet war, steckte

man das Fotopapier in eine spezielle Dose.

Nachdem man den Deckel verschraubt und

Entwickler hinein gegossen hatte, musste

sie eine Zeit lang bewegt werden. Das kennt

man ja auch beim Verarbeiten schwarzweißer

Bilder. Die dort genutzten flachen Wannen

hebt man (bei Rotlicht) immer ein wenig

am Ende an und setzt sie wieder ab. Die

Flüssigkeit soll gleichmäßig

über das Fotopapier laufen,

drüber gleiten und nicht nur

darauf stehen. Ich kaufte

mir eher zufällig einen

gebrauchten Vergrößerer, der

auch für farbiges Belichten

konstruiert war. Anfangs

dachte ich gar nicht daran,

diese Funktion zu nutzen.

Später kam das andere, für

Farbabzüge noch benötigte

Material dazu, es war dann

gar nicht so schwierig. Die

besondere Trommel für die

Farbfotos, extra lichtdicht

konstruiert, drehte sich in

einer Halterung angekuppelt

und angetrieben durch

den kleinen Motor hin und

her. Dabei durfte das Licht

wieder eingeschaltet sein. Als Dunkelkammer

war ein kleiner Raum im Keller meiner

Eltern von uns ein wenig umgebaut worden.

Die benötigten Chemikalien mussten eine

ganz bestimmte Temperatur haben und warteten

vorgewärmt in kleinen Zylindern auf

den Moment ihrer Anwendung.

Dafür gab es eine größere Box

aus rotem Plastik, so eine Wanne

mit Wasserbad, die hatte

einen Rand mit kreisförmigen

Löchern. Dort fanden die Röhren

ihren Platz und bekamen

ihr handwarmes Fußbad. Ich

hatte alles auf dem Flohmarkt

gekauft. Das war am Yachthafen

im Herbst gewesen, normal

ist dort gebrauchtes Bootszubehör

im Angebot. „Ob das

Equipment auch funktioniere?“,

fragte ich skeptisch den Verkäufer, weil ich

mich ja mit der Farbe nicht auskannte. „Ich

verkaufe doch keinen Schrott“, sagte der

Mann. Das habe ich geglaubt. Ich nutzte

ein Buch als Ratgeber, mir die Sache selbst

beizubringen.

# Gutgläubigkeit ist oft …

… der Anfang, sich auf etwas Neues einzulassen.

Es dauerte, bis ich die Methode

herausfand, einen immer wiederkehrenden

Fehler zu eliminieren. Das war ein kleiner,

bläulicher Strich auf fast allen Abzügen

etwa in der Mitte. Durch Zufall las ich

irgendwo in einer Zeitschrift in einem

Beitrag über Fotografie, dass einige die

Dose mit der Hand auf dem Tisch hin und

her rollerten. Das probierte ich, und dann

trat das Problem nicht mehr auf. Ich nahm

an, dass meine Maschine immer etwa drei

Umdrehungen machte, dann die selbe

Anzahl zurück – und weiter. Immer im selben

Moment wechselte das Ding die Richtung.

Meine Vermutung: Mit der Hand gedreht,

schwappt der Entwickler genauso über das

Papier wie gewünscht. Es bildet sich aber

kein konzentrierter Sud in der Pfütze unten.

Die Dose rollt dabei nie exakt an derselben

Stelle zurück. Da fließt das Zeug, wie milde

Brandung eines windstillen Tages den

Strand leckt. Das hat gedauert, bis ich diese

Lösung fand. Man muss Nerd sein dafür.

Ich kannte mich aus mit vielem und besitze

bis heute eine OM-2. Sie war zu meiner Zeit

damit zu fotografieren eine professionelle

Spiegelreflexkamera und hochmodern. Gut

wie eine Nikon, ist sie ein wenig kleiner und

nicht schwer. Viele Ältere waren es gewohnt,

einen Belichtungsmesser dabeizuhaben.

Wenn meine Mutter ein Bild mit ihrer

hochwertigen Sucherkamera machte, maß

sie vorher das Licht mit diesem Ding in der

Hand, steckte es wieder in die Tasche und

stellte anschließend Schärfe und Verschlusszeit

am Objektiv der Kamera ein.

Eine Spiegelreflexkamera war dagegen

etwas ganz besonderes. Nachdem inflationär

wenig geübte Menschen (als professionelle

Fotografen) in Scharen damit zu knipsen

begannen, wurden die handelsüblichen mit

Mittelpunktmessung angeboten. Dazu kamen

Ideen der Hersteller, die Schärfe schnell

und direkt nach dem Geschauten im Sucher

der Kamera

fixieren zu

können,

anstelle der

manuellen

Vorauswahl

im Ring vorn.

„Drei Meter

bis unendlich“,

was

heißt das?

Wir lernten:

Fotografieren

bedeutet,

Schärfe, Verschlusszeit und Blende – in

Relation zur Entfernung des Motivs – und

die Filmempfindlichkeit zu berücksichtigen.

Bei meiner Kamera stellte ich diesen Wert

ein, nachdem der Film eingelegt war. Damit

verstand die moderne Automatik zu denken.

Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 104 [Seite 104 bis 106 ]


Die OM-1 war noch rein manuell, ohne

Belichtungsautomatik gewesen, zu meiner

Zeit bereits ein Klassiker. Olympus eroberte

sich einen Markt dort, wo auf bestem

Niveau innovativ gedacht wurde. Viele

Profis nutzen diese Technik, und das war,

bevor das Zoomobjektiv zum Standard

wurde. Man rümpfte die Nase über nicht

vergleichbare Qualität und steckte lieber

um! Der Bajonettverschluss von Olympus

ist perfekt. Hat man einmal die Bewegung,

wie es vom Hersteller gelehrt wird, das alte

Objektiv zu greifen und gegen ein neues zu

tauschen erlernt, geht es schnell und sicher.

Meine einst neuartige, hochgelobte und

besonders raffinierte Kamera hat nun eine

Belichtungsautomatik, die wahlweise im

entsprechenden Modus, anstelle der manuell

definierten Kombination aus Blende und

Zeit, einen Scan maximal denkbarer Motive

vor der Aufnahme durchlaufen lässt. Das ist

ein blitzschnelles Rollo, bedruckt wie unsre

aktuell bekannten Quadrate aus schwarzweißen

Feldern, die nur das digitale Handy

lesen kann, ein QR-Code. Das war damals

das Beste an Automatik, was du kaufen

konntest – und kostete nicht einmal so viel.

Für die Mitnahme auf meiner Jolle, ein

kleines Boot, das schlimmstenfalls während

einer Reise auf der Ostsee auch kentern

könnte, baute ich mir eine wasserdichte

Box. Ich nahm eine große Majonäsedose,

so mit wulstigem Deckel in der Größe von

einem Schuhkarton, aber quadratisch. Die

war aus dem Großhandel für Lebensmittel,

wie meine Eltern sie im Geschäft hatten.

Vielleicht waren auch Gurken darin gewesen

oder eingelegte Heringe, so genau weiß ich

es nicht mehr. Dahinein kam die Kamera mit

den Objektiven, die durch eine Anordnung

von kleinen Sperrholzwänden ihren Platz

fanden. Heute gäbe es diese Dinge fertig

zu kaufen, damals möglicherweise genauso,

aber früher gab es auch mehr Leute, die

eigene Lösungen für manches fanden.

Ich fand es spannend, für mein astronomisches

Fernrohr diverse Adapter und

Stativkonstruktionen selbst zu erdenken. Ich

konnte den Mond oder die Sonne bei kurzer

Verschlusszeit direkt hindurch fotografieren

oder die seitlich befestigte Kamera mit

langer Belichtung nachführen, wenn mein

kleiner Refraktor von Quelle (etwa einen

Meter lang) parallaktisch ausgerichtet stand.

Mit ruhiger Hand musste man das Rädchen

am Ende der biegsamen Welle ganz

langsam drehen, um die Bewegung der Erde

auszugleichen. Damit sah ich die Monde des

Jupiter, die Ringe des Saturn und die kleine

Sichel des Abendsterns, der Venus. Ich zeichnete

Mondkrater auf Papier nach dem, was

ich im Okular erblickte. Ich fotografierte den

Nordamerikanebel im Schwan. Ich suchte

die Venus im Süden mittags am hellen Tag

und fand sie. Ich probierte, den Merkur zu

sehen, aber es gelang nicht. Ich fotografiere

den Halleyschen Kometen. Meine Oma hatte

ihn als Kind gesehen, behauptete, er wäre

damals quer über den ganzen Himmel gegangen;

sie machte eine ausholende Bewegung

mit der Hand. Wir fanden es schwierig,

das Ding im Dunst überhaupt zu lokalisieren.

Erst auf dem Foto war ein Schweif wirklich

zu erkennen, weil es etwas länger belichtet

immer mehr zu sehen gibt als mit bloßem

Auge. Lina ist einer der wenigen Menschen,

die den bekannten Kometen zwei Mal im

Leben sehen konnten und ist im selben Jahr

verstorben.

Ich war nur ein fasziniertes Kind, begriff

gar nichts vom Tod, obwohl ich schon das

Studium an der Armgartstraße angefangen

hatte. Zu fotografieren oder malen, mich

zu interessieren, bedeutete, von Onkel und

Tante, den Eltern und vom Lehrer gelobt zu

werden. Meine Bilder waren kaum besonders,

meine Versuche laienhaft, nur im Zeichnen

bin ich wirklich gut gewesen. Sich Dinge

selbst anzueignen, gefiel mir. Ich war darin

neugieriger als manche, die lieber erwachsen

wurden und endlich selbstständig sein

wollten, frei von ihren Eltern. Im Unterschied

zu den anderen, die sich in ihrer Altersgruppe

sozialisierten, blieb ich im

vertrauten Kosmos der Familie

und einigen, mir ähnlichen

Freunden. Wir begannen die

Boote zu segeln, die unsere

Eltern sich hatten neu bauen

lassen, als diese Klasse modern

gewesen ist.

# Meine Fotos?

Wir kannten kein Internet.

Heute, wo es unendliches

Zubehör gibt und Lifehack-

Videos noch obendrein,

interessiert es (vermutlich)

wenige, wie ich meine Zeit

verbrachte. Man löste seine

Probleme allein, das war

nicht ungewöhnlich. Ich

jedenfalls teilte meine Erfahrungen nicht. Es

war eine private Sache zu fotografieren, sich

am Sternhimmel auszukennen, eigene Bilder

zu entwickeln, sogar in Farbe – das hatte

keine soziale Komponente. Da lockte mich

nichts, es gab kein Netz; in keiner Weise kam

ich auf die Idee, mich deswegen mit anderen

auszutauschen. Dafür waren keine zwingenden

Anreize gegeben, jedenfalls nicht wie

jetzt mit Youtube und all dem. Ich verhielt

mich ganz normal? Obwohl es natürlich

schon immer Menschen gegeben hat, die

ihre Hobbys in reger Gemeinschaft pflegten,

na klar. Das ist für mich zu segeln. Das ganze

andere habe ich nur so getan.

Ich sammelte Bilder in Kartons, andere

klebte ich in Alben. Es kam vor, dass wir

im Winter mit einigen Freunden irgendwo

zusammen hockten, Fotos anschauten vom

Segeln, wenn wir etwa mit mehreren Jollen

in Dänemark Urlaub gemacht hatten. Auch

meine Eltern sahen sich die Bilder an, aber

insgesamt dürften es nur eine Handvoll

Menschen gewesen sein, die meine Alben

kannten. Als das digitale Zeitalter begann,

verlor ich das Interesse an der Fotografie,

aber nicht deswegen. Ich besitze kein

Smartphone. Ich habe noch ein Seniorenhandy

meiner verstorbenen Mutter, das ich

gelegentlich nutze und eine kleine Pocketkamera

mit einem Chip, den mein Rechner

lesen kann. Das genügt mir heute. Wenn ich

ein großes Acrylbild in Angriff nehme, ist der

Arbeit mit Farbe auf der Leinwand eine längere

Zeit des Entwerfens voraus gegangen.

Dazu nutze ich eigene Fotos dieser kleinen

Kamera und welche, die ich mit dem Pad

mache; zahlreiche ergoogelte Ausschnitte

aus dem Internet verwende ich zum komponieren

meiner ungewöhnlichen Ideen.

Ich liebe Porno, bin fasziniert von den

Mädchen, die ja irgendwo real existieren

und Nachbarn haben. So alte Esel wie mich

zum Beispiel. Wie mag es sein, von anderen

erkannt zu werden, sich’s bloß vorzustellen,

es könnte passieren? Im günstigen Fall

könnten wir alle davon lernen, es nicht so

wichtig zu nehmen mit der Scham. Unsere

Welt ist transparent, aber manche glauben,

wenn sie sich bildlich gesprochen eine Hand

vor das Gesicht halten, könnten wir anderen

sie nicht sehen? Wie Kinder sind die.

Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 105 [Seite 104 bis 106 ]


# So tun als ob, überzeugt doch heute niemanden

mehr

Um eine Figur anatomisch korrekt, entsprechend

meiner Idee hinzubekommen, benötige

ich oft einzelne Gliedmaßen als Vorlage.

Ich probiere auch vorab im Entwurf, den

Gesichtsausdruck selbst zu manipulieren. Ich

nutze verschiedene Details, verwende Nasen,

Augen oder den Mund aus einem anderen

Foto, kopiere Menschen, die ich mir suche.

Das treibe ich, bis mir ein individuelles Bild

gelingt, das es so nicht gibt. Die Elemente

montiere ich in Photoshop. Je nachdem,

ob es wichtig ist, jemanden Bestimmtes

nachzumalen oder gerade nicht, weil ein Internetbild

mir nicht gehört, passe ich meine

Fotovorlage an.

# Persönlichkeitsrechte?

Heute wird der verhasste

Nachbar gern polizeilich

verfolgt und wegen Bagatellen

angezeigt, genauso

andere Autofahrer oder ein

Fremder, der andere beleidigte.

Auch in der Musik,

wenn einige Takte beim Hit

des anderen geklaut wurden,

muss sich ein unliebsamer

Konkurrent schon mal

vor Gericht verantworten.

Beim Illustrieren von Infografik,

wenn es nötig war,

nach anderswo abgebildeten

Vorlagen zu arbeiten wie

alle Zeichner es tun, sagten

wir unter Kollegen und in der Herstellung

im Verlag, der „Eigenanteil (unserer Arbeit)

muss hoch sein“, damit niemand dem Grafiker

ein Plagiat unterstellt. Erfolgreich unterstellen

könnte, würde ich heute ergänzend

sagen, und bei der Malerei werden keine

Fotos montiert. Mein Eigenanteil der Herstellung

auf der Leinwand ist vollumfänglich

und komplett selbstgemacht. Neid und missgünstige

Mitmenschen werden nicht erst

seit Mozart und Salieri thematisiert als ein

Problem in der Kunst. Auch im Alltag hat die

Verklagbarkeit ihre Blüten in die Wiedergabe

anderer gemalt. Die unscharf gemachten

Gesichter der Menschen bei Aufnahmen aus

einem Prozess sind nachvollziehbar, aber

dass jemand online mit Bild gesucht wird

und dasselbe vom Tag seiner Festnahme an

nur noch verpixelt gezeigt wird, ist typisch

für eine Gesellschaft, die sich immer selbst

belügt.

# Mein Bild!

Dann wird gemalt. Den selbst

Schaffenden befriedigt der

Aufwand, eine Eisenbahnszene

wie die aktuelle, korrekt mit

Güterwagen, Puffer, Kupplung und

dergleichen zu kreieren – richtig

zumindest im Sinne einer überzeugenden,

technischen Anmutung

– und dass die Betrachter

des Bildes dies für gewöhnlich

nicht mitbekommen. Da man es

heutzutage gewohnt ist, mal eben

zu knipsen, schaut der Mensch nur

noch auf das gemalte Thema und

ekelt sich womöglich, weil sich

nicht gehört, was ich male?

Die kreative Leistung geht

dabei unter, denn ich muss ja lang dran

schaffen.

# Selfexecuties

Peng! Das ist einer der Gründe, hier ein

überspringendes Blitzlicht in das Selfie

der Mädchen knallen zu lassen und eine

Art festgefrorenes Foto zu malen. Eine

kurze Ewigkeit lang dauert die Szene auf

meiner Bühne. Es hat seinen Reiz, absurde

Realität zu gestalten. Porno? Die auf

diese Weise nicht zu erzielende Anerkennung

entlarvt meinen inneren Wunsch,

sie zu bekommen und führt mir sofort ihre

nichts bedeutende Leere vor Augen. Mir

gefällt gerade, wie oberflächlich die Leute

sind. Nun verordne ich mir, dass, würde ich

ansprechende Sachen malen und ausstellen,

das Lob der Menschen unehrlich wäre?

Obwohl ich

dann reichlich

davon bekäme

(und Geld).

# Christo

packt’s noch …

Nach dem Tod

berühmter.

Kunst ist nur

selten welche,

darin besteht

ja gerade das,

was ich gar

nicht mehr

versuche, aber

so genial ist.

Die Masse

der Kollegen

ist doch wenig aufregend und manche

blenden nur. Wir könnten zeigen, was hinter

den Masken ist, der Fassade, das ist unsere

Aufgabe. Auch selbst Theater zu spielen und

erst recht die Maske aufsetzen, kann der

Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Einer

drehte den Spieß noch ein weiteres Mal

um. Die große Plane wird noch vor unsere

gehängt, die wir bislang gar nicht als solche

bemerkten. Der umgekehrte Einfall, geschichtsbeladenen

Prunk von Staatsfassaden

wegzupacken: Eine unglaubliche Kunstaktion

passiert ja gerade in Paris! Posthum werden

der Künstler und seine Liebste Jeanne

Claude damit beglückt, das Lebenswerk mit

dem verhüllten Arc de Triomphe abzurunden.

Ich habe irgendwann gelernt, Christo zu

mögen, ohne mich all zu sehr damit zu beschäftigen.

Ich freue mich sehr über seinen

späten Triumph. Wie viele Menschen konnte

und musste der Großartige (wortwörtlich)

davon überzeugen, diese Sachen täten not

gemacht zu werden?

Ich sehe es schließlich ein: Jede diesbezügliche

Einbildung, ich selbst sei von Natur

aus irgendwie bedeutsam, ist verpufft. Mein

intellektueller Horizont ist viel zu eng für

Großes. Ist doch egal. Man ist nicht besonders,

niemand ist besser; man muss sich

den entsprechenden Platz auf einem Sockel

hart erarbeiten. Mir fehlt aber auch alles,

um in der Gesellschaft voranzukommen.

Kein Geschick ist mir gegeben, den Zeitgeist

wirklich zu treffen. Es mangelt mir am Fleiß,

schnell und produktiv zu malen. Der Wille,

Beziehungen zu nutzen und die Bereitschaft

mich anzupassen, fehlt mir. Ich könnte nicht

einmal einen kleinen Laden oder handwerklichen

Betrieb mit Gewinn betreiben.

Insofern habe ich mich gern entschieden,

einzusehen, dass ich früher ein Eigenbrötler

war, was Kunst betrifft und die späteren Jahre

mit brotlosen Versuchen, meine Bilder in

einer Szene zu etablieren, nachvollziehbare

bis unausweichliche Fehlschläge gewesen

sind, bezüglich echter Anerkennung und entsprechender

Existenz. Das interessiert mich

nicht mehr. Mein Erfolg ist nur das jeweilige

Bild selbst, das mir gelingt. Farbe dort wo

ich es will. Geld zu bekommen für ein Bild,

bedeutet mir heute gar nichts. Die damit

verbundene Anerkennung erscheint mir

inzwischen eine zweifelhafte zu sein, für die

es sich nicht unbedingt lohnt, mehr zu tun.

Nun bleibt noch Spott, wenn es mich mal

bekümmert – aber viele sind einfach so doof

und ich finde, sie bescheißen sich die meiste

Zeit selbst. Es geht ja auch anders. Ich bin

zufrieden.

:)

Sep 19, 2021 - Unter- und oberflächlich 106 [Seite 104 bis 106 ]


Gegensätze

Sep 24, 2021

Ich glaube, dass

viele Menschen unbewusst ein Korrektiv

der Welt suchen. Sie schöpfen Kraft daraus,

manches, das sie nicht bereit sind zu verstehen,

auszublenden und verdrängen es lieber.

Mit ihrem Intellekt beschreiben sie ein zur

Wirklichkeit alternatives Gebäude, in dem

sie aber auch gefangen sind. Sie möchten

besser sein? Es fällt ihnen leicht, schlechte

Dinge zu brandmarken, als wären diese nun

außerhalb vom Kosmos.

Nicht wenige verwechseln ihr kleines,

gefühltes Universum mit dem großen. In der

Verblendung unsere Gesellschaft insgesamt

zu korrigieren, wenn andere beschuldigt

werden, verdrängt es das wahre Bild der

Umgebung. Das Beschimpfen etwa von

Internetpornografie oder das Verwerfliche

der Prostitution anzuprangern, mag einige

darin bestärken, gute Menschen zu sein.

Unter Gleichgesinnten ausgesprochen, wirkt

Einbildung noch besser. Das wird kaum ändern,

dass viele, an einen bestimmten Platz

ins Leben gestellt, eklige Dinge tun. Penetrant

nehmen nicht wenige an, die anderen

könnten leichthin leben wie sie selbst – und

alles wäre gut.

# Follower der ‚guten‘ Partei

Mit einem Plakat beispielsweise Gewaltverzicht

einzufordern, ändert den Menschen

grundsätzlich nicht. Möglicherweise wird ein

neues Gesetz irgendwo Grenzen ziehen und

das Problem verlagern? Aggression an sich

kann nicht abgeschafft werden. Als Kreative

sind wir verpflichtet, Unverständliches und

absurde menschliche Empfindungen in uns

auszuloten, anstelle die Solidargemeinschaft

und das Regelwerk der Gesetze zu beschreien.

Ich komme aus Wedel, war dort

auf der Realschule. Um studieren

zu können, ist es nötig gewesen,

eine Art Abitur zu haben. Für mich

bedeutete das am Steinhauerdamm

in Hamburg zwei Jahre

dranzuhängen. Fachhochschulreife

hieß das damals. Die Lehrer an

dieser Schule standen mehrheitlich

politisch der SPD nahe

und ließen keinen Zweifel daran.

Sie waren grundsätzlich kritisch

gegenüber dem Staat eingestellt.

Der Deutschlehrer (den wir beim

Vornamen ‚Willi‘ nennen durften)

forderte uns beispielsweise auf,

die anstehende Volkszählung zu

verweigern. Man könne sagen,

man sei krank und etwa behaupten,

nicht fähig zu sein den

Fragebogen auszufüllen. Auf unsere

Frage, welche Krankheit wir

vorschieben sollten, wenn wir doch gesund

wären meinte der Lehrer, da könne man eine

erfinden: „Nabelsausen“, das würde er selbst

machen. Da haben einige gelacht.

Das damals neue, grüne Umweltverständnis

schlug sich auch im Unterricht nieder. Auf einer

Klassenreise stoppten wir an einem Bauernhof.

Ich würde sagen, dass es diejenige

war, die uns in das Hinterland der Oste führte.

Wir waren mit dem Fahrrad in Schulau

an Bord der Lühefähre gegangen. Dann sind

wir an einem schönen Tag bis halb nach

Bremen geradelt. Dort bezogen wir einen

renovierten Resthof, der extra auf solche

wie uns gewartet hatte. Etwa eine Woche

verbrachten wir dort? Vielleicht ist es nur

ein langes Wochenende gewesen. Ich

erinnere mich nicht mehr so gut daran.

(Ich spielte schlecht Tischtennis mit

Sandra und war ziemlich verliebt. Das

nütze mir nichts. Da waren anderswo

sportlichere Männer unterwegs, und

ich habe mir nur einiges eingebildet).

Ich glaube, dass das mit dem Biowindrad

auf der Rückreise war. Wir machten

einen Umweg zu einem besonderen

Hof, den der Lehrer kannte.

Ein nebliger Tag. Wir standen nahe

einer Scheune oder anderen landwirtschaftlichen

Schuppen und wurden

angewiesen, dieses Ding zu bestaunen.

Es war sehr groß. Der Bauer hatte es

selbst aus Blech zusammengenagelt.

Man stand davor, und der Himmel war grau.

Es nieselte ein wenig. Das Windrad ragte vor

uns auf wie ein tumber Riese, der gerade

Pause macht. Da drehte nix. Ein graues,

silbernes Alublechgeschleuder, das nicht

schleuderte. Norbert erklärte, wie großartig

es wäre. (Unser Englischlehrer war auch

Klassenlehrer). Seine Augen leuchteten grün,

als er behauptete:

„Das ist die Zukunft.“

# Auch Politik war eine wichtige Sache für

uns

Die grüne Politik war noch neu, und die

heutige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock

etwa drei Jahre alt. Die Demonstrationen

gegen Atomkraft waren kraftvoll und

unübersehbar, die Sonne des Logos reckt

kampflustig eine Faust nach oben! Wirkliche

Furcht vor dem Klimakollaps kannten wir

nicht. Das würde irgendwann später sein.

Niemand hätte sein Kind Greta genannt:

Meine Mutter hieß Greta. Politik hatte

einen hohen Stellenwert im Unterricht.

Wir schauten den ganzen Tag fernsehen in

dieser Schule an dem Tag, wo Schmidt im

Misstrauensvotum gestürzt und Helmut

Kohl zum Kanzler wurde. Dieser Lehrer war

wirklich engagiert: Mein Politiklehrer K.

hatte in Wedel eine Freundin und kaufte

gelegentlich Fisch bei uns. Ich traf ihn bis

vor kurzem in der Stadt. Zum Schluss schien

er mir dement zu sein. Er erzählte, er hätte

eine Zeitlang in Schenefeld gewohnt, am

Parkgrund. Ich sagte: „Da ist ein kleiner

See.“ Und er meinte: „Ja.“ Dann kam anderes,

worüber wir sprachen, aber nach einiger Zeit

fragte er (wie anfangs), wo ich heute lebe?

Und ich sagte ein weiteres Mal: „Schenefeld.“

Da hätte er auch mal gewohnt, erinnerte er

sich (wieder).

„Am Parkgrund.“

„Gibt es da nicht einen See?“, wollte ich

wissen. „Ja“, bekundete er. Bald darauf ging

ich; frustriert – und fuhr später mit dem Bus,

traf ihn noch einmal.

Vom Café lief ich zum Bahnhof, um einzusteigen,

aber man hätte auch in die andere

Richtung gehen können, und tatsächlich: Wo

„Salamander“ gewesen war, stieg K. ein. Er

erkannte mich nicht? Ich saß gleich vorn auf

dem einzelnen Platz links. Mein alter Lehrer

ging im Gang an mir vorbei, sah mich direkt

an und schaute wie durch mich hindurch.

Ich verzog keine Miene, weil das irgendwie

besser gewesen ist. Am Galgenberg stieg der

Verwirrte aus, als wenn alles ganz normal

wäre. Das ist das letzte Mal gewesen, dass

ich ihn sah.

Es war noch

vor Corona,

aber sehr lang

ist es nicht her.

K. hat schon

damals gern

erzählt. Er

wäre in der Armee

gewesen,

im Rheinland.

„Da hatten

wir weibliche

Offiziere.“

Aus Großbritannien:

„Tolle Frauen!“, so erinnerte er sich noch

im Café; damit hätte man den gar nicht

in Verbindung gebracht. Ein kleiner Mann

mit Schnauzbart. Der trug ein abgewetztes

Sakko und wirkte immer wie ein verplanter

Junggeselle, das Haar schon mal zu lang und

ungewaschen fettig. Es stieß am Kragen auf.

Anders als die Kollegen, lief er immer im

Anzug herum – der aber schlecht saß. Die

Sep 24, 2021 - Gegensätze 107 [Seite 107 bis 109 ]


Ellenbogen erinnere ich glänzend, blank

gescheuert. Irgendwie schief hing dem

Mann eine Schulter. Der lief vom Gangbild

tatsächlich wie ein schlampiger Soldat,

aber mit einer Hand in der Hosentasche.

Solche gab es in den Achtzigern noch einige.

Das ist quasi lässige Zackigkeit; das kann

man einem jungen Menschen von heute

kaum begreiflich machen. K. wurde von uns

gesiezt. Versuche, ihn duzen zu dürfen, wie

das die „große“ Dagmar probierte (wir hatten

zwei), weil es bei Angelika (der Klassenlehrerin)

schließlich klappte, scheiterten.

Ingeborg (Mathe) schlug das „Du“ von sich

aus vor, ein Dammbruch. Beim Bockelmann,

der Bo-okelmann genannt werden wollte,

musste ein „Sie“ unbedingt sein. Da kam

man ja gar nicht auf die Idee, ihn deswegen

anzusprechen.

Die (echte) Freundin von K. war auch groß

gewachsen, überragte ihn deutlich. Die beiden

liefen Händchen haltend durch Wedel,

und es sah ein wenig drollig aus.

Ein überzeugter SPD-Wähler.

„Die anderen

kann man ja nicht

wählen.“

Im Studium ging

das weiter. Einmal

saßen meine Professoren

in einer

Bar mit uns Kommilitonen

rum, und

Tom Knoth fing an,

über das „Hamburger

Abendblatt“

zu spotten. „Die

haben ein „Wochenend-Journal!“,

meinte er und

half nach: „Wisst

ihr, was ,Journal‘

heißt?“ Aber er

fragte nicht in Richtung der Studenten. Und

sein Freund, mein Professor Otto Ruths,

nickte nur. „Erscheint täglich, wird täglich

geführt. Ein Journal ist dem Wort nach eine

tägliche Aufzeichnung“, meinte der Alte. „Ja“,

sagte Otto, und sie witzelten weiter über die

Springer-Presse und Kohl.

Was der alles falsch mache.

Otto ist inzwischen auch tot, wie so viele.

Und manchmal fehlt er ein wenig. Ich habe

mich so gefreut, als Gerd Schröder Kanzler

wurde! Da war Alsterpokal, und wir saßen

nach der Preisverteilung beim

HSC rum. Es gab Großbildviewing

in Ledersesseln. Auch das

Ende, die später sogenannte

„Elefantenrunde“ im Fernsehen

sah ich live. Das war nach dem

hauchdünn verlorenen Votum

und Abwahl mit dem Desolaten,

der meinte, weiter Kanzler

bleiben zu können und Angela

Merkel müsste unter ihm mitregieren.

Ich war fasziniert. Julien

(vom Dorfcafé) fand, Schröder

wäre betrunken gewesen und

nahm den Gestrauchelten in

Schutz. Schröder hatte Angela

Merkel nicht ernst genommen?

Zu dieser Zeit wohnte ich schon

nicht mehr in Bahrenfeld,

kann mich aber gut an junge

„Scholzplakate“ erinnern. Der sah so

sympathisch aus. Nach dem Auge

entschied ich auch, Christiane zu

wählen, unsere Bürgermeisterin. Die

Konkurrentin von der CDU war vergleichsweise

wenig attraktiv. Und

so etwas zuzugeben, als Schenefelder,

mag dumm sein. Ich habe

schon öfter zu viel geredet? Gerd

Manthei, unser rotes Urgestein hier,

erinnert mich gelegentlich daran:

„Man müsse nicht alles sagen!“ Eine

rückwärtsgemeinte Mahnung? Das

fand Kalle auch einmal (das ist der

Obelix hier, das Wildschwein vom

Dorf, aber der konspiriert mit den Römern),

und den mochte ich früher. Ein Fehler! Das

war bestimmt die viel größere Dummheit,

Menschen zu vertrauen, die dem Staat

(und Nachrichtendienst) nahe sind, familiär

und beruflich verbunden, als zu sagen, was

gesagt werden muss. Mir wird wohlmeinend

angedeutet, ich sprach aus, was „man“ nicht

sagt? Einige machten mich schon darauf

aufmerksam. Sie sagen aber nicht,

was genau es war, das ich so naiv

ausplapperte.

Auf Nachfrage biegen sie diese

Gespräche immer weg.

Ich verbrachte viel Zeit mit Christiane,

Umarmung und Kaffeetrinken,

lange E-mails schrieben wir

uns. Politik war immer wichtig.

Meine Fehler kenne ich nur zu

gut und lerne kreative Sachen

auf neue Weise zu tun, aber in der

Politik muss man Versagen

anders behandeln, als es für

uns Künstler notwendig ist.

Das ist das Gegensätzliche zur

Kunst. Es ist genau andersherum.

Ein Künstler entwickelt

sich menschlich weiter, lernt.

Ein Politiker definiert seine Vergangenheit

neu. Während wir Kreativen an uns

selbst arbeiten, ist die Tätigkeit des Parteimitgliedes

sinngemäße Neudeutung

zum Wohle der Genossen. Maler stellen

die Umgebung wie Theater dar. Politiker

sind Berufsschauspieler und rücken ihre

Maske besser zurecht. Wir lernen, Fassaden

wegzunehmen, Führungskräfte mauern sich

ein, reden volksnah vom Podest.

Der große Kollege in Hamburg macht es

vor. Ziele stecken und sie zu erreichen,

funktioniert je nach Berufung verschieden.

Ich male meine Ideen anders. Der

feige Abgang nach Berlin, die Unfähigkeit

Schwachpunkte menschlich zu kommentieren,

die Erkenntnis, dass der tatkräftige (und

heute selbstbewusste) Genosse Tschentscher

schon in Hamburg aktiv war, bevor er selbst

Bürgermeister wurde; Olaf Scholz wähle ich

nie wieder. Nach dem verkackten Gipfel war

und ist es aus mit meiner Sympathie.

# Dauerhaft.

Übermorgen ist Wahltag. Das wird das erste

Mal in meinem Leben sein, dass ich Nichtwähler

des Deutschen Bundestages bin.

Eine Entfremdung von der SPD hat schon

längst stattgefunden. Ich erkannte in Merkel

eine fähige Kanzlerin und wählte sie nach

der Flüchtlingskrise aus Überzeugung. Mir

gefiel gerade, dass diese Frau in der Lage

gewesen ist, ihre Richtung der Politik zu

ändern. Das Ende

mit Kabul und

ihr ständiges

Fortbleiben ist

erbärmlich. (Ich

habe in Schleswig-Holstein

Daniel Günther

gewählt, weil ich

es unmöglich

fand, den meiner

Auffassung nach

abgehobenen

und eingebildeten

Albig zu

unterstützen. Diese Wahl bereue ich nicht).

Sechzehn Jahre Merkel, ich war dabei. Ich

fand, Steinmeier und -brück, Martin Schulz

könne man nicht unterstützen. Keine Führungskräfte.

Politik?

Das Ende in Afghanistan ist beschämend.

Die in der Organisation des Rückzuges

eingebundenen Minister Kramp-Karrenbauer

und Heiko Maas bleiben?

Es macht nur fassungslos.

Was die Leute über Olaf Teflon sagen,

erfahre ich durch Christiane am eigenen

Leib: Kunst und Politik sind gegensätzlicher,

wie sie nicht sein können. Ich wähle nie

wieder eine Politik, egal welche Partei und

schon gar nicht die SPD. Die ganz bestimmt

nicht. Als Maler lernte ich zu malen. Eine

Bürgermeisterin versteht zu verwalten und

ihre Politik

als Handwerk,

alles

im für sie

nutzbringenden

Sinn

darzustellen.

Einfluss

nehmen, wo

der Glanz

des Amtes

suggestiv

wirkt, das

kann sie. Ein

empathisches Lächeln auf Knopfdruck reproduziert,

das manche Merker parieren lässt?

Sie hat es drauf: „Herzlichen Glückwunsch!

und noch einen schönen Tag“ (ein tolles

Leben).

Sep 24, 2021 - Gegensätze 108 [Seite 107 bis 109 ]


# Glatt ist die Kuh vom Eis

Damit will ich nie wieder etwas zu tun

haben. Man darf sich einer Wahl enthalten.

Das Wenigste ist, nicht auch noch dem Ruf

zu folgen, diejenige und ihre Partei zu unterstützen,

die dich später schlägt wie Mama

(die du dir nicht ausgesucht hast). Ich war

naiv wie ein Kind. Den Falschen habe ich

verhauen, das weiß ich wohl,

kann heute sagen, was ein

Netzwerk ist; eine Erfahrung!

Wer Deutschland regiert,

das ist mir doch ganz egal,

denke ich. Wenige glauben

daran, dass Armin Laschet

noch Kanzler wird. Aber nach

Scholz kommt dann was ganz

weit rechts.

Das ist meine Prognose.

:(

Sep 24, 2021 - Gegensätze 109 [Seite 107 bis 109 ]


Ratgeber kommen ungefragt, und schön ist

ja, wenn es überhaupt Resonanz gibt. Ein

Freund hätte sich dafür begeistern können,

riet, mehr ansprechende Aquarelle, aber

beliebte Landschaften, vielleicht Mallorca zu

malen? Oder das mit den drolligen Senioren

am Deich! Da sei doch

der Beginn einer Serie

erkennbar. Mein Weg ist

anders. Ich bin mehr als

verstört, was Kunst alles

bedeuten darf. Ich kann

mich beschäftigen, das ist

besser, denke ich.

Mein Schwager erkundigte

sich mittels der

Webseite bei einem

„Fachmann“ im Baden-Württembergischen:

„Der Mann ist zu gut“, resümierte

dieser. Das sollte heißen, ich wäre zu

engagiert für die seriellen Kunstkreise,

aber nicht zielgerichtet unterwegs,

meine Qualität an den entsprechenden

Markt zu bringen. Matthias

fand heraus, Künstler würden

„gemacht“.

Was einfach geht

Sep 28, 2021

Wenn ich heute male, ist das etwas ganz

anderes für mich als anfangs, etwa zur Jahrtausendwende,

mit den ersten Versuchen.

Zunächst war es ein Abenteuer, überhaupt

ein Bild zu beginnen. Durch die Ausbildung

begriff ich mich als Info-Grafiker, fing spätberufen

an, individuell zu arbeiten. Schade,

meine ich inzwischen. Da hätte man auch

früher drauf kommen können, eigene Sachen

zu machen. Wäre ich nicht besser ähnlich

der Illustration drangegangen und sollte

mich am Markt orientieren, auf ein Genre

beschränkt beispielsweise Landschaften

anbieten? Immer wieder bin ich dem Rat

ausgewichen, derartige Ansätze zu verfolgen.

# Meine

Aquarelle

verkauften

sich

Ich hatte im

Urlaub etwa

zwanzig

Stück gemacht,

bald

das Interesse

dran verloren.

Eine

Galeristin fand es nachteilig, die schönen

Dänemarkbildchen zusammen mit anderem

auf der Webseite zu zeigen. Entweder

persönliche Kunst oder nett hin gekleckerte

Dorfszenen, empfahl sie. Nicht beides rausstellen

nach dem Motto: „Seht mal, das kann

ich auch noch.“

Nur so vor sich hin zu

arbeiten, beinhaltet die Resignation,

es nicht geschafft

zu haben. Bei näherem

Betrachten bleibt das

Begreifen, die Bilder selbst

als das Wichtigste am

Malen hinbekommen zu haben.

Das motiviert weiterzumachen,

aber auf einer neuen Basis.

Meine Kollegen und ich müssen

einen inneren Antrieb erst zum

Laufen bringen. Wir haben

keinen Chef. Es beginnt diese

imaginäre Diskussion mit einem

eingebildeten Zuhörer, was

man mag und wie es wäre, stattdessen das

Richtige zu tun. Fleißige werden übersehen

und einige wollen gar nicht ins Rampenlicht.

Es fehlen kritischer Gegenpol und äußere

Bewertung. Wir machen nur halbe Sachen?

Das einzuordnen, bleibt welchen überlassen,

die sich dazu berufen fühlen.

# Gott stellt unsere Füße auf weiten Raum

So heißt es im Psalm. Er war so freundlich,

uns noch einen Fußboden in den Kosmos zu

nageln. Ich kann malen. Ob ich Kunst kann;

im Fokus der Öffentlichkeit stehen,

ich frage mich, ob ich das will? Möglicherweise

nicht, und das ist eine

gute Antwort für diejenigen, die mit

sich hadern, überhaupt zu malen. Es

geht auch einfach so.

:)

Sep 28, 2021 - Was einfach geht 110 [Seite 110 bis 110 ]


Mauern im Kopf?

Sep 30, 2021

Da habe sich viel aufgestaut,

heißt es oft, und

dann sei die Aggression

losgebrochen! Wir dürfen

skeptisch sein, wenn

diese Argumentation ins

Feld geführt wird. Wir

bemühen ein Bild, suchen

nach einem Erklärungsprinzip.

Ist unser Kopf ein

Haus mit Kammern und

Staudämmen? Wenn das

Gehirn eine Kommode mit

Schubladen wäre, müsste

man dieses mit zu vielen

Inhalten schnell an den

Rand der Belastbarkeit

bringen. Dann wäre der

Kopf, nach sagen wir der

dritten Fremdsprache, die wir lernten, voll,

wenn es ein kleines Gehirn ist, und zu musizieren

könnten wir nicht auch noch lernen.

Es sei denn, wir löschten unser Spanisch und

fänden so Raum, das Klavierspielen auszuprobieren,

schmissen anschließend, von der

Musik begeistert, weitere Fähigkeiten in den

geistigen Mülleimer: Nun hätten wir Platz

und könnten noch Trompete lernen?

Die Muttersprache auszulöschen und für

immer die Klappe halten, das wünscht sich

mancher, dem was sauer aufstößt. Den

Mund halten, ist möglich. Die Augen haben

Deckel. Was wir nicht sehen wollen, schauen

wir nicht an. Menschen haben die Wahl. Sie

müssen nichts riechen, das stinkt, kneifen

die Nase mit den Fingern zu. Der liebe Gott

erlaubt es: Man kann und darf schweigen,

schlafen, hält sich die Ohren zu, wenn es

laut wird. Das muss man nicht üben. Ein

Lebewesen wie unsereiner kann darüber

verfügen und wird sich gegebenenfalls

schützen, bestimmte Funktionen eine Zeit

lang auszusetzen. Warum müssen wir Luft

holen, wieder ausatmen? Essen und auf das

Klo gehen; der Zwang zu leben: Wir können

unsere Atmung nicht willkürlich pausieren

lassen, für viele Stunden, und anschließend

nach Gutdünken wieder aufnehmen. Nicht

mehr weiter atmen nach Belieben: Warum

geht das nicht? Selbstmord wäre einfach.

Das Leben sei ein Geschenk, heißt es. Eines,

das man nicht ablehnen darf. Vieles wird

gesagt, das bei näherer Prüfung ins Wanken

gerät und eine Kehrseite der Medaille zeigt.

Wie bei einer Mauer. Schöne Fassade,

hinten bröckelt der Putz. Einige möchten

wissen, wie es „drüben“ sein mag, andere

leben nur so dahin.

Das Leben sei „keine Errungenschaft“,

meint der Vater eines Freundes. Mit

siebenundneunzig beurteilt er vieles

anders. Atmen geschieht, ohne dass wir’s

uns vornehmen müssen. Die Freiheit,

ein Mensch zu sein, hat ihren Rahmen

und der begrenzt einiges: Wir können

Unangenehmes nicht vergessen, wie wir

den Müll im Haus raustragen und für

immer wegwerfen. Hätten wir als Gedächtnis

eine Kiste voller Sachen, könnte

man diese samt Erinnerungen anderen

verpflanzen wie die fremde Niere. So

einfach ist es nicht.

Der Wunsch, das Gehirn zu ändern, zumindest

seine Funktionsweise, ist möglicherweise

nachvollziehbar, und zwar immer

dann, wenn ein Mensch unvernünftigerweise

Dinge tut, die ihm schaden. Warum sollte

man gegen sich selbst handeln?

Trotzdem ist es nicht

ungewöhnlich, dass Menschen

sich, oft unbewusst,

Schaden zufügen. Psychisch

Kranke tun das. Nicht nur

die Jugendlichen, die sich

ritzen. Jeder psychisch

kranke Mensch macht genau

genommen dumme Sachen.

Statt dort, wo es nötig wäre,

auf den Putz zu hauen,

handelt ein Verstörter gegen

den eigenen Apparat. Davon

mal abgesehen, dass es

unendliche Spielarten dieser

Falschverwendung gibt und

entsprechend viele Diagnosen

und Behandlungsansätze,

hat diese Krankheit

mit ihren zahlreichen Macken einen

gemeinsamen Nenner. Könnte ein Arzt oder

sonst wer das Gehirn des Betroffenen zügig

direkt korrigieren, in die normale Funktion

eines gesunden Denkapparates nach dem

Motto „zurücksetzen“, wäre es bestimmt

eine medizinische Sensation, die durch alle

Medien ginge.

Der Denkfehler beginnt dort, wo gesunde

Normalität gegen kranke Disfunktion zur

Basis unserer Logik wurde. Es scheint einfach,

psychische Krankheiten zu bemerken

und ihnen

zahlreiche

Namen zu

geben. Auf

der anderen

Seite steht

dann immer

die eine

Normalität.

Oder eben

das Richtige,

das Gesunde.

Was

normal oder

gesund ist,

sollte zuerst

gefragt

werden. Die

Antwort

dürfte so

vielfältig

und individuell sein wie es Menschen gibt.

Ein Gesunder grenzt sich leichthin ab.

Dieser weiß nicht, dass er oft nur reflexartig

Situationen managt, indem er Störendes

beseitigt oder andere zurückweist. Jeder

von uns ist täglich unendlichen Ablenkungen

ausgesetzt. Nachdem zunächst die

Schwierigkeit, sich für eine Handlung zu

motivieren, aufgelöst wird, beginnen wir

mit einer Sache. Sofort ist eine gewisse

Konzentration unumgänglich und die ersten

Fehler passieren. Jede Tätigkeit gelingt nur

zum Teil. Wollte man in allem die vollständige

Perfektion erreichen, also auch bei ganz

alltäglichen Dingen, ist wohl anzunehmen,

schon deswegen verrückt zu werden.

Da gibt es welche, die nehmen vieles nicht

so genau. Andere finden es reizvoll, an

gewissen Beschäftigungen detailverliebt

herumzupusseln, dass man nur staunen

kann. Beides ist nicht mehr oder weniger

gesund. Man kann sich an bestimmten

Belästigungen stören und doch dieselben

bei anderen auslösen! Ohne mit der Wimper

zu zucken. Die Gesundheit besteht darin

und das Normale ist, dazwischen bildlich

gesprochen eine Mauer im Kopf zu ziehen.

Natürlich wissen wir heute viel über das

Gehirn an sich. Abgrenzungen zwischen

individuellen Sachverhalten und Emotionen,

Türen, die Gedanken wie Querverbindungen

erlauben; ein Problem ist, nicht erklären zu

können, woraus Zement und Ziegel sind, die

unser Denkapparat verwendet. Das löst das

Individuum individuell. Nicht wenige treten

anderen auf die Füße und schnauzen im

nächsten Moment einen Fremden

an, nicht zu schubsen. Das ließe

sich leicht mit einigen Beispielen

illustrieren.

# 1. Beispiel, Doofe beschuldigt

Doofere

Im Café sitzend, bin ich Zeuge

einer Unterhaltung am Nachbartisch.

Das ist unumgänglich, man

hört leicht mit, wenn man allein

ist und die Tische dicht stehen.

Eine kleine Familie, Tochter ungefähr

zwölf oder vierzehn Jahre alt

mit ihren Eltern, sitzt in meiner

Nachbarschaft. Die Mutter regt

sich auf. Sie war mit einer Sachbearbeiterin

irgendwo im Widerpart

gewesen, möglicherweise am

Morgen oder vor kurzem, jeden-

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 111 [Seite 111 bis 114 ]


falls schimpft die Frau über ein Erlebnis und

probiert, Tochter und Ehemann begreiflich

zu machen, wie bescheuert diese Situation

war. Sie hat nur Unflätiges parat: „Die ist so

blöd!“, und dergleichen poltert sie über das

Erlebte, und die Angehörigen nicken.

So weit kennt man das ja, und wir alle würden

gern manchen Bürokraten los werden.

Ich sollte verschweigen, was ich denke, aber

mir ist diese Mutter vom Sehen her bekannt.

Die arbeitet in einem Geschäft. Ich mache,

wenn möglich, einen Bogen um diese

Frau. Ich empfinde sie in jeder Hinsicht als

hässlich, bin geradezu erstaunt, dass sie

verheiratet ist, die Tochter und der Ehemann

hier ansprechend und sympathisch dasitzen.

Hässlich ist die angestrengte Weise jeglicher

Kommunikation mit dieser, mir ansonsten

vollkommen Unbekannten.

Wenn ich als einkaufender Verbraucher in

dieses Geschäft gehe, registriere ich meine

innere Ablehnung, und nur deswegen halte

ich Abstand. Der optische Eindruck, die

penetrante Tonlage, das verkniffene Gesicht

und die unübersehbare Absicht, sich sowohl

zuvorkommend gegenüber dem Kunden zu

verhalten als auch dieser extreme Drang,

unbewusst Grimassen ins Gesicht zu zerren,

bösartig wie

einschleimend

– das

stößt ab. Woher

will so

eine wissen,

in einem Behördengang

unterwegs,

dass ihr

Gegenüber

„bescheuert“

ist, wenn

sie doch

selbst – so

denke ich

– penetrant

und dumm ist?

Das darf man hier natürlich nicht schreiben,

und deswegen komme ich gleich dazu,

weiteres zu petzen. Natürlich nur deswegen,

weil ich hehre Ziele verfolge.

# 2. Beispiel, die selbst kriminelle Polizei

Wenn man die Dinge in verschieden

Schubladen einlagert, kann ein und dieselbe

Sache ganz unterschiedlich beurteilt werden.

Wichtig ist, keine Querverbindungen

zuzulassen. Heute lese ich, dass es im Norden

zeitgleich etliche Hausdurchsuchungen

gab. Die Beamten waren Hinweisen auf den

Besitz von Kinderpornografie nachgegangen.

In Deutschland sei das Ausspähen von Personen

ohne Anfangsverdacht in dieser Sache

nicht erlaubt, schreibt das Tageblatt. Aber

in den USA beispielsweise wären Provider

verpflichtet, verbotene Inhalte zu melden.

Das Netz ist bekanntlich weltweit verwoben.

Auf diese Daten greift die deutsche Polizei

zu und geht zu Meyer in die Bude, nimmt

den Rechner mit, toll. So hilft man sich.

Das Problem der Ordnungshüter beginnt

damit, dass die Kriminellen so unordentlich

vorgehen, überhaupt kriminell sind. Die

halten sich nicht an das Gesetz. Wenn der

Beamte mit Uniform herumspazierte und

höflich wie Columbo sagte: „Entschuldigen

Sie, eine Frage hätt’ ich noch …“, kämen sie

nicht weit, meinen die Polizisten. Da hat

man den verdeckten Ermittler erfunden

und den großen Lauschangriff. Dem sind

im Anschluss aber gleich wieder Fesseln

angelegt worden, aus dem vermutlich guten

Grund, dass ein Verdacht, der sich später als

unbegründet herausstellt, bedeuten würde,

Unbescholtene auszuspähen. Das macht

die Hürden, so vorzugehen, dass wirklich

gar Niemand davon mitbekommt, hoch. Wir

dürfen nicht sagen, dass, wenn unsere Ordnungshüter

nicht hausdurchsuchen dürfen,

die Daten der Amerikaner in den Händen der

Deutschen eine Umgehung der Rechtslage

darstellen? Man wird argumentieren „weil

hier ja keine pauschalen Verdachtsfälle

inspiziert würden, sondern der Rechtsbruch

bereits dokumentiert ist“, und das ist raffiniert

gedacht.

Ich lese diese Berichte aufmerksam. Es ist

nicht verboten, nackte Kinder zu zeigen, das

müssen welche in einer FKK-Veranstaltung

sein und einfach hingestellt. Wäre das

verboten, müssten etliche Seiten vom Netz.

Verboten sind Kinder in sexuellen Haltungen.

Wenn also jemand ein Kind neben ein

anderes stellt, etwa für einen Contest und

ihm eine Nummer in die Hand drückt, nach

dem Motto „wenn die Sieben gewinnt, bist

du die Schönste“ und die nackten

Opas rundherum applaudieren, ist es

Naturdarstellung und erlaubt. Das

kann jeder leicht ergoogeln. Setzt du

dein Gör im Wald auf einen Ast und

fotografierst es in den offenen Schritt

hinein, kommen die Bullen zu dir nach

Hause. Und zu denen, die das Bild

sonst noch klickten. Wir werden diese

Menschen, die nicht nur ihre Currywurst

posten, die sie in einem Imbiss

bestellten oder ihr neues Auto, nicht

ändern. Wir können auch nicht den

größten Teil der Männer dahingehend

umerziehen, ausschließlich alte Muttis

geil zu finden.

# Polizei?

Ein Team wird weniger beraten, ob hier

jeweils ein Verbrechen begangen wurde.

Sie werden überlegen, ob der Besitz des

Bildes strafbar ist. Das heißt dem Wort nach:

„Kommen wir damit beim Staatsanwalt

durch und gewinnt dieser vor Gericht seine

Anklage?“ Da kann man sich noch streiten,

wie weit geöffnet diese Einblicke sein

müssen und ob da schon ein Busen ist? Nun

gehen die Kommissare nicht dran, diese

missbrauchten Seelen vor Ort zu retten. Das

wäre zu schwierig. Wo könnte das böse Bild

oder Film entstanden sein? Die Polizistin

aus dem Sachgebiet eins kennt die Kinder

nicht persönlich, wie

ich genauso wenig, der

sogenannte Nutzer. Den

sexsüchtigen Wichser

kann der Weltretter

dingfest machen, wenn

dieser einfach so surft.

Das ist doch schon mal

was. Gut, dass es verboten

ist, sich was anzuschauen,

was man nicht anschauen

darf. Sonst bliebe dieses

Arbeitsfeld unbeackert,

und die Verbrechensbekämpfer

müssten die finden,

die vor Ort quälten.

Zynismus hilft dem unter

Generalverdacht stehenden

Mann. (Ich weiß schon, dass diejenigen,

die sich das bloß anschauen, den gefährlichen

Pfad laufen, selbst Täter zu werden am

wirklichen Kind, und dass sie im günstigen

Fall eine Fährte legen für die Polizei). Der

Beamte entscheidet nach Augenmaß, wie

alt jemand ist und wie verwerflich das

Motiv. Verhandlungssache: Wie einfach muss

man denken, um hier verbal nach vorn zu

preschen, zu wissen was nötig tut? Dem

Staat obliegt nicht nur die Pflicht, Verbrechen

aufzuklären, sie zu verhindern, sondern

auch – anstelle nach dem Beuteprinzip

die Kriminellen erst anzuregen und dann

fertigzumachen – Bedingungen zu schaffen,

den Nährboden dafür zu begrenzen. Also zu

löschen was geht und eine Zensur zu probieren.

Das dürfte schwierig sein.

Ich denke, dass den Jugendlichen im Grenzbereich

zum Erwachsenwerden nicht klar ist,

dass es „alte“ Männer wie mich erregt, wenn

Heranwachsende hübsch sind und nicht

nur gleichaltrige Mitschüler.

Sittenwächter übersehen

gern, dass dieses an sich zu

bemerken, weder krank noch

kriminell ist. Ein Mann, der

zugibt Schülerinnen attraktiv

zu finden, ist kein Fall für

den Arzt. Den eventuell eifersüchtigen

Psychologinnen,

und das scheinen mir ältere

Frauen zu sein, denen unbewusst

klar wird, dass in einer

Galerie von Mädels vor der

Webcam die Mehrheit doch

sehr jung ist, unterstelle

ich gern Eigennutz, Männer

fertig machen zu wollen.

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 112 [Seite 111 bis 114 ]


Die Kriminalität gegenüber der Pornoindustrie

dingfest zu machen, ist nicht

einfach. Ein „guter“ Markt für viele ist

entstanden. Das ist ein Geschäft. Eine

delikate Sache zunächst, die der Beamte

mit Augenmaß betreiben muss, um diesem

heute buchstäblich kinderleichten

Eingang in das Verbrechen zu begegnen.

Die Jugendlichen selbst sind fleißige

Täter in einer Welt, die schwarzweiß

keine Zwischentöne zum Opfer sehen

möchte. Es klingt zunächst toll, wenn

„diese Schweine“ belangt werden können.

Das ist aber weder toll noch einfach

für die Polizei. Es ist auch nicht toll für

neunzig Prozent der Männer, die bemerken,

dass junge Frauen nackt abgebildet, sie

mehr erregen als die gleichaltrigen Muttis,

wie etwa diejenige, mit der man verheiratet

ist. Bei so einem Satz explodiert jedes Opfer

sexuellen Missbrauchs vor Wut, hier würde

die Opfer/Täterrolle böswillig umgestellt,

na klar. Das mag sich nicht gehören, aber

Gefühle wahrzunehmen, macht möglich, die

eigenen Handlungen anzupassen. Wir waren

selbst alle einmal Kind.

Wenn zu denken und zu reden verboten

erscheint, lassen sich manche zum Kranken

erklären, aber andere setzen sich über jede

Menschlichkeit hinweg, wie die aktuellen

Verfahren gegen Berühmte zeigen. Hier

muss zunächst erlaubt sein, festzuhalten,

dass Mädchen früh geschlechtsreif sind und

aufgeklärt, aber erst sehr viel später eine

Beziehung mit eventueller Heirat gesellschaftlich

gewünscht ist. Dazu kommt, dass

sexuelles Lustempfinden nicht kanalisiert

und geordnet auf Gleichaltrigkeit gespürt

wird. Lebten wir noch wie die Tiere, ohne die

Regeln der Zivilisation und Verhütung, wäre

die natürliche Fruchtbarkeit das Maß für Sex

oder nicht. Dann endete die Kindheit mit

spätestens zwölf Jahren. Hätten wir weniger

Anstand vor der Verletzlichkeit unserer

Kinder, könnten Männer mit fünfzehn nach

Belieben loslegen. Würden wir uns nicht

darum scheren, dass Beziehungen mit

einem großen Altersunterschied erhöhten

Belastungen ausgesetzt sind, soziale Konflikte

provozieren, könnten auf diese Weise

Verliebte es mit sich allein ausmachen. So

ist unsere Welt aber nicht.

Wir vermuten, und die Beobachtung stützt

es, dass Erwachsene Einfluss auf Kinder

nehmen, aufgrund ihrer Lebenserfahrung

bevorteilt sind, unterschwellig Druck auszuüben.

Das begünstigt Missbrauch. Ältere

werden, in welcher Gesellschaft wir auch immer

leben, Einfluss haben, Macht missbrauchen,

manipulieren. Es muss erlaubt sein

nachzudenken, wieso Lust sich nicht an die

Konvention hält, ältere Männer müssten sich

gleichaltrig verlieben. In seiner Zelle noch

vor Prozessbeginn erhängt aufgefunden:

Als pädokriminell wird der Millionär Jeffrey

Epstein dargestellt, wohl um deutlich zu

machen, dass der Mann nicht krank war. Ein

guter Anfang, einzusehen, dass Therapien

ins Lehre gehen, wenn sie auf der Erfindung

von Diagnosen ihre theoretische Grundlage

haben. Dem Bösen hätte man nicht helfen

können im Sinne des leider Sexsüchtigen.

Asoziale Onkel im Wohnwagen behandeln

wir, weil es Psychologinnen gibt. Am Milliardär

mit stabilen Netzwerk für Missbrauch

prallt Gelaber ab. Er weiß zu gehen, muss

sich vor Gott verantworten. Die Gesellschaft

möchte Kinder schützen und wird begreifen,

dass Kindheit eine Definition ist. Der Rechtsstaat

entwickelt immer neue juristische

Sektionen, die dazu führen, die Motivationen

in der Gesellschaft zu kanalisieren. Das

kann nicht bedeuten, Straf- und Heilanstalten

größer zu bauen. Fußfesseln und

Medikamente sind ein hilfloser Versuch der

Integration, wenn es nicht gelingt, Übergriffe

zu verhindern. Das Klügste wäre einzusehen,

dass es kein normales Verhalten gibt. Uns

also weniger Krankheit gegenübersteht, bei

Missbrauch, wir insgesamt einsehen müssen,

neu zu bewerten, was ein Mensch ist, nicht

wie es sich gehört, einer zu sein. Die Mauern,

die wir aufstellen, müssen intelligente sein.

Sonst erschaffen wir einen gesamtgesellschaftlichen

Irrgarten (wenn wir es nicht

bereits getan haben).

Die moderne Aufklärung ist den Eltern

entglitten, weil es das Internet gibt. Insofern

bewegen wir uns sexuell in die Steinzeit

zurück. Wenn wir noch meinen, das eigene

Kind zu Hause schützen zu können, kann es

schon beim Freund zu Besuch einen Einblick

in die Auswüchse der Gewaltpornografie

bekommen, der Erwachsene verstört und

Kinderfantasien einer heilen Welt zerstört.

Es hilft nicht, den Kindern etwas vorzumachen,

das nicht existiert. So wie wir erleben,

dass die Jugend die Klimagefahren begreift,

wird sie uns, was Sexualität betrifft, bildlich

gesprochen rechts auf dem Standstreifen

überholen, und die von uns gewünschte

Rettungsgasse blockieren Gaffer. Wenn wir

Erwachsenen uns dieser Realität aufrichtig

stellen, wird es besser laufen, als dumpf

Rache üben zu wollen an Unsresgleichen.

Dem Rechtsstaat geziemt, ein hohes Maß

an Rechten für alle im Land zu gewähren.

Dabei darf der einzelne nicht glauben, dass

die so erreichte Gerechtigkeit auch gleich

für alle empfunden wird. Man muss ganz

klar begreifen, dass die moderne Justiz den

Gesetzesbrecher bevorteilt und eine immer

bessere Verteidigung ermöglicht. Wir, die

Zeitgenossen der jeweiligen Gesellschaft,

konnten in der Steinzeit Rache üben,

durften Jesus kreuzigen für sein aufrührendes

Gelaber, haben im Mittelalter Hexen

verbrannt und im Wilden Westen Selbstjustiz

geübt. Wir haben Sophie Scholl den

Kopf abgeschlagen, weil sie kein Nazi – wie

die Deutschen mehrheitlich – sein wollte.

Während Homosexuelle einfach hingerichtet

werden konnten, dürfen diese heute beinahe

richtig heiraten, um es böse und überspitzt

zu sagen. Das gilt für vieles und ist auch gut

so. Nur der einfache Nachbar ist noch nicht

gut genug dafür. Er möchte eine Bürgerwehr

im Verborgenen, um weiter Hexen und deren

männliche Gegenüber zu verbrennen.

# 3. Beispiel, dasselbe wie eben mit Schiffen

Weiter mit Widersprüchlichem: In Deutschland

ist der Standard verpflichtend, was

alles auf einem Frachtschiff sein muss,

Kapitän mit Patent, einige Offiziere und der

Bootsmann mit seinen Matrosen, diverse

Feuerlöscher und ein Rettungsboot nach

DIN-Norm in orange, was weiß ich. In

Liberia ist es anders, weil das ja in Afrika

liegt. Darum fahren etliche Schiffe diverser

Reedereien, die man zunächst historisch

verpflichtet und dem Namen nach bei uns

verorten würde, unter fremder Flagge rum.

Ist einfach günstiger.

# 4. Beispiel, der neurotische Hund bin ich

Oder: Ich sehe in einem Fernsehbeitrag eine

junge Frau. Die ist Hundeflüstererin. Das

ist eine, die kann auch mit bösen Kötern.

Die Hunde werden von früheren Besitzern

verrückt gemacht, beißen – und kommen

in das Heim. Dann erscheint diese Frau und

flüstert denen was. Nach einiger Zeit sind

die Beißer ganz manierliche Tiere. Die etwa

knapp dreißigjährige Trainerin hat schon

viel Erfahrung. Sie zeigt uns ihren Arm voller

Narben. Das wäre ein ganz lieber

Hund gewesen, meint die Hübsche mit

dem zusammengeflickten Arm, leider

passiert; bei diesem Tier durfte man

nur eine einzige Sache nicht tun: dem

Hund von oben, so dass er es nicht

gleich sehen konnte, von rückwärts

kommend etwa, mit der Hand auf den

Kopf fassen.

Gemetzel total!

Niemand hatte ihr das vorher gesagt.

Bei mir ist es nicht der Kopf. Das Auto,

und wenn man lieb zu mir ist, bin ich

freundlich. Mein neurotisches Problem beinhaltet,

dass die anderen anfangen müssen.

Man streichelt mir nicht den Hinterkopf,

wenn ich fahre. Manche möchten schneller

als ich fahren? Weil sie gewohnt sind, Menschen

zu scheuchen und sich sicher fühlen

im Blech wie ein Ritter in der Rüstung; die

Bürgermeisterin „immun im Turm“ (ihres

Panzers) sind sie. Ich komme drauf, weil:

Mich darf man mit dem Wagen nicht anhupen,

es müsse gerade mal schneller gehen.

Dann: Gemetzel total von mir, mindestens.

Ich kann das nicht leiden und dränge andere

Autofahrer selbst nie.

Ich denke übergreifend, was heißt übergriffig,

und wo beginnt eine Belästigung?

Erwachsene sollten den Bogen nicht

überspannen. Wer ist allein schuld, wenn uns

die Kontrolle schwindet, bessere Menschen

auf den Plan treten, bestimmen möchten?

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 113 [Seite 111 bis 114 ]


Wehret den Anfängen. Wäre höfliche Distanz

gewünscht gewesen, sagtest du: „Wir bleiben

bitte beim ‚Sie‘, und natürlich – in Ihre

Ausstellung, Herr Bassiner – komme ich gern

einmal.“ In die Kunsthalle, aber nicht nachts

in den Club, wir hätten früh merken können,

dass wir zu weit gingen, vielleicht. Meine

Fehler – aber irgend etwas stimmt nicht bei

allem. Ein ganzes Dorf spannt

hinter der digitalen Gardine

und wartet nur auf den

krachenden Schlussakkord?

Bereit, nach Kräften die Sache

anzufeuern und schließlich

den Esel mit seinem Pinsel

gemeinsam durch die Straßen

zu jagen. Ha ha. So muss es

gewesen sein.

Persönlicher Einschub: „C.“

wirft mir vor „A.“ bedrängt zu

haben? Im Auto jedenfalls

dränge ich niemanden. Das

hilft mir zu verstehen? Nein.

Ich kann jahrelang Zweisamkeiten

mit meiner Kunstfreundin

belegen. Ohne, dass das Wort Liebe nur

einmal fiel. „Lieber John“, schrieb sie: „Hey,

wann wollen wir denn los? Ich habe schon

mal in den Fahrplan geschaut“, so in der Art.

Dann ist es eskaliert, warum? Abbruch jeglichen

Kontakts befohlen: „Ja, ich wurde beraten.“

Alle lassen mich wohlmeinend auflaufen.

Sie necken mich gönnerhaft, tröstend;

die weisen Alten sind so freundlich: „Die ist

doch viel zu jung für dich.“ Ich dann, Arschloch,

male sie nackt auf Leinwand. Das Ziel

ist Provokation. Niemand malt drei Wochen

unter den Augen der Lieben Schweinkram,

wenn das nicht dem nötigen Ziel geschuldet

ist. Wie im Märchen, die alte Hexe fragt:

„Wer ist die Schönste?“ Ich will der Kaiserin

neue Kleider machen, Transparenz erzwingen,

Panik

erzeugen,

wütend machen,

und

die Konfrontation

mit dem

Frechsten.

Das hätte

ich alles

ganz allein

verkackt,

meint „C.“ dazu. Schönen Tag auch! Heute

hasse ich Frauen, wenn sie alt und eingebildet

sind, ihre Schönheit verblasst. Mit einer

Blöden, in ihrer Blechdose Auto steckend,

kann man nicht diskutieren, und mit einer,

die sich hinter Pappe verschanzt, genauso

wenig. Ab einem gewissen Moment der

Versuche, etwas zu begreifen, ist kein Dialog

mehr möglich und die Einsicht, bereits

vorab von anderen – mit stillschweigendem

Einverständnis untereinander – verarscht

worden zu sein, unausweichlich.

Warum ich das hier zwischentexte: Ich bin

früher normal Auto gefahren. Ich hatte den

gesunden Menschenverstand dafür. Heute

halte ich mich exakt an die Vorschriften,

auch an die Geschwindigkeit – und bremse

alles aus deswegen. Ich dränge nie, und die

anderen kleben mir am Heck, schon weil ich

mich an das Tempo halte. Das hat sich so

nach und nach entwickelt, bin ich krank?

# 4. Beispiel (a.), Frauen sind (auch) scheiße

Das passende zum Thema: Ich muss stoppen,

weil vor mir am rechten Fahrbahnrand der

Paketdienst seinen Transporter parkt. Er

hat den Warnblinker eingeschaltet. Eine

lange, gerade Strecke, aber nicht sehr breit,

rechts Felder

und Baumschulgelände,

links

stehen Häuser.

Wir befinden

uns innerhalb

geschlossener

Ortschaft. Ein

Pkw nähert sich

entgegenkommend.

Es ist für

mich unumgänglich

anzuhalten.

Der Paketbote

hat die Türen geöffnet

und lädt

sich mehrere

Kartons auf, um

nach dem Auto die Straße zu überqueren. In

dem Moment, wo für mich frei wäre, um loszufahren,

checkt der junge Mann mit einem

kurzen Blick, ob er noch rüber könnte, ich

warte? Natürlich gebe ich ein Handzeichen.

Der Mann dankt und sprintet los. Da hupt

mich die Frau im Fahrzeug hinten an! Ich

lasse das Gemetzel ausnahmsweise, aber:

Ist es zu fassen? Das war nun eine „Dame“

hinter mir. „Dämlich“ ist als Schmähung wohl

nicht genügend, sie damit abzuwerten. Kein

Gegner unter Männern im Kampf, so ein

muskelbepacktes Arschloch. Ich bin ja nur

ein schwächlicher Zeichner aus dem Atelier,

das weiß ich schon. Nein, dieses zarte,

entsprechend zu schützende Geschöpf, ist

scheiße wie was.

# 5. Beispiel, Mauern zwischen den

Nachbarn

In einer Wohnanlage kommt es zum

Wasserschaden. Einem Eigentümer

ist erheblicher Mangel entstanden,

und der Mann führt an, das Wasser

wäre über Jahre hinweg laut Gutachten

von ganz wo oben geflossen und

ausgerechnet bei ihm ginge die Wand

in’ Dutt. Der Baumangel am Dach

sei schuld und betreffe das Ganze, ob die

anderen sich an den Kosten beteiligen? Auf

Nachfrage finden sich drei zufällig Angesprochene.

„Da haben wir nichts mit zu tun,

das betrifft das vordere Haus“, meint einer

und „Eigentum verpflichtet“, ein anderer. Der

Dritte führt noch ein persönliches Beispiel

an und stimmt dem Ersten

zu.

Zeit vergeht.

Einer dieser lieben Zeitgenossen

hat die „Rohrreinigung

Klaus“ im Haus.

Spirale in der Spüle, das

lange Bohrdings reicht meterlang

bis in die angrenzende

Kanalisation vorn an der

Straße. „Schon zum dritten

Mal!“, schimpft der Hausbesitzer, und es ist

einer von denen: „Eigentum verpflichtet!“,

der nun seinerseits ausführt, die Kosten

umlegen zu wollen. Er habe bereits mit der

Verwaltung gesprochen. Es stünde fest, der

Pfropf, der regelmäßig seine Küche verstop-

fe, stecke immer vorn an der Straße in der

Hauptleitung. Das sei das Rohr für mehrere

Kacklieferanten, und „keinesfalls wäre es

seine Schuld“, wenn es dort nicht weiterginge.

Der Ärger und die Kosten wären allein

bei ihm? und: „So ginge es nicht!“, schimpft

der Wüterich.

# 6. Beispiel, Freunde sind auch nur Menschen

Ich schreibe einen Blog, diesen hier. Immer

wieder stelle ich Bilder vom Segeln ein. Ich

frage schon mal, ob ich einen Freund zu

verpixeln hätte. Das führt stets zu lustigen

Mails: „Bloß nicht!“ schreibt Henning.

Piet, Kocki und Niels diskutieren die alten

Geschichten im wechselseitigen Austausch

mit mir, wie es damals war, mit dem Krebs

im Watt, dem Gewitter später oder dem

Feuerwerk an der Kugelbake. Karin erfreut

ein Foto von ihrem Laden, worauf ich sie per

Link verweise. Den Text kommentiert niemand.

Das muss man ja nicht lesen. Meine

Frau: „Das ‚kann‘ man ja nicht lesen.“ Anfangs

habe ich noch zu Ausstellungen geladen

und gelegentlich ein Aquarell verkauft. Die

Freunde brachten kleine Geschenke mit zur

Vernissage. Nach einiger Zeit wurde es nicht

einfacher, die immer selben Leute zu erreichen.

Ich vermute, sie zögern: „Diese Bilder.

Wenn wir wieder hingehen, müssen wir John

auch mal eines abkaufen.“

Das sagt man nicht.

Was ich meine ist, wie schafft es der Normalgesunde,

diese Mauern im Kopf zu bilden

und gleichwohl zu übersehen, je nach Lage?

Ein Arzt kann dich mit was benebeln, das

hilft nur in der schlimmsten Not.

Niemand kann Normalität lehren, aber jeder

gibt dir diesen Rat.

„Einfach leben.“

Das ist so individuell, wie unsereiner sich

abgrenzt, dass man einen, der es nicht

(mehr) kann, wohl nur schwer darin unterrichten

oder therapieren könnte, es aller

Welt gleich zu tun. Vielfalt, jeder Mensch ist

seine kleine Ordnung und eine feine Person,

bis das Kollektiv, alles gleich, fair und

gerecht haben zu wollen, uns den Stempel

aufdrückt – und nicht wenige erdrückt. Die

Retter retten; und trampeln dabei alles tot,

denke ich böse. Einen Allerweltsmenschen

bräuchten wir, vollständig geimpft mit diffuser

Solidarität für alle? Er würde uns fertig

machen wie der Mensch den Neandertaler.

Wie gut, dass der noch

nicht erfunden wurde.

:)

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 114 [Seite 111 bis 114 ]


Das ist nicht komisch

Okt 10, 2021

Anfang der Achtziger erlebten Imke und ich

Gillian Scalici live in einem Hamburger Club.

Das war zu der Zeit, als Eric den Show-Shop

in der Spaldingstraße betrieb und bevor die

bald so bekannte Sängerin und Schauspielerin

die Stage-School leitete. Ich erinnere

Scalici als vielseitig und humorvoll. Wie Eric

Emmanuele, begeisterte sie uns durch ihre

Professionalität. Mich hat das geprägt, immer

ganz genau hinzusehen, wenn irgendwo

auf einer Bühne, im Film oder sonst wo kreativ

Geschichten dargestellt sind. Wir waren

mit „Musical-Projekt“ auf einem guten Weg

und hatten nach einigen Jahren erfolgreiche

Auftritte an verschiedenen Spielstätten. Eine

wunderbare Zeit.

# „An Evening With Gillian Scalici“

Ich weiß noch genau, dass wir aus einer Nische,

von einer erhöhten Ecke mit Tisch, auf

die kleine Bühne schauten. Es gab Bewirtung

am Platz. Ich meine mich zu erinnern,

dass diese kuschlige Location an einem

Fleet gelegen, mehr wie ein Restaurant

gewesen ist. Ein unscheinbarer

Eingang. Wir liefen durch einen

verwinkelten Flur, um hineinzugelangen.

Es war dort viel kleiner

als im bekannten Schmidts Tivoli.

Imke hatte den Auftritt ausfindig

gemacht, sie begeisterte sich

für alles im Showbusiness. Rote

Plüschsessel und der warme Ton

von orange und gelb im Bereich

der kleinen Bühne, wenn man von

oben auf die Dielen schaute. Diese

Bretter, die die Welt bedeuten

und ansonsten Dämmerdunkel

rundherum, schemenhaft Gäste erkennbar,

die nahe der Spielfläche

saßen, das weiß ich noch. Gillian

Scalici war ganz dünn und schien

kaum älter als wir vom Musical

Faszinierten im Séparée zu sein. Ich erinnere

ihre ausdrucksstarken, dunklen Augenbrauen,

fand sie wunderschön, und dass man

von unserem erhöhten

Platz recht gut in den

Ausschnitt ihres Kleides

schauen konnte, ist

mir tatsächlich noch

präsent. Das Kleid war

blau? Da werde ich

unsicher, aber es überrascht

mich selbst, wie

deutlich die Erinnerung

noch heute ist.

Nun ahnt man ja

nicht, wie es im Leben

weitergeht, und dieses

kleine Konzert hat nicht

gerade meine Zukunft

geprägt. Deswegen

skizziere ich diese

Episode auch gar nicht.

Meine gute Erinnerung

an vieles, die Fähigkeit bildhaft zurückzublicken,

ist das wesentliche Element meiner

Gestaltung. Ich arbeite nicht willkürlich.

Mich treibt, etwas so hinzubekommen, wie

es mir vorschwebt. Ebenso wichtig ist mir

auszuloten, was damit gemeint sein könnte.

Ich möchte von mir selbst wissen, warum

ich mich auf ein Thema einlasse. Geradezu

schockiert lese ich deswegen die immer

gleich daherkommenden Artikel zum Thema

Kunst im Tageblatt. Nun gut, es ist eine Dorfzeitung.

Und Pinneberg unsere Kreisstadt ist

kaum mehr als ein Provinznest, ein richtiges

Kaff. Mich stört, dass der weltweit verwendete

Begriff „Kunst“ verballhornt daherkommt,

in ein Händchen haltendes Netzwerk

vertrockneter Tanten geopfert wird, die mein

Steuergeld nutzen für ihren Scheiß.

# Leben und Tod

Die Künstler in China seien in Gefahr, sagt

man. Sie würden gelöscht und verfolgt. Das

wird das Ende der Volksrepublik sein! Die

Kirche, die Mafia oder die Kunst verbieten

zu wollen, muss letztlich das Schicksal

eines Staates besiegeln. Gerade ist der

österreichische Kanzler Kurz über seine

Eitelkeit gestolpert und zurückgetreten:

Keine Regierung ist unfehlbar, aber natürlich,

das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Darin

besteht das Risiko, abgewählt zu werden

oder eine Revolution anzufachen. Denn das

Monopol auf die Ordnung insgesamt zu

haben, bedeutet nicht, die Aggression des

Einzelnen abzuschaffen, sondern allenfalls

zu unterdrücken. Ein Sportler, kurz vor dem

Sprung über eine Hürde, benötigt sämtliche

Energie und darf keinen Zweifel haben oder

Schmerzen ignorieren, wenn eine Bestleistung

gefordert ist. Ein Konkurrent mag

leichter drübersegeln, weil dieser fest dran

glaubt, es zu schaffen und nichts in sich

unterdrücken muss, weil alle Muskeln und

die ganze Motivation bereits in dieselbe

Richtung wirken. So auch beim Tanz und

Theater, in der Musik oder bei einer guten

Federzeichnung (die man nicht radieren

kann). Wer lernte, sich voll einzubringen,

respektiert Störungen.

# Sie nahm nicht die Jogginghose für ihr

Date

Ein Dorn im Fleisch, der Stein im Schuh, das

sollten wir nicht ignorieren. Nach sieben

Stunden Tanga in Kombination mit Hotpants,

hat ein Teenie den wunden Popo, lese ich.

Dann Bakterien in der Ritze, Sepsis, Intensivstation.

Wenn’s beginnt weh zu tun, ist es

wichtig zu handeln. Kunst muss nicht

teuer sein, sie muss uns berühren.

Mit diesem intellektuellen Bogen hinein

ins Thema: Gegen die Kunst in Pinneberg

und drumherum gibt es keinen

Widerstand. Das ist so unbedeutend,

dass niemand diese Armseligkeiten

wahrnimmt. Eine Kunst, die nicht juckt.

Kreationen, die nirgendwo eine Ritze

schneiden. Keine Haut, die sich rötet

bei diesem Quatsch, so blutleer ist der

Körper der Skulpturen und Flachwerke,

denen wer weiß was zugeschrieben

wird. Eine glatte Ästhetik für Liebhaber des

gewichtigen Wortes mit ernstem Bezug zur

schlimmen Gegenwart. Niemand stört sich

daran. Dann können wir unbesorgt sein? Es

geht uns gut, und Corona hat noch finanzielle

Reserven übrig gelassen.

Okt 10, 2021 - Das ist nicht komisch 115 [Seite 115 bis 116 ]


Ursula Wientapper“, erfährt der

geneigte Leser. Zusätzlich sehen

wir zwei Bilder. Die hilflosen

Kleckereien von Laureen-Zoe

Ulka untertitelt das Käseblatt

mit wohlmeinender Wichtigkeit.

Es sind nicht nur Bilder, sondern

Exponate. Das hört sich doch

schon mal nach was an. Anfang

Oktober beklagt Uschi: „Wir

suchen dringend junge Künstler,

die sich in unserem Verein

engagieren. Hauptaufgabe ist es,

neue Maler oder andere Kreative

für unsere Ausstellungen zu

akquirieren und diese dann zu

organisieren und umzusetzen“,

appelliert Wientapper. Haltet

lieber Abstand, denke ich böse,

und was im Himmel inspiriert

beim unnötigen Kram?

Ein dickes Ei, so scheint es, wurde noch

nicht ganz verspiesen, das ist der Kulturetat.

Ich kenne mich schon aus. Der Kuckuck

schlüpfte und saß im Nest, so war das. Ein

Kunstverein westlich von Hamburg und der

aus Wedel über Bahrenfeld ins Dorf hinein

geschneite Quiddje kamen zueinander.

Bei einer netten Rotweinrunde im Vorstand

werden Eitelkeiten und Moneten wie Trümpfe

ausgespielt. Tatsächlich einer der Gründe

vor einigen Jahren, dem örtlichen Kunstkreis

wieder zu kündigen, war dieser Einwurf von

Ingrid „da wären noch ein paar Tausend Euro

für ein Projekt zu bekommen“, sollte man

nicht ein Bildhauersymposium ausschreiben?

Dann könne man

sich um diese Summe

bewerben. Was für ein

Quatsch!

Die Woche drauf kommt unser

Kunsthaus an die Reihe, das

neuerdings von Anne Immig

geleitet wird, wie wir erfahren.

Die von Kindern gemalten Blumenbilder

unterscheiden sich

in Nichts von Ulkas Klecksen.

Wie schön, wenn die Kleinen beschäftigt

sind. Auf der Seite geht es nahtlos

in Rellingen weiter. Die glückliche Cäcilie,

eine übrigens äußerst aktive und sympathische

Person, hat es geschafft, ein Live-

Painting mit verschlungenen Ringformen für

immer ins Rathaus vor das Standesamt zu

nageln. Glückwunsch! Das tut ja niemandem

weh, und besser als die langweiligen Klinker

ist blaue Deko allemal.

Weh tut der Artikel von gestern. Diesmal

Pinneberg, die Hauptstadt quasi. Da muss es

schon was kosten. Unter der Rubrik „Lokales“

findet sich diese Headline: „Ach, du dickes Ei:

Was es mit der Skulptur nahe der Drostei auf

# Das hat nichts mit

Kunst zu tun

Dem Kunstverein in

Schenefeld fehlt es

an Nachwuchs? Kein

Wunder. Es steht in der

Zeitung, unser Käseblatt,

wer liest das schon.

Mehr als zwanzig Mal

wird Kunst in Verbindung

mit Personen

und Galerien genannt,

aber: Das ist keine

Werbung. Eine ganze

Seite im Tageblatt! Die

Schenefelder Kunstwelt in Person einer

ehemaligen Kunstlehrerin, gekonnt in der

Pose einer Kennerin fotografiert, erläutert

die Probleme, während der Pandemie mit

Ausstellungen am Ball zu bleiben. „Malt

bevorzugt maritime Motive in Acryl: Die

Vorsitzende des Schenefelder Kunstkreises,

sich hat“, und den Artikel lese ich gar nicht

erst. Mir genügt die untere Zeile: „Das neue

Kunstwerk in Pinneberg ist eine Gemeinschaftsarbeit,

die mit zehntausend Euro gefördert

wurde.“ Blechei auf Sockel. Das Foto

davon zeigt beuliges Metall, auf dem ein

ungeübter Niroschweißer einige verklumpte

Nähte fabrizierte. Es ist nicht schön. Es ist

uninteressant. Es hat keine Aussage. Es war

sehr teuer.

Das ist nicht komisch.

:(

Okt 10, 2021 - Das ist nicht komisch 116 [Seite 115 bis 116 ]


Ganz einfach!

Okt 20, 2021

Jetzt ist es wieder passiert,

ein Amoklauf erschüttert uns.

Kongsberg, Norwegen – vor ein

paar Tagen hat ein Mann mehrere

Menschen getötet. Mit Pfeil

und Bogen bewaffnet war der

Verstörte unterwegs, auch Messer

kamen zum Einsatz, als er

zufällige Opfer für seine Attacke

fand. Es dauerte, bis die Polizei

zugriff und den Täter festgenommen

hat. Schnell verordneten Fachleute

die Bluttat als islamistisch motivierten Terrorakt.

Dann korrigierten sich die Behörden.

Der in Norwegen lebende Däne wäre seit

Jahren in psychologischer Behandlung, und

man ginge nun von einer Krankheit aus, die

zur Tat führte.

Wie immer in so einem Fall, stehen die

offiziellen Sicherheitsdienste anschließend

in der Kritik. Wenn ein polizeibekannter

Mensch zuschlägt, kommt die Frage auf, ob

das nicht verhindert werden konnte, voraussehbar

gewesen ist? Dem liegt die Problematik

zugrunde, dass die breite Masse einer

Gesellschaft diese Täter wegsortieren möchte,

am Besten rechtzeitig. Sie sind anders,

gefährden: Gestörte raus! Nun können wir

die Menschen nicht dahingehend belehren,

dass ein psychisch Kranker zunächst einer

der ihren ist. Der Normale nimmt diese Sicht

nicht an. Ihm ist egal, wie und warum es

kommen konnte, dass ein Mensch die anderen

nach einem zufälligen Muster auswählt

und scheinbar wahllos abschlachtet. Der einfache

Passant in seiner Heimat unterwegs,

möchte nicht angegriffen werden. Schließlich

gibt es die Polizei. Wir leben in der

Zivilisation. Ein Stadtbewohner denkt nicht

über seine Sicherheit nach, überquert eine

Straße, wenn das grüne Männchen leuchtet

und checkt mobile, was sonst noch wichtig

ist. So einer ist damit beschäftigt einzukaufen.

Ein Verbraucher nimmt nicht an,

mit Pfeil und Bogen angegriffen zu werden,

während er eine Unterhose auf Passgenauigkeit

prüft. Allenfalls Taschendiebe sind Teil

seiner Bedrohungskulisse, und dafür gibt es

den Kaufhausdetektiv.

Die Masse ist dumm und weiß es nicht; weil

ihr Leben funktioniert? Mit dieser These

macht man sich keine Freunde, enthält die

Ansicht ja einen pauschalen Vorwurf, die Gesellschaft

habe insgesamt eine Macke, von

der sie nicht wüsste. Trotzdem scheint es mir

sinnvoll, einige Belege für die Dummheit der

Normalen anzuführen. Wir können freundlicherweise

den Begriff mit Unwissenheit tauschen.

Unwissenheit ist gut an dieser Stelle

zu verwenden. Jeder kennt den Ausspruch,

sie schütze nicht vor Strafe. Die Logik, nach

der ein Amok funktioniert, wird regelmäßig

als nicht nachvollziehbar gebrandmarkt:

Warum kann der Normale nicht einsehen,

dass sein integriertes Verhalten für manche

unerreichbar scheint und solche Menschen

gute Gründe darin sehen, pauschal Rache zu

nehmen? Wäre dies ein Ansatz mit breitem

Konsens in einer Gesellschaft, wüssten wir,

dass allein unsere Normalität und unser

zivilisiertes Verhalten ausreichen, manche

so zu reizen, uns dafür zu bestrafen. Wenn

wir ausblenden, dass in einer

Stadt um uns herum welche

unterwegs sind, die ganz anders

empfinden, greift dieser

Satz „Unwissenheit schütze

nicht vor einer Bestrafung“ so

herum interpretiert, dass diese

uns strafen, weil wir sie nicht

respektierten. Empörung wird

daran nichts ändern.

Wir erwarten, alle

könnten sich leicht an

die Regeln halten, denen

wir gern bereit sind zu

folgen? Wenn wir uns

(naiv) auf die Sicherheitsbehörden

verlassen,

können wir das Opfer derjenigen werden,

die ihr eigenes Gesetz über das

der Allgemeinheit stellen. Im (blinden)

Vertrauen auf das Gewaltmonopol des

Staates und seine alleinige Berechtigung

zu richten, wird uns die nicht

haltbare Illusionen einer vollständig

geregelten und sicheren Umgebung

ein ums andere Mal als solche kalt

erwischen. Dass einer anschließend lebenslang

einsitzt, ist weniger Strafe, sondern die

hilflose Reaktion, das Zucken einer Justiz

und die Blendung der Masse, die es nicht

wahrhaben will, übertölpelt zu sein. Und

dumm ist diese Gesellschaft und eingebildet.

Zivilisation ist oft nur der intellektuelle

Rahmen. Er kann bedrohlich unzuverlässig

sein, wenn der Strom ausfällt oder sonst

wie die Natur zurückkehrt. Natürlich sind

wir angreifbar, was ist so schwer daran einzusehen?

Die hasserfüllten Äußerungen im

anonymen Netz zeigen doch nichts anderes

als die Wahrheit unseres Menschseins, sind

mitnichten vermeidbar und können durch

bessere Systeme höchstens eingedämmt

werden und rückverfolgt. Den Hass schaffen

wir nicht ab. Das geht nicht.

Kinder werden bestraft, um zu lernen.

Irgendwann sind diese erwachsen, und den

Eltern fällt nichts ein, als zu sagen: „Wenn

es dir nicht passt, zieh aus.“ Erwachsene

durch Gericht und Urteil mit Gefängnis zu

bestrafen, nimmt diesen die Selbstverantwortung.

Die Gesellschaft vertraut auf die

abschreckende Wirkung und nimmt an, dass

die Haft Verurteilte erziehen kann? Manchmal

geschieht es. Immerhin, das Gefängnis

schützt die normale Allgemeinheit vor den

weggesperrten Tätern.

# Stellen wir uns ein überspitztes Bild vor

Ein Mensch läuft in einer Blechrüstung herum.

Das ist aber kein sportlicher Ritter mit

der Lanze in der Hand, der gerade sein Pferd

im vollen Galopp dem Gegner präsentiert,

bereit ihn aus dem Sattel zu stoßen. Nein,

unser Typ in seiner Dose fühlt sich sicher,

und das ist eine Täuschung. Zur Navigation

gibt es höchstens ein kleines Guckloch. Damit

schaut dieser moderne Rittersmann auf

sein Handy, hält den Kopf dauerhaft geneigt

und es nicht für nötig, diesen frei bewegen

zu können. Wenn jetzt ein nackter Irrer von

schräg hinten angerannt kommt, muss der

Dosenmann den aufgezwungenen Kampf

verlieren. In diese Richtung sondiert keiner,

der fest auf die Sicherheit seiner Schutzkleidung

baut und die Navigation seiner Wege

dem Internet aufgibt.

Wenn das unsere Realität wäre, und ich bin

fest davon überzeugt, dass wir mehrheitlich

ausblenden, wie gefährlich zu leben

noch immer ist, so mag diese Skizze helfen

gegenzusteuern. Was könnten wir tun? Nur

der einzelne ist in der Lage zu handeln, zum

einen für sich selbst, indem vermeintliche

Sicherheit aufgegeben wird, wir lernten

unser Gegenüber zu bemerken und darüber

hinaus wäre es möglich, die Ansätze unserer

Fachleute, die mit der Ordnung, Stabilität

und der geistigen Gesundheit der Bürger

beauftragt sind, auf eine realistische Grundlage

zu stellen. Das hieße an erster Stelle

dafür zu sorgen, dass psychisch Kranke

gesund werden durch die ihnen angebotene

Behandlung. Das wird bislang kaum

versucht, obwohl dieses Thema einen hohen

Stellenwert hat. Es genügt uns, Kranke aus

gesamtgesellschaftlicher Sicht zu betrachten.

Wer sich und andere gefährdet, wird

behandelt, beobachtet und gezwungenermaßen

betreut. Medikamente möchten den

Kranken betäuben, und ihm wird gesagt, das

helfe. Das hilft dem Arzt. Regelmäßig kommt

es dazu, dass die entsprechenden Spezialisten

eine Situation verantworten müssen, die

ihnen in dieser Konstellation hinzuschauen,

Okt 20, 2021 - Ganz einfach! 117 [Seite 117 bis 118 ]


einzuschätzen und denjenigen zu therapieren

entglitten ist. Würde ein psychisch Kranker

in überschaubarer Zeit gesund gemacht,

also repariert wie ein Auto und könnte

anschließend sicher im Verkehr, beziehungsweise

im Umgang mit den anderen allein

unterwegs sein, gäbe es keine Probleme. Die

Bemühungen diese Menschen vollständig

frei von Arzt und Medikament in eine normale,

integrierte Lebensweise zu führen sind

jedoch viel zu unspezifisch und konkret ist

auch nicht nachweisbar,

wodurch die Gesundung

gekommen ist, wenn

es gelingt, dass jemand

seine Schwierigkeiten

los wird.

# Die Nachbarn des

Attentäters werden

befragt

In solchen Beschreibungen

erkennt man das

immer gleiche Muster.

Verschlossene, grimmige

Menschen oder eben

introvertiert, gehemmt,

jedenfalls ohne soziale Kontakte, sind das

Männer, häufig arbeitslos. Da ließe sich

leicht ein Forderungskatalog hinschreiben,

was wir ändern müssten.

Vorsicht!

Hat es sich herum gesprochen, dass ein

gefährlicher Spinner im Dorf ist, sollten

wir unser Verhalten anpassen. Wir könnten

Gruppen bilden und chatweise Sicherungen

erdenken für mögliche Opfer. Begegneten

wir dem Beknackten, raunten wir einander

ermahnend zu: „Nicht anschauen!“, aber ganz

leise, dass er’s nicht merke. Sonst heizten wir

eine „Situation“ nur unnötig an?

# Wir tun am Besten, als wäre alles ganz

normal

Normal zu sein ist ganz leicht. Wir brächten

es am Besten gleich allen bei, so zu sein, wie

wir es (ohne zu üben) können. Wir sollten

bemerken, dass wir uns selbst vor Verrückten

fürchten und damit aufhören, es zu tun. Wir

täten gut daran, diese Spinner nicht extra

zu verarschen und sie zu mobben. Kranke

fürchten andere und werden gegebenenfalls

aggressiv, weil ihnen normale Mittel der

Abgrenzung fremd sind. Statt diese kranken

Menschen weiter in die Rolle von Sonderlingen

zu drücken, müssten sie sich in humorvolle,

unterhaltsame Zeitgenossen verwandeln,

denen es leicht fällt, Freundschaften zu

finden und mit denen wir anderen gern als

Kollegen im Arbeitsverhältnis wären.

der Coronatoten. Sie beteiligten sich an gewaltfreien

Gegendemonstrationen. Sie sind

schließlich gegen das Dagegensein, und Aggression

ist ihnen fremd geworden. Politisch

engagiert, unterstützten sie eine kraftvolle

grüne Gesellschaftsumwandlung auf stabiler

wirtschaftlicher Basis mit sozial gerechter

Grundkomponente. Sie genderten divers

und pflanzten Blühwiesen für Wildbienen.

Der Therapeut solcher Sonderlinge könnte

probieren, aus ihnen innovative Unternehmensgründer

zu machen,

und wir sollten

Psychiater

ausbilden, denen

das zuverlässig

gelingt.

# Perspektive?

Diese Menschen,

die nicht ins

Bild passen.

Sie könnten

zu beliebten

Kreativen im

Dorf werden,

deren sexistische Kunst nicht länger als irre,

sondern als berechtigte Kritik interpretiert,

Teil des erweiterten Erlebnishorizontes einer

bislang uniformen Allgemeinsicht sind, die

gelernt hat, dekorative Banalität von engagierter

Ästhetik zu unterscheiden.

Oder, die Einzelgänger sollten dahingehend

geändert werden, ein sozial integriertes

Hobby mit anderen zu teilen.

Alternativ: Unerwünschte erotische Fantasien

trieben wir den Kranken am besten ganz

aus. Dafür wird eine Sondereinheit „Sex in

der Stadt“ gegründet, die entsprechende

Schulungen durchführt. Dann müssten diese

Menschen sich gern verlieben können, und

ewige Treue ist ihnen ein Muss. Selbst Liebe

zu geben, sollte ihnen leicht fallen, und sie

werden zufrieden in stabilen Beziehungen

leben, bis dass der Tod sie schließlich einmal

trenne.

Ganz einfach.

:)

Als Chef eines Unternehmens fänden wir

bald, wenn unsere Bemühungen erfolgreich

gewesen sind, leistungsorientierte

Angestellte in ihnen. Sie ernährten sich nun

gesund, rauchten und tränken nicht, konsumierten

keine Drogen und konvertierten

nicht in eine bösartige Religion. Sie bemühten

sich um ein Ehrenamt, engagierten sich

in der freiwilligen Feuerwehr. Sie machten

nun gern mit. Freudig ließen sie sich gegen

ein Virus impfen und dächten nicht diesen

Quatsch wie bisher. Aus verstockten Hatern

machten wir bestenfalls tolerante Mitmenschen.

Ihnen fällt nun leicht, andersartige

Sichtweisen zu respektieren. Abends stellten

sie eine Kerze ins Fenster und gedächten

Okt 20, 2021 - Ganz einfach! 118 [Seite 117 bis 118 ]


# Elbsegelgeschichten

Blankenese

Okt 22, 2021

3Sat vielleicht, ich

bin nur reingezappt,

inzwischen unsicher,

wo das lief. Phoenix

und Arte kommen

genauso in Frage. Sie war so am Schimpfen,

ein empörter Rohrspatz! Ich habe gar nicht

zugehört, war fasziniert, brauchte Zeit, die

Vergangenheit wiederzuerkennen. Thema:

Reichelt, das Schwein. Dann stand der Name

drunter. Mit einer intellektuellen Brille

ausgestattet, kam sie mir nun doppelt so alt

vor wie ich selbst. Eine kleine Matrone, aber

aus dem Häuschen vor Zorn. Das Kinn verschwand

ganz spitz, dünn. Tatsächlich faltig,

trat ihr schmales Gesicht unterhalb der Nase

insgesamt nach hinten zurück. Emotional

und voller Drang war sie am Reden wie

früher. Sie müsste bis zu zehn Jahre jünger

sein? Etwa wie Anke, Uli.

Ich traf sie das erste Mal, da war sie quasi

Teenager, segelte mit Claas den neuen

Heinpirat, nachdem er G3619 verkauft hatte.

Damit waren wir unterwegs, bevor mein Vorschoter

das Boot

übernahm. Weil

mein Freund

noch zur Schule

ging, lief alles

über Inge und

Fiete, er zahlte

Raten ab.

Dieses Geld nahm ich

für den „Globetrotter“,

bezahlte Dieter, und

Peter Knief sanierte

mir die 331 noch. Die

späten Achtzigerjahre:

Auf dem Sand sind

große Felder gewesen,

fünfzehn H-Jollen und

bis zu dreißig Piraten.

Claas und sein Mädchen

waren so jung! Wir

haben uns zunehmend

weniger gesehen, weil ich schließlich kaum

noch Regatten mitgefahren bin. Während

damals der BSC und Ponton meine zweite

Heimat waren, bin ich heute nur selten dort.

Schönes Wetter auf dem „Mühlo“, erster Pirat

an der Luvtonne? Ich sehe es vor mir, wie sie

sich raushängt bei Wind (und ganz dünn ist),

nichts wiegt, aber voller Ehrgeiz kämpft. Sie

will jede Wettfahrt gewinnen. Im Hintergrund

der Süllberg, Blankenese. Es weht,

aber der Himmel ist blau.

:)

Okt 22, 2021 - Blankenese 119 [Seite 119 bis 119 ]


Gretabedingt

Okt 25, 2021

Selbst sei der Mensch, egoistisch und gut!

Wer sich nicht wehre, „käme an den Herd“,

lehrt die moderne Frau. Was ist mit denen,

die sich krankhaft nicht wehren können?

Und wieso überhaupt kämpfen, wenn alle

divers und tolerante Gutmenschen sind?

Mitnichten ist diese Welt freundlich. Die

Lüge als bessere Wahrheit: „Meine Waffe

ist das Wort“, scheinen viele zu denken. Auf

der anderen Seite haben einige Probleme.

Psychisch erkrankten Männern wie Frauen,

unfähig, sich zu sozialisieren, fehlt es schon

deswegen an einer starken Lobby. Sie sind

das Kanonenfutter einer Gesellschaft, die

munter andere abschießt und dabei frech

das Beste von sich sagt. Bloß nicht ausrasten.

Überwachung, mit Medikamenten gängeln,

Betreuung: Niemand hilft dir, wenn du

eine psychische Krankheit hast! Man nutzt

dich aus. Die Leute fürchten sich davor, und

Ärzte verdienen daran. Für Straftäter gibt es

Polizei, Gericht und Gefängnis. Für Kranke

ist der Psychiater zuständig, und der schafft

ein imaginäres Gefängnis um den Kranken

herum. Der Spezialist stützt das latent

vorhandene Misstrauen der Gesellschaft,

das sie gegenüber diesen Sonderlingen hat

und baut es noch aus, indem er ein Stigma

verewigt. Aus einem Menschen macht der

Arzt den Patienten.

Wer mehr als einmal in eine Klinik eingewiesen

wurde, bekommt anschließend Probleme

einer neuen Qualität. Zusätzlich dazu,

das Leben zu meistern, mit dem Handicap

erneut psychisch zu erkranken, entwickelt

sich neben der eingebildeten Bedrohung die

wirkliche, von anderen gemobbt zu werden.

Darin steckt eine verkappte Bosheit, die das

einfache Fertigmachen von Mitschülern

oder Arbeitskollegen, die genügend Angriffsfläche

bieten, bei weitem übertrifft. Wenn

es im Dorf einen Sonderling gibt, scheint es

lohnend zu provozieren, bis in der Gemengelage

aus Aktion und Reaktion postuliert

werden kann, nicht nur ein Spinner laufe

rum, sondern der stelle eine Gefahr dar. Nun

finden sich alsbald Menschen, die glauben,

die Polizei sei ihr willfähriges Spielzeug,

die Sache unter Dach und Fach zu bringen,

einen Mitmenschen dauerhaft des Ortes zu

verweisen. Die Grenzen zwischen Nachbarn,

Leuten die nur vom Hörensagen informiert

sind, Familienmitglieder, die Geld wittern,

das sie ihrem Verwandten abspenstig

machen können und die Barrieren zwischen

Ärzten, die Schweigepflicht haben sollten

sowie zwischen der Polizei und Politik, weichen

gern auf, wenn die Anerkennung winkt,

einen Gefährder dingfest zu machen.

Leben in der Zivilisation? Es bedeutet

klug zu sein, um es innerhalb

der anderen zum anerkannten Platz

zwischen ihnen, möglicherweise

über der Masse zu bringen, und klug

ist ein Verhaltensgestörter gerade

nicht. Das sagt man nicht, aber

psychisch krank zu sein, ist eine

Form von Dummheit. Man sollte es

so formulieren: unklug sein, das ist

treffender. Sonst gäbe es keine Therapie.

Denn was anderes ist das, als

Schule? Natürlich sind Schüler nicht

per se dumm oder nicht intelligent.

Therapie ist der (oft hilflose) Ansatz,

manipulativ Intelligenz bei anderen zu

entwickeln. Anders ausgedrückt: Intelligente

Menschen verhalten sich nicht klug, das

ist der Grund für ihre Probleme. Ohne über

Begriffe streiten zu wollen, hilft es, die Worte

Intelligenz und Klugheit gegeneinander

auszuspielen, um deutlich zu machen, dass

jemand nicht weiß, wie er gegen sich selbst

handelt.

Geboren zu werden, bedeutet nicht automatisch

willkommen zu sein. In jedem Fall ist

ein neu dazugekommener Mensch, ein Baby,

durchaus ein Problem. Wir berechnen Kindheit

über die Jugend bis zum Erwachsensein

mit heute achtzehn Jahren. Die Gesellschaft

erwartet, dass diese Zeit von Eltern,

Verwandten und Lehrern genutzt wird, den

jungen Dazukömmling zu integrieren. Eigenverantwortlichkeit,

das Streben nach gesicherter

und befriedigender Existenz des nun

Erwachsenen, sind eine gute Basis, ihn zum

nützlichen Mitglied der Welt zu machen. Wir

nehmen an, dass einer sowohl den anderen

dient, als auch sich selbst Gutes tut. Leider

entwickeln nicht wenige die ungesunde

Schieflage, ihr Selbst dabei problematisch

zu vernachlässigen. Auch ein Narzist oder

Egoist handelt nicht klug. Das Ideal wäre ein

Zeitgenosse, der in stabilen Beziehungen tut,

was ihm gefällt. Ein egomanischer Typ wird

kaum befriedigende Partnerschaften haben,

und ein der Anerkennung nachlaufender

genauso wenig. Abteilungsleiter wird nur,

wer sich als selbstbewusster und stärker

erweist (als der bisherige Vorgesetzte).

Durch Fleiß in der Arbeit allein gelingt keine

Karriere. Die Aufgabe eines Therapeuten

wäre, Selbstbewusstsein so zu lehren, dass

jemand, dem es daran fehlt, weiß, wie es zu

entwickeln sei. Mit Psychopharmaka, Gesprächen

und kleinen Aufgaben für die Patienten

erreicht dieser das Ziel, seine Zöglinge stark

zu machen, nur selten.

Man weiß schon, dass Sport und Entspannungsübungen

irgendwie gut tun. Genauer

darauf zu achten, wie das geschieht, könnte

hilfreich sein. Zwei Fehler macht der Therapeut

mindestens. Allein, dass er leitend Teil

des Lebens anderer wird, stellt das Problem

auf feste Beine, unselbständige Kranke an

einen Führenden zu binden. Dazu kommt

das Gespräch mit dem Patienten; die zweite

Schwierigkeit liegt im verbalen Umweg dieser

Hilfe. Kommunikation durch das gesprochene

Wort steht im Weg. Missverstandene

Anteilnahme, verdeckt durchschimmernde

Manipulation und Ratschläge, die ihr Ziel

verfehlen, sind nicht ungewöhnlich. Da das

bereits bekannt

ist, werden gern

Medikamente

eingesetzt. Das

kann in Notlagen

wirklich helfen,

auf lange Sicht

verewigt die

Medizin ihre

unbedingte

Notwendigkeit.

Droge Arzt; sich

vor dem Leben

ohne Therapeut

zu fürchten,

schafft eine alternativlose Symbiose. Und

keine Alternative zu haben, macht Angst. Das

ist ein Teufelskreis. Reden allein hilft nicht.

Dem Depressiven zu raten, dieses oder jenes

zu tun, haben auch die Angehörigen bereits

erfolglos probiert. Würde der Therapeut, der

lieber eine Art Trainer sein sollte, die Muskulatur

des psychisch Kranken in sinnvoller

Weise dem Betroffenen nutzbar machen,

könnten Abhängigkeit und missverständliche

Kommunikation zurücktreten. Selbstverständnis

stünde an erster Stelle beim

Patienten, dazu die Aussicht, wieder Mensch

zu werden.

Die Probleme beginnen mit der Eingrenzung

auf eine Diagnose. Anstelle den ganzen

Menschen vor sich zu bemerken, hilft sich

der Arzt, ihm eine Krankheit auszusuchen.

Das ist im Sinne des Fehlers, ein Pferd von

hinten aufzuzäumen, beim Symptom zu

beginnen, dies mit den Macken anderer

abzugleichen. Das mag beim Internisten gehen,

beinhaltet beim Psychiater die Gefahr,

den Kopf vom Rumpf zu trennen und sich in

Begrifflichkeiten verlieren. Ein Mensch ist

unterwegs wie eine Kutsche mit Passagie-

Okt 25, 2021 - Gretabedingt 120 [Seite 120 bis 123 ]


ren, ein Taxi mit Fahrgästen, aber deren Ziele

sind nicht dieselben. Dem Fahrer obliegt, die

beste Lösung zu finden, alle an ihren Bestimmungsort

zu kutschieren. Dabei darf der Kutscher

nicht die Nerven verlieren. Der Verkehr

drumherum ist anstrengend. Seine Fahrgäste

weisen ihn an, wo es hingehen muss, jeder

möchte als erster ankommen. Dazu kann das

Auto (resp. die Kutsche) Probleme bereiten

als ein System, das verstanden und gewartet

werden muss.

# Der Notbremsassistent

In diesem Zusammenhang mögen Beispiele

aus dem Bereich „Künstliche Intelligenz“

nützlich sein, unser Verständnis vom

Menschsein zu erweitern. Der Orthopäde

versteht den Körper als funktionierende

Mechanik, will sich gern laienhaft in den

Bereich Stress tasten. Der Spezialist kann

trotzdem nur selten erklären, wie Funktion

und Denken mit Emotionen, dem Fühlen

und Berühren zusammenhängen, einen Menschen

ausmachen. Ein kleiner Umweg in das

Thema „Mensch und Maschine“ mag dafür

herhalten, anschaulich darzustellen, wie ein

angetriebenes System bestenfalls gelenkt

wird. Die Idee dahinter ist das Modell eines

Kapitäns an Bord, die Leitung vom Apparat

auf seinem Weg. Das macht den Zusammenhang

von Körper und Geist anschaulich.

Zunächst eine Episode aus der bemannten

Raumfahrt. Warum wurde Neil Armstrong

dazu auserkoren, sein Raumschiff auf dem

unwegsamen Mondboden zu landen? Man

war seinerzeit der Auffassung, Astronauten

wären besser dazu geeignet als vollautomatische

Lander. Tatsächlich übernahm der Berühmte

die letzten Meter des Landeanfluges

als verantwortlicher Pilot selbst. Armstrong

schaltete den Autopiloten ab. Der militärisch

trainierte Flieger erkannte im vorausberechneten

Terrain eine ungeeignete Gesteinsformationen,

herumliegende Brocken, in denen

die Landfähre vermutlich beim Aufsetzen

umgekippt wäre. Er entschloss sich, etwas

weiter zu fliegen, als geplant, und setzte

den Adler sicher auf, als eine glatte Ebene

erreicht war. Der Bodenstation stockte der

Atem, denn der Wagemutige verfeuerte den

vorhandenen Treibstoff für dieses Manöver

komplett. Ein nur wenige Meter längerer

Landeanflug, durch

den nach gutem

Gelände suchenden

Armstrong, hätten

bedeutet, nicht genügend

Reserve für

den späteren Start

an Bord zu haben.

Ein kleiner Schritt

für einen Menschen,

ein großer für die

Menschheit; ganz bestimmt!

Bevor Corona die Nachrichten beherrschte,

gab es andere Themen. „Kampfhunde fallen

Passanten an“, oder Busunfälle wurden

wochenlang diskutiert. Wenn irgendwo ein

Reisebus verunfallt, ist das Entsetzen groß.

Manchmal brennt es, und in diesem Zusammenhang

wird überlegt, ob die Polster der

Sitze aus einem anderen Material gefertigt

werden müssten? Gelegentlich stürzt das

Fahrzeug eine Böschung runter, und dann

fragen die Medien, wie es dazu kommen

konnte? Nicht selten ist zu geringer Abstand

der Grund für einen Unfall. Der Bremsweg

hat nicht ausgereicht. Wie die Medizin den

Menschen besser und belastbarer, langlebiger

machen möchte, chirurgisch und mit

Vorsorge in das System eingreift, probieren

wir insgesamt, unsere Technik sicherer zu

machen. Was genau der Gesellschaft nun

Verbesserung eigentlich bedeutet, wird

immer neu definiert.

Es ist schon eine Weile her, dass in einem

Beitrag Busfahrer sich dazu geäußert

haben, warum der für den Notfall gedachte

Bremsassistent, eine technische Raffinesse

moderner Fahrzeuge, vom Unternehmen

gern abgeschaltet würde. Das sei erlaubt,

und nicht wenige nutzten diese gesetzliche

Freiheit, warum? Der Fahrer, der lieber unerkannt

sein wollte, meint dazu, das System

verhalte sich stumpf nach der kameragesteuerten

Abstandsmessung. Es bremse

ständig das Fahrzeug in Momenten, wo der

geübte und aufmerksame Lenker den Wagen

einfach laufen lasse. Das sei der Fall, wenn

man auf der Autobahn unterwegs wäre

und ein Pkw überhole den Bus. Da gäbe es

nicht wenige, die scherten haarscharf vor

dem Reisebus ein, wohl, weil sie sich vor

dem nachfolgenden Wagen auf der linken

Spur fürchteten. Die seien im Zwiespalt,

den langsamen Bus überholen zu wollen,

hätten dabei aber das Gefühl, auf der linken

Spur nichts verloren zu haben. Sie möchten

das Manöver möglichst schnell hinter sich

bringen. Wenn ein kleines Fahrzeug knapp

rüberzieht, erkennt der Busfahrer, dass weiter

vorn nichts ist, der Pkw in Kürze Abstand

gewinnen wird. Er bremst also nicht, obwohl

der Sicherheitsabstand unterschritten wurde,

und nach einem Augenblick ist tatsächlich

wieder Platz zum Vordermann, der nun Gas

gibt. Lässt man den Automaten sein segensreiches

Werk tun, würden die Senioren

auf ihrer Kaffeefahrt seekrank. „Wir wollen

nicht mit ,dem‘ fahren, lieber mit ,Soundso‘,

da schaukle es nicht“, erklärten diese. Das

schade dem Geschäft.

# Damals, als die Erde noch flach war …

Als der liebe Gott den Menschen konstruierte,

dauerte das, anders als in der Bibel

dargestellt, länger. Über den Affen und

Neandertaler entwickelte sich das kleine

Arschloch weiter, bis es so wurde, wie heute

überall anzutreffen. Das Feuer nicht mehr

zu fürchten, selbst welches anzünden zu

können, hat viele Jahre in Anspruch genommen.

Damit einher ging die Möglichkeit,

Fleisch zu braten, das vorher nicht auf dem

Speiseplan stand. Gekochte und gebratene

Tiere sind weich und besser verdaulich.

Mit dieser neuen, erweiterten Möglichkeit,

andere essen zu können, wurden die

Urmenschen kräftiger und ihre Gehirne

wuchsen, bis sie die Größe eines heutigen

Denkapparates erreichten.

Sollte ich dies als Satire kennzeichnen?

Eine beunruhigende Perspektive: Wir dürfen

also befürchten, dass, wenn sich die vegane

Ernährung gretabedingt durchsetzt, unsere

Gehirne zukünftig wieder schrumpfen? Das

aktuelle, zeitgeistige Unwesen – wie manche

in der rechten Partei kritisieren oder der

Kirche – moderne Frauen z. B. und Schwule

überall, die ernst genommen würden, sei

nicht weniger bedenklich, als der grüne

Verbotewahn für uns, finden welche. Die

menschgemachte Klimakatastrophe wäre

unwahr, ein Fake der Medien, weil es auch

in grauer Vorzeit schon recht warm gewesen

sei, behaupten diese weißen, alten Männer.

Das ließe sich kaum bestreiten, bedeute

aber nicht, eine rasche Erwärmung des

Planeten zu begrüßen, hält die Wissenschaft

farbig und flexibel dagegen. Das Artensterben

ist unbestritten gefährlich für uns, und

auf Dauer können die Ewiggestrigen nur

verlieren.

Damals war es besser? Das kann sein,

aber heute ist es eben anders. Früher war

unsere Arbeitsteilung: die Männer jagten

und kämpften, dazugehörende „Mädels“,

welche ihre Kinder ja auch austragen,

hätten sich drum zu kümmern. Sexismus war

kein Schimpfwort oder die Rechtfertigung

einer Anklage. Es gab in der Steinzeit keine

Frauenquote im Management einer Sippe,

und das war auch gut so: Sonst hätte man

gemischte Gesellschaften erdacht und nicht

das Patriarchat. Das seinerzeit Bessere hatte

sich durchgesetzt. Zum brachialen Kämpfen

ist der Mann geeignet. Mit der Waffe in der

Hand tötet er die Gegner. Er bildet eine

stärkere Muskulatur aus. Anschließend fällt

der Krieger über die Frauen und Mädchen

im besiegten Dorf her und vergewaltigt nach

Lust und Laune. Das ist unsere menschliche

Geschichte. Gut möglich, dass diese Vergangenheit

zur Gegenwart wird! Niemand sollte

sich blind auf den Segen geordneter Verhältnisse

in seiner zivilisierten Umgebung

verlassen. Unsere Natur ist bis heute die

Basis: Frauen sind einen Großteil der Zeit

damit beschäftigt, sich um ihre Kinder zu

kümmern. Wir betrachten die Vergangenheit

aus der Höhe unseres Intellektes. Die Standbeine

dieses Rahmens sind aber imaginäre.

Sie tragen uns nur, wenn alle mitmachen.

Heute denken wir gern anders darüber, wie

es früher richtig gewesen ist. Nur Barbaren

möchten Homosexuelle abschlachten und

Frauen versklaven. Tatsächlich schlummert

der böse Mann im zivilisierten bis heute.

Während also der liebe Gott hunderttausende

an Jahren benötigte, uns den Weg

in die Moderne zu zeigen und dabei seine

Schöpfung modifizierte, erleben wir einen

ähnlichen Prozess beim Automobil, das ist

meine heitere These, unser Denken zu beflügeln.

Die Fahrzeuge änderten sich mit der

Zeit: Künstliche Intelligenz, selbstfahrende

Fahrzeuge (und Raumfahrt ohne Pilot) sind

bereits Realität. Wir können davon lernen,

uns als ein Stück der Natur noch besser zu

verstehen. Alternatives Denken kann Brücken

bauen, wenn wir zulassen, ein wenig zu

spinnen.

# Die Schöpfung des Menschen ist das Auto

Einige Parallelen sind erkennbar. Die Affen

waren nicht in der Lage zu sprechen. Der

Neandertaler konnte es möglicherweise,

und irgendwann jedenfalls in der langen

Zeit unserer Entwicklung, lernten wir’s zu

tun. Dann kam noch das Schreiben hinzu,

das Protokollieren menschlicher Ideen und

Erfindungen. Der Siegeszug, alles platt zu

machen, nahm unaufhaltsam seinen Lauf.

Wie lange mag das gut gehen?

Wir Menschen sind wie „Karius und Baktus“.

Einige werden sich an dieses Kinderbuch

erinnern. Das Schlaraffenland der kleinen

Zahnzerstörer und Bewohner einer Mundhöhle

endet im Abfluss. Als der Doktor (und

schließlich Jens selbst mit der Zahnbürste),

sämtliche Errungenschaften wie einen

„Balkon am Backenzahn“ oder aufwändige, in

das Weiß gemeißelte Treppen und prunkvol-

Okt 25, 2021 - Gretabedingt 121 [Seite 120 bis 123 ]


le Eingänge im Gebiss brutal fortfegt (wie

die wütende Ahr angrenzende Gebäude), ist

Schluss. Wir sind eine Krankheit der Erde,

machen alles kaputt, denke ich. Die Natur

kommt böse zurück.

Nichtsdestotrotz wollen, ja müssen wir leben.

Ein Paradox, dass wir nicht gern, leicht

und selbstbestimmt den Laden hier verlassen

können. Das liegt vor allem an unserem

automatischen Überlebenswillen. Was ist ein

Wille zum Weiterleben genau? Wer in uns

möchte nicht sterben, etwa das Herz, wie es

schlägt oder die Muskulatur zum Atmen, die

unentwegt arbeitet, ohne dass wir das mal

abstellen könnten, das sind Fragen. Und hier

kommt die Parallele zu unserer künstlichen

Schöpfung, dem Auto, als gelungenes Beispiel

dran, uns den menschlichen Organismus

zu erklären. Wie wäre es, einen Wagen

zu fahren, dessen Motor nicht abstellbar ist,

und ein Fahrzeug zu lenken ohne Bremse:

Was müssten wir tun, dem Auto Intelligenz

zu lehren? Das könnte auch anderswo

helfen, neu zu denken. Wir könnten größer

denken. Statt zu bemerken, der Lenker eines

Systems, beim Menschen also sein Gehirn

(oder der Busfahrer im Reiseverkehr) müsse

geändert und behandelt werden, sollten wir

beobachten und untersuchen, wie dieses

Gebilde insgesamt fährt und woraus es

besteht.

Eine Kutsche zu

verwenden, hieß

mit den Pferden

als ihr Antrieb

eine natürliche,

lebendige Maschinerie

einzusetzen.

Unter Umständen,

wenn dem Lenker

das Missgeschick

passierte, dass

ihm seine Gäule

durchgingen, erlebte

der Hilflose (und die

entsetzten Fahrgäste), dass zu bremsen nicht

genügte, das schleudernde Fahrzeug zu

stoppen. Im Gegenteil, ein kundiger Fahrer

würde gut daran tun, zu lenken, anstelle

krampfhaft am Bremshebel zu reißen. Mit

einem passenden Kurs konnte seinerzeit

möglicherweise das Schlimmste verhindert

werden. Dann beruhigten sich die Pferde

irgendwann. Damals wusste man, Natur und

Technik zu beherrschen, etwa dem Segelschiff

durch Sturm zu verhelfen, das eigene

Leben und die Fracht an Bord im unabänderlichen

Wetter zu führen. Der moderne

Kapitän kann glauben, sein monströses

Stahlungeheuer trotze jedem Sturm und

halte den digital errechneten Fahrplan ein,

ja der Reeder wird überlegen, ob das Schiff

überhaupt einen Kapitän benötigt? Das

selbstfahrende Schiff ist (noch) Utopie, Autos

und Bahnen fahren bereits vollautomatisch.

Der automatische Mensch ohne individuelle

Fantasie, mit entsprechenden Problemen

oder zumindest der systemrelevant, perfekt

integrierte, würde manchen gut in den Kram

passen. Spediteure, Reeder nutzen eine Flotte

von Lastwagen oder Schiffen, erwarten

billige und ungestörte Abläufe. Der Anbieter

eines sozialen Netzwerks im Internet möchte

Nutzer binden, ein Staat wünscht sich das

kontrollierte System. Jeder einzelne Mensch

ist dem Bindungswillen der entsprechend

übergeordneten Instanz unterworfen, wird

sich besser fühlen, wenn ihm das große Ganze

genügend Raum lässt. Das gilt umgekehrt

auch für jeden selbst. Wir lenken uns mit

dem Gehirn: Die größere Gesundheit erfährt

derjenige, dem angemessene Funktion

gelingt, Befindlichkeiten seiner Extremitäten

und inneren Organe spürt, wahrnimmt.

# Die gute Nachricht

Eine moderne Psychiatrie. Bald werden

Frauen in Massen diesen Beruf zu ihrem

machen. Es gibt bereits Anzeichen. Ich quatsche

ständig junge Mädels an, kenne mich

aus! (Das hat schon Ärger gegeben). Immer

öfter möchten sie Psychologie studieren,

toll. Psychiater und -innen könnten noch an

Intelligenz gewinnen. Letzte Hoffnung ist

die junge, moderne, farbige Frau. Wie die

bunte Kunst: Vielfarbiges Fabulieren und

fröhliches Therapieren gefallen mehr, als

alte, weiße Kittel, benebelte Schädel und an

das verkotete Bett geknotete Knebel.

Ein Mensch hat, als Erbe seiner Vorfahren

oder Einfall vom Schöpfer eingebaut, in

entsprechenden Situationen, die erkennbar

seine Existenz oder zumindest seine nächsten

Schritte gefährden, Angst. Wenn gerade

wenig davon spürbar ist, geht es uns gut,

beziehungsweise besser – ein klein wenig

Furcht wird uns dauerhaft zu eigen sein,

sonst – Narren fühlen nicht. Ein psychisch

Kranker weiß nicht, mit seiner Furcht umzugehen.

Nehmen wir an, der

Mensch begriff in

grauer Vorzeit, was ihm

jeweils Angst bedeutet?

Es gab noch keine

Atombomben. Anderes

wird den Urmenschen

geängstigt haben. Auch

wenn wir kein steinzeitlicher

Experte sind, sollte

jeder die bekannten

Fakten nutzen können.

Die frühen Vorfahren

lernten den aufrechten Gang. Sie begannen

zu sprechen. Sie verstanden schließlich

Waffen herzustellen, Feuer zu machen und

vieles mehr. Ganz sicher musste ihr Erfinder,

der allerliebste Gott, ihnen die Lernfähigkeit

als besten Wesenszug einbauen. Das, was

wir Intelligenz nennen, bedeutet eigentlich

die Fähigkeit auszuwählen. Der Gesunde

erkennt die gute Richtung, das nützliche

Produkt. Der psychisch Kranke erkennt es

weniger gut. Schlimmstenfalls wünscht sich

so einer den Tod, sucht also ganz bewusst

den schlechten Weg.

Es ist offenkundig, dass Angst wahrzunehmen

überlebenswichtig ist. Das bedeutet,

gemäß der Bibel: „Der Kluge sieht das

Unglück und verbirgt sich, die Einfältigen

laufen weiter und erleiden Strafe“, dass zu

bremsen, überhaupt langsamer zu handeln

und erst nachzudenken, eine bekannte

Qualität ist. Bremsen heißt, Muskeln zu

kontrollieren. Kein psychisch krankes

wie gesundes Gehirn existiert ohne den

dazugehörigen Körper. Manche spannen

sich täglich gewohnheitsmäßig, dass selbst

Laien gelingt, dies bei anderen zu bemerken.

Fremden beizubringen, sich zu ändern, ist

schon schwieriger. Angst lähmt, kann aber

auch die Basis einer spontanen Aggression

werden oder der Antrieb davonzulaufen.

Angst macht feige? Gleichwohl kann Angst

dazu führen, einen beherzten Befreiungsschlag

auszuprobieren. Der Angriff auf einen

Feind, der uns bedroht und wegen dem wir

uns fürchten, kann sinnvoll sein. In die Konstruktion

Mensch wurden diese Verhaltensweisen

bereits bauseitig integriert. Und zwar

in die Muskulatur.

Nur muss der Moderne lernen, damit umzugehen,

wie der Busfahrer mit dem Auto.

Das moderne Auto denkt, und nicht jedem

gefällt das. Der Apparat Mensch handelt in

manchem autonom. Das kann sich auf eine

Weise verselbstständigen, die weit über

das (vom Erfinder gesetzte) Ziel, ein in der

modernen, bedrohlichen Umwelt überlebensfähiger

Mensch zu sein, hinausschießt.

Was wäre ein automatischer Bremsassistent,

der fehlerhaft eingestellt, die Kontrolle im

Reisebus an sich reißt, selbstständig Gas

gibt, vollbremst? Wie kommt es, dass ein

Mensch so vieles macht, von dem er gar

nicht weiß wie? Obwohl der Vorgang „Essen“

eine komplexe Angelegenheit ist, kann kaum

jemand erklären, welche inneren Vorgänge

von dem Moment an, wo die Nahrung im

Mund ist, bis zum Ende vom Prozess auf dem

Klo übermorgen geschehen.

Nehmen wir an, der Affe unserer steinzeitlichen

Vergangenheit ist gerade im Begriff,

sich zum Neandertaler zu mausern. Es mag

so gewesen sein, dass die damaligen Primaten

in den Bäumen lebten und die neue

Sorte drunten herumgelaufen ist. Damit wird

sich, was ihnen als jeweils gefährlich galt,

geändert haben. Angst stecke uns in den

Knochen, heißt es, und in den Muskeln merken

wir Furcht. Sie krümmt uns oder macht

uns stocksteif; manche ignorieren diese

Tendenzen, latschen, als wär das scheinbar

locker, mache Eindruck. Unser Körperschema

bei Angst – aber jeder reagiert individuell

darauf.

# Etwas bemerken

Erst habe ich nur so gemalt. Als Künstler

wurde es mir bald wesentlich, mich genau

kennenzulernen. Andere scheinen sich in

dem was sie tun nur zu wiederholen. Mir

würde das nicht genügen. „Wenn ich merke,

da ist keine Entwicklung mehr, stoppe ich“,

sagt Trompeter Chet Baker im Interview.

Der eine

Trucker fährt

problemlos

mit der neuen

Technik,

andere regen

sich auf,

deswegen das

Beispiel, als

Anreiz drüber

nachzudenken.

Kein moderner

Fahrer

hat noch die

Wahl, vom

Chef einen

alten Büssing

von vor dem Kriege zu fordern und in der

Spedition seinen eigenen Oldtimer zu fahren.

Und kein moderner Mensch kann sich

der natürlichen Systematik entziehen, als

helfe eine neu gekaufte Jacke, eine Beauty-

OP, oder eine Medizin gegen emotionale

Probleme, würde effektiv als Impfung gegen

Furcht das Beste rausholen. Instinkte und

Angeborenes sind bis heute Teil des Menschen,

meint man, und noch mehr prägen

viele erlernte Muster, sich öffentlich zu

Okt 25, 2021 - Gretabedingt 122 [Seite 120 bis 123 ]


geben. Gehen zu können, mag dem Primaten

eine gewisse Zeit zu lernen bedeutet haben,

neue Gefahren am Boden könnten an Wichtigkeit

gewonnen haben, nachdem die Affen

zum Menschen wurden. Auch der moderne

Mensch muss den aufrechten Gang lernen.

Jeder läuft auf seine Weise, muss das sein?

Erfahrungen prägen uns. Ganz sicher fand

der Urmensch es recht umständlich, immer

über alle Details nachzudenken. Automatismen

der Angst wurden eingefleischte

Reflexe bis heute. Der Notfallbremsassistent

im Lkw ist unser vergleichendes Bild, das zu

begreifen.

Bei den komplexen Tätigkeiten, die ein

Mensch in Angriff nimmt, kann dieser nicht

die ganze Zeit handeln, wie wenn er gerade

eine Festung erstürmt. Der dosierte Einsatz

von Risikobereitschaft, Verstand, Gefühl,

Fühlen und Erfahrung, seine offensive Einstellung

dazu, Probleme zu lösen, sind eine

Mischung aus bewusstem und unbewussten

Handeln. In diesem Sinne verstehen wir

auch den leicht abgelenkten Busfahrer, dem

der technische Bremsassi hilft.

# Der Mensch und sein Angstassistent?

Der moderne Therapeut täte gut daran, dem

psychisch Kranken und in diesem Sinne von

seiner Intelligenz abgelenkten Patienten,

dabei zu helfen, Angst und Aggression gegen

die gefürchtete Umgebung wahrzunehmen.

Im Körper eines jeden sind eigene und

geerbte Muster, die uns Aufschluss darüber

geben, wie es uns gerade geht. Ein Gesunder

nutzt seinen Leib wie das Hirn in guter Kombination.

Der Psychiater sollte dahingehend

arbeiten, diese Kräfte zu integrieren, statt

Betroffene pharmazeutisch zu binden. Das

tut der Arzt aber nicht. Der Psychiater denkt

auch an sich selbst. Ein Gestörter, der nun

beginnt, auch noch wütend zu werden, das

ist nicht sein Ziel.

Dabei könnte Gas zu geben, anstelle fremdbestimmt

zu bremsen, durchaus überlebenswichtig

sein, wie Armstrong auf dem Mond

bewiesen hat. Astronauten, nur Passagiere

an Bord, und ein anderer hat’s programmiert:

Wer heute kommerziell mitfliegt, wird wissen

warum – oder nicht, was soll das? Ein

Vergnügungspark nach dem Vorbild von Walt

Disney, das ist für einige unser einmaliger

Planet; die Realität einer dem Truman (aus

dem Film) gemäßen Welt könnte wie eine

Seifenblase platzen. Im Großen wie im Kleinen:

Ein Mensch steuere seinen Kahn nach

eigenem Ermessen.

:)

Okt 25, 2021 - Gretabedingt 123 [Seite 120 bis 123 ]


Merkur

Okt 29, 2021

Merkur ist der sonnennächste Planet: Es

ist dort sehr heiß. Der Planet ist klein, ein

wenig wie unser Mond mit Kratern übersät.

Es gibt keine Atmosphäre. Niemand könnte

in dieser lebensfeindlichen Umgebung

existieren. Würden wir dennoch auf eine

besondere Weise geschützt auf dem Planeten

wohnen und könnten die Sonne an

seinem Himmel anschauen, wäre diese etwa

zweieinhalbmal größer, als bei uns zu sehen.

Während einige Planeten gut am Nachthimmel

gefunden werden können, bemerkt man

den Merkur nicht so leicht. Mars, Jupiter und

Saturn, die weit entfernt ihrer Bahn folgen

und, innerhalb der Erde zur Sonne, die Venus

als Abend- oder Morgenstern, können gut

beobachtet werden. Noch weiter draußen

als der Ringplanet Saturn gehören Uranus,

Neptun und Pluto zu uns. Sie sind nur mit

Teleskopen zu sehen. Merkur in Sonnennähe

ist klein, aber vergleichsweise nah dran.

Beim Merkur ist weniger das Problem, kein

Fernglas zur Hand zu haben, sondern der

richtige Zeitpunkt für eine Beobachtung. Natürlich

kann der winzige Planet gerade ein

schwaches Licht sein, und ein Feldstecher

würde helfen. Wichtiger zu begreifen ist,

dass dieser Himmelskörper stets in Sonnennähe

am Firmament steht. Damit kann man

ihn nur in der Dämmerung finden. Schon

kurze Zeit später, wenn es eine Morgensichtbarkeit

ist, geht die Sonne auf. Gibt es

den Planeten am Abend zu sehen, geschieht

es kurz nach Sonnenuntergang. Auch dann

steht er tief unten, knapp über dem Horizont

und wird bald verschwinden, weil dieser

Wandelstern gleich nach der Sonne schon

wieder untergeht.

Nachts ist er nie zu sehen. Wie bei der Venus

muss man sich den Ort, wo sich der Merkur

befindet, links oder rechts relativ in der

Nähe zur Sonne denken. Die Sonne fährt

von der Erde aus betrachtet wie auf einer

Bahnlinie über den Himmel. Wenn sie nicht

so hell strahlte, sähen wir neben und hinter

ihr die bekannten Sterne, die dann des

Nachts scheinen, wenn sich unser Zentralgestirn

woanders aufhält. Nach einem Jahr

ist die Sonne scheinbar einmal durch alle zu

ihrer Spur gehörenden Sternbilder gelaufen.

Das sind diejenigen, die wir als Sternzeichen

unserer Geburt kennen. Wir können Widder

sein, Löwe oder Zwilling. Niemand ist Bootes

oder Kassiopeia, und Orion, das schöne

Wintersternbild, kann genauso wenig unser

Geburtszeichen sein. Dort ist die Sonne nie

zu sehen. Die Linie der Sonnenbahn nennen

wir Ekliptik.

# Woher ich das alles weiß?

Mein Opa Heinz, der eigentlich

gern Großvater genannt werden

wollte, kannte sich aus mit den

Sternen und Planeten. Er ist

Kapitän gewesen, und ich erinnere

mich noch gut an viele gemeinsame

Stunden. Als mein Opa 1991

gestorben ist, war es ihm noch

gelungen, mich mit verschiedenen

Partnern bekannt zu machen, mit

denen er Bücher produziert hat,

so etwa Grafiker Uwe Jarchow

oder die Bürogemeinschaft vom

Kabel Verlag. Das brachte mir den Auftrag

für einen Buchtitel „Aufbruch in die weiße

Wildnis“ (Christine Reinke-Kunze) ein, und

mit Uwe habe ich mehrere Projekte

zusammen gemacht. Ich kenne Heinz

nur als Rentner. Er war vorher am

Deutschen Hydrographischen Institut

beschäftigt, die Seewarte an den Landungsbrücken

in Hamburg mit Blick

auf den Hafen.

Zur Konfirmation bekam ich 1980

einen Sextanten von ihm geschenkt.

Das ist ein Winkelmesser, wie er an

Bord verwendet wird. Genau genommen

habe ich einen „Schinkenknochen“

bekommen, so genannt, weil die

Minutenanzeige zur Feinablesung in

einem kreisrunden Ableseteller am

Ende der Alhidade

daran erinnert. Er

hat kein Fernrohr

wie üblich, sondern

eine runde Platte

mit einer Bohrung,

durch die man

schaut. Im Sommer

habe ich mir den

noch rausgekramt,

um die Sonnenfinsternis

(im Juni)

zu beobachten. Ein Sextant hat verschieden

stark getönte Blenden, die das möglich

machen. Nichtsdestotrotz sagte man bei der

Marine, wenn man eine Bagatelle dem Kapitän

besser verschwiegen hätte: „Da hättest

du den Kieker ja auch an das blinde Auge

setzen können.“ Das hieß ein Objekt (an der

Kimm) auszulassen,

um keine Arbeit mit

etwas Unbequemen

zu haben und

erinnert daran, dass

Seeleute auf dem

zur Sonnenbeobachtung

bevorzugtem

Auge schlecht

sahen.

Für Maritimes,

das Wetter und

Navigation habe

ich mich immer

begeistern können. Tatsächlich verstehe ich

nur Grundsätzliches. Ich habe zwar einige

Prüfungen gemacht, um die entsprechenden

Segelscheine zu bekommen und auch

zahlreiche Fachliteratur illustriert, aber ein

guter Nautiker bin ich keinesfalls. Wenn Piet

und ich im Sommer Dänemark besegelten,

zeichneten wir den Kurs mit Bleistift in die

Karte und steuerten entsprechend. Um mit

einer Jolle auf der Ostsee, die meiste Zeit in

Landsicht, korrekt anzukommen, war es nie

nötig Abweichungen hineinzurechnen. Ich

habe etliches begreifen müssen, um meine

Autoren zu verstehen, wenn Fachliteratur

mit meinen Zeichnungen gestaltet werden

sollte. Aber Rechnen ist keine Stärke von mir.

Ich war in den letzten Schuljahren recht gut

in Mathematik, habe alles wieder vergessen!

Kopfrechnen kann ich beinahe gar nicht.

Die Logik einer Kartenaufgabe macht mir

aber schon Spaß. Auf einer Sommerreise mit

meinem kleinen Boot hatten Kocki, meine

Mitseglerin und ich, einen besonders schönen

Urlaub. 1995 war es nicht eine einzige

Nacht bedeckt oder regnete. Wir ließen das

Persenning immer ein wenig offen, lagen

lange wach nebeneinander in den Kojen

und schauten in den Nachthimmel. Ein ums

andere Mal probierte ich, ihr Sternbilder

oder den Lauf vom Mond zu erklären, mit

nur mäßigem Erfolg. Meine Freundin hatte

Okt 29, 2021 - Merkur 124 [Seite 124 bis 126 ]


damals ein Studium

im Bereich

Vermessung begonnen,

das sie

nie beendet hat.

Es erinnert mich

gern daran, dass

meine Mutter

wollte, ich solle

Zahntechniker

werden, warum

bloß?

An dieser Stelle

wird es Zeit, den

Bogen noch ein

wenig größer zu

spannen. In einer

Art Umlaufbahn,

das Thema

einkreisend wie

bei den Planeten, muss diese Geschichte

erzählt werden, damit alle wesentlichen Elemente

enthalten sind. Wie ein Busfahrer, der

auf seiner Route keine Haltestelle auslassen

darf, möchte ich Vergangenheit mit der

Gegenwart verweben. Jetzt ist es also nötig,

nachdem der Planet und meine maritime

Vorgeschichte mit dem Großvater skizziert

sind, den Philosophen Karl Popper zu Wort

kommen zu lassen. Es gefällt mir, ihn noch

einmal zu zitieren, wie bereits in einem

anderen Beitrag. Popper stellt die Theorie

richtig, räumt mit der Überzeugung auf, wir

sähen etwas und reagierten. Der kluge Autor

macht deutlich, dass der Spaziergänger den

Wald vor Bäumen nicht bemerkt. „Oh wie

schön die Tanne“, sagt er, aber ein Förster

sieht anderes.

# Dass die

Wissenschaften,

wie schon die

griechischen Philosophen

sahen,

vom Problem,

von der Verwunderung

über

etwas ausgehen,

das an sich

etwas Alltägliches

sein kann,

aber für den

wissenschaftlichen

Denker eben zur Verwunderung,

zum Problem wird, das habe ich schon am

Anfang angedeutet. Meine These ist, dass

jede wissenschaftliche Entwicklung nur so

zu verstehen ist, dass ihr Ausgangspunkt

ein Problem ist oder eine Problemsituation,

das heißt, das Auftauchen eines Problems

in einer bestimmten Situation unseres

Gesamtwissens.

Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die

ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie

lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt

der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung

oder die sinnliche Beobachtung

ist. Das klingt zunächst durchaus vernünftig

und überzeugend, ist aber grundfalsch. Man

kann das leicht durch die folgende These

zeigen: ohne Problem keine Beobachtung.

Wenn ich Sie auffordere: „Bitte, beobachten

Sie!“, so sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch

gemäß, fragen: „Ja, aber was? Was

soll ich beobachten?“ Mit anderen Worten,

Sie bitten mich, Ihnen ein Problem anzugeben,

das durch Ihre Beobachtung gelöst

werden kann; und wenn ich Ihnen kein

Problem angebe, sondern nur ein Objekt, so

ist das zwar schon etwas besser,

aber keinesfalls befriedigend.

Wenn ich Ihnen zum Beispiel

sage: „Bitte, beobachten Sie Ihre

Uhr“, so werden Sie noch immer

nicht wissen, was ich eigentlich

beobachtet haben will. Wenn

ich Ihnen aber ein ganz triviales

Problem stelle, dann wird die

Sache anders. Sie werden sich

vielleicht für das Problem nicht

interessieren, aber Sie werden

wenigstens wissen, was Sie

durch Ihre Wahrnehmung oder

Beobachtung feststellen sollen.

Als Beispiel könnten Sie das

Problem nehmen, ob der Mond

im Zunehmen oder Abnehmen ist; oder in

welcher Stadt das Buch, das sie gegenwärtig

lesen, gedruckt wurde. (Karl R. Popper, Alles

Leben ist Problemlösen, Piper 1996).

Nun habe ich, was Popper ausführt, gerade

selbst erlebt! Der besondere, wissenschaftliche

Denker, von dem der kluge Analyst

berichtet, bin ich gerade selbst gewesen. In

dieser zufälligen Situation, geadelt durch

die persönliche Erinnerung, konnte ich

genießen, was jemand anderes nicht wahrgenommen

hätte. Geprägt durch das Wissen

meiner Jugend, aber unvorbereitet, damit

konfrontiert zu werden, trottete ich in den

Tag. Das war am Montagmorgen. Ich stehe

gern früh auf. Es ist also kurz nach halb

sieben, als ich mit einem frisch gekochten

Becher Kaffee noch im Bademantel die Treppe

rauf ins Atelier komme. Ich betrete unser

Dachgeschoss, wie es auf etlichen Bildern

der Webseite online

abgebildet ist (und

deswegen unnötig,

meine unordentliche

Arbeitshöhle weiter

zu beschreiben). Ein

schöner Morgen

deutet sich an. Es

ist noch dunkel, und

als Erstes öffne ich

das Westfenster,

um zu lüften und

einen Blick auf die

Sterne zu genießen.

Der Mond hängt im

Westen rum und

versaut die Nacht mit seinem Licht. Der Winter

ist am Himmel um diese Uhrzeit bereits

am Davonlaufen. Orion hat den Meridian

schon überquert, noch bevor Weihnachten

überhaupt ein Thema ist. Es kommt eben

immer auf den Zeitpunkt der Betrachtung

an. Ein Wintersternbild am Abend ist keines

im Herbst am Morgen. Jetzt klettert vor der

Sonne bereits der Frühling hoch, und der

Löwe beherrscht den Südosten.

Da gehe ich nun hinüber,

mache auch das Velux der

Gegenseite auf. Zwischen dem

Giebel oberhalb vom „Lindos“

mit seinen beiden Fenstern,

der Satellitenschüssel darauf

und dem Hochhaus links, ist

eine breite Lücke zwischen

verschiedenen Gebäuden

drumherum geblieben. Das

freie Ende gestattet einen

weiten Blick zum östlichen

Horizont. Hier beginnt, hinter

niedrigen Bäumen versteckt, nach wenigen,

davon verdeckten Häusern, dem alten Dorfkern

von Schenefeld, gleich die Weltstadt

Hamburg. Es fängt an, hell zu werden. Die

Morgendämmerung kündigt sich an, und

genau in der Mitte dieser kleinen, frei bis

ganz nach unten gebliebenen Himmelsstrecke

im Osten, steht ein magisch funkelnder

Lichtpunkt. Nicht besonders hoch über den

Bäumen und einem Wohnhaus an der Bushaltestelle

Dorfplatz, hinter dem Flachdach

der Bäckerei.

Ein startendes Flugzeug von Fuhlsbüttel,

denke ich. Ich kann mich noch gut daran

erinnern, meinen Eltern einmal (stolz auf

meine Kenntnisse), die Venus am Himmel

präsentiert zu haben. Etwa dreißig Sekunden

hielt diese Vision stand, und mein Vater

staunte: „Die ist aber hell!“ Dann bog „sie“

links ab, nahm noch Geschwindigkeit auf

und bald kamen rot und grün die Seitenlichter

raus.

Das war Montag anders. Das musste ein

bekannter Stern sein oder ein Planet? Dazu

gibt es doch das Internet, Fragen dieser

Art zu klären, denke ich und finde heraus,

dass da eine gute Morgensichtbarkeit vom

Merkur just dieser Tage erwartet wird. Aus

verschiedenen Beiträgen wird klar, dass der

unscheinbare Planet ausnahmsweise so

hell scheinen wird wie ein gut erkennbarer

Stern!

Das ist der Moment an Popper zu erinnern,

der uns darauf hinweist, wir gingen nicht

primär von einer Beobachtung aus, um eine

Forschung zu beginnen. Es liegt ja eigentlich

nahe. Zunächst sehe ich das Objekt am

Himmel, dann beginne ich nachzurechnen,

mache kleine Skizzen, ein Foto vom Himmel,

drehe an meiner Kosmossternkarte, suche

die Ephemeriden raus und prüfe, ob das

wirklich unser kleiner, sonnennächster

Planet Merkur ist, der dort so schön im

Morgenlicht funkelt? Nein, es ist tatsächlich

anders. Nur ich, als besonderes Individuum

mit persönlicher Erfahrung und speziellen

Interessen, habe dieses „Problem“ mit dem

Lichtpunkt. Ich wecke meinen Sohn: „Schau,

komm schnell mit ins

Arbeitszimmer!“, fordere

ich aufgekratzt. Der

ist nur genervt, hätte

noch eine halbe Stunde

schlafen können,

bis er los muss: „Der

Merkur, das ist aber toll

Papa.“

Ich denke an meinen

Opa Heinz. Ich weiß

noch genau, dass wir

darüber sprachen. So lange ist es her. Er

wäre auf „Milwaukee“ oder einem anderen

Schiff der Hapag gefahren als dritter Offizier

Okt 29, 2021 - Merkur 125 [Seite 124 bis 126 ]


oder so. Da hätte er tatsächlich einmal den

Merkur gesehen und wäre sich auch ganz

sicher gewesen, da er die entsprechenden

Tabellen zur Hand hatte, es nachzuprüfen.

Der kleine Punkt im Auge des Sextanten,

und das war der kleine Planet, ganz sicher.

Nur einmal im

Leben käme so

etwas vor, wenn

man nicht sehr

darauf aus wäre.

Oft sei das Wetter

ungeeignet, dann

die Nähe zur Sonne,

die bekannten

Probleme.

Das meint Popper, wenn er

beschreibt, dass wir mit einem

Problem beginnen und nicht

mit dem optischen Erlebnis.

Sind das reine intellektuelle

Haarspaltereien? Das denke

ich nicht. Es sind auch keine

Erkenntnisse ausschließlich für

Wissenschaftler, die sich gerade

mit einer Relativitätstheorie

2.0 herumschlagen. Das kann

auch dem gewöhnlichen Hansdampf

beim Einkaufen zum

Grübeln bringen, wenn eine Packung Müsli

ins Auge sticht? Ich glaube, die Antwort ist:

ja. Wir sollten lernen, uns als Individuum zu

sehen, das ist definitiv gesund. Ein Mensch

kann lernen, Dinge wichtig zu nehmen, die

faszinieren und Spaß machen, obwohl andere

gar nichts damit anfangen können.

Es hat mehrere Tage gebraucht, bis ich ganz

sicher sagen kann, mein Opa und ich, wir

haben den Merkur gesehen! Ich habe alles

nachgerechnet. Dafür benötigte ich einige

Blatt Papier, musste eine Karte aus Google

Maps ziehen und die genaue Richtung nach

Osten ermitteln. Mit dem Sonnenstand, den

man ebenfalls für Hamburg erfragen kann,

wusste ich, wo genau diese aufgehen würde.

Damit ergab sich ein Winkel zur Ostrichtung,

und es ist bekannt, dass die Sonne 15° in einer

Stunde vorankommt. Sie muss für ihren

rechtzeitigen Auftritt auf der Weltenbühne

am nächsten Tag, nach 24 Stunden (entsprechend

360°), scheinbar um uns rundherum

gewandert sein.

Die Deklination(en) von Merkur und Sonne

waren schnell gefunden, der Neigungswinkel

des Himmelsäquators musste relativ

zur Breite von Hamburg sein. Diese Linie

beginnt genau in diesem Ausschnitt, den

ich anvisierte; eine gute Möglichkeit für

eine Konstante. Die relativ in der Nähe dazu

verorteten Objekte erlaubten es mir, fand

ich, einen geraden Strich parallel

davon zu ziehen. Vereinfacht,

aber nicht unzuverlässig, ergab

das quasi die Fahrtrichtung des

Ganzen.

Dann konnte noch die Rektaszension

von Sonne und Merkur

genutzt werden, um in ihrer Differenz

den Abstand der Gestirne zu

prüfen. Schließlich vervollständigten

Arktur im Bootes und Denebola

im Löwen, die gut erkennbar

weiter oben sichtbar waren, das Bild,

den kleinen Planeten als in

der Jungfrau zu begreifen.

Folgebeobachtungen bei

gutem Wetter halfen noch,

und dann erst entdeckte ich

eine Webseite, die unseren

Nachthimmel in Echtzeit

abbildet, inklusive des

Planeten. Kein Zweifel blieb,

ich habe den Merkur gesehen.

„Na und?“, sagt mein

Sohn. „Ach ja, wie interessant“,

meint meine Frau, und

dann haben sie Wichtiges

zu tun. Die Geschichten

meines Opas „seien ihnen

bereits bekannt“, bremsen

die beiden mich aus.

„Na und?“, sage auch ich.

:)

Okt 29, 2021 - Merkur 126 [Seite 124 bis 126 ]


I Cover the Waterfront

Nov 2, 2021

Die „keiner liebt dich“ Theorie, kurz

zusammengefasst, ist so blöd gar nicht.

Eine totale Enttäuschung bleibt am Ende,

und so schlecht ist auch das nicht. Diese

alte Schallplatte der Allotria Jazzband mit

Vohwinkel kommt mir in den Sinn. Die

habe ich mal auf einem Flohmarkt gekauft.

Der Trompeter hatte Hamburg verlassen,

mit Papa Bue in Dänemark gespielt und

schließlich viele Jahre mit der Münchner

Band Musik gemacht. Aus dieser Zeit stammte

die Platte, und als ich sie Anfang der

Neunziger vom Grabbeltisch erwarb, waren

die Aufnahmen schon über zehn Jahre alt.

Das 1979 eingespielte „Jazz aus dem Radio“

entsprach dem Empfinden der Generation

meiner Eltern. Gerd ist im selben Jahr wie

mein Vater geboren.

Diese Zeit nach dem Krieg zu beschreiben,

die meine Eltern prägte und von mir aus

dem Fenster meiner Jugend betrachtet werden

kann, wird als das „Wirtschaftswunder“

bezeichnet. Meine Oma kochte für uns noch

leidenschaftlich gern Steckrübeneintopf. Ich

mochte das, ein fetter Kram; mit Speck und

Senf zu essen. Es war in den späten Sechzigern

und beginnenden Siebziger Jahren

aber verpönt. Man schaute abfällig auf diese

Speisen aus der schlechten Zeit, die daran

erinnerten, wie es war, als es nichts anderes

gab.

Nicht nur das Essen wurde vielfältig, bald

konnten wir sogar Fernsehen empfangen. In

den Achtzigern hörte ich Radio, und das Bemerkenswerteste

ist wohl, dass es schließlich

neue Anbieter gab. Mit dem neuen, privaten

Sender aus Schleswig-Holstein startet

für mich so deutlich wie nie die heutige Zeit,

die in allen Bereichen das breite Angebot

von Leistungen kennt. Es ist unnötig, vollständig

aufzuzählen, was sich noch änderte.

Die Post trat vom Telefondienst zurück oder

den Stromanbieter wechseln zu können,

wurde möglich. Statt einer Tube „Elmex“

fanden wir zwei derselben Marke im Regal.

„Aronal“ kam dazu; sollten wir morgens und

abends verschiedene Zahnpasta verwenden?

Das sei besser, warb der Hersteller. Während

die Musik im Radio die Bandbreite des

gesellschaftlichen Geschmacks abzudecken

versuchte, erkannten die Sender bald, sich

thematisch zu spezialisieren. Eine nicht

aufzuhaltende Entwicklung, warum auch?

Es lohnt eine kritische Einschätzung, Betrachtung

der modernen Vielfalt. Im Radio

liefen zunächst Musik und Wortbeiträge

gemischt. Es gab Nachrichten zur vollen

Stunde. Die Moderatoren brachten eigene

Schallplatten mit, die Musik war entsprechend

vielseitig. Die Zusammenstellung

der Titel entsprach viel weniger

einer exakt austarierten Strategie

am Markt auf den zum Sender

passenden Hörer. Nicht dass

früher alles besser gewesen wäre,

ist hier das Thema, sondern die

Überlegung, was es mit uns macht,

Teil einer Gruppe zu sein, mit auf

unsere Bedürfnisse zugeschnittenem

Angebot. Ich kann mich gut

an den Hamburger Jazzsender

erinnern, den ich eine Zeit lang

probierte, ohne dass es wirklich

Sinn gemacht hat. Der ironische Dixieland

von Gerd erinnert an die auslaufende Zeit

dieser Musikrichtung, die immer seltener

werdenden Momente einer Gelegenheit, Jazz

im Radio zu hören. Mit dem Aufkommen der

privaten Sender gab es die ersten Versuche,

speziell auf bestimmten Geschmack ausgerichtete

Stile zu etablieren.

# Noch einmal Merkur

Heute ist wetterbedingt und wegen seiner

Bewegung um die Sonne die beinahe letzte

Möglichkeit, den Planeten Merkur zu sehen,

bis eine neue Gelegenheit kommt. Während

ich einen Rest vom Mond durch schmierige

Schichtwolken erkennen kann, schafft es

der kleine Planet heute Morgen nicht mehr,

mein Auge zu erfreuen. Den täglich näher an

den Merkur rückenden, abnehmenden Mond

als aktuelle Findehilfe zu nutzen, empfehlen

mehrere Webseiten. Ich sehe den Mond.

Das bestätigt mir meine Beobachtung der

letzten Woche! Aber das Wetter selbst kann

ich leider nicht wählen und muss auf den

funkelnden Lichtpunkt darunter verzichten.

Hätte ich meinen Text in einem Forum für

Sternenfreunde gepostet, gäbe es vermutlich

Kommentare und Beschreibungen anderer.

Ich finde bereits Fotos vom Planeten dieser

Tage. Die sind natürlich qualitativ besser

als meine und erleben entsprechende

Beachtung. Ich interessiere mich dafür nur

am Rande.

Das führt zu weiteren Überlegungen. Der

Jazz, die Kunst oder das Segeln sind Themenbereiche.

Mit ein wenig Engagement

wäre es leicht, sich in entsprechenden

Gruppen den Austausch mit Gleichgesinnten

zu ermöglichen. Ich gehe tatsächlich bewusst

einen anderen Weg. Meine Arbeit, so

wie ich diese definiere, besteht seit Jahren

darin herauszufinden, was allgemein kränkt

oder zumindest enttäuscht. Ich möchte eine

grundsätzliche Antwort auf diese Frage. Es

ist wie bei einer Impfung. Durch Konfrontation

mit einem Problem, das zunächst

maskiert auftritt, soll deutlich werden, worin

exakt die persönliche Not besteht.

Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 127 [Seite 127 bis 129 ]


Sich eine passende Umgebung auszusuchen,

die eigene Bedürfnisse stützt, ist ein Prinzip,

angenehme Dinge durch diese Wahl einer

individuell platzierten Aufnahmeposition

erst möglich zu machen. Das verbirgt den

riskanten Denkfehler intellektueller Inzucht.

Zunächst eine feine Sache: Für alle meine

Interessen kann ich heute den entsprechenden

Gegenpol

finden. Selbst

ohne Reflexion der

Gleichgesinnten,

bietet mir (unangemeldet)

bereits

das gewöhnliche

YouTube beinahe

alles an Material,

was einer sich nur

denken kann. Eine

Suchmaschine wie

Google ersetzt das

Lexikon, wie wir

es kannten. Dazu

kämpfen noch

verschiedene dafür,

dass andere Anbieter

außerhalb des

Mainstream Chancen

haben, toll. Diese Vielfalt überfordert

einige, und das sind wohl diejenigen, die

dem Ganzen unterschwellig mit Misstrauen

begegnen.

# Täuschung und Selbsttäuschung?

Ein gutes Beispiel für ein verzerrtes Wirklichkeitsbild

liefert die Betrachtung der Corona-Pandemie

durch die Medien. Es kommt

darauf an, wo man sich informiert, um

objektiv Bescheid zu wissen. Objektivität als

solche darf bestritten werden, besser wäre

zuzugeben, wir wären mehr oder weniger

subjektiv darin, etwas korrekt einzuschätzen.

Die 7-Tage-Inzidenz für Indien heute wird

mit 6,0 angegeben (Website: Corona-in-

Zahlen-Global am 2.11.2021). Nachdem

sich die Werte in den Vereinigten Staaten

anschließend des Sommers verschlechterten,

bessert sich die Situation seit September

dort deutlich. Genauso, wie über die

guten Zahlen Indiens in den Nachrichten zur

besten Sendezeit nicht berichtet wird, seit

einer dramatischen Notlage im Mai, erfahren

wir primär, wo es gerade bedrohlich zugeht,

in Russland etwa würde Putin Urlaub für

alle verordnen. Die besseren Werte der USA

thematisiert das Fernsehen kaum. Die Menschen

in Indien können nicht von sich sagen,

die Pandemie durch eine gute Impfquote zu

beherrschen. Nicht einmal ein Viertel der

Bevölkerung dort ist vollständig geimpft.

Amerika; Präsident Joe Biden mag in den

heimischen Nachrichten behaupten, seine

Politik habe die Lage im Herbst gebessert.

Dem deutschen Fernsehen ist dies nicht

einmal einen Beitrag wert. Um die Situation

so stark wie möglich in die gewünschte

Richtung zu lenken, verzichtet man darauf,

jede Störung, die unsere Impfbereitschaft in

der Bevölkerung schmälern könnte,

zuzulassen.

Der Lockdown als größte Bedrohung

steht wieder im Raum,

und nur die Impfung stärkt die

Gesellschaft. Alle, die in irgendeiner

Weise fachlich qualifiziert

sind, äußern sich Druck ausübend

in Richtung der Ungeimpften. Die

Impfquote kann ihnen gar nicht

hoch genug sein. Fraglich bleibt,

wie eine Herdenimmunität zu erreichen

ist? Das Schlimme am nicht

geimpft sein, wäre die Gefahr böse

zu erkranken, denn hauptsächlich

diese Ungeschützten lägen nun

im Krankenhaus, wiederholen die

Politiker und Ärztepräsidenten. Das

ist nur logisch, kann aber nicht verbergen,

dass insgesamt das Risiko, intensiv

an Covid zu leiden, geringer geworden ist.

Wir wissen, dass es dieses Virus gibt. Der

einzelne kann Abstand halten, eine Maske

tragen und sich impfen lassen. Es gibt

bessere Möglichkeiten in allen Lebensbereichen,

volle Innenräume zu meiden oder sich

dort entsprechend zu schützen. Trotzdem

wird die Lage, was nun zu tun sei, je nach

Person ganz unterschiedlich bewertet.

Ein Bild der Wirklichkeit entsteht

durch die Information, die wir nutzen.

Die Vielfalt der Informationsquellen,

die uns zur Verfügung stehen

und das tatsächliche Erleben

auf der Straße im Gespräch mit

anderen, zeigen Wahlmöglichkeiten

auf, uns der überzeugendsten

Auffassung zuzuwenden. Bei näherer

Betrachtung wird, wie überall,

wenn andere uns umwerben,

deutlich, dass sie ihren Motiven

folgen und den Anschein erwecken,

diese seien mit unseren gleich. Der

Gesundheitsminister „liebt“ den

einzelnen nicht, möchte ihn nicht

schützen, sondern er beschreit zunächst

eine Gefahr, schneidert sie

breit bedrohlich zu, um dann die

Welt retten zu dürfen. Da kommt

es nicht auf die Person im Amt an,

das täte jeder von uns dem Minister gleich,

so zu handeln.

Es wird über eine geringere Kapazität von

Intensivbetten berichtet. Das liegt nicht

daran, dass im Vergleich zum Vorjahr einige

dieser technischen Wunderwerke kaputt

gegangen sind.

Tatsächlich haben

nicht wenige Pflegende

dem Beruf

inzwischen den

Rücken zugekehrt.

Wir verfügen über

noch weniger qualifiziertes

Personal als

ohnehin schon. Ganz

offensichtlich sind

die Gehaltsvorstellungen

der in Frage

kommenden Personengruppe in Relation

zu den Anforderungen nicht konform zu

alternativen Angeboten anderswo. Daran

ändert sich wenig, und das lässt nur einen

Schluss zu: Wir sind in Deutschland nicht in

Not, was die Lungenkrankheit betrifft. Unser

Wirtschaftssystem steht an erster Stelle und

diese Zahlen, nämlich wer wo wie viel Geld

bekommen kann. Die Furcht schwer krank zu

werden, tritt hinter kommerzielle Überlegungen,

ob unser System funktional bleiben

wird, zurück.

# Man geht zur Impfung, um Freiheiten zu

genießen

Auf der Basis einer visionären Show

überwiegt die Funktionalität des Systems

gemäß der alten Idee „Brot und Spiele“ im

modernen Gewand. Bereitwillig suchen wir

uns die Befriedigung unserer Motive selbst

aus. Speziell unterwegs oder breit gefächert

ist für jeden etwas dabei: Die allgemeinen

Medien haben einige Buhmänner. „Der Krieg

in Eurasien“ war ein vergleichbares Thema

im bekannten Roman von Orwell. Das

genügt als Feinbild für einfach gestrickte

Zeitgenossen. Man trifft diese Bösen nie

beim Einkaufen oder am Gartenzaun persönlich.

Trump hat ausgedient? Der beliebteste

Unmensch ist derzeit der Brasilianer Bolsonaro.

Nicht nur in der Pandemie ist er ein

böser Falschmacher. Gerade gab es Indigene

zu sehen, die ihren Präsidenten anklagten,

Schuld an einer Umweltkatastrophe zu sein.

Brasilien zerstöre die grüne Lunge der Erde,

und die Menschheit stirbt bald seinetwegen.

Gut möglich. Schlimm ist auch, Putin und

der Chinese haben „Glasgow“ geschwänzt,

stimmt. Was nützt es mir? Mein Einfluss

auf Brasilien ist

einigermaßen

gering.

# Schimpfen als

Ersatz für Selbstbewusstsein?

Die Medien

füttern uns mit

dem vermeintlichen

Versagen

der Menschen

dieser Welt.

Abstrakt entsteht

eine Realität vom

Ganzen, die wir

vermeiden, vor

Ort nachzuprüfen.

Das ist eine Droge

für welche, die

sich selbst nicht wahrnehmen mögen. Wer

die Fehler der anderen aufzuzeigen wichtiger

nimmt, als eigene Dinge auf die Beine

zu stellen, blendet sich schließlich daran.

Greta Thunberg ist tatsächlich nach Amerika

gesegelt, hat Donald Trump getroffen, ihm

die Meinung gesagt! Sie ist so unglaublich

anders und mutiger als

die Masse. Wer sich selbst

nicht mag und traut, hat in

dieser Welt verloren, bevor

er aufbricht, seinen Platz zu

behaupten. Reflexion wird

immer nur partiell sein.

Ich muss danach suchen

oder bereit sein, auf Lob zu

verzichten. Mit dem Blick auf

Applaus kann niemand befriedigend

schaffen. Ankläger

und investigative Journalis-

Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 128 [Seite 127 bis 129 ]


# Bleibt noch, einfach mitzulaufen

ten stehen

im Roman

und in der

Doku gern im Rampenlicht. TV-Kommissare

beherrschen unsere Unterhaltung? Die Aufgaben

eines Detektivs zu übernehmen und

Ankläger oder Richter zu sein, ist die vermutlich

schwierigste – besonders, wenn die

Ermittlungen mit einer Strafe abgeschlossen

werden. Künstler sind wie Polizisten, aber

ohne Gericht und Gefängnis im Hintergrund.

Wahrheit versus Behauptung: Wir sollten

mehr leisten als pöbeln (wie alle). Als

Mensch unter anderen ihnen die Fehler aufzuzeigen,

belastet. Das macht sich mancher

nicht klar, der leichthin meckert und hofft

mit Bewunderung, Freundschaft oder gar

Liebe belohnt zu werden. Wer fleißig einer

Leidenschaft folgt, scheitert, wenn diese

ihm als solche nicht genügt. Die Umgebung

liebt uns nicht. Sie wird immer mehr oder

weniger feindselig dastehen.

Wenn ich einen Blogbeitrag über den Planeten

Merkur, den ich zufällig gesehen habe,

auf meine Webseite stelle, erfahre ich so

gut wie keine Resonanz, etwas Besonderes

erreicht zu haben. Kaufte ich mir ein gutes

Teleskop, fuchste mich in die Materie, könnte

ich mit den modernen Möglichkeiten ein

schönes Foto des Planeten selbst machen.

Sogar am Tage fotografierte ich seine halbe

Sichel, und die Bewunderung einiger Sternenfreunde

im entsprechenden Forum wäre

mir sicher. Postete ich meine Kritik an der

Corona-Politik im dafür geeigneten Kanal,

könnte ich Anerkennung der quer denkenden

Szene bekommen. Schriebe ich über

das „Radio früher“, dürfte ich nostalgische

Reflexionen genießen. Aber nur, wenn ich

mir gezielt die damaligen Hörer auf einer

passenden Plattform suchte.

Fazit kann nur sein, um mich – den „ganzen

John“ mit allem Drum und Dran: von Malerei

über Segeln, bis zu soziologisch motivierter

Kritik – schert sich niemand; außer

möglicherweise meine allerliebste

Frau. Diese hat aber auch einigen

Nutzen davon. Sie ist mit einem

ganzen Mann verheiratet und

besitzt (mit mir) ein halbes Haus.

Ihr vernünftigerweise sie liebender

Gatte finanziert die andere Hälfte

und repariert mannhaft eventuelle

Schäden.

Mir bleibt heute nur wenig vom

vertrauten Gefühl, lieben zu können

und geliebt zu werden. Allein im

Weltenraum ohne Sterne über mir!

Ich schaue auf die Kimm, und dort

fährt kein Schiff. Auch an Land: Ich

müsste selbst los ziehen, Anerkennung

zu bekommen – das hieße, sich

Wald anpflanzen, hineinzurufen und

am wohlmeinenden Echo Freude

finden. Liebe ist zum „wie du mir, so

ich dir“ verkommen und funktioniert

wie der Oma ihr Steckrübeneintopf.

:)

Nov 2, 2021 - I Cover the Waterfront 129 [Seite 127 bis 129 ]


Der Egoist

Nov 7, 2021

Ich glaube nicht mehr an Europa. Die Klimaziele,

dass wir sie erreichen, daran glaube

ich genauso wenig. Ich habe keinerlei

Vertrauen in die Zukunft, dass sie positiv

verlaufen wird, und ich lebe noch ganz gut

damit. Ich bin nicht depressiv, denke ich. Ich

bin maßlos enttäuscht, das ist es. Ein klarer

Blick hinter die eigene Fassade ist nichts

Schlechtes. Ich langweile mich beinahe nie.

Ich kann mich beschäftigen, erfülle Pflichten,

zahle Steuern. Aber da ist keinerlei Empathie

für unser Land, die Welt, die mir doch das

Dasein ermöglicht. Sie zwingt es mir ja auch

auf. Ich möchte weg, nur noch weg. Ganz

weit weg möchte ich, dorthin wo es besser

ist, aber es steht nirgendwo ein Wegweiser,

wie das zu machen sei. Hier kenne ich mich

einigermaßen aus, und deswegen bin ich

davon überzeugt, dass mein Hierbleiben

alternativlos ist. Mir gefällt dieses Land,

und der Wohlstand ist toll, man sieht ja,

wie die Menschen anderswo leben. Meine

Heimat ist hier. Ich habe ein Problem mit der

Zukunft. Sie erscheint mir frei geräumt von

den bekannten Träumen und Hoffnungen,

ein dürres Ende. Mein Problem liegt in der

Unfähigkeit, noch auf andere zugehen zu

können. Die Schwierigkeit ist, Unterschiede

wahrzunehmen, wer freundlich ist und wer

nicht. Der Weg in den Egoismus erscheint

mir als der bessere? Tatsächlich: Ich habe

mich vollkommen verändert, weg von den

Menschen, mache beinahe gar nichts mit

anderen mehr. Meine Freunde sind zahlreich,

aber man müsste diese Beziehungen auch

pflegen.

Ich gehe allen aus dem Weg, selbst wenn ich

offen fröhlich bin. Oft laufe ich hasserfüllt

in den Tag, bin fast enttäuscht, wenn die

anderen freundlich sind. Ein Schwätzchen zu

halten ist nicht schwer! Ich erwarte Feindseligkeit,

weil sich mein Weltbild dahingehend

entwickelt hat. Ich war überzeugt von

der Demokratie, sie ist mir heute wurscht.

Schenefeld, die oberen Zehntausend? Der

vollkommene Bruch ist innerlich vollzogen.

Es gefällt mir, dass ich Christiane nicht mehr

sehe. Gelegentlich erscheint ein Foto im

Tageblatt, Würdigung einer ehrenamtlichen

Häkelgruppe oder dergleichen. Sie wechseln

sich ab, stellvertretend Gudrun, schielt an

der Kamera vorbei. (Sie ist semiprofessionell,

aber tapfer in stumpfer Einfalt, stark

am Platz). Ich bin angewidert von jedweder

Eitelkeit im Amt. Unsere Bürgermeisterin, die

ich als fröhliche Frau regelmäßig radelnd im

Dorf kannte, traut sich noch zum Wahlkampf

auf den Wochenmarkt, bleibt ansonsten

unsichtbar. Ist besser

so – und klug, denke

ich. Politik ist verlogen

und sie hat ihren Beruf

nun gelernt. Respekt

dafür. Danke, dass ich

dabei mithelfen durfte.

Kunst schaut von der

anderen Seite: Eine

verlockende Vorstellung,

dass die Ampelkoalition

irgendwie

doch nicht zustande

kommt. Voller Hohn

beobachte ich die

Lage mit dem siegesgewissen

Olaf, hoffe

auf Probleme. Den hätte

ich niemals gewählt. Als Nichtwähler des

deutschen Bundestages bin ich glücklich im

Trotz. Der Designierte ist ein Operettenkapitän

für laue Luft. Zieht ein Sturm auf, steht

der Mann stark schauend an Deck, während

seine Segel zerfetzen, Matrosen aus der

Takelage stürzen, die Masten brechen. Mit

dem ersten Rettungsboot schippert er bei

Schiffbruch feige davon, um anderswo eine

neue Bark zu besteigen und sein schönes

Kapitänsgesicht feilzubieten.

Vielleicht ein Spiegel unserer Selbst? Die

soziale Güte der Gemeinschaft ist eine gute

Maske, der glatte Kandidat lebt es vor, und

wir finden uns im besten Darsteller wieder

wie im Heldenkino. Skepsis am Gutsein

der Masse ist nicht mehr erlaubt? Einzelne

gewinnen an Stärke, wenn sie zusammen

halten und den Block der Vernünftigen

bilden. Die Pandemie belastet uns. Das

Unvernünftige dieses Argumentes, alle

sollten, was das Impfen betrifft solidarisch

mitmachen, ist, dass diese Mehrheit immer

einen Rest haben wird. Die Spaltung der Gesellschaft

ist derzeit ein Thema, wir dürfen

gespannt sein, ob es gelingt, die Menschen

friedlich zu stimmen. Als Mutti der Nation

haben manche Angela Merkel bezeichnet.

Und jetzt kommt Papa Olaf? Das mag nicht

einfach sein für den Scholzomaten. Die

Pandemie solidarisch zu meistern, ist eine

Herausforderung. Wie sollen die noch ins

Boot geholt werden, die gerade massiv außenbords

gedrängt werden? Der Druck auf

Ungeimpfte wird mit dem Argument geführt,

diese gefährden andere und dem kann nicht

allzu viel entgegengehalten werden, außer,

mit dem Vorwurf leben zu können. Jedem

das eigene Schiff.

Verstört.

Manipuliert, Vertrauen zerstört, was heißt

das? So denke ich auf meinem bösen Irrweg:

Unsolidarisch aus Überzeugung! Ich lasse

mich nicht impfen aus demselben Grund,

möchte nicht aus Loyalität zur Allgemeinheit

Sinnvolles tun, dem Apparat lieber schaden

durch Passivität. Nur mit einer hohen

Impfquote bekommen wir die Pandemie in

den Griff, natürlich. Aber gerade deswegen

mache ich das nicht. Ich trage Maske, gehe

auf Abstand, das muss genügen. Es gibt noch

andere Gefahren. Ich setze keinen Helm auf

beim Radfahren, trinke Alkohol. Wer weiß,

vielleicht habe ich Krebs? Keine schlechte

Sache, so eine tödliche Krankheit. Das würde

meinen Abgang beschleunigen, alle freuten

sich, mich Miesepeter los zu sein. Und ich

selbst wäre der Zufriedenste, es geschafft zu

haben, endlich tot zu sein. Ich gehe nie zum

Arzt, auch wenn es sinnvoll wäre, weil ich

lieber Schmerzen habe und eine ungewisse

Zukunft. Das erscheint mir besser, als mich

fremden Weisungen anzupassen.

# Keine Beziehungen!

Die minimale Verbindung zur Gesellschaft:

Ich zahle Steuern (steht eingangs), das muss

genügen. Ich wiederhole es wegen seiner

Unbedingtheit. Dagegen kann man nichts

machen, außer eindeutig in das Lager der

Kriminellen umzuziehen. Damit kenne ich

mich nun wieder nicht aus, und deswegen

wird nichts draus. Zum Anarchisten tauge ich

nicht, religiöser Fanatismus ist mir fremd,

verrückt oder quer denke ich nie, das ist

blöd. Mache ich Fehler, hilft mir der Anwalt.

Ich kann das bezahlen. Auf eine Demo kriegt

mich niemand, das hieße ja, mit anderen

zusammen „dagegen“ mitlaufen. Zwischen

allen Stühlen allein auf meiner Insel, das ist

mein Ideal.

Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet

eine Impfpflicht, um gegen das Virus endlich

Fortschritte zu machen, heißt es. Schwierig

bis unmöglich umzusetzen? Ich glaube, es

war Bodo Ramelow, der Ministerpräsident

von Thüringen, der dazu sagte: „Wie wollen

Sie jemanden impfen, der meint Covid gäbe

es nicht und der Staat wolle ihn mit der

Spritze vergiften?“ Die flächendeckende Meinung

entwickelt sich zunehmend dahin, alle

müssten begreifen, das Richtige zu tun. Dies

ist gefährlicher zu denken, als Widerstand

zuzulassen und hinzunehmen. Der allgemeine

Mensch ist noch nicht erfunden worden.

Davon, dass so getan wird als sei es einfach,

normal und richtig, im Sinne des Ganzen zu

denken, wird man das Gegenteil erreichen.

Europa erlebt starke Fliehkräfte. Der Brexit

oder die polnische Sicht auf das System

machen im Großen deutlich, was dem Einzelnen

geschieht. Die Mitte der Gesellschaft

verlassende Menschen seien egoistisch,

heißt es von denen, die leicht begreifen, was

nützt und gern dabei sind. Der Konsens ist

ihr billiger Kompass. Eine Lösung dafür, alle

im gleichen Sinn geschlossen voran gehen

zu lassen, gibt es aber nicht. Der einzelne

Gedanke eines jeden Individuums zählt. Die

scheinbar irrationalen Abweichler des Kollektivs

(der systemischen Bewegung) müssten

integriert verstanden werden. Ausgrenzung

stärkt die Aussätzigen. Man sieht, dass

ganz verschiedene Gruppen sich zusammen

tun, wenn das gemeinsame Ziel unscharf

der Widerstand ist. Zorn ist weit mehr als

die böse Gewalt, die endlich verschwinden

müsste. Das ist unser persönlicher Antrieb

und für einige das reinste Vergnügen, mit

diesem Kraftstoff Gas zu geben.

:)

Nov 7, 2021 - Der Egoist 130 [Seite 130 bis 130 ]


Jungfrau

Nov 10, 2021

Ein strahlender Morgen, aber nun

ziehen Wolken auf. Ich bin gern

früh aus dem Bett. Mit dem ersten

Kaffee in der Hand schaue ich wieder

aus dem Ostfenster. Heute ist

der Merkur nicht mehr aufzufinden.

Es gelingt im Ausschlussverfahren

nachzuweisen, dass ich mich Ende

des Monats nicht täuschte! Ich sah

den sonnennächsten Planeten an mehreren

Tagen, weil genau dort am Himmel heute

nichts mehr zu beobachten ist. Das vertraute

Bild steht leicht in die Höhe verschoben:

Der helle Arktur strahlt über dem Hochhaus,

aber weiter oben als im Oktober um diese

Zeit. Das Sternbild Löwe erklimmt rechts

den Morgenhimmel, dass es schon schwierig

wird, Denebola an der Spitze überhaupt zu

sehen, ohne den Kopf aus der Dachluke zu

recken.

Zum ersten Mal sehe ich Spica ganz bewusst.

Der Hauptstern in der Jungfrau ist

nicht gerade ein typischer Kandidat, sich

auffällig in den Vordergrund zu drängen.

Auch jetzt funzelt sein Licht nur schwach,

wo etwa letzte Woche der kleine Planet

zu sehen war. Dieser Fixstern zeigt mir mit

Hilfe der aktuellen Angaben im Internet

(unterstützt von Arktur, der oben prächtig

herauskommt), wo Merkur heute nicht ist.

Dieser flinke Wandelstern mag gerade erst

aufgehen? Er ist unten hinter den Gebäuden

versteckt. Sein Licht ist so schwach, dass die

Suche in der Dämmerung zwecklos ist.

Gleich geht die Sonne auf.

Die Zeit, den

Merkur leicht am

Morgenhimmel

in der Jungfrau

zu finden, ist erst

einmal vorbei. Die

Sternbilder bilden

verlässlich eine

wandernde Kulisse.

Die Planeten,

Kometen, Sonne

und der Mond

schippern verspielt

in immer neue Positionen, bilden spannende

Konstellationen. Mein astrologisches Bild,

die Jungfrau, stand gerade Pate für den

kurzen Auftritt des eiligen Planeten. Ein

schöner Zufall, ihn dort so hell zu sehen

und das seltene Schauspiel zu verstehen für

einen Laien.

# Jungfrau

Ich bin am 27. August geboren. Mein Vater

erinnerte, wie er mit dem Fahrrad entlang

der Holmer Straße gestrampelt sei:

Am Nachmittag wäre (mit auf der Elbe

einsetzender Tide) ein schweres Gewitter

niedergegangen. Etwa zu dieser Zeit kam ich

im Wedeler Krankenhaus auf die Welt. Ich

hätte nicht geschrien als ein besorgliches

Zeichen, das Leben eventuell zu verweigern

und von der Hebamme einen Klaps auf den

Hintern bekommen. So wurde es erzählt.

Das finde ich nicht komisch; jede Erinnerung

wird zur Anekdote verändert. Die Aufklärung

der Kinder, überhaupt das Ende der Jugend,

sollte aufgeschoben werden? Wir rechnen

astrologisch die Jungfrauen vom 24. August

bis zum 23. September. Für meine Mutter

problematisch. Greta erklärte mich zum

Löwen um, als ich fragte. Es dauerte, bis ich

herausfand: „Wir wollten es dir nicht sagen,

weil du zu klein warst zu verstehen, was

eine Jungfrau ist.“

:)

Nov 10, 2021 - Jungfrau 131 [Seite 131 bis 131 ]


Nur ein Traum

Nov 13, 2021

Bei einem Seminar

der Feuerwehr warnt

der Seelsorger: „Die

Posttraumatische Belastungsstörung

kann

jeden treffen!“ Er will

deutlich machen, dass

es hier nicht um Weicheier

geht, die es gäbe,

und härtere Kameraden.

Ob es stimmt? Der

Referent steigt selbst

ein wenig in seiner eigenen

Wichtigkeit auf,

weil er allen auf einmal

drohen kann, nicht nur

den „Mädels“. Es lässt

sich kaum beweisen,

wenn nach dem Einsatz der geschockte Kollege

Meyer ausfällt und Krüger nicht, dass

es diesen gleichwohl getroffen hätte, wenn

– ja, was wäre der Grund? Typisch Psychiater,

sie möchten Bescheid wissen und können

nichts belegen. Auch Zwillinge erleben die

Tage verschieden, machen eigene Erfahrungen,

kommen in der Summe der Erkenntnisse

nie beieinander an.

Das Katastrophentrauma, auf jeden Fall

eine schöne Sache für den Betroffenen

und seinen Psychiater. Hier ist ein Mensch

gekommen, der kann zunächst einmal nichts

dafür zu leiden, weil ein bestimmtes Ereignis

Schuld am Problem ist. Das befreit Therapeuten

und Patienten gleichermaßen vom

Stigma, in der pathologischen Psychoecke zu

manövrieren, sagen zu können, keine auf die

Person bezogene Schwäche wäre der Grund.

Das ist das beste Arbeitsfeld. Der Kranke ist

wirklich krank, es gibt einen bekannten (und

anerkannten) Auslöser des Leidens. Er kann

nichts dafür, weil es anderen schon genauso

passiert ist. Ganz gewöhnliche Helfer haben

das manchmal. Das trifft nicht nur Spinner,

Frauen und Zartbesaitete: Selbsthilfegruppe?

Derbe Schale, weicher Kern. Der starke

Feuerwehrmann ist normal, obwohl er zum

Psychodoktor muss. Doku im Fernsehen, die

Krankheit ist erforscht. Wie eine Jacke kann

sie jedem angezogen werden. Da kommt

es nicht drauf an, was derjenige drunter

trägt, bereits mitgebracht hat. Interessierte

werden im Netz informiert.

# Die Begriffe Posttraumatische Belastungsstörung,

Posttraumatisches Belastungssyndrom,

Posttraumatisches Stresssyndrom oder

das englische Posttraumatic Stress Disorder

(PTSD) werden gleichbedeutend verwendet.

Die psychische Erkrankung wird gemäß der

internationalen Klassifikation ICD-10 den

Reaktionen auf schwere Belastungen und

Anpassungsstörungen zugeordnet. (Neurologen

und Psychiater im Netz, Informationsportal

zur psychischen Gesundheit und

Nervenerkrankungen, herausgegeben von

Berufsverbänden und Fachgesellschaften für

Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde

und Neurologie aus Deutschland und

der Schweiz).

Da kann der Fachmann richtig auf die Kacke

hauen, was da alles untersuchtt wurde. Wie

viel Studium und Theorie hinter diesen

Krankheiten steht: Genau bezeichnet, eingeordnet

und welche Pille wie hoch

als Dosis im speziellen Fall die

richtige sei; das ist echte Medizin.

Sie gründet auf langjähriger Forschung

und kann ihre Wichtigkeit

entsprechend aufplustern. Patienten

sind gern bereit mitzumachen?

Anders sieht das Ganze aus,

wenn alle im Dunkeln tappen. Die

Diagnose wird schwierig, wenn

ein Verrückter nicht weiß woher’s

kommt und der Arzt zunächst

Detektiv spielt.

Es könnte einfacher sein. Wir

könnten behaupten, die Probleme

kämen immer von außen und

seien untrennbar vom ganzen

Betroffenen, seinem Körper, den

persönlichen Erfahrungen. Dann

müssten wir den Menschen

insgesamt ernst nehmen. Die

Erkrankung wäre nicht statisch der

Begriff, die Diagnose, ein einziges, momentan

zu bezeichnendes Ding. Da hätte, würden

wir realistisch sein und die Sache als solche

zugeben, eine Entwicklung stattgefunden

und schreitet noch fort. Die Krankheit wäre

nicht mehr allgemein die von jedermann,

sondern viele Faktoren infizierten den Menschen,

durch die persönliche Einschätzungen

der Umstände, die der Patient auf seine

Weise bewertet. Andere kämen

mit derselben Situation klar, die

ihn aus der Bahn wirft. Vom Arzt

und der Gesellschaft respektiert,

wäre so jemand krank, ohne

eine Krankheit zu haben. Wir

sollten uns dazu durchringen,

einzusehen, dass weder eine

bauliche Macke, etwa ein Gen

oder eine Beschädigung in der

Kindheit Schuld daran ist, die

das Normalsein für immer amputiert

hat, noch eine Krankheit

diagnostiziert werden müsste,

weil es symptomatisch anderen

ähnlich geht.

Wir könnten die Theorie der Verhaltensauffälligkeiten

insgesamt neu formulieren. Statt

die Störungen in einem Buch zu sammeln

wie Dosen im Regal und diese dem Kranken

zuzuordnen, verstünden wir zu leben als

dynamisch. Eine Diagnose neigt dazu,

psychisches Leid als schuldhaft ertapptes

Übel – vergleichbar dem Tumor, den es zu

behandeln gilt, bis dieser Feind eliminiert

wurde – dinghaft festzunageln. Das möchten

wir gern: wegschneiden, was kränkt? Die

Vergangenheit annehmen und zu integrieren

wird gesagt, sei wichtig, aber wie es zu

machen sei, sich zusammenzureißen, können

nur wenige uns beibringen. Vielleicht wäre

es hilfreicher, Psyche und Körper als ohnehin

zusammenhängend mit gemeinsamer

Erfahrung zu begreifen? Anstelle von psychosomatischen

Krankheiten zu reden und

diese nur als weitere Gruppe zu benennen:

Dann hätte jeder das Werkzeug, sich zu

einen bereits in der Hand, und das Gerede

von der gespaltenen Persönlichkeit wäre

keine dumme Worthülse mehr. Die Anleitung

zur Selbsterforschung könnte geschrieben

werden, statt nach „Borderline“und „Burnout“

zukünftig weitere, moderne Begriffe zu kreieren,

definieren. Das Dumme im Verhalten

der prinzipiell Intelligenten dürfte ehrlich

aufgedeckt werden, statt zu bemerken, emotionale

Intelligenz gäbe es auch noch und

etwa positiven Stress.

Die bessere Sicht auf uns wäre nicht statisch:

„Ich bin halt so“, sondern variabel mit

der Perspektive einer Entwicklung. Und statt

das Ziel zu fixieren, den Tag zu erreichen

an dem alles gut sein wird, könnte die

Gegenwart beweglicher sein. Eine Erzählung

dieses dynamischen Lebens wären Erlebnisse,

aber kein Roman. Die Geschichte dazu

müsste geschrieben werden. Alle Elemente

zusammen machen krank; worin besteht die

verbindende Erfahrung? Was passierte, wird

erst spät klar. Der Betroffene spürt es nicht,

und wird von Gefühlen übermannt. Der Arzt

scheint Bescheid zu wissen, da er einen Namen

dafür hat und andere genauso reagieren?

Ein Fehler, so zu denken! Die Krankheit

ist ein vielfältiger Gegner, der sich aufspaltet

und immer neue Visagen präsentiert. Das

ist ein Eindringling, der sich schließlich vermehrt,

ein visionäres Virus der Fantasie. Ein

intellektuelles Problem infizierte den Armen,

hat sich im System eingenistet. Die Angst ist

an Bord! Ratten sind in jedes Schapp und

sämtliche Backskisten gekrochen. Das Übel

hat Gehirnzellen, Körperteile, Organe und

Extremitäten befallen.

Dann kommt noch der Psychiater an Bord:

schwere Schlagseite! Der Fachmann für

geistige Probleme stellt seine Einschätzung

über die Erfahrungen des Patienten. Der Arzt

kennt vergleichbare

Fälle. Man

lehrte ihm, was

es alles gibt. Wie

die Muskulatur an

den Rippen seines

Kunden hakt, während

dieser atmet,

bemerkt der Psychiater

nicht. Er

konzentriert sich

auf seine Diagnose

und was im Fall

übereintreffender

Verhaltensweisen

mit bekannten

Fällen empfohlen wird. Der Schizophrene

bemerkt Spannungen im Leib genauso wenig.

Dann beginnt die Reise mit dem neuen

Lotsen an Bord, die bekannten Therapien.

Der Arzt begleitet seinen Patienten oft ein

Leben lang. Manche Kranke wechseln noch,

bis sie zufrieden sind. Andere verschleißen

mehrere Fachärzte im Laufe der Zeit, weil

diese Rentner wurden, ohne dass die Patienten

genesen sind.

Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 132 [Seite 132 bis 134 ]


Warum kann die Psychiatrie nicht begreifen,

dass ihre Krankheiten Erklärungsprinzipien

sind? Eine Diagnose mag angehen, wenn ich

Internist bin. „Sie haben Gürtelrose“, sagt der

Hausarzt etwa. Das will der Psychiater auch

können. Er möchte Anerkennung und so tun,

als wäre er ein richtiger Arzt. Er entdeckt:

„Der Patient hat eine X-Z1-Paranoia nach

Kategorie 4“, verschleiert das noch gemäß

dem Rat, niemand zu überlasten und drückt

sich entsprechend aus. Das Prinzip, die

Krankheit sei wie ein Ding an sich und

erforscht, behält er bei. Das ist vollkommen

falsch, aber es stört diese Fachrichtung

nicht, weil man es

eben so macht. Die

Behandlung kommt

um das Mittel der

Manipulation nicht

herum? Das wird

dem latent paranoiden

Patienten

nicht helfen und

kann durch perfide

Alltagsverarsche

noch getoppt werden.

Seitdem der

Aufmerksamkeit

heischende Begriff

des „Profilers“ Allgemeingut geworden ist,

können wir uns vorstellen, wie ein Netz um

den Auffälligen gespannt werden könnte

(und der kann es sich selbst auch ausmalen).

Psychiatrische Gutachten und das Entwickeln

eines Profils, wie ein Sonderling sich

entwickeln wird, entsprechen den Problemen

der Wettervorhersage. Eine Krankheit,

kaum mehr als einen Begriff dafür, der aufgrund

von Beobachtungen, Symptomen und

Diagnose dem Kranken zugeschrieben wird,

sollte dieser nicht „haben“. Ich kann, um das

Beispiel von oben aufzugreifen, eine Jacke

besitzen, ein Auto haben, aber eine Ehefrau

werde ich wohl kaum „haben“ (obwohl es

umgangssprachlich schon mal gesagt wird),

weil diese sich nicht in meinem Besitz

befindet, ein Eigenleben darstellt. Ein Grippe

zu haben, weil sie im Menschen bekannte

Veränderungen wie Fieber, Kopfschmerzen

und Schnupfen auslöst, macht Sinn. Einen

Minderwertigkeitskomplex kann ich nicht

haben, weil das dem einen dies bedeutet

und anderen jenes. Wenn der eine Schizophrene

gewalttätig wird, andere katatone

Verkrampfungen ausleben, ist die Ausgangslage

warum es geschieht kompliziert

genug. Mit dem jeweiligen Menschen selbst

zu beginnen, anstelle Krankheiten aus dem

Lehrbuch zu diagnostizieren, wäre besser.

Wenn ein Grippevirus den Menschen außer

Gefecht setzt, laufen ähnliche Prozesse bei

jedem Betroffenen ab und der Arzt kann

zielgenau therapieren. Das Verhalten der

Kranken wird als rational und mehr oder

weniger klug nur ausnahmsweise einbezogen.

Wer mit hohem Fieber noch arbeitet, ist

dumm aber nicht krank im Geiste. „Bleiben

Sie zu Hause im Bett!“, ist eine Anweisung,

der man folgen kann. „Bleiben Sie zu Hause,

bis die Psychose aufhört“, wäre ein kaum

umzusetzender Rat (wenn der Kranke von einem

zum nächsten Moment nicht weiß, was

er tut). Könnte sichergestellt werden, dass

die nötige Dosis passender Psychopharmaka

eingenommen wird, ist die Möglichkeit, eine

Krise in der Wohnung allein abzuwettern,

theoretisch gegeben. Die Medikation ist

nur bedingt zuverlässig, wenn der Patient

unzuverlässig reagiert. Das kann auf seine

Konstitution und sein Krankheitsbild bezogen

eine Unsicherheit bedeuten, die unsere

Gesellschaft allgemein und seine Angehörigen

im Besonderen an die Belastungsgrenze

bringen. Deswegen wird das Umfeld dazu

neigen, Druck auszuüben. Verantwortliche

stellen Sicherheit über das Bestreben, den

Kranken risikoreiche Wege gehen zu lassen,

mit dem Ziel, auf zukünftige Behandlungen

zu verzichten. Zu oft enttäuscht, bestätigen

weitere, unkontrollierbare Vorfälle die Begleitpersonen,

den Rahmen enger zu ziehen

und das entwürdigende Schicksal, jemanden

dauerhaft zu betreuen, als das Beste zu

wollen.

Psychisch krank zu sein wurde anerkanntes

Problem, schuf eine medizinische

Fachrichtung. Diese will sein,

wie die Kollegen in der richtigen

Medizin. Wir messen oder probieren

zu analysieren, was im Gehirn eines

Kranken passiert. Die Ergebnisse

werden mit denen anderer Kranken

verglichen. Eine Liste der Erkenntnisse

kann in Relation zum Verhalten

strukturiert werden. Nun möchte

eine grundsätzliche Einordnung

oberhalb und die jeweils differenzierte

Untergruppe zur Diagnostik formuliert

werden; beispielsweise der schizophrene

Formenkreis. Dann entwickelt man eine

Medikation und redet, entwickelt Aufgaben

und Verhaltensmaßnahmen. So werden Äpfel

mit Birnen verglichen: Nehmen wir an, wir

wüssten genau, was im Gehirn bei einer

Psychose falsch läuft beim Dopamin. Dann

entspricht diese Beobachtung der vom Wirken

des Fiebers bei einer Infektion. Während

wir dort unterscheiden können, ob Bakterien

ursächlich sind oder ein Virus, weiß kein

Psychiater die genaue Ursache einer Psychose

einzugrenzen, das auslösende aktuelle

Geschehen in Relation zum Erlebten, eine

nicht auszuschließende erblich bedingte

Komponente. Da sind individuelle Motive,

und diese können nicht ein greifbares Ding

sein, wie ein Gedächtnis zwar lokalisiert

wird, aber seine Inhalte nur ungefähr beschreibbar

sind. Eine individuelle Benutzungsweise

des Gehirns, unter Verwendung

unbekannter Inhalte am gemessenen Ort

sind eine dürftige Bestandsaufnahme. Ein

krankes Gehirn mag Fehlfunktionen aufweisen.

Deswegen kennen wir die Dinge, die

dort abgespeichert wurden, noch lange nicht

und können nicht voraussagen, zu welchen

Kombinationen der Patient neigen wird, wie

er reagiert, wenn weitere Ereignisse relativ

zu seinem Handeln geschehen.

Der gut behandelbare Traumakomplex

sollte nachdenklich machen. Eine Vergewaltigung

oder das Dabeisein am Flugzeugabsturz

zeigen, dass Befürchtungen die

Fantasie beflügeln. Diese visionäre Kraft

kann anschließend unbeherrschbare Wege

einschlagen. Menschen werden handlungsund

arbeitsunfähig,

wenn entsprechende

Erlebnisse verstören.

Die Gründe,

Angst nicht zu

erkennen, weil keine

Vergewaltigung

beschreibbar ist und

die Auswirkungen

auf das eigene System

nicht spüren zu

können, weil Furcht

sich maskiert, könnten

am Besten gelöst werden, wenn wir Mittel

nutzten, individuelle Muster zu erkennen

und selbst auflösen. Natürlich kann es eine

Hilfe sein zu reden. Nachts im Bett ist man

aber allein mit sich und der Furcht.

Menschen neigen dazu, sich auf das zu konzentrieren,

was sie tun. Das ist nicht selten

ein fixierter Tunnelblick, nur wie durch ein

kleines Guckloch informiert, eilig voran zu

machen. Obwohl unsere Informationen vom

Drumherum immer eine Selektion sind, die

so vieles gar nicht miteinbeziehen kann, weil

wir schlicht nicht wissen, was unsretwegen

passiert und was nicht, wählen wir je nach

der momentanen Einschätzung eine Version

der Realität, die augenblicklichen Erwartungen

entspricht. Das Wirklichkeitsbild kann

nur so gut sein wie unsere Kommunikation

und Reflexion der Umgebung, in Relation

zur Erwartungshaltung, was alles bedeutet.

Statt nun der Einbildung zu folgen, etwas

begriffen zu haben, wäre es möglich wahrzunehmen,

wer und wo wir sind und wie sich’s

anfühlt, innezuhalten, neu abzuwägen. Das

kann jeder Gesunde.

Anstelle sich mit dem Arzt, seiner Medizin

und der zugeschriebenen Diagnose zu beschäftigen,

würden Kenntnisse des eigenen

Empfindens nützen. Diese spürbar zu machen,

wäre die Aufgabe eines Trainers. Eine

Krankheit als solche anzunehmen macht die

Lage kaum gut. Ein Stigma ist nicht hilfreich.

Die eigene Intelligenz wieder nutzen zu

können, könnte wirkliche Besserung bringen,

individuelle Wertschätzung möglich machen.

Diesen Weg muss ein Betroffener selbst

finden, und das ist nach rund hundert Jahren

seit Freud traurig.

Niemand kann Gott verprügeln oder der

Welt selbst einen Tritt verpassen nach einer

unfassbaren Katastrophe. Das mag der Kern

eines Traumas sein, hilflos und überfordert

waren wir. Einem Vergewaltiger gegenüber

hätten wir uns wehren können; die Frage

nistet sich ein, warum taten wir’s nicht? Als

Kind waren wir dem Einfluss des Elternhauses

ausgesetzt und dieses war schlecht, hat

uns überfordert und verwirrt, das kommt vor.

Niemand kann in die Vergangenheit reisen

und sie korrigieren. Das mag ein Problem

sein? Menschen werden durchgängig nach

einer OP, das ist wie eine Psychose. „Delir“

ist ein modernes Wort dafür, „rallig“ sagt die

erfahrene Schwester der Anästhesie. Eine

Schwangerschaftsdepression nimmt schon

mal dieselben Züge an. Eine einmalige

Episode meistens, während der geübte Schizophrene

sein Leben lang Wiederholungstäter

werden kann, Täter gegen sich selbst und

gegen andere.

Gewalt ist zunächst einmal ein Teil dieser

Welt. Insofern ist sich zu wehren legitim. Die

Zivilisation verlangt uns einiges an Stil ab,

das zu tun. Verfügbare Mittel gegen Gewalt

und Überforderung sind, den eigenen

Angriff zu wagen oder voller Körperspannung

zu warten, bis es vorbei ist.

Schließlich kann uns gegeben sein

wegzulaufen, statt sich zu wehren.

Dreimal selbst Gewalt resp. Kraft

stehen dem Gesunden zur Verfügung,

wenn Angst das beherrschende Gefühl

ist: Spannung im Leib erzeugen,

Muskeln zur Flucht in Höchstleistung

versetzen oder selbst schlagen,

treten, kratzen, beißen.

Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 133 [Seite 132 bis 134 ]


# Der ganze Mensch

Funktional und von der Struktur ähneln sich

Menschen ziemlich. Sie unterscheiden sich

durch individuellen Erfahrungen. Das Wissen

prägt sich nicht nur in die „Rinde“ seines

Gehirns ein, der Mensch lernt insgesamt. Wer

ein Tennisspiel gewinnen kann, weiß seinen

Körper entsprechend zu verwenden, wie in

jedem Beruf spezielle Bewegungen nötig

sind. Modernes Homeoffice macht deutlich,

dass ergonomische Arbeitsplätze nicht

grundlos entwickelt wurden, um orthopädische

Beschwerden am Arbeitsplatz zu

vermeiden. Nett zu Hause arbeiten, ist nicht

jedermanns stressfreie Zone.

Die Idee eines Daseins nach dem Tod

übersteigt unsere Vorstellungskraft schon

deswegen, weil wir uns in der Summe nicht

außerhalb vom Körper, seinen Extremitäten

und ganzheitlicher Erfahrungen begreifen,

untrennbar ein Individuum sind. Wer möchte

als Rind wiedergeboren sein?

Noch dazu krank, heilig zwar,

aber mit Wahnvorstellungen aus

früheren Episoden des Lebens

durch Mumbai strolchen. Diesen

Vorteil gäbe es: Eine psychisch

kranke Kuh könnte andere nicht

mit einer Axt angreifen. Wie aber

fühlt sich’s an, das Jenseits im

Zustand der Demenz ewiglich zu

erleben? Darüber müssten Rentner

im Seniorenstift nachdenken,

denen der baldige Tod gewiss ist.

Das Beste inklusive Jungbrunnen

erwarten manche da oben im

Himmel.

Körper und Geist getrennt

darzustellen, ist eine Abstraktion.

Obwohl es vertraute Begriffe

sind, helfen sie gerade nicht,

Menschen und Verhalten zu

kennen. Wir spalten die Person.

Damit verzettelt sich mancher

mehr als gut ist. Der Titel einer

intelligenten Theorie lautet

im Original: „Body and Mature

Behaviour“ und nicht „Weg zum

reifen Selbst“, wie die deutsche

Übersetzung. Ärzte sind

spezialisiert und handeln isoliert.

Der studierte Weißkittel einer

geschlossenen Station glaubt

nicht selten an den kranken Geist

für sich genommen. Ohne Konzept lässt man

Desorientierte basteln und malen, weil das

in der Regeln gut tut und bietet Entspannungseinheiten

nach Jacobson oder als

billigen Abklatsch Feldenkrais für (geistig)

Arme an. Ärzte überhöhen sich, ohne Erfolge

belegen zu können. Wenn es dem Patienten

besser geht, bleibt der exakte Grund, warum

ihm das gelungen ist, dieser nicht wirklich

zu entschlüsselnde Multikomplex aus

Faktoren; wie schon bei der Suche nach der

Ursache einer Erkrankung das Übel vielfältig

gewesen ist. Keinesfalls wird der behandelnde

psychiatrische Arzt etwas in der Art

seiner Kollegen aus den anderen Fachbereichen

gemacht haben, das nachweislich wie

ein neues Hüftgelenk operativ Besserung

bringt, wenn etwa der orthopädische

Chirurg seinen Auftrag bekam. Wir sollten

die Spürbarkeit der menschlichen Struktur

nutzen, ihre Funktionalität zu bessern und

Verstörten die Ordnung im Körper lehren,

der Angst einen individuellen Rahmen zu

setzten. Das hieße therapeutisch auf die

Intelligenz der Kranken zu setzen und dürfte

gesellschaftlich schwierig zu etablieren sein.

Je nach Schwere der Verhaltensauffälligkeit

müssten auch neue Ansätze an bekannte,

unüberwindbare Grenzen stoßen. Immerhin,

es wurden Fortschritte gemacht; es könnte

aber besser sein in der Psychiatrie. Besonders

der Allgemeinheit nützte klügeres

Denken anstelle stereotyper Darstellungen

der Presse.

# Es gibt keine psychischen Krankheiten

Es gibt keinen kranken Kopf, der nicht seine

Beine zum Laufen nimmt oder die Arme

schwingt, mit denen er Aktivitäten startet.

Krank ist immer der ganze Mensch, wenn

wir vom „Geisteskranken“ reden. Spannung,

Fluchtkräfte, Angriff: Diese drei Funktionen

setzt ein psychisch Kranker unkontrolliert

frei, gegen andere, und ein selbstbeschädigender

Angriff auf die eigene Person ist

auch denkbar. Der Einsatz von Psychopharmaka

möchte

diese Energien

zu vermeiden

helfen. Das gewohnte

Prinzip

der Maßnahmen,

zusammen

mit einer auf

Mäßigung

hinwirkenden

Therapie, wird

die Probleme

oft genug verewigen.

Warum

genügt es der

Gesellschaft,

ihre kranken

Mitglieder auf

vielfältige Weise

auszusortieren?

Nach wie vor

diktiert die

Hilflosigkeit

gegenüber den

Problemen unser

Handeln.

Amok wird zur

alltäglichen

Bedrohung. Ein

ums andere Mal

entsetzt die zur

Schau gestellte

Fachlichkeit der

Verantwortlichen, die in Wirklichkeit nicht

wissen, was sie tun. Einen anderen kennen,

hieße sich selbst kennen, sagt man. Bei psychisch

Kranken eine Höchstanforderung für

diejenigen, denen solche quasi an die Hand

gegeben sind. Berufsbezogen übernehmen

nicht wenige die Aufgabe zu helfen. Das

ist in der Realität viel schwieriger, als man

sich’s normalerweise vorstellt.

Wir wollen gut sein, nicht strafen, stattdessen

helfen. Man möchte wegsperren, aber

Schuldunfähigkeit feststellen. Es klingt wie:

„Wir waschen unsere Hände in Unschuld“,

und „das ist kein Gefängnis.“ Würde die Psychiatrie

ihre Behandelten in überschaubarer

Zeit dauerhaft gesund machen, könnte sie

als anerkannte Fakultät einen Ehrenplatz in

der Gesellschaft haben. Sie sperrt in erster

Linie weg, doktert weiter herum wie man’s

kennt. Das verschriebene Medikament, die

Fußfessel am Bein der frei herumlaufenden

Sexualstraftäter sind weitere Einfälle, die

erdacht wurden, anstelle echter Integration

moderne Käfige um diese Menschen herum

zu basteln. Das macht die Betroffenen zornig

und listig, nun gerade Rache zu nehmen, wie

es immer wieder passiert. Gelehrt werden

müsste die dosierte Anwendung unserer

Kräfte, wie die Gesunden sich einen Platz

in der Gesellschaft ja auch erst erkämpfen.

Es ist bekanntlich noch kein Meister vom

Himmel gefallen.

Manche Tante nimmt an einer Friedenswerkstatt

Teil und verschrobene Langbartonkel

möchten Frieden schaffen ohne Waffen, aber

diese Leute erträgt die Gesellschaft als Spinner.

Wenn sie sich wenigstens gegen Corona

impfen ließen, meinen viele und nicht etwa

radikal für den gewaltfreien Frieden ihre

Steine schmeißen.

Und genau hier beginnt das Problem:

Niemand möchte Gewalt erleben. Kein

Psychiater will die Verantwortung übernehmen,

wenn ein Patient ausrastet. Wenn die

Gesellschaft nicht wahrhaben mag, dass

Aggression in ihrer brutalsten Form wie im

dosierten Gebrauch, sich effektiv im Leben

durchzusetzen, das Ergebnis von Angst und

Überlebenswillen ist, werden wir weiter

im Dunkeln tappen. Wir müssen größere

Gefängnisse und Psychiatrien bauen. Wir

verspotten weiter Querdenker aller Art,

können sie aber nicht verhindern, und vieles

wird bleiben, wie es ist.

:)

Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 134 [Seite 132 bis 134 ]


Volkstrauertag

Nov 18, 2021

Früher habe ich gern gelesen. Ich bin oft

im Kino gewesen. Das fing wohl mit „Homo

Faber“ an, von Max Frisch. Wir lasen es

gemeinsam in der Schule, mussten das Buch

analysieren und Referate halten. Thorsten

und ich bekamen die Aufgabe, den im Buch

thematisierten Ödipus-Komplex ausfindig

zu machen und darüber zu sprechen. Wir

wussten gar nicht, was das ist. Es gab kein

Internet damals, und es dauerte ein wenig,

bis wir unser Thema skizzieren konnten. Die

anderen in der Klasse erhielten paarweise

zugeteilt andere Aufgaben, den Roman

betreffend, und nach einiger Zeit ging es

schließlich los mit den Referaten. Anschließend

begann ich mich für Literatur zu

interessieren und las bis in die Mitte meines

Lebens hinein unzählige Romane und Sachbücher,

gab es dann auf.

Mir genügt mein eigenes Leben und sein

schon erkennbares Ende.

Es ist anders gewesen. Ich probierte zu

verstehen und war fasziniert von allen

Geschichten. Ich sah als Jugendlicher „Spiel

mir das Lied vom Tod“ mit Bronson im

Kino, einige Male sogar, bis die Handlung

verständlich wurde, die vielen Details. Eine

ganz wunderbare musikalische Inszenierung

ist Teil dieses großartigen Films. Es ergreift

und berührt den Zuschauer unweigerlich,

nimmt mit, wenn die Kamera über das

Bahnhofsgebäude nach oben schwebt und

das wunderbare Thema wie eine Welle

anhebt, uns in die staubige Westernstadt

geradezu hinein spült. Die düsteren Klagen

der Mundharmonika und das wiederkehrende,

einfache Motiv der klopfenden, wie

Hufe eines Pferdes im Takt angeschlagenen

Töne, kann ich noch heute jederzeit abrufen.

Natürlich schaute ich mir Robert de Niro als

„Noodles“ im bald folgenden Monumentaldrama

an, probierte, alles zu begreifen. Ich

sah viele Filme und gehe heute nie mehr ins

Kino; Ausnahme: „Star Wars“ (mussten wir

sehen, unbedingt).

Meine Bilder, die Malerei; ich glaube schon,

dass Erzählungen und selbst zu erzählen

mich fasziniert. Darum habe ich auch so

vieles gelesen? Mit Karl May ging das los.

Winnetou, der Anfang beim Büchsenmacher

Henry, die ersten Seiten hatte mir meine

Mutter noch vorgelesen. Dann meinte sie,

wie es weiterginge sollte ich

selbst herausfinden. Nach Max

Frisch ab den Achtziger Jahren

fand ich immer neue und anerkannte

Autoren und besonders

erinnere ich, wie es mit

John Irving losging. Ein kleiner

Buchladen irgendwo in Hamburg,

ich weiß gar nicht mehr, wo

das gewesen ist und warum ich

dort so viel Zeit vertrödelte. Es

war außer mir nur ein weiterer

Mensch, ein fast zierlicher und

muskelloser, dünner Mann in

schwarzer Kleidung, der Besitzer

womöglich, vor Ort, keine anderen

Kunden, und dieser beschäftigte

sich am Schreibtisch eines

Hinterraumes oder im Bereich der Ladenkasse.

Das Ambiente entsprach einer privaten

Altbauwohnung im Erdgeschoss. Der Laden,

schon von der Lage irgendwie versteckt,

winkelte sich drinnen weiter; weiße Wände,

hohe Räume und dicke, hölzerne Türfüllungen

an den Durchbrüchen, in mehrere,

mit Büchern geradezu gefüllte Räume. So,

als wäre man bei einem Bibliophilen zu

Hause. Ich fing an, in einem Roman zu lesen,

während ich vor einem der Regale stand. Ein

weißes Taschenbuch, nicht eben dünn, mit

kleiner Schrift. „Lasst die Bären

los!“, was konnte das bedeuten?

Der Autor war mir unbekannt. Das

Buch wurde auf der Rückseite

als „Erstling“ vorgestellt. Ich ließ

mich schon im Laden ein wenig

drauf ein, begann den Anfang

interessiert zu lesen. Das mit dem

Salzstreuer, den der neue Freund

vom Erzähler mitgehen lässt?

So steht das dort gleich vornan,

glaube ich.

Der Verkäufer schaute mich

prüfend an, während ich meinte,

es gefalle mir, darin zu lesen und

deswegen möchte ich das Buch.

Ich bezahlte also und war dann noch mit

der Hochbahn unterwegs. Ich las gleich

weiter, weil es so glaubwürdig daherkam,

wie alles beschrieben wurde. Später kam

ich ins Stocken mit dem dicken Ding. Es

wurde ein Roman, den ich nicht in wenigen

Tagen schaffen konnte. Es nervte, wenn es

dem Erzähler wieder einmal eingefallen

war abzuschweifen. Viele Male stellte ich

diesen ersten Irving weg, nahm „Lasst die

Bären los!“ aber bald immer wieder neu auf,

zur Hand, las weiter – weil ich doch magisch

eingefangen davon war.

Wie das wohl zu Ende gehen würde?

Dieser „John“, ein Namensvetter, wurde eine

Zeitlang zum Lieblingsautoren von mir.

Dabei habe ich gar nicht alles gelesen. „Zirkuskind“

fing ich mehrfach an und brachte

es nie zu Ende. „Die vierte Hand“ gab es

mal zu Weihnachten. Dieses Buch ist direkt

in unser kleines Eckregal im Wohnzimmer

eingezogen und steht dort ungelesen. Auch

schwierig: Den „Wassertrinker“ brach ich

einige Male ab. Für diesen vergleichsweise

schmalen Band benötigte ich, das blöde

Buch ganz zu lesen, vermutlich mehr als ein

ganzes Jahr (oder mehrere), weil ich immer

wieder von vorn anfing damit, wenn ich

entnervt aufgegeben hatte. „Piggy Sneed“,

da konnte man herausfinden, dass eine alte

Ausgabe 1984 den Namen mit „Schweini“

eingedeutscht hatte, während es später

(1995) original belassen war. Wir können

englisch. Schnelle Bücher von Irving? „Das

Hotel New Hampshire“ legt man nicht weg.

„Garp“ konnte ich sofort durchlesen. Das mit

Homer und Larch genauso: Mache dich nützlich.

„Owen Meany“ las ich an zwei Tagen

komplett oder sogar an nur einem Tag? Es

ist dick dafür.

Das Konsequente an diesem Buch ist der für

Owen feststehende Schluss.

Demgegenüber stehen die Zweifel des

Erzählers, nicht nur an seinem Glauben, auch

insgesamt staunt der uns diese Geschichte

präsentierende die ganze Zeit. Er grübelt

und hinterfragt das eigene Leben und gibt

seine Unsicherheiten preis.

853 Seiten, die letzte davon unbeziffert.

Vor kurzem telefonierte ich mit einem

Freund. Ein gelegentlicher Mitsegler auf

meinem Boot und langjähriger Begleiter

– seit der Jugend sind wir befreundet,

seine Eltern hatten wie meine ein Geschäft

in Wedel – hat sich ein Motorrad gekauft.

Den Führerschein machte Henning erst

kürzlich, und mein Freund dürfte etwa so

alt sein, wie ich selbst. Ganz schön spät, sich

noch aufs Rad

zu trauen und

nicht unbedingt

klug, finde ich.

Er läuft schon

mal untrainiert

einen Marathon

mit, um dann

anschließend

Blessuren zu

beklagen, die das

am Körper anrichtet.

Ich habe

ihm (am Telefon)

einige kurze Passagen

aus „Lasst

die Bären los!“

zum Besten gegeben, aus der Erinnerung.

Das konnte ich, obschon ich diesen Roman

mit zwanzig Jahren las und dann nie wieder

anfasste. Motorrad zu fahren ist für mich

ausschließlich Theorie. Nur ein einziges Mal,

als Schulfreund Jens sein „Kleinkraftrad“

ganz neu hatte, nahm dieser mich hinten

drauf mit.

Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 135 [Seite 135 bis 137 ]


Ich kam nie auf die Idee, selbst eins besitzen

zu wollen, den entsprechenden Führerschein

zu machen. Prägend war auch, einmal einen

Unfall als Augenzeuge miterlebt zu haben.

Ein Paar auf starker Maschine donnert

vorbei, ein junger Mann mit Freundin, zum

Überfluss noch in Jeans unterwegs; das soll

man ja nicht. Dieser erschreckend nicht

blinde Fleck

in meiner

Erinnerung:

Es ist schon

vierzig Jahre

her. Sie fliegen

durch die Luft,

das Motorrad

hat sich in ein

Auto verbissen,

dann liegen

die beiden auf

dem Asphalt.

Alles vermischt

sich. In

meinem Kopf,

das ist alles

nur in meinem

Kopf, und bei

den anderen

ist anderes

drin. Auch diese Geschichten. Irgendwie

geistert der Irving noch rum im Hirn. Mal

scharf, dann wieder verschwommen, aber

final endgelagert bleibt die Erinnerung an

lange Passagen aus der Familiengeschichte

vom Freund, der Salzstreuer klaut und Tiere

befreien will. Und dann Owen Meany; das

Leben auf’s unweigerliche Ende hin zu leben

und keine Zweifel zu kennen, wie fühlt sich

das an?

Als ich noch mit Alexandra befreundet war,

schrieb ich Rundmails an „Kunstfreunde“,

wenn es galt, zu einer Ausstellung einzuladen.

Manchem schickte ich gelegentlich

ausufernde Gedanken. Das passiert mir heute

kaum noch, eine lange Mail zu versenden.

Andere Menschen sind mir komplett egal,

wie meine eigene Existenz, die ohnehin bedeutungslos

ist. Ich vertreibe mir die Zeit, bis

ich endlich gehen kann. Alex’ Freunde haben

mich andere Wege gelehrt zu erzählen. Das

hier drängt sich nicht auf, muss niemand

lesen, wird nie kommentiert, von anderen

reflektiert. Niemand dürfte dabeisein. Mein

eigener Kosmos, mit einer Tür in den Äther

der anderen. Dagegen Ungeimpfte: Vorsicht,

kreative Aerosole!

# Vor kurzem war Volkstrauertag

Ich habe von oben aus dem Atelier zugesehen

wie etwa Gerd, Kalle, Christiane und

Rinja ins „Lindos“ gingen. Da bin ich froh,

nicht mehr dazuzugehören. Mit dem Staat,

gleich welcher Art, kann ich „der Künstler“

wie sie’s mir spottend nachrufen, nicht

befreundet sein. Das lernte ich. Erinnerung

beflügelt: Opa bekam Schwierigkeiten, weil

er nicht in „die Partei“ eintrat. Es gab ja nur

eine, und bald gehörte es dazu. Jeder wurde

automatisch damit konfrontiert: „Du büst

nich’ inpedd, Heinz?“ So kam man beruflich

nicht voran. Der andere Großvater saß im

Lager ein, weil er ein loses Mundwerk hatte

und das einigen nicht gefiel. Für mich nicht

mehr als Anekdoten der Kindheit. Konsequenzen:

Ich ignoriere jede Kunst anderer,

gehe in keine Ausstellungen, lese kein Buch,

schaue keinen Film. Es tut weh, dran zu

denken, dass ich mich für manches begeistern

konnte. Ich darf nicht daran denken. Es

macht zornig auf die Politik, die Polizei, die

Ärzte und die von ihnen Instrumentalisierten

– samt und sonders Arschlöcher. Das ist

meine Meinung, und sie ist als solche noch

erlaubt.

# Der Rechtsstaat, daran glaube ich (und

seine Grenzen)

Jetzt kommt

Totensonntag.

Bald ist Weihnachten.

Nicht

nur dann

denke ich zurück,

wie’s war

mit meiner

Kunstfreundin,

die immer

nur Liebes

sagte, bis sie

ermahnt, angewiesen

und

kontrolliert

abgezogen

wurde, vom

mutmaßlich

gefährlichen

Mann? Ich

bin kein Heiliger, es gibt keinen Johnstag.

Der Rumms, ein Schlusspunkt im Leben,

das Ende einer Geschichte; was bedeutet

das? Ein Meteor sei, zunächst unbemerkt,

in die Arktis, in das eisige Wasser gestürzt

und hätte die Kraft einiger Atombomben

entwickelt, damals genau an diesem

finsteren Dezembertag. So steht es im Netz.

Da ist wohl Energie übergesprungen: „Den

hätte ich auch verkloppt“, meint eine alte

Schenefelderin dazu, zu mir, und das tut gut.

Diese Grenze habe ich gezogen

und Gnade erfahren. Das Ende

sollte uns bewusst sein. Beamte

und Politiker sind ersetzbar,

reine Automaten. Nicht selten

missbrauchen sie ihre Macht.

Die Zeit zum Feiern und Buße

tun. Vor kurzem hatten wir den

Martinstag. Ein Freund heißt

wie der. Er ist geduldig und

freundlich zu meinen Texten,

schreibt selbst. Er durfte diese

Mail unten lesen, das passt ganz

gut zum erwähnten Irving.

# Martin Luther, der vorne ja

heißt wie du, wollte selbst gar

keine neue Kirche. Wir hören:

„Du magst keine anderen Götter

haben neben mir“, und insofern

bedeutet jede weitere Religion,

dass sich Gott mit neuer Auslegung verändert.

Die Kritik daran ist, ob sich der Mensch

einen ihm gemäßen Gott selbst schaffen

kann oder der eine sich entwickle, wir die

Dinge anders verstehen, weil wir eine längere

menschliche Geschichte kennen?

Warum gibt es keine Bibel zwei, der Klassiker

hat keine Fortsetzung, warum?

Der Briefträger und Hausmeister (das könnte

er sein, weiß ich ja nicht) vom Rathaus

glaubt, er habe Krebs bekommen, als Strafe,

weil er zwei weitere Beziehungen zu anderen

Frauen aus Chorfreundschaften einging,

während er doch verheiratet gewesen ist,

behauptet er wenigstens mir gegenüber.

Vielleicht ist er gar nicht in einer Kirche, das

wäre möglich – und verfolgt anderes, mich

zu bequatschen; aber als nächstes schimpft

der Mann regelmäßig auf den Islam. Das

finde ich nun wieder nicht nachvollziehbar,

weil ich so glaube, dass da ein Rahmen für

uns alle ist, inklusive Pflanzen, dem Getier

und natürlich sämtlichen Menschen, auch

denen aus anderen Religionen, weil es eben

so ist, wir nicht weg können, an Grenzen

stoßen – und nicht weil wir beschließen wie

sich’s gehöre.

Wenn ich das bekannte Foto von Mohammed

Atta anschaue, der ein Flugzeug in

das WTC lenkte, weiß ich, dass ich diesen

Blick nicht reproduzieren kann, obschon ich

genauso Mensch bin. Und würde ein Film

gedreht, fände sich schwerlich ein Schauspieler,

der mal so eben auf diese Weise

schauen könnte. Dem Mann war bewusst,

wohin seine Reise gehen würde, das drückt

dieser Blick aus, finde ich; wie etwa Sophie

Scholl mehr als nur ahnt, dass sie in aller

Kürze hingerichtet wird, unschwer zu spüren,

auf dem bedrückenden Dreifachbildnis, das

man leicht googeln kann. Für den Henker

galt Sophie als tapfer, und der Mann mit

dem Fallbeil machte seine Arbeit für das

aktuelle Regime. Für Atta war das WTC

und damit Amerika, unzählige Zivilisten

anzugreifen eine Pflicht, nichts anderes ist

es für Sophie gewesen, diese Flugblätter zu

verteilen, welche die Gesellschaft aufrütteln

sollten, Adolf Hitler zu stürzen. Wenn

auch heute niemand bereit sein wird, diese

beiden als auf dieselbe Weise motiviert zu

sehen, so lässt sich kaum bestreiten, dass

sie eine starke Motivation für ihr Handeln

fanden und konsequent zu Ende, buchstäblich,

ihren Weg gegangen sind. Als Maler und

auf den Blick, Gesichtsausdruck anderer Spezialisierter,

denke

ich viel weniger

darüber nach, Atta

zu verachten und

Sophie auf den Sockel

der Geschichte

zu stellen, damit

selbst ein wenig

besser wirken zu

wollen als die

Bösen, sondern

weine mit denen,

die bereit waren,

selbst zu sterben

für ihre Überzeugung.

Ganz egal,

wie das allgemein

bewertet wird. Das

bringt mir Unverständnis

ein; und

doch sind wir alle

nur Menschen.

Dazu bin ich ganz fest davon überzeugt,

dass negative und als „nieder“ besetzte

Gefühle zu haben, wie Neid und schlimmere,

zum Menschsein dazugehören. Gott

kann mitnichten den Hass verbieten. Das

musste er bereits mit der Sintflut und bei

der Geschichte mit Sodom und Gomorrha

einsehen, dass seine Schöpfung genügend

Eigenleben entwickelt, welches er nicht dauerhaft

bestrafen kann. Er gibt uns – selbst

einsichtig, dauerhaft eine Beziehung mit

dem sich ändernden Menschen zu haben –

vielmehr die Möglichkeit, daran zu wachsen

und schenkt Gnade.

Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 136 [Seite 135 bis 137 ]


Nicht selten ist es der einfache Mensch, dein

Nachbar und Nächster, der dich dafür abstraft,

wenn du auffällig bist, zornig, neidisch

oder sonst wie negative Gefühle zeigst, und

der schließlich doch selbst an eine Grenze

stößt, die ihn überrascht.

Weil dein anonymer Widersacher annimmt,

ein besserer Mensch als du selbst zu sein,

heißt das ja noch nicht, dass es ihm

leicht gelingt, dir eine Strafe aufzubrummen.

:)

Der Martinstag, auch Sankt-Martins-

Tag oder Martini genannt, ist ein

christlicher Feiertag am 11. November.

Sowohl die katholische als auch

die evangelische Kirche feiern diesen

Tag.

Von meinem iPad gesendet

Re: Heute ist dein Tag

Am 11.11.2021 um 15:25 schrieb

Martin (E-Mail).

So was niederes wie Neid hätte ich

Dir nie zugetraut ...

Habe ich das vor einem Jahr schon so

geantwortet?

Vergesse das immer, bin ja Spalter und kein

Kathole!

Füati,

Martin

Nov 18, 2021 - Volkstrauertag 137 [Seite 135 bis 137 ]


Der Mensch ist

Arschloch

Nov 22, 2021

Wer jung ist, glaubt

noch. Nicht religiös

gemeint, allgemein.

Glaube reift mit dem

Alter, wir müssen den

Kinderglaube aufgeben,

dass Gott grundsätzlich

alles Böse gut macht und realistisch

sein. Nur Naive beharren auf den Idealen

der Jugend, beschreien diese, damit sie ihre

Einbildung behalten können. Enttäuschung

hat den Vorteil neuer Erkenntnis. Wir lernen,

alles ist andersrum, wenn wir die glänzende

Medaille wenden: Kein Staat der Welt nimmt

Geld von den Bürgern in bester Absicht, für

das Gemeinwesen zu investieren. Überspitzt

dargestellt, ist es wie beim Telefonbetrug:

„Sie haben gewonnen! Bitte zahlen Sie.“ An

erster Stelle steht die effektive Finanzbeschaffung

für das eigene Ressort. Man kann

es so sehen: Jede Regierung prüft, was man

besteuern kann. Wozu sind die Leute bereit,

wie viel zu geben, wenn ihnen suggeriert

wird, es täte Not? Das ist der vernünftige

Ansatz eines Entscheidungsträgers (mit

anschließender Verantwortung beim Bürger).

Der Mensch löst Probleme nach dem Prinzip:

„Erkenne die Möglichkeiten!“ Gehen wir

wohin mit einer Forderung oder Frage,

entsprechen Antworten und Lösungen der

Weisheit: „Wer viel fragt, bekommt viel Antwort.“

Suchende werden nie vollumpfänglich

befriedigt von anderen.

Wir müssen einsehen, kein Arzt „hilft“ seinem

Patienten, er überlegt, was er anbieten kann.

Kein Polizist ist dein Freund und Helfer:

Die Gerichtsbarkeit geht nicht gegen das

Verbrechen vor, sie prüft, was strafbar ist. Da

ist kein Politiker, der nicht die ihm zugeteilte

Macht probiert auszuweiten, für gerade

seine Interessen. Das ist mitnichten unser

Volksvertreter, sondern der an einen Platz

strebende Karrierist. Er möchte seinen Einfluss,

die Bezahlung und seine Anerkennung

weiter steigern. Er vertritt nicht allgemein

das Volk, sondern speziell seine Interessen,

die in manchem übereinstimmen können

mit denen eines Teils der Gesellschaft. Gut

möglich, dass diese annehmen, begriffen zu

haben, was allen gut tut. Andere sehen das

anders.

Das Gute an unserer Welt ist nicht, dass es

bessere Menschen gibt und man meint zu

ihnen zu gehören. Lebenswert ist unsere

Umgebung durch den Rahmen, der uns

Halt gibt, und dieser ist für den Menschen

heute die Zivilisation. In ihrem Wohnzimmer

kennen wir uns besser aus als in der Natur.

Die Demokratie ist von unseren Eltern und

Großeltern in Deutschland mit Hilfe der

Alliierten geschaffen worden. Im Geflecht

der Regeln kann der Einzelne einen Platz

erobern, der seinem individuellen Vorlieben

gemäß eine Spielwiese ist. Dort wird

ein Mensch die Grenzen finden, die andere

gegen sein Handeln

installierten.

Und das ist auch gut

so.

Besonders in der

öffentlichen Politik

erkennen wir, wenn

ein Sprechender unter

Druck den bemühten

Eindruck zur Schau

stellt, sein Handeln

sei alternativlos großartig.

Gestern Abend

in „Berlin Direkt“; ich

sehe ein Interview mit

dem Gesundheitsminister

Jens Spahn. Die

Fragen stellt Shakuntala

Banerjee. Im „Update

am Morgen“ kann man das Video heute

abrufen. Dort sagt der Minister: „Wer nicht

geimpft ist, wird sich in diesem Winter ohne

Schutz infizieren.“ Ich habe diese Zahlen verwendet,

um das nachzurechnen: 70 Prozent

der Deutschen sind vollständig geimpft. In

Deutschland leben 83 Millionen Einwohner.

Das bedeutet, 25 Millionen davon sind nicht

gegen das Corona-Virus geimpft. Abzüglich

der bereits erkrankten bleiben demzufolge

knapp zwanzig Millionen Menschen nach,

die „ohne Schutz“ sind, wie Spahn meint. Ein

Winter dauert drei Monate. Das sind 90 Tage.

Da müssten sich also im Schnitt pro Tag gut

200.000 Menschen (drei Monate lang) mit

dem Virus neu infizieren. Dann wären wir

Ende Februar mit dem Winter und dem Virus

gleichzeitig fertig, toll.

# Im Moment wird der Egoismus

der Ungeimpften beklagt

Pro Tag kommen z. Zt. 285

Patienten neu auf eine Intensivstation

(Statista), und etwa

3.500 Fälle, die intensivmedizinisch

behandelt werden, haben

wir in Deutschland aktuell.

Wir dürfen annehmen, dass

einige davon ohnehin intensivpflichtig

geworden wären, weil

sie alt sind oder bereits andere

Krankheiten haben. Wir haben

erst ein Viertel der Inzidenz

erreicht, die es für die vom

Minister an die Wand gemalte

Katastrophe bräuchte. Es geht

steil hoch? Mit diesen Horrorzahlen

müssten wir dann

drei Monate konstant oben

bleiben, damit alle „ohne Schutz“ vom Virus

weggeballert würden und die Gutmenschen,

die sich impften, nicht länger gefährdeten.

Die Regierung möchte ich sehen, die keinen

Lockdown verhängt in dem Fall.

Bis zu 65.000 Neuinfektionen, Stand 18.

November sind derzeit täglich zu erwarten,

am heutigen Montag liegt diese Zahl näher

bei 30.000, weil es am Anfang der Woche

aus verschiedenen Gründen immer niedrigere

Werte gibt, die das RKI vorlegt. Das

heißt, wenn ich an so einem vergleichsweise

günstigen Montag losmarschiere und knapp

dreitausend Menschen treffe, wird möglicherweise

einer von denen, die sich gerade

infizierten, unter ihnen sein. Als aktiver,

umtriebiger Stadtbewohner, beruflich viel

mit Menschen beschäftigt und dem Hang

zu abendlicher Kieztour ist es zu schaffen.

Kommen noch ungünstige Nähe mit dem

Zufall, so einem zu begegnen dazu, wir

umarmen uns, tragen keine Maske in einem

kleinen Raum oder der Typ rotzt mir in das

Gesicht, werde auch ich infiziert sein. Am

schlechten und gefährlichen Wochentag genügt

es, gut eintausend Menschen zu treffen,

um recht sicher einen der positiv getesteten

dabei zu haben.

Um mich selbst anzustecken, reicht es nicht

aus, so jemanden in der Ferne zu sehen. Aber

die Zahl, dass über tausend Menschen vielleicht

einen Überträger mit Covid unter sich

haben, sollte helfen einzuschätzen, wie oft

man jemanden trifft, der ansteckt. (Einer von

hundert ist schizophren). Selbst schließlich

mit dem Virus angesteckt zu sein, bedeutet

nur bedingt krank zu werden. Gut möglich,

dass ich, wenn ich infiziert bin, symptomfrei

bleibe oder mit einem Schnupfen davon

komme. Weniger als dreihundert Menschen

von über 80 Millionen Einwohnern in unserem

Land müssen täglich neu dazukommend

auf einer Intensivstation behandelt werden.

Mein persönliches Risiko an der Covid-Grippe

schwer krank zu werden, ist minimal.

Das scheint in der Gesellschaft eine weit

verbreitete Annahme zu sein. Anders ist

die Sorglosigkeit von Menschenmassen,

die wir auf Straßenfesten oder auf dem

Kiez täglich zu sehen bekommen, nicht zu

erklären. Das macht auch deutlich, warum es

zu Demonstrationen gegen eine Impfpflicht

kommt. Obwohl es heißt, eine Mehrheit der

Bevölkerung begrüße diese, zeigt sich, dass

Nov 22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch 138 [Seite 138 bis 139 ]


es in erster Linie die Geimpften sind, die

annehmen, auf diese Weise schnell mit der

Pandemie fertig zu werden. Das stelle man

sich so einfach nicht vor; da wird immer

ein harter Kern Ungeimpfter

nachbleiben, der sich lieber

auf eine Geldstrafe einlässt

als mitzumachen.

# Theoretisch eine feine

Sache, alle lassen sich impfen,

und fertig sind wir

Die Inzidenz für Indien ist

etwa fünf. Es heißt, dort wäre

gut ein Viertel der Menschen

vollständig geimpft. (Coronain-Zahlen).

Wir erinnern uns,

die sogenannte „Delta-

Variante“ des Virus startete in

diesem Land ihre verheerende

Aktivität. Heute ist die

Welle zu uns gekommen. In

Indien scheint es besser: Die

sind gerade im Tal? Man sollte

vorsichtig sein mit diesen Begriffen. Die

Inder schauen weniger genau hin, glaube

ich. Andere Länder, andere Sichtweisen?

Bei denen geht es von allein weg.

Egoismus, warum? Ich empfinde keinerlei

Solidarität mit anderen und denke nur an

mein eigenes Wohl. Einer lernt es vom anderen:

Mir gefällt zu blockieren, durch erlaubtes

Nichttun, was die Impfung betrifft. Ich

kann pauschal Politiker nicht leiden, möchte

hier leichthin Schaden anrichten, spotten,

nicht mitmachen. Ich fühle mich persönlich

vorgeführt und verarscht von einer

Leistungsträgerin der sozialen Partei, sehe

die Gelegenheit zur smarten Abrechnung.

Ich gestalte die Demokratie nicht mehr mit.

Der selbsterklärte Wohnzimmeranarchist

John bleibt fein zu Hause, stört den Frieden

durch Nichtstun. Die Wohlstandsgesellschaft

ist mir suspekt, mit der Mehrheitsmeinung

und der breiten Masse kann ich mich nicht

identifizieren. Ich finde es ganz einfach,

anderen aus dem Weg zu gehen und eine

Maske im Edeka zu tragen. Ich habe keinen

Drang, unter Leute zu gehen und etwa zu

feiern. Ich mag Menschen nicht und kann

mich gut allein beschäftigen. Ich kann mir

vorstellen, die Verwaltungsstrafe der möglicherweise

kommenden Impfpflicht zu zahlen

(aus Trotz). Beim unvorstellbaren Impfzwang,

kann ich mich in die Vision verlieben, dem

Arzt die Spritze aus der

Hand zu reißen und mit

aller Macht in sein Gesicht

zu rammen. Bis er tot ist.

(Ich trete noch nach).

Das kann ich.

Zusammengefasst: Es ist

wenig wahrscheinlich, dass

sich in diesem Winter alle

Ungeimpften infizieren. Der

noch amtierende Gesundheitsminister

Jens Spahn rechnet bewusst

falsch vor. Natürlich würde eine hundertprozentige

Impfquote die Pandemie kurzfristig

beenden. Deswegen haben vor allem alte,

dicke und vorerkrankte Menschen (wie auch

die Verantwortlichen des Gesundheitssystems)

ein Interesse daran. Weiter möchten

viele, die sich bereits impfen ließen, andere

motivieren, es ihnen gleich zu tun. Das ist

logisch, aber nicht, weil deren Geimpftsein

so großartig ist. Diese Menschen wollen

damit angeben, dass sie’s begriffen haben,

weiter nix. Sie irren sich an nur einem Punkt

(natürlich beendete vollständig Impfung

unser Problem) – Menschen gehen nie

geschlossen in eine Richtung. Das sehen

immer mehr ein: Deswegen werden Überlegungen

zur Impfpflicht konkret.

Das Ganze ist ein Lehrmodell für welche,

die den Unterschied „Einzelempfinden

versus Gemeinwohl“ studieren möchten.

Wir können der Frage nachgehen, was sich

besser anfühlt: wie alle anderen dabei sein

oder individuell nachspüren,

wie viel Trotz nötig ist,

um das Gefühl der Freiheit

auszuleben. Mir ist dies

viel weniger Religion oder

gar querdenken und echte

Überzeugung, als ein Sport

und ein wenig Russisches

Roulette. Ich hacke auch

nicht auf der Politik rum,

ich veralbere die da oben

und andere unten gleichermaßen

(genau genommen

aus Frust). Hier ist mitnichten

die Politik schuld an

was. Das handelt sich um

dynamische Entwicklungen

mit teilweise kollektiven Handlungen vieler

und dem Widerstand anderer. Je nach Nation

und auch ihrer Lage im weltweiten Reiseverhalten,

sowie Gebräuchen von Staatsfolgsamkeit,

individuellem Schicksal läuft der

Prozess ab. Länder, die bereits katastrophale

Erfahrungen mit kollabierender

Intensivmedizin machten handeln

anders.

# In Schenefeld ist „Covid“ keine

gesundheitliche Katastrophe

Es gibt Schlimmeres. Wirtschaftliche

Interessen und das „jetzt

komme ich“ oder „bin geimpft

und kann’s mir erlauben“ stehen

klar im Vordergrund. Ein gutes

Beispiel aus dem Alltag ist der

winzige, abgeschlossene Automatenraum

der Haspa. Während es in der Woche ganz

gut läuft, weil der Bereich als Teil des

Verkaufsraumes betrachtet wird und zwei

Möglichkeiten bestehen, diesen Ort zu betreten,

beziehungsweise wieder zu verlassen,

seitdem man Anweisungen entfernte, wie

viele Menschen hier zulässig sind, erlebt

man am Wochenende Wildwest.

Anfangs sollten wir lernen, nicht in der

Eingangsschleuse zu warten? Wir übten

Schlange stehen auf der anderen Seite. Dort

sind Pfosten und eine Girlande trennend

zum Weg aufgestellt. Erfahrene Dörfler

ermahnten Fremde und diejenigen, die so

getan haben als wüssten sie’s nicht, richtig

abzuwarten. Ein Typ mit Warnweste kanalisierte

in Stoßzeiten die Massen. Nun können

wir allein Schlange stehen, nach zwei Jahren

des Lernens, meint die Filiale? Jetzt wurden

alle Schilder „Nur eine Person in diesem

Bereich!“ entfernt. Man verzichtet auf den

Ordner, der ein Jahr lang den Schenefeldern

sagte, wo sie zu warten hätten, und dass nur

einer hinein dürfe.

# Arschlöcher überall

Am Wochenende ist die Filiale geschlossen.

Natürlich können wir trotzdem Geld

abheben. Dann ist dieser Raum mit einigen

Kontoauszugsdruckern und zwei Geldautomaten

auf fünfzehn Quadratmeter

begrenzt. Die Filiale ist geschlossen, aber

die Selbstversorgung steht: Ein kleiner

Innenraum mit Maskenpflicht wie im gesamten

Einkaufszentrum. Inzwischen, nachdem

alle Hinweise, wie sich hier zu verhalten sei,

abgenommen wurden, ist sich jeder selbst

der Nächste?

Wir haben die höchsten Infektionszahlen der

gesamten Zeit.

Aber: Es ist nicht

möglich, in dieser

Kammer allein

seine Auszüge

zu ziehen, Geld

abzuheben?

Das wird vom

jeweils nächsten

Interessenten an

dergleichen Vorgängen

beinahe

grundsätzlich

ignoriert. Das ganz

normale Arschloch

ist überall und

kann nicht warten.

Wo kein Schild ist, darf der Deutsche alles.

Bis zu vier Personen drängen nicht selten

hinein wie früher.

Und daran ist die Regierung schuld?

Die Ungeimpften?

Der Mensch.

:(

Nov 22, 2021 - Der Mensch ist Arschloch 139 [Seite 138 bis 139 ]


Musterklage

Dez 2, 2021

Vielleicht haben wir

Glück und wachsen

behütet auf? Bald

müssen wir uns der

Realität stellen: Die

Welt ist chaotisch

und feindselig. Je

nachdem, wo wir

groß werden, zu wem

wir uns entwickeln

und geworden sind,

entstehen Probleme,

die wir durch Ordnung

lösen möchten. Sich

angemessen zu organisieren,

ist wichtig. Ein Tischler findet seine

Existenz auf andere Weise als die Polizistin.

Der Handwerker muss gerade sein Fach verstehen

und benötigt entsprechende Kunden.

Im Management einer Firma gelten andere

Regeln als in der Kunst; selbst bei grundsätzlicher

Übereinstimmung aller Strukturen,

bedeutet Ordnung etwas Individuelles. Die

Übersicht behalten, Dinge zu kontrollieren,

von denen wir mehr oder weniger verstehen,

ist überlebenswichtig. Man muss nicht alles

begreifen, um komfortabel leben zu können.

Gut zu wissen, wo genau der Lichtschalter

ist, wenn Helligkeit helfen würde: Wie Strom

physikalisch zustande kommt, ist dabei

nicht von Bedeutung. Jedes Bedürfnis zu

befriedigen oder eine Pflicht tun müssen,

heißt kleine oder größere Schwierigkeiten

zu überwinden. Das erleben wir, wenn eine

Krankheit oder anderes die gewohnten

Tätigkeiten beeinträchtigt. Ohne Widerstand,

wenn ein Lebewesen sich für eine Aktivität

motiviert, ist nichts vorstellbar. Uns selbst

lernen erst wir nach und nach besser kennen.

Was ist der Mensch, wer sind wir selbst?

Ein Senior beschreibt anderen, wie es

ihm nach einer Operation geht. Der Mann

berichtet, dass er schon wieder Treppen

steigen kann. Da sind Verwandte und einige

Kinder mit ihm spazieren. Ich höre nebenbei:

„Kannst du krabbeln, Opa?“ Das

fragt ein Kind mehrmals, bis

der Alte schließlich antwortet,

eigentlich mit den Erwachsenen

redet, die Lage erörtert. Ist es

ihm peinlich oder unsinnig? Was

der Mann leise zum hartnäckigen

Jungen sagt, bekomme ich nicht

mit. Da bin ich bereits vorbei in

meinem Tempo. In Richtung Einkaufszentrum

unterwegs, habe

ich zu Fuß eine Familie überholt,

die an der Seite rechts (beim

Geländer) dazugestoßen ist.

Kriechen geht immer, denke ich;

mein Knie mit dem degenerierten

Meniskus schmerzt. „Wir

können punktieren“, hatte K.

angeboten – als er begriff, ich

würde mich nicht operieren lassen – „wenn

es dick wird.“ Es gibt gute und schlechte

Tage. Oft bemerke ich’s nicht. „Ein rothaariges

Mädchen, Bassiner. Sie reißen unbedacht

den Kopf rum, was weiß ich, um ihr nachzusehen.

Dann haben Sie’s wieder.“ Zeit ist vergangen.

Keine noch bedeutsame Rothaarige

kam vorbei, die mit – (der, von der irgendwie

alle wissen) konkurrieren könnte. Es tut weh,

geht wieder weg: Ein Auf und Ab. Mal habe

ich beim Doktor angerufen; Weiterleitung

in fremde Praxis, ein diffuses Tonband.

Ich probierte es gegenüber, wo das MRT

gemacht wurde. Die

Sprechstundenhilfe

musste überlegen: „K.

gibt’s nicht mehr.“ Tot?

Ich bekam es nicht

heraus. Das klang so

endgültig. Wahrscheinlich

Rentner, nun

doch. Mein Orthopäde

hat mit Montgomery

studiert, und der ist ja

auch alt.

In Wedel früher waren

wir (alle von unserer

Familie, wenn nötig)

bei D. gewesen, der

M. nachfolgte. Diese Praxis in der Nachbarschaft

hatte einen guten Ruf. Sie ist erst

vor kurzem geschlossen worden, weil der

aktuelle Orthopäde (nach dem ebenfalls

verrenteten D.) ins Ärztehaus am Bahnhof

abgewandert ist. Ich kann mich an die

Anfänge erinnern, bekam Einlagen und

musste zur Gymnastik. Das sollte meine

kindlichen Plattfüße korrigieren. Der alte M.

hörte bereits auf, als ich noch Jugendlicher

war. Ein Respekt heischender Doktor und

doch freundlich: „Da bist du wohl gerast? Du

bist sicher zu schnell gerast? Da kann das

Knie schon mal weh tun!“ Der hagere, große

Mann beugt sich zu mir runter, und ich sehe

es noch vor mir, höre diese schnarrende

Stimme – obwohl es beinahe fünfzig Jahre

her ist.

M. gab meinen Eltern Spritzen ins Knie oder

Schulter, wenn sie vor Schmerzen nicht

arbeiten konnten. Damit wurde es sofort

besser. Das war ein Problem zu Weihnachten,

Sylvester, wenn unentwegt geschlachtet

wurde. Lachs in feine Scheiben säbeln,

Karpfen schlachten, Forellen oder Schleie

aus dem Bassin fischen und totschlagen,

aufschlitzen und fachgerecht zerteilen; meine

Eltern mussten immer im Kalten stehen

und mit der Hand eine Schere führen, Fische

fertig zu machen im Verkauf. Sie standen

den ganzen

Tag, eilten

durch das

Geschäft ohne

Pause. Das

tat weh im

Arm, Knie, den

Füßen, und in

einer Schulter

knirschte es

vielleicht, als

wäre Sand

darin und

brannte bei jeder

Bewegung.

Diese Spritze

beim Orthopäden

tat

Wunder. Der

gute Doktor

war nur hundert Meter entfernt, immer bereit

zu helfen. Aber nach einiger Zeit gab es

auch damit Probleme. Später durfte M. diese

Supermedizin nicht mehr verwenden: Die

Spritzen, die so gut gewesen waren, hätten

nicht erlaubte Inhaltsstoffe, hieß es.

Abhängig vom Zentrum einer Art Rampe,

umgeben von individuellen Faktoren, dem

Platz, wo wir ins Leben starten, werden

wir mit Liebe versorgt, mit Anforderungen

konfrontiert. Das fängt schon damit an, wie

schnell Mama kommt, wenn’s kratzt oder

der Hunger nagt, und ob da Geschwister

sind, kann eine Rolle spielen. Der Kindheit

wird eine gewisse Spanne eingeräumt, dann

erwarten alle, dass wir uns selbst kümmern.

Wir sollten mit unserem Apparat Mensch

soweit klar kommen, diesen nun allein durch

die Umgebung navigieren. Und wenn wir

Schaden erleiden gibt es den Arzt. Gegen

das Böse hilft die Polizei. Damit alles toll

bleibt, wählen wir eine gute Politik usw. –

fleißig sollen wir sein, und manche gehen

noch Sonntags in die Kirche. So weit die

Theorie. Die Zivilisation hat andere Tücken,

als das Leben im Mittelalter oder Überleben

in der Wildnis. Ich bin nicht im Armenviertel

groß geworden; eigentlich konnte nichts

schiefgehen, 1964 in Wedel anzufangen.

Es kam anders – zunächst irritiert besonders

ein Erlebnis, wenn ich daran zurück denke.

Die Welt ist gut eingerahmt und stabil?

Kleinere Beschwerden hat jeder mal. Die

Blinddarm-OP wurde nötig, und das betreute

meine Hausärztin. Zu der ging meine Mutter

mit mir, seitdem ich ein kleines Kind war.

Bei HNO-Beschwerden wählten wir den

Facharzt an der Ecke, wo einmal Johs.

Schmidt sein Geschäft hatte. Die Zahnärztin

unserer Familie ist im Riesenkamp gewesen.

Wedel ist überschaubar. Mir wurde ganz gut

geholfen von diesem Orthopäden D. um die

Ecke – trotzdem, ein Beginn späterer Probleme

findet sich hier. Damals wurde das gar

nicht gesehen. Heute denke ich: Eine falsche

Weichenstellung lenkte meine Zukunft von

der Hauptstrecke ab.

Die moderne Welt ist spezialisiert und

fährt die größten Erfolge der Zivilisation

ein. Jedes Fach entwickelt seine Ökonomie.

Handwerkszeug macht Sinn in Form eines

Hammers, wenn ich nageln möchte. Der

Dez 2, 2021 - Musterklage 140 [Seite 140 bis 143 ]


Hammer erkennt quasi den Nagel, aber

eben nicht die Schraube. Schrauben, vom

einfachen Schlitz über den Kreuzschlitz

zum Torx. Professionell sind Torx vielem

überlegen. Ein passendes Arrangement, der

richtige Bit und Material, die Umgebung und

spätere Nutzbarkeit, die Verbindung wieder

lösen zu wollen oder nicht, wo das Werkzeug

seine Anwendung findet, ist unabdingbar.

Spezialisierung: Beim Bau vom Carport nützlich,

im Falle der großartigen Operationen,

die Menschen wieder gehen machen, hilft

die moderne Medizin. Aber manchmal zielt

der Doktor vorbei, gerade weil er fachlich

isoliert handelt. Diese

Erfahrung machen alle,

die mit wenig spezifischen

Beschwerden

losgehen und eine Odyssee

beginnt, bis ihnen

geholfen wird.

Der Facharzt als solcher

war in den Sechzigern

bereits anerkannt. Wir

nutzten beste Produkte

„made in Germany“,

ein Auto. Nun forderte

der Normalbürger, sich

selbst reparieren zu lassen

wie jede technische

Errungenschaft. „Homo

Faber“ im bekannten

Roman von Max Frisch;

wir lasen in der Schule: „Der Mensch als

Konstruktion denkbar, aber das Material ist

verfehlt. Fleisch ist kein Material. Fleisch ist

ein Fluch.“

# Meine eigene Baustelle

Psychisch krank zu werden beruht auf dem

Fehler, sich nicht effektiv durchsetzen zu

können, eine soziale Störung. Das haben

Menschen, die sich vor anderen fürchten.

Sonst könnten alle in unsrer von Regeln

dominierten Welt einen Platz finden, der

ihnen gefällt. Der Planet wäre groß genug,

böte Lebensraum auch für diejenigen, die

sich den Weg zum Wohlfühlort verbauen.

Viele Menschen müssen in bitterster Armut

leben und sind nicht krank im Kopf. Zu Glück

und Existenz kommen wir von überall oder

scheitern. Gewalt, dem Hunger oder einer

Naturkatastrophe zum Opfer zu fallen, mag

traumatisieren, macht aber nicht zwingend

krank. Normalgesund sein, heißt effektiv

Probleme zu lösen. Psychisch krank handeln

bedeutet, sich unbewusst selbst zu schaden.

Weltweit ein Prozent der Menschen erkrankt

mindestens einmal im Leben psychotisch,

ein hoher Prozentsatz. Moderne Medizin

hat sich einiges einfallen lassen, denen zu

helfen, die selbst erheblichen Anteil daran

haben, sich in Gefahr zu bringen und andere

mit. Erschwerend kommt bei jenen, die

eine Problematik haben, selbst in Richtung

Abgrund zu laufen, hinzu, dass Helfende ihr

spezielles Motiv nicht kennen wie sie selbst.

Man kann die These vertreten, die Gesellschaft

sei krank, bösartig, und die Auffälligen

hier wären in Wirklichkeit die Sensiblen,

die es bemerkten? Damit kommt man nicht

weit. Die Masse behält Macht und Überblick

in der von ihr geschaffenen Umgebung. Sie

lässt sich nicht zuweisen, insgesamt krank zu

sein, da der Normale wie alle anderen in der

Lage ist, das System zu nutzen und der Kranke

nicht. Der Verkehr auf der Straße macht

anschaulich, dass die Mehrheit ihre Ampeln

bei grün passiert und erst bei rot anderen

ihr Recht gestattet, hält. Ärger bereiten uns

diejenigen, die trotz rotem Licht fahren.

Probleme haben Menschen, die bei grün anhalten,

ohne farbenblind zu sein. Dieses Bild

meint welche, die in der Firma gern bereit

sind, anderen den Weg in die Führungsposition

zu gestatten, aber sich insgeheim für

besser halten. Solange dies bewusst mit

der eigenen Psyche ausgetragen wird oder

wütend unter Kollegen, besteht die Chance,

noch Erfolg zu erzielen. Krank wird, wer

sich fürchtet, neidet und das selbst nicht

mitbekommt, weil ihm negative Gefühle

nicht erlaubt sind.

Wer kann ihnen

das Fühlen und

Gefühle verbieten?

Dazu, wie man

das anstellt, sein

eigenes System

Mensch kaputtzuspielen,

dass man

es selbst nicht

spürt wie, fällt mir

die angedeutete

Geschichte beim

Orthopäden ein.

Das Problem ist

physisch? Bei den

meisten treten

hin und wieder

Verspannungen, eine steife Schulter oder ein

Hexenschuss auf. Ich meine etwas anderes.

Ein schleichender Prozess. Menschen, deren

spätere, psychisch behandlungswürdige

Leiden mit mechanischen begonnen haben.

Man kollabiert erst wirklich, wenn die Sache

psychisch wird, und dann ist es zu spät. Spät

allemal, denn der Spezialist für die Psyche

weiß nicht, wann und wo vor Jahren der

orthopädische Kollege den Schalter umlegte,

die Weiche stellte – mit seiner irreführenden,

vereinfachten Erklärung – auf das

psychische Abstellgleis,

neben die gesunde

Masse. Hier arbeitet

der eine Spezialist auf

fatale Weise dem anderen

zu. Das wäre ein

gutes Beispiel dafür,

wie krank, fehlleitend,

spezialisiert unsere

Welt ist, aber wie

effektiv, gesund und

selbst bestätigend sie

sich darstellt.

Man spricht von

einer gespaltenen

Persönlichkeit? Die

Welt insgesamt ist

widersprüchlich und

durchaus unordentlich

zerspalten. Die

Ordnung, sich das

auszusuchen, was zu

uns passt, müssen wir selbst finden. Viele

suchen, aber Gott ist nicht Katholik oder

in der evangelischen Kirche. Er ist weder

Muslim, noch Buddhist. Ist er selbst Atheist?

Manche treten enttäuscht aus der Kirche

aus. Aus der Welt gehen sie damit nicht, sind

Gesetzen unterworfen, die nicht nur von der

Regierung bestimmt werden. Naturgesetze

und -katastrophen bilden den größeren Rahmen.

Das soziale Verhalten folgt in diesem

Sinne ebenfalls der Natur und nicht nur dem

Gesetz. Viele Menschen brechen Regeln. Sie

sind nicht unbedingt der Strafe durch die

Gerichtsbarkeit ausgeliefert, aber jeder muss

sich insofern verantworten, dass die Zukunft

schwer zu verstehen ist und was kommt,

weil man aktiv war. Erklärungsprinzipien

erweisen sich oft als trügerische Krücken.

Besser ist wohl, fest zum eigenen Selbst zu

stehen. Und das gelingt nur mit Akzeptanz.

Empathie geben wir nach dem Motto: „Liebe

deinen Nächsten wie dich selbst“, je mehr

du dir selbst vertraust, desto eher gelingt es,

anderen ihren Weg zuzugestehen. Zuversicht

erlangt, wer sich selbst annehmen kann wie

andere.

Davon sind wir in der Regel so weit weg,

dass manche es gar nicht wahrhaben wollen.

Verdrängen ist nicht ungewöhnlich, gibt

Schutz, wie die Hand vor Augen zu halten,

um das Gefährliche der Welt nicht sehen zu

müssen. Menschen behandeln sich selbst

wie einen Dreck, fordern die ganze Zeit

andere und halten sich für gut. Sie tun mir

weh. Der Allmächtige selbst hat es nicht

nötig zu glauben. Er ist einfach nur da. Oder

nicht, das spielt keine Rolle: Viele möchten,

dass die Welt sich nach ihrem Bild, das sie

sich davon machen (oder dem ihrer Gruppe),

verhält. Damit ist zu scheitern unausweichlich.

Das eigene Wirklichkeitsbild kann

nicht vollständig sein. Wenn die Dinge eine

unerwartete Richtung nehmen, müssen wir

neu denken.

Da sind einige, die sich schiefes Grinsen

angewöhnen? Hochgezogene Augenbrauen

überzeugen nicht, wenn man es die ganze

Zeit macht, unfähig, gegebenenfalls auch

zornig zu schauen. Mit der Einbildung, Ironie

könne wie Stärke wirken, kommen manche

weit. Nicht alle werden krank. Es gehört

mehr dazu. Eine gute Maske zur Schau zu

stellen, hilft scheinbar? Es ist aber auch

keine Empfehlung für einen guten Job. Emotionen

im Gesicht von Barack Obama haben

gezeigt, dass ein Spitzenamt mit flexibler

Mimik zu schaffen ist;

möglicherweise die

beste Methode überhaupt.

Konkurrenzfähig

ist man nur mit

angemessener Stärke.

Selbstbewusstsein

wird nicht mit zweierlei

Maß gemessen.

Ich kam zu früh

zur Schule, weil es

meinen Eltern, meiner

Mutter gefiel. Kinder

sind abhängige

Lebewesen. Anders

als vom angeleinten

Hund, erhoffen

sich Eltern eine

leistungsorientierte

Entwicklung des

eigenen Sprösslings.

Es gibt Hundeschulen

für die Halter:innen; aber keine für Mütter.

Ich sollte ein Abitur schaffen und flog nach

einer Klasse Rist mit drei fünfen. Meine Mutter

prügelte mich mit Kleiderbügeln, dem

Schullineal und ihrem Rechenschieber. Man

hat ja nur die eine Mutter und ist zur Liebe

verpflichtet. Die Plattfüße korrigierten sich

nicht durch die Einlagen und das Füßeturnen

beim Orthopäden. Ich war leicht, mit

dünnen Ärmchen und schwächlicher Muskulatur.

Meine Brust hielt ich flach, eingefallen.

Trichterbrust; eine Lunke bildete sich,

Dez 2, 2021 - Musterklage 141 [Seite 140 bis 143 ]


wo das Brustbein den harten Bereich der

Rippen beendet. Darunter wölbte sich das

Bäuchlein vor, meine Haltung war schlecht

schon mit zehn. Ich stand verbogen wie ein

Fragezeichen. Und dann bekam ich Schmerzen,

wohl vierzehn

Jahre alt? Es tat auf

der rechten Seite

weh, am Rücken und

vorn gleichzeitig;

Verspannungen,

meinten die Eltern.

Beim Termin

erinnere ich meinen

Orthopäden

fröhlich: „Wie eine

Schublade, die

klemmt“, erklärte

der Doktor. Heute

würde ich sagen,

das Zwerchfell kam

an den Rippen nicht

vorbei. Aber was

das ist, und dass es

beim Atmen von Bedeutung

ist, wusste

ich als Jugendlicher nicht. Verspannungen

oder einen Hexenschuss betrachtete man

mechanisch. Später war von Stress die Rede.

Was ist Stress? Davon, dass es ein Wort gibt,

versteht man nichts. Damals war die Chiropraktik

das Neueste, D. konnte es. Er hatte

eine Ausbildung gemacht und bewarb seine

Griffe, sprach von Sportmedizin und musste

täglich dicke Seniorinnen betreuen. Sie füllten

reichlich das Wartezimmer. Chiropraktik,

jede Anwendung wurde einzeln notiert, 1

x Doppelnelson für dreiundzwanzigfuffzig,

2 x effektives Handschütteln im Gelenk für

je fünfzehn Mark (rabattiert) zusammen

achtundzwanzig? Die Helferin notierte auf

Zuruf jeden Griff in die Kladde, wenn der

Doktor ansetzte.

D. war nicht groß, ein wenig korpulent und

kräftig. Ich musste mich vor ihm hinstellen,

schaute aus dem Fenster. Der Arzt trat

von hinten an mich heran und rief den

Fachbegriff, was er nun renken würde, der

Sprechstundenhilfe zu. Er griff unter meinen

Achseln durch, und tatsächlich, wie beim

Ringen umschlossen seine kraftvollen

Arme meinen Oberkörper vorn. Fest in der

Zange vor dem dicken Bauch des Doktors

stand ich wie ein schwacher Hering. Dann

„Zack!“, wippte der schneeweiß gekleidete

aus der Hüfte, sich ins Hohlkreuz werfend,

und ich Knabenwurm flog kurz hoch, dass

meine Füße in die Luft kamen und es in mir

knackte. Ich wurde wieder abgestellt wie ein

Pappsoldat, wog kaum mehr als nichts, glaube

ich. Ein leichter „Wippnelson“ oder wie

auch immer die kleine Übung heißen mag,

für den Onkel Doktor. Wir scherzten immer,

ein freundlicher Mann.

Geheilt entlassen?

Es wurde wirklich besser für den Moment.

Langfristig hat sich eine hartnäckige

Biegung meiner Wirbelsäule etabliert, die

niemand als behandlungswürdig erkannte.

Geschweige denn einen Zusammenhang mit

Arztbesuchen beim Neurologen zu sehen.

Ich war früher (nach dem Studium) jahrelang

in Therapie. Heute gehe ich nie zum

Arzt! Angewidert: Mein Vertrauen ist durch

einiges, das hier nicht nötig ist aufzuschreiben,

grundsätzlich zerstört, nicht nur in die

Medizin. Ich gehe Menschen aus dem Weg.

Nicht, dass ich nicht Spaß am Schnacken

habe. Ich gehe keine inneren Bande ein.

Ich empfinde kaum Empathie, das hat sich

entwickelt, schafft Abgrenzung. „Lass die

Leute reden“, wie es im Lied

heißt, ist meine Devise,

„und hör’ ihnen nicht zu.“

Für die Liebe bin ich nicht

bereit. Wer diese nicht

spürt, kann keine geben;

schade. Ich fand mit den

Jahren heraus, dass orthopädische

Beschwerden mitnichten

nur mechanische

sind. Stress ist für mich

kein Wort. Ich benötige

keine Pillen, um gut zu

schlafen. Eine Notfalldose

Tavorreste und Packungen

mit abgelaufenen Risperdal

verstauben im Atelier

zwischen Pinseln und dem

Foto von Alex neben mir.

Ich reagiere mich ab, wenn

ich übervorteilt werde,

erhole mich anschließend. Ich kenne meine

Deformation. Ein individuelles Muster, das

ich, bestens erforscht, weiter prüfe. Da muss

kein Nelson mich richten, ich entspanne

mich tatsächlich. Mit dem, was ich lernte,

kann ich Widerstand merken, wo ich früher

nicht einmal ahnte, Muskeln zu haben.

# Eine Liste

Ich ziehe links meinen Mundwinkel zum

Auge hoch. Ich hebe die Schulter dort, jeden

Tag, immer. Ich schiebe sie vor. Dadurch,

dass ich links höher bin, ist – zwingend

– rechts alles tiefer im Oberkörper. Sei es

dahingestellt, ob es mir wichtig ist, links

oben zu grinsen oder rechts unten die Brust

einzuschnüren. Insgesamt ist der Bereich

verdreht, verklemmt und lateral krumm. Das

Bewegen des Zwerchfells, ein Kolben im

verbeulten Zylinder bei mir, geschieht auf

behinderte Weise trotzdem. Mutmaßlich

hat dieses Muster einmal (anfangs meines

Daseins) Hilfestellung leisten können, Angst

nicht wahrzunehmen?

Ich denke, ja.

Es wird empfohlen, die Zähne zusammenzubeißen,

bei Problemen und zu lächeln,

wenn’s auch schwerfällt. „Halt die Luft an!“,

sagt man und: „Reiß’ dich zusammen!“, –

sich anzustrengen, bringt Lob ein. Dumme

Erwachsene kommen klar im Leben, zwingen

Schwächeren ihren Rat auf. Blöde bemerken

nicht, dass ihr eigenes Leben armselig und

emotional verkümmert verläuft. Besonders,

wenn sie Stärke anstelle von Bewusstheit

setzen, bewundern manche ihre Willenskraft.

Geschickte Menschen amüsieren sich über

unnötigen Kraftaufwand anderer, bei jeder

Sache, die ihnen selbst leicht gelingt.

Fakt ist, dass mein Brustkorb immer rechts

ein wenig eingeklemmt ist, und das bedingt

eine widerständige Atmung, Magenbeschwerden,

weil das Sternum halbseitig

draufdrückt. Das erschwert, die Trompete zu

blasen (Malen kann jeder). Ich spiele täglich

Etüden und Tonleitern, Stücke, die mich

reizen, sie zu können, nicht mit der Absicht,

Musik mit anderen zu machen. Der Grund

ist, Verspannungen zu bemerken, für den

Moment Besserung zu erreichen.

Wenn ich irgendwo stehe, habe ich die

Angewohnheit, das rechte Bein durchzudrücken,

es zu belasten und die linke Seite als

„Spielbein“ locker im Kniegelenk zu knicken.

Die Verschiedenartigkeit meiner Hüften,

was deren Beweglichkeit betrifft und hier

nur äußerst schwierig beschreibbar wäre,

ermuntert meine Beine dazu, es immer so

herum zu tun. Natürlich kann ich mir das bewusst

machen und während ich auf den Bus

warte oder die freie Ampelschaltung, tue ich

es. Dann lockere ich mich soweit, dass die

andere Seite (links) mich trägt, stelle rechts

entspannt ab. Wieder macht es nicht so viel

Sinn, den Beinen die Schuld dafür zu geben,

dass sie meine Hüften einseitig zwingen

oder dem Becken, das verhindere, wie die

Beine eingehängt sind. Es ist eine systemische

Frage genereller Einstellung und mit

der Kausalität nach dem Ansatz „wer hat

schuld“ weniger gut lösbar, als Beziehungen

auszuprobieren. Abhängigkeiten zu akzeptieren,

in denen beide Seiten, etwa Bein wie

Hüfte und entsprechend Oberkörper, Hals,

Schultern, Arme und Kopf zusammenhängen,

ermöglicht integrative Antworten darauf

zu finden, wie der gesamte Mensch besser

harmoniert. Das ist (hier nur skizziert) die

Methode vom Physiker, Publizisten und Verhaltenstrainer

Moshe Feldenkrais („Body and

Mature Behavior“), die ich anwende, etwas

zu bemerken, das eigentlich allen Lebewesen

selbstverständlich bewusst sein könnte;

aber offensichtlich ist das nicht der Fall.

Sollte ich der Vollständigkeit halber sagen,

dass ich auf der rechten Seite meine Lippen

zusammenpresse und die Zunge drückt,

wenn ich gerade meine, nichts zu tun, von

unten gegen den Gaumen? Früher, als

das schlimmer war, mahlten links meine

Backenzähne ineinander, bis es schmerzte;

Migräne. Der Zahnarzt wiederum sah nur

den Zahn: „Da sei ein Schmerznerv gereizt“,

das käme vor. Klar, dass meine Hüften recht

unbeweglich sind und Plattfüße zwingend.

Das ist nun alles viel besser geworden, und

diese Dinge zu bemerken und täglich damit

arbeiten zu können, lernte ich größtenteils

aus Büchern allein.

# Wenn überhaupt Zukunft Sinn macht, dann

damit, das zu tun

Meiner Auffassung nach klemmt niemand

seine Rippen ein, weil er falsch hebt. Ich

glaube, dass ein individuelles Haltungsmuster

– wie oben beschrieben – eine Art

imaginäre Rüstung formt, eine Ganzkörpermaske,

um Emotionen unter Kontrolle zu

behalten. Übermäßige Kontrolle führt in der

Diktatur zur Revolution. Das Land kann nicht

mehr, sinngemäß der psychisch Kranke. Wir

wären fortschrittlich, Patienten zu helfen

und nicht nur für Ordnung zu sorgen, wenn

einer spinnt.

Ein langer Weg, den ich benötigte, zufrieden

zu sein. Zu lang, um noch etwas aus dem

Leben zu machen mit fast sechzig Jahren.

Ohne Vertrauen in andere, nicht mehr zur

Wahl gehend, keine Solidarität mit der

(durch Corona angegriffenen) Bevölkerung

empfindend, bin ich degeneriert. Ich verachte

den Staat, Polizei, Psychiatrie, Politik und

die Pürgermeisterin.

# P = Panik?

Dez 2, 2021 - Musterklage 142 [Seite 140 bis 143 ]


Ich habe alles und alle

provoziert, vielleicht kommt

es deswegen? Psycho ist allgegenwärtig:

Schwarmintelligenz,

das Leben der Lemminge.

Sie sind stark, kommen klar

und sind doch so blöd dabei.

Hauptsächlich „junge Städter

wählen die Grünen“, klagt eine

Jägerin, die nie im Supermarkt

Fleisch oder Fisch kauft. Die

attraktive schießt sich’s Essen

selbst, angelt. Sie „bekomme

täglich Hassmails“, sagt sie,

von Leuten, die mutmaßlich

niemals in der Natur unterwegs

sind.

Ich denke, die anderen machen

einzelne krank. Ein soziales

Trauma. Deswegen ist die

Gesellschaft gesund: Die

Menschen halten zusammen,

stoßen die raus, die nicht

mitmachen können, dabei zu

sein. Schuld ist die Umgebung,

wenn Menschen psychisch

kollabieren. Das fand ich

heraus im Selbstversuch.

Einige Jahre studierte ich in

einem kleinen Dorf westlich

von Hamburg gezielt, was die Leute machen,

wenn man ihnen gegenüber Angriffsflächen

zeigt, Schwächen zugibt. Fertig damit, fertig

mit anderen. Ich fühle mich frei, glaube aber

nicht, es zu sein; pariere heute besser …

:)

Dez 2, 2021 - Musterklage 143 [Seite 140 bis 143 ]


Das Problem

Dez 5, 2021

Warum querdenken?

Kurz gejammert, schnell geheilt,

könnte das Motto dieser kleinen Erfahrung

sein, die ich hier erzähle. Was ist eigentlich

Freiheit heute, wo immerfort von Solidarität

mit den anderen gesprochen wird? Die

individuelle Entscheidung und Tragweite

müsse jeder der Pandemie hintenanstellen,

verantworten. Das wird verlangt. Wir sollen

einheitlich, vernünftig und exakt geradeaus

denken! Endlich begriffen? Ich vermisse

diese Stimme (in der Politik), die uns sagt:

„Einen Teil der Gesellschaft nehmen wir mit.“

Und zwar breit definiert. Wir nehmen Alte

mit und schützen diese so gut wie möglich.

Wir arbeiten für sie. Das versteht sich von

selbst. Wir ermuntern die Menschen zur

Impfung. Je höher die Quote, desto besser.

Es fehlt eine deutliche, allgemein verständliche

Mahnung, die uns daran erinnert, der

Impfung Unwillige (auch) zu akzeptieren.

„Die nehmen wir mit, wie die Alten“, das

höre ich nicht mehr. Es gilt die Schwachen

zu schützen, aber es ist nötig, die Vielfalt

der Befindlichkeiten ernst zu nehmen. Die

Ansage, jeder könne sich impfen lassen,

dann wäre es gut für alle, beinhaltet Probleme

glattzubügeln. Da wundert man sich

über Gewalt, ich wundere mich nicht. Eine

fehlerfreie Masse könnte geschlossen voran

machen, aber nur in der Theorie.

Keiner geht hundertprozentig sicher und

geradeaus seinen Weg. Genauso ein Land als

Ganzes. Als ließe sich Dummheit verbieten,

könne Egoismus abgeschafft werden,

argumentieren viele, wie sehr sie verstanden

hätten, was wir bräuchten? Gut möglich –

aber selbst, wenn das alles richtig ist: Wir

sehen überall diese Tendenz,

Unbelehrbare auf Linie zu

bringen. Das ist falsch. Die

Zuweisung, hier erwachsene

Menschen wie uneinsichtige

Schüler vor sich zu haben

und die Vorstellung, fehlende

Intelligenz herbei prügeln zu

können, als drohe der Lehrer

mit dem Rohrstock, übertrifft

diese primitive Schule noch.

Anderen die kluge Einsicht

in das Nötige abzusprechen, ist mindestens

dumm, wenn nicht überhebliche, verbale

Gewalt. So wird fleißig Wind auf die Äcker

verstörter Gehirnrinden ausgesät, der

schließlich zum Sturm anwachsen kann.

Man scheint unisono darin übereinzustimmen,

dass, wer gewalttätig handelt ein

Problem habe und sich zu ändern. Das ist

aus verhaltenstheoretischer Sicht falsch.

Die Welt ist nicht gewaltfrei und wird es nie

sein. Das Anprangern und Denunzieren vermeintlich

falsch Handelnder hat Hochkonjunktur.

Verklemmte, angepasste Mitläufer

entwickeln einen stumpfen Block gegen

diejenigen, die spürbar Erfahrungen

machen und die eigentlich Kreativen

der Gesellschaft sind.

Zorn entspringt Angst. Das staatliche

Monopol auf die Gewalt in Stellung

zu bringen, heißt einen Bürgerkrieg

begreifen und niederschlagen zu

wollen. „Er könne keine Spaltung

der Gesellschaft in der Frage der

Impfung erkennen“, meint der designierte

Kanzler Scholz, sondern eine

Mehrheitsempfindung. Wer mit einer

Axt umgehen kann und schon einmal

Anmachholz auf dem Haublock

zerkleinerte oder jemandem dabei

zuschaute, weiß, dass

eine Spaltung nie

exakt in der Mitte

verläuft. Eine Hälfte,

Drittel oder Viertel

sind brauchbare Teile

zum Feuer anmachen

und selbst ein

schmaler Span, den

der Geschickte mit

dem Beil abteilt, kann

einen Nutzen bringen,

um eine kleine

Flamme zum Leben

zu erwecken. Ein

Arzt amputiert den

kranken Fuß, wirft

diesen weg. Bedeutet

unsere aufgewühlte

Gesellschaft und eine

durch die Pandemie

verstörte Haltung,

dass Unbelehrbare

als latent gewalttätig

(und deswegen

dumm) abgespalten

werden können? Sind

diese wie der nicht

zu rettende Fuß oder

wird es Splitter schaffen,

der die Flammen ihrer Wut anfacht; das

wird sich zeigen. An die Idee von Integration

im Sinne von innerer Reparatur glauben nur

wenige. Es stünde der sozialen Partei gut zu

Gesicht. Blasierte Überheblichkeit ist nicht

die ruhige Hand sicherer Führung, auch

wenn es einigen so vorkommt, sondern die

Maske des geübten Scholzomaten.

Existenz bedeutet, ein Mensch muss für

vieles aktiv werden. Manches erledigt sich

jedoch auf eine Weise, die wir nicht so genau

verstehen; ist doch überlebenswichtig.

Das Herz schlägt, wir atmen und das passiert

auch unordentlichen, arbeitslosen und

schlecht organisierten Zeitgenossen. Eine

zu erbringende Leistung wird zum Leben

selbst nicht benötigt. Wir müssen Nahrung

heranschaffen, natürlich. Einen sicheren

Wohnort finden, bezahlen. Körperpflege ist

eine Willensentscheidung, aber die Wundheilung

geschieht automatisch, warum ist

das so? Banale Dinge, von denen jeder weiß:

Normalerweise denken wir nicht darüber

nach. Es sind die kleinen Überraschungen

des Lebens, welche einen Denkanstoß

bedeuten können.

Viele haben von Entropie gehört, in der

Schule vielleicht oder zur Studentenzeit,

während wir jung und in der Ausbildung

gewesen sind, zusammen saßen, philosophierten.

Da gab es jemanden, der erklärte,

alles würde von selbst unordentlich, und

das sei Entropie; die verlorene Socke. Ganz

so einfach scheint die Sache nicht zu sein.

Nur mit fremder, dem System hinzugefügter

Energie, ist es möglich gegenzusteuern.

Umgangssprachlich wäre es das Aufräumen

des Zimmers durch eine neue Kraft. Wer

räumt den Menschen auf? Das System führt

sich Nahrung zu, atmet. Kleinere Verletzungen

und ein leichter Schnupfen bedürfen

kaum unserer Aufmerksamkeit, um nach

überschaubarer Zeit zu verschwinden. Um

anderes, nicht nur die Ordnung in der Wohnung,

muss sich jeder kümmern. Die Tür wird

abends sicher verschlossen. Manche setzen

einen Helm auf, tragen die gelbe Weste,

bevor sie mit dem Fahrrad zu fahren wagen;

man lässt sich gegen das Virus impfen und

tut viel, damit die Inflation

das angesparte Geld

verschont. Wir schließen

Versicherungen ab und

hoffen auf spätere Rente,

medizinische Versorgung

und ein langes, gesundes

Leben. Wir haben nicht

die Wahl, auf das Essen

oder Atmen verzichten zu

können, aber inwieweit

wir angemessen gekleidet

sind und darauf achten, geschickt

die Füße zu setzen,

dürfte interessieren. Und

was passiert, wem egal ist,

wie’s ihm geschieht?

# Eine kleine Geschichte

Beim Einkaufen wird mir

klar, als ich diese Frau in

der goldenen Jacke, den

kurzen Haaren wiedersehe,

dass ich mich täuschte. Ich

spreche die Unbekannte im

Supermarkt einfach an: „Sie

sind nicht Frau K.“, stelle ich

fest. Wir waren draußen parallel

der Straße unterwegs

Dez 5, 2021 - Das Problem 144 [Seite 144 bis 146 ]


gewesen. Dabei habe ich mehrfach hinübergesehen,

unsicher, möglicherweise ist es

eine Bekannte? Es beginnt ein freundlicher

Gedankenaustausch beim Brotregal. „Der

Bart steht ihnen nicht“, sagt sie unvermittelt,

als rutsche es ungeplant heraus. Wir sind

uns schließlich fremd? Sie kenne mich vom

Sehen, fährt sie schnell fort. Es zeigt sich,

dass sie mir in dieser Sache etwas voraus

hat. Ich hatte die Unbekannte mit Manuela

verwechselt. Ich

laufe täglich in

das Einkaufszentrum.

Schon möglich,

dass ich sie

früher bemerkte?

Ich bin mir einigermaßen

unsicher.

Das Gespräch

nimmt einen

eher amüsanten

Verlauf, dem ich

die Richtung

gebe, mir gefalle

der Bart selbst

auch nicht. Es sei eben ein Coronabart,

entsprechend der Frisur, erkläre ich. Meine

ungepflegte Matte, dazu passend der

Zottelbart. Bis Weinachten würde ich grau,

eventuell weiß. Da bekäme ich den Job des

Geschenkeonkels und dann passe es, scherze

ich. Zum Haareschneiden könne ich nicht,

als Impfverweigerer: „Sieht scheiße aus der

Bart“, behaupte ich einfach, und das wäre mir

egal. Sie bewundere meinen Mut, mich nicht

impfen zu lassen, aber das könne tödlich

enden, meint die Frau.

Olaf Scholz habe ein Problem, genügend

Frauen in sein Kabinett zu holen und deswegen

sei nicht sicher, dass Karl Lauterbach

Gesundheitsminister würde, hieß es anfangs.

Tatsächlich ist der frischgebackene in der

Notlage gewesen, sich gegen den Kollegen

Kubicki zu verteidigen, der einmal behauptete,

in seiner Stammkneipe gelte der Gesundheitsexperte

als Spacken. Norddeutsch: Das

ist kein (richtiger) Mann. Seit einigen Jahren

wird die politisch korrekte Frauenverteilung

zum Problem, weil mit dem jeweiligen Amt

auch eine Qualifikation verbunden ist. Während

die Männerriegen der Wirtschaft ihre

Bastion verteidigen, da hier Geldverdienen

Pflicht ist und insofern geprüft, ob Leistung

erbracht wird, bleibt die Wirkungskraft der

Politik diffus. Eine Firma will verdienen

und Politik will mehr. Das Erste ist einfach

zu kontrollieren. Politik schießt prinzipiell

mit der Nebelkanone, da werden Frauen

gebraucht. Klar, wir sehen grobes Versagen

im Amt. Wähler und Wählerinnen begreifen,

ob sie jemanden mögen und können dieses

Kriterium nutzen, nicht näher hinzuschauen,

was eine für das Land erreicht. Wie viel

Politik exakt leistet, bleibt wenig konkret

(wie etwa die Arbeit des Psychiaters, da

weiß man, wenn’s besser wird auch nicht

weshalb).

Wir leben

gegen die

Natur, das

ist der

Mensch: Wir

gestalten

die

Umgebung.

Lösen wir

ein Problem,

schaffen

wir damit

neue. In einer steinzeitlichen Welt dürften

Frauen ihre Daseinsberechtigung mit der

Menopause verwirkt haben. Damals beendeten

Männer mit

spätestens fünfzehn

die Kindheit, auch

die der Mädchen

drumherum, und ihre

Familien bildeten

sich in der nicht

regulierten Natur.

Der Mann begreift

seine Sexualität

in diesem Sinne

natürlich bis heute,

die Frau belügt

sich effektiv besser.

Frauen möchten

sich beschäftigen

und nicht merken;

Männer sind

Schwein seit je.

Ob mir ein Zottelbart

gut zu Gesicht

steht, ist mir insofern

wurscht wie eine

Frau in meinem Alter

keine mehr für mich

ist; jedenfalls nicht

attraktiv in sexueller

Hinsicht, was auch

immer diese mit sich

anstellt. Mir ist es

möglich, noch Kinder

zu zeugen, dafür benötige

ich keine Pille.

Die Gesellschaft ist

nicht nur in Geimpfte

und die anderen gespalten, sondern auch in

Geschlechtern. Begeistert von sich und dem

Geschaffenen, dem modernen Toleranzverständnis,

darf der Mensch die Natur nicht

übersehen. So gesehen haben die Grünen

als Partei mehr Substanz als die Idee von

Gleichheit. Unsere Zivilisation hat unendlich

viele intellektuelle Rahmen geschaffen.

Das müssten Geländer an Steigen sein, sich

zurechtzufinden, nicht Gitterstäbe einer

Zellentür,

die unser

Dasein

gegen die

Natur sperren.

Nach

wie vor unterscheiden

wir uns von

Frauen, dass

diese Kinder

bekommen

und Männer

nicht. Selbstverwirklichung sollte kein

Selbstbetrug sein. Ich lebe ja in der Heutezeit

und muss (mich zivilisiert artikulieren,

will es aber nicht) Saskia Esken, Manuela

Schwesig oder Frau Giffey ertragen. Man

stelle sich vor, Gerd Schröder heiratet noch

ein weiteres Mal? Dann wird es

nicht Saskia sein, so viel steht

fest.

Ich gehe nach Hause und denke

nach über den Tod. Menschen

sind so viel mehr als geimpft

oder nicht. Eine Vielzahl von

Motivationen, etwas zu tun oder

langfristig auf den Weg zu bringen,

steckt in jedem von uns. Der

einzelne Mensch ist nur bedingt

bereit, sich gängeln zu lassen.

Scheinbar uniforme Mitläufer, wenn sie sich

auf ein Thema reduzieren lassen, sind viele

am Start, für eine rettende Idee zu werben,

die gerade alle beschäftigt.

Bald kommen neue

Befürchtungen auf und

die Richtung wechselt,

zersprengt diese Gruppe,

schafft andere. Dazu

kommt, der Mensch

versteht sich selbst

und das Leben nur im

Ausschnitt. Ein kleines

Guckloch ist unser Fenster

nach draußen, gering

ist unsere Information

von der wahren Realität.

Persönliche Motive, mit

denen wir bereit sind

loszugehen, zu handeln,

sind oft kaum mehr als

ein ungeprüfter Anstoß.

Groß ist unser Unwissen

vom inneren Zusammenhalt,

all dem, was

innerhalb der eigenen

Haut geschieht. Wir

navigieren unser Schiff,

ohne die Mannschaft

und Fracht an Bord

wirklich zu kennen.

Niemand handelt mit

dem freien Willen

oder aufgrund einer

Entscheidung, die autark

begriffen wird. Alle sind

aufeinander angewiesen.

Der Rudergänger

lenkt, wie vom Kapitän befohlen, und wir

sind sein Lotse. Unser Kahn schippert durch

eine dunkle See. Dieser Ozean ist vielleicht

nur ein Meer, jene durch Riffe gesäumte

Enge, von der wir nichts haben, als ein

vergilbtes Pergament, das kaum eine Karte

bedeutet, sondern vom Hörensagen zusammengetragene

Information. Aber tatsächlich

fliegen Menschen damit bis ins Weltall und

schauen nebenbei noch auf das Telefon. Wir

sind immer schlauer als frühere Generationen,

meinen wir, und verweisen auf

die Erfolge der Geschichte. Ob das für

den einzelnen stimmt, der Amerika ja

nicht selbst entdeckt hat, muss sich erst

erweisen.

Amerika, da ist die Pandemie ja auch.

Ich war länger nicht drüben. Möglicherweise

ist Covid ein deutsches Problem?

Jedes Land findet eine eigene Lösung,

sich dem Virus entgegenzustemmen. Ich

habe gar nicht diese Furcht, krank zu

werden. Einige tausend von mehr als achtzig

Millionen Deutschen hat das Virus aktuell so

schwer getroffen, dass sie behandelt werden.

Das sind nicht so viele in Prozent. Die

Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren und

anschließend entsprechend zu leiden, ist

klein. Ich halte Abstand, das muss genügen.

Mein Egoismus und die fehlende Empathie

für Menschen, die mir persönlich nicht

bekannt sind, gereichen mir zur Rechtfertigung.

Niemand zwingt mich zur Impfung,

überhaupt einen Doktor aufzusuchen, weil

ich Ärzte nicht leiden kann.

Verschiedene Geschichten könnten hier

Platz finden und meinen Vertrauensverlust

in die Medizin illustrieren. Einmal habe ich

mir den Fuß gebrochen. Der Durchgangsarzt

riet zu einer Operation. Mit vierzehntägi-

Dez 5, 2021 - Das Problem 145 [Seite 144 bis 146 ]


ger Wartezeit wurde eine Behandlung im

Krankenhaus angesetzt. Da die Sache unter

Vollnarkose stattfinden würde, musste ich

über das Risiko der Anästhesie aufgeklärt

werden und eine Einwilligung unterschreiben.

Zunächst erläuterte die Ärztin mit

mahnenden Worten, dass die Operation

meine Gesundheit verbesserte, weil sonst

die Gefahr bestünde, der Knochen könne

schief zusammenwachsen, vergipste man

den Fuß konventionell.

Eine

kleine Schiene,

die nach einiger

Zeit mit einer erneuten

Operation

entfernt würde,

sei die Garantie

dafür, dass die

Dinge während

der Heilung wie

gewünscht liefen.

Aber man dürfe

auch Bedenken

haben, da eine

Narkose ebenfalls

ein Risiko bedeute.

Sie fing an,

diese Gefahren

plastisch zu

beschreiben wie

im Beipackzettel

eines Medikamentes,

der manche

schließlich

davon abhält, die

Medizin noch

einzunehmen.

Das wüsste ich

alles, meinte ich

und wollte zügig

unterschreiben.

Ich wäre nicht in

ein Krankenhaus

gegangen, um

nach dem Vortrag

über Operationsrisiken,

der von

Gesetz wegen

verpflichtend

sei, beizudrehen und die Sache eine halbe

Stunde vor dem Termin abzublasen. Ich

hätte zwei Wochen drauf gewartet, sagte

ich, es wäre nicht mein erster Aufenthalt in

einem Krankenhaus. Außerdem sei ich mit

einer Intensivkrankenschwester verheiratet,

da bekäme man einiges mit, forcierte ich

ihre Belehrung.

Ich sagte also: „Wie hoch ist denn die

Wahrscheinlichkeit, dass ich durch die

Anästhesie blöde werde oder sterbe, was

weiß ich – geben Sie mir einen Prozentsatz,

bitte.“ Das sei ihr nicht möglich und auch die

falsche Herangehensweise, fand die Ärztin,

denn ich könne gerade der Eine mit dem

hypoxischem Hirnschaden sein, dann nütze

mir die Wahrscheinlichkeit nichts. „Was für

ein Unfug“, sagte ich, „nach Ihrer Logik dürfte

ich das Haus prinzipiell nicht verlassen, bei

den möglichen Gefahren draußen.“ Es kam

zum Streitgespräch direkt vor dem Eingriff

mit dieser Anästhesistin. „Wollen Sie mich

denn nun davon abhalten, diese Operation

zu machen“, was der Sinn ihrer abstrusen

Diskussion sei, wollte ich wissen. Gestände

sie ein, dass es fifty-fifty wäre, zur Hälfte

misslänge, was dieses Krankenhaus anböte,

wäre klar, dass ich tatsächlich nach Hause

ginge mit diesem Fuß und anderen die

Gelegenheit gäbe, ein Versuchskaninchen

für Quacksalber zu sein. Dann habe ich

dem dummen Weib die Zettel aus der Hand

genommen und unterschrieben.

Jeder hat seine Ängste und Schwierigkeiten,

Covid ist meine Sorge eher nicht. Mein Problem

sind Frauen in Deutschland, und (das

darf man ja gar nicht sagen) es könnte mehr

sein: ein deutsches Problem.

Das ist zu querköpfig

überlegt: Vielleicht hilft

das Bild mit der Ampel zu

sagen, was ich meine?

Wir haben diese Baustelle

hier im Dorf. Jeden Morgen

überquere ich die Straße. Es

ist nicht schwer, man wartet,

bis das grüne Männchen

kommt und geht los. Genau

genommen ist es durch die

Buddelei einfacher geworden,

weil keine Autos mehr

fahren. Inzwischen hat man

die Anlage abgeschaltet.

Sonst wäre es zu schwierig

für die Wohlstandsgewohnte,

selbst zu entscheiden,

und ausnahmsweise das

rote Licht zu ignorieren?

Mit ein wenig Photoshop

habe ich eine Szene

nachgestellt, die ich am

Morgen der Sperrung erlebt

habe, und das ist typisch

deutsch. Frauen – und ja,

Männer tun es ihnen nach,

begreifen, sich besser zu

schützen gegen was auch

immer (und können später

länger im Seniorenstift

durchhalten). Das sind keine

Genießer auf dem Rad. Sie

fahren nicht im Regen, um

die Welt besser zu machen,

sondern weil sie nun als

grün und bewusst ihrer

Solidarität mit den anderen

anerkannt sind. Sie wollen

dabei geschützt vor diesen

fahren, denen sie doch gefallen möchten?

Voll betüddelt mit Helm und Warnweste

sind sie unterwegs. Es sind keine Alien, sondern

Einheimische. Sie beachten jede Ampel,

ermahnen andere. Und scheinen doch

darunter zu leiden, dass manche einfach so

durchs Leben gehen.

Sicherheit geht vor, natürlich.

Aber kompliziert dürfen diese

Regeln, die in erster Linie Mütter

den Kindern lehren, nicht sein.

Ich glaube, die Bürgermeisterin

hat verstanden und die Lichtzeichen

eigenhändig abgeschaltet.

Solidarisch mit denen, die wissen

wie’s geht; ich habe damit ein

Problem – und diese Follower:innen haben

ihres. Ihre Ängste entspringen weiblicher

Logik und haben viele Facetten. Wir müssen

alle mitnehmen …

# Gewalt hat ihr Gutes

Manchmal tut es nur weh zu leben: Anschließend,

nach diesem Einkauf zu Hause,

während der Vorbereitung zum Kochen,

die im Markt besorgten Lebensmittel in

schmackhaftes Essen zu verwandeln, schneide

ich mir versehentlich in den Daumen!

Eine kleine Unachtsamkeit. Tut weh, so

dumm. Nicht zum ersten Mal reagiere ich

heftig über, trete den Schrank. Ich bin gerade

allein, Strohwitwer für zwei Wochen. Einige

Tage haben die Wohnung bereits in einen

Zustand wohliger Unordentlichkeit versetzt.

Bis Dienstag muss ich klar Schiff machen

und die gewohnte Sauberkeit wiederherstellen.

Ich krame ein Pflaster aus dem Schrank.

Während ich unflätigste Beschimpfungen

gegen Gott (persönlich) und die Welt an sich

raushaue, das Leben und Sinnhaftigkeit in

Frage stelle, wie immer in Hasstiraden, die

ich abspule wie eine bekannte Platte, stelle

ich diese verzweifelte Frage: „Warum muss

ich leben?“ Ich behaupte, während ich auf

mein Dasein fluche, dass eben angekratzt

ist am Daumen, ich wolle nur noch weg: „Warum

geht das nicht?“

Ich käme aber nicht ansatzweise auf die

Idee, mir das scharfe Messer in den Leib zu

rammen. Darin steckt mehr als Ironie. Ich

muss nun eine eingetretene Schublade reparieren,

blöd. Die Wohnung putzen, aufräumen,

sonst gibt es Ärger mit der Regierung

Dienstag. Wie ein Schlag vor den Kopf wird

mir das klar –

… und ich begreife, dass ich zur Heilung des

Daumens nichts veranlassen muss.

Selten habe ich so gern Chaos verbreitet,

fröhlich einen Wein geöffnet und mir das

Rumpsteak schmecken lassen. Um mich

herum zahlreiche Aufgaben. Mehr als sonst

achte ich nicht darauf, während der Zubereitung

die Übersicht zu wahren und Gebrauchtes

wie empfohlen wegzuräumen. Ein paar

Schraubzwingen, etwas Ponal, immer zu tun!

Leimen, Staubsauger raus. Ich denke: Eine

Henkersmahlzeit ist’s nicht gerade, ich lebe

ja noch. Mit Spinat und viel Knoblauch lässt

sich’s aushalten.

Da freut „Mann“ sich wirklich auf das Putzen.

Und es muss

nicht einmal

perfekt sein.

:)

Dez 5, 2021 - Das Problem 146 [Seite 144 bis 146 ]


Die gute

Nachricht

diagonal

Dez 15, 2021

„Weniger

Verkehrstote“,

lautet eine

Überschrift

heute. Die Nachricht hat es auf die Titelseite

vom Schenefelder Tageblatt geschafft. Nachdem

erläutert wird, wie geringes Verkehrsaufkommen

pandemiebedingt mitgeholfen

hat, die Unfallzahlen zu bessern und vor allem

weniger Menschen starben, betonen die

Statistiker, dass „weiterhin täglich im Schnitt

mehr als 800 Menschen verletzt würden.“

Das regt zum Vergleich an, parallel auf

die Corona-Statistik zu schauen. Nicht, um

die Krankheit quer zu leugnen, keinesfalls.

Der ungewohnte Blick, schräg durch alle

Tabellen zum Autoverkehr, verdeutlicht

die individuelle Gefahr einer Ansteckung

und mögliche Folgen, relativ zu anderen,

bekannten Risiken und deren Häufigkeit

im Alltag. Es schafft ein Moment gegen das

Bedrohungsszenario und dem gefühlten

Zwang zur Solidarität mit Fremden, nicht

anders handeln zu können, als sich impfen

zu lassen und wiederholt nachzuboostern

bis in alle Tage. Wer individuelle Antworten

sucht, beurteilt die Risiken relativ zum eigenen

Selbst und wird mit dieser Randnotiz

ermuntert, „diagonal“ zu denken, auf Distanz

zu gehen – in jeder Hinsicht.

# Geduld beweisen: „Maske auf und durch“,

ist so dumm nicht.

In der KW48 finden sich unter „Hospitalisierte

Fälle“ 6.043 Personen, „im Schnitt also

mehr als 800 Menschen täglich“, zufällig

gleich mit der Zahl im Verkehr verletzter

Autofahrer (wenn die Statistik die neu

aufgenommenen Patienten meint). Zunächst

unabhängig von der Schwere ihrer Verletzung

betrachtet, kommen wir zahlenmäßig

auf wöchentlich etwa gleich viele Menschen

mit körperlichen Blessuren, die sich diese im

Verkehr zugezogen haben und mit dem Virus

hospitalisierten Patienten. Mal davon abgesehen,

dass im Sommer kaum Menschen

mit Corona krank waren und die vierte Welle

ihren Scheitelpunkt Ende November hatte,

fehlt die Vergleichszahl auf das Jahr gesehen.

Ich vermute, dass die durchschnittliche

Rate der Hospitalisierung geringer ausfällt,

da wir momentan eine Welle durchreiten. Es

werden weniger krank, als es uns vorkommt,

weil Inzidenz nicht gleichbedeutend mit

Krankheit ist. Wen es erwischt, nicht nur

positiv Getesteter zu sein, sondern wer

Symptome entwickelt, darf noch auf einen

milden Verlauf hoffen.

# Wer tatsächlich im Krankenhaus landet, ist

nicht zu beneiden.

Tatsächlich sterben mehr

Menschen an Corona als es

Verkehrstote gibt, etwa 3.000

jährlich im Auto, und in den

zwei Jahren der Pandemie

beklagen wir über 100.000

durch oder mit dem Virus

gestorbene Personen. Es mag

erschrecken, dass deutlich

mehr als hundert Menschen

am Tag dran sterben. Das

persönliche Risiko ist aber

statistisch gesehen klein,

wenn diese Zahl den vielen

Menschen der gesamten Bevölkerung

gegenübergestellt

wird. Viele Menschen sterben

ohnehin jeden Tag. Alte und

vorerkrankte Menschen

besiegt Corona bevorzugt,

die Verkehrstoten bilden

altersmäßig gesehen alle ab. Wer auf einer

Intensivstation mit dem Virus liegt, hat den

Ort erreicht, wo zu sterben wahrscheinlich

ist. Aber das hängt doch sehr von der Lage

im Bundesland ab und was man tut oder

nicht, um dieses Schicksal

zu erleiden. Die öffentliche

Debatte fokussiert die

Gefährlichkeit des Virus’,

als verstünde inzwischen

jeder, was Not tut. Das ist

aber nicht der Fall, wie die

zunehmend aggressiven

Entwicklungen am Rand von

Demonstrationen zeigen.

Wer will hier Haare spalten?

Die einen sind lange krank,

andere erholen sich schnell. Vom Auto touchiert,

beeinträchtigt mich das einige Tage,

und wenn ich im zusammengequetschten

Wrack gerade mit dem Leben davonkomme,

länger. Diese Zahl von gut 800 Verletzten

pro Tag mal sieben zu nehmen, ergibt wohl,

dass in jeder Woche an die 6.000 Menschen

unter den Folgen eines Autounfalls leiden,

zumindest davon betroffen sind. Das entspricht

der aktuellen Zahl derer, die im Krankenhaus

mit dem Virus kämpfen. Wer würde

sich gegen die Gefahren durch Autofahrer

impfen lassen, falls eine geschäftstüchtige

Firma das anbietet? Vorsicht im Verkehr, einen

Gurt anlegen, die Regeln einhalten, genügt

uns normalerweise. Autofahren richtet

vielerlei Schaden an und bleibt uns doch als

Teil dieser Welt. Die Menschen steigen nicht

geschlossen auf das Fahrrad um, und nicht

alle impfen sich gegen das Virus; nachteiliges

Verhalten ist normal. Sicher wären

Inzidenzen und Hospitalisierungen höher,

impften wir nicht und legten Maßnahmen

fest. Es werden trotzdem weiterhin Menschen

sagen: „Da mache ich nicht mit!“ Diese

sind deswegen weder verschworen, noch

pauschal dumm. Erst, wenn in unmittelbarer

Nachbarschaft und Familie unzählige Bekannte

schwer erkrankten, wären alle bereit,

ihr Leben umzustellen. Dann ist es weiterhin

nicht die vielbeschworene Solidarität oder

gebotene Menschlichkeit, die zum Umdenken

führte. Wenn die Gesundheit erkennbar

gefährdet ist, handeln auch die Letzten aus

Eigennutz.

Viele misstrauen den Medien. Eine fassungslose

Krankenschwester zitiert Patienten, es

sehe ja hier „auf der Intensivstation wirklich

aus wie im Fernsehen“, dann kämpften sie

und die Kollegen, das Leben dieser Kranken

zu retten – nicht selten gelänge es nicht.

Dazu kämen Anfeindungen außerhalb der

Arbeit durch Fremde, sogar von Freunden,

die wüssten, dass sie Krankenschwester ist.

Das enttäuscht eine Helferin? Gut so, denke

ich mitleidlos, das ist dein selbstgewähltes

Lernfeld. Es gibt noch andere Berufe. Mich

haben schon einige im Stich gelassen, und

es fällt mir nie ein „weil man es sollte“

hilfsbereit zu sein, sondern nur, wenn ich

persönlich berührt bin. Menschen sind nicht

empathisch, sie behaupten es nur. Kluge

halten Abstand, weil es ohnehin geboten ist,

anderen wenig Vertrauen entgegenzubringen,

noch welchen zu folgen, weil es Mode

ist. Mit der Abwertung, ein Egoist zu sein,

lebt sich’s aus Überzeugung gut.

Covid schaffte es, die ganze Welt lahmzulegen

und ist deswegen eine Gefahr. Unsere

Gesundheitssysteme wurden nicht dafür

gemacht, zwei Jahre lang Überstunden

zu leisten, sind ohnehin unterbezahlt und

überbelastet. Virologen und Ärzte bestimmen

die Medien. Die Impfstoffe mögen für

sich genommen nur ein minimales Risiko

beinhalten. Das wird betont. Mit dem Virus

infiziert zu sein, kann dagegen

tödlich enden. Wer will das

bestreiten? Sich anzustecken,

ist dennoch vergleichsweise

schwierig. Das sagt niemand,

im Gegenteil. Alle Ungeimpften

infizierten sich kurzfristig,

heißt es bedrohlich. Dabei

verschweigt diese Darstellung

die große Zahl der Menschen,

die nicht krank sind und

vergleichsweise entspannt. Die

Zahl der täglichen Neuansteckungen

auf die Masse der Ungeimpften

hochzurechnen, relativiert die immer wieder

gemachte Drohung, weil sie schlicht zu niedrig

ist, uns kurzfristig zu durchseuchen.

Es ist wenig wahrscheinlich, schwer oder

tödlich zu erkranken, wenn man die gesamte

Bevölkerung dem Einzelnen gegenüberstellt

und zum Maßstab persönlicher Risikoeinschätzung

nimmt. „Hochansteckend“ ist der

Begriff, den wir inflationär zu hören bekommen.

Was bedeutet das? Wenn zehn Leute in

einem kleinen Raum einen HIV-Positiven unter

sich haben und einen anderen mit Covid,

ist es hochwahrscheinlich, dass alle krank

werden oder zumindest positiv getestet,

aber nicht mit der bekannten, tödlichen Immunschwäche.

Insofern ist Covid hochansteckend,

ja. Dabei kann man leicht übersehen,

dass weitere Faktoren eine Rolle spielen

Dez 15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal 147 [Seite 147 bis 148 ]


und letztendlich nur ein Teil der Menschen

ernsthaft leidet. Deutlich belastet sind

Pflegende, Angehörige, Politiker, denen der

Vorwurf gemacht wird, nicht angemessen zu

reagieren, und einige Wirtschaftszweige sind

mehr betroffen als andere. Damit erleben

viele Ungerechtigkeit und eine nie geahnte

Veränderung ihrer Erwartungen. Aber böse

erkrankt quälen sich weniger, als man uns

glauben machen will. Wir kennen Beschreibungen

von anderen, sehen das in den

Nachrichten, wie schlimm es kommen kann.

Das bleibt oft medienbezogen, abstrakt. Die

direkte Bekanntschaft mit Schwerkranken

ist regional begrenzt. Deswegen verhält sich

eine träge Masse

unbeeindruckt.

Nicht wenige

Sympathisanten

der Radikalen

finden sich, eine

neue Parallelgesellschaft

streckt

fröhlich ihre

Fühler aus: Der

Frisör kommt zu

dir ins Haus, der

Impfpass wird

gefälscht und was

weiß ich. Das dramatische

dieser

Krankheit wird

überbetont, weil aktuell keine vergleichbare

gesundheitliche Bedrohung bekannt ist. Es

täuscht über viele Faktoren hinweg. Zusammengenommen

gibt es etliche Bedrohungen

unserer Existenz. Der fokussierte Blick

verblödet.

Die neue Variante ängstigt, weil wir nicht

wissen, wie sich das entwickelt und macht

doch Hoffnung auf tendenziell mildere Verläufe.

Hospitalisierte zahlenmäßig im Auge

zu behalten und so die Gefahr, selbst schwer

vom Virus erwischt zu werden, relativ zum

„Alltagsrisiko Auto“ einzuschätzen, bietet

uns eine Landmarke der Orientierung. Werte

von wenigen hundert täglich bedeuten, dass

mehr Menschen irgendwo in Deutschland

gerade durch ein Fahrzeug lädiert wurden.

Jeder darf sich fragen, ob dergleichen häufig

im Umfeld vorkommt? Ein Maßstab für moderne

Egoist:innen, lieber Abstand zu halten

oder mutiger zu kuscheln. Der Rest hat keine

Wahl und muss sich so oft wie möglich spritzen

lassen und die Maske mit den Ohren

vernähen. Diejenigen, die Wert darauf legen,

alle Aktivitäten wie gewohnt zu genießen,

sind ohnehin schlau genug, die geforderten

Nachweise parat zu haben. Sie haben keine

Probleme. Wer zu viel merkt, hatte es schon

immer schwer. Aber wer sagt denn, dass ein

leichtes Leben einfach zu erreichen wär’

und überhaupt erstrebenswert? Am Besten

fühlt sich’s doch an, wenn selbstgefasste

Entschlüsse glücklich machen. Wir segeln

flott daher, ohne die schnelle Konkurrenz zu

bemerken, die ohnehin mehr versteht. Hier

findet sich der Schatz, die eigene Relativitätstheorie

zum Glück anzuwenden.

Was nützte, den Ball flach zu halten und

keine Panik aufkommen zu lassen, ist der

Blick auf die Hospitalisierungen. Das Impfen

zu forcieren, hat den Zweck, das Ende der

Pandemie herbeizuwünschen und Normalität.

Das ist das Allheilmittel derjenigen,

denen es dafür nutzt, eines zu sein. Es hilft

auch welchen, die unbeeindruckt eigene

Wege gehen, wenn viele die Aktionen

mitmachen. Die Ungeimpften sind häufiger

schwer erkrankt, die Impfung wirkt. Es

bedeutet aber, den gewünschten Schutz

halbjährlich aufzufrischen. Dieser Treue zum

einmal eingeschlagenen Weg mag, wem es

gefällt, gern konsequent folgen. „Vollständig

geimpft“ hieß anfangs, zweimal zu impfen.

Nun wird „geboostert“, das macht drei, und

mit Omikron beginnen wir wieder bei Null?

Man darf noch fragen. Wir anderen sind, als

Egoisten gebrandmarkt, latent solidarisch

miteinander und amüsieren uns noch über

den Kinderarzt, der mit falschem Impfpass

aufgeflogen ist und spotten sogar, bei gewalttätigen

Attacken zorniger Staatsfeinde,

wir hätten es kommen sehen? Klammheimliche

Freude über das Versagen der

Offiziellen, die ohne ihre Bürger zu verstehen,

zwei Jahre lang Druck ausübten

und sich von der Gewalt der Radikalen

überrascht zeigen, ist das allemal.

# Vor der Erkrankung schützt man sich

am Besten durch Distanz!

Das muss in Erinnerung gerufen werden,

hilft zielführend und bedeutet, weniger

Druck auf Menschen auszuüben, als

Zögerliche zu nötigen, sich ein Serum

injizieren zu lassen, dem sie nicht

vertrauen. Donald Trump wurden seine

alternativen Wahrheiten zum Verhängnis.

Ein Staat, der nur eine Wahrheit

kennen will, wird genauso scheitern, wenn

es bessere Lösungen gibt. Das Ziel ist nicht

die Impfquote. Wir möchten unsere Freiheit,

gesund sein. Alternative Wege werden nicht

zur Sackgasse, weil sie der Mehrheit nicht

passen. Menschen, die hinein laufen, müssen

umkehren, weil kein Weiterkommen ist. In

so einem Fall gibt es nur eine Wahrheit und

nicht „viele Wege führen nach Rom“. Es stirbt

nicht der Leugner einer Krankheit an ihr,

sondern einer, der sich irrt (und Corona nicht

wahrhaben will). Das ist schlimmstenfalls

ein Irrer, ein Narr und ein Teil dieser Welt

wie das Böse an sich, das schlechte Wetter.

Wir können ein Gewitter nicht belehren, es

leugne die Sonne und möge sich deswegen

verziehen. Letztlich ist

„Covid“ nur ein medizinischer

Begriff. Wir

sterben nicht an diesem

Wort, das leichthin

jeder im Munde führt,

sondern am Organversagen.

Lügen kann

nur derjenige, der die

Wahrheit kennt und

nicht jemand, der anderen

nicht glaubt. Ein

unbelehrbar dummer

Mensch ist verstört.

Dieser lügt nicht wie

viele, die nur behaupten,

etwas begriffen zu

haben, Macht ausüben,

eitel sind oder anderen ungeprüft folgen,

plappern. Der Mensch bleibt ein suchender

Kundschafter. Hier stehen keine Wegweiser,

die uns die Zukunft voraus sagen; Feiglinge

schimpfen.

Die Pandemie, das ist zunächst ein Begriff.

Dazu gehören die Impfgegner als ein

eigenes Problem dazu. Möglicherweise

gibt es diese auch in China? Sie gelten als

unsolidarisch und schadeten dem Ganzen,

meint man. Wenn das so ist, gefährden Ungeschützte

zunächst sich selbst, besonders

wenn sie krank werden. Ein nicht geimpfter

Mitbürger schadet niemandem, solange er

nicht krank ist, sondern liefert ein Argument

für den Lockdown, wirtschaftlichen

Zusammenbruch. Das ist zu kompliziert für

viele, denen der eigene Leib an erster Stelle

steht. Es sind Menschen, die nicht durch

aufgezwungene Medizin bedrängt werden

möchten. Diese glauben, sich effektiv gegen

Äusseres abzugrenzen, wehren sich und sind

gern bereit, anderen Erklärungen zu folgen

und in sich aufzunehmen wie alternative

Medizin. In einem freien Land wird dieses

zum kenternden Rettungsboot, wenn der Kapitän

sich in der Not nicht behaupten kann

für einen harten, aber richtigen Kurs. Das

Mittel der Schiffsführung ist Besonnenheit

nach dem Motto: „Menschen nehmen, wie

sie sind.“ Andere haben wir nicht.

Nach wie vor sind viele Ungeimpfte nicht

erkrankt. Wenn sich täglich etwa 30.000

Menschen infizieren, sind das 10 Mio in

einem Jahr. Bislang aber „nur“ 6,7 Mio

Infizierte verzeichnet Deutschland nach

zwei Jahren mit Corona. Teilt man diese Zahl

durch entsprechend 730 Tage, hatten wir im

Schnitt unter 10.000 Infektionen am Tag. 60

von 83 Millionen sind vollständig geimpft.

Der Begriff „vollständig“ hat bereits gezeigt,

wie schwach die Virologen tatsächlich

aufgestellt sind: Das ist eine Vollständigkeit

mit Ablaufdatum. Je nachdem, ob bereits

Geimpfte mit in diese Schätzung einbezogen

werden, bleiben abzüglich Genesener und

deswegen weniger Gefährdeter etwa zwanzig

Millionen, die stärker davon bedroht

sind zu erkranken. Unter Berücksichtigung

von Impfdurchbrüchen und nachlassender

Schutzwirkung bei Mutationen ist die

Behauptung, alle Ungeimpften infizierten

sich, nur seriös, wenn betont wird, dass sich

der Prozess (jahrelang) hinzieht. Es sei denn,

wir tolerierten extrem hohe Inzidenzen, ein

Vielfaches der bisherigen Werte, und das

scheitert an den schon jetzt kollabierenden

Intensivmedizinen.

# Ein langer Weg

Geduld könnte helfen.

Die Impfpflicht

umzusetzen, dass sie

uns wirklich voranbringt,

gestaltet sich

schwierig. Es wird

dagegen vor Gericht

geklagt werden. Das

Virus mutiert. Die

Impfwirkung muss

ständig nachgebessert

und geboostert

werden, die Impfgegner

radikalisieren

sich, und eine

Parallelgesellschaft

entsteht in unbekannter

Qualität. Das ist

unsere Zukunft. Es sei denn, das Virus macht

allmählich schlapp, und die Inzidenz mutiert

zu einer Zahl, die niemanden interessiert.

:)

Dez 15, 2021 - Die gute Nachricht diagonal 148 [Seite 147 bis 148 ]


Kein Fisch an Heiligabend

Dez 22, 2021

Schon einmal habe ich das gemacht, einen

bereits veröffentlichten Text überarbeitet.

Ich korrigiere ohnehin alles, habe immer

Revisionen. Als studierter Grafiker bin ich

weder zum Künstler noch Journalisten

ausgebildet, als Wissenschaftler oder gar

Schriftsteller besonders befähigt, aufgrund

erworbener Kenntnisse zu glänzen. Ich

lernte nie, in einer Schule fachbezogen zu

schreiben und skizziere Inhalte, für die ich

nicht extra qualifiziert bin. Das ist keine

Entschuldigung; niemand muss es lesen,

finde ich. Hier steht in erster Linie für mich

selbst festgehaltenes Material. Ich probiere,

mir über Dinge klar zu werden, die mir

beharrlich im Kopf herumgehen. Ich möchte

etwas über den Zusammenhang von Körper

und Psyche schreiben, mit persönlichen

Erfahrungen gespickte Inhalte, die unsere

untrennbare Einheit anschaulich machen. So

ist dieser Text „Neid, dazwischen“ im November

zustande gekommen. Beim Wiederlesen

fehlt mir der rote Faden in den eigenen

Worten. Es wurde nötig, noch einmal dranzugehen.

Zu viele Episoden und abschweifende

Umwege? Keine Linie, der man bereitwillig

folgt. Trotzdem wollte ich die Anekdoten

gern retten, besser verknüpfen. Ich bin weiter

davon überzeugt.

Was treibt uns an? Persönliche Motive!

Inzwischen ist ein weiterer Tag vergangen.

Heute hat Alexandra Geburtstag, morgen

ist Weihnachten. Unzählige Änderungen hat

das hier allein seit gestern noch erfahren.

Unnötig sich vorzustellen, dass andere

zwischendurch lesen und man später Fehler

findet. Zunächst die eigene Einschätzung

und meine Sache, zu entscheiden, ob etwas

stehenbleibt. Liest überhaupt jemand, was

ich schreibe? Das weiß ich nicht, und es darf

nicht wichtig werden.

# Der neue Maßstab

Kunst im Hof der Hexenküche. Wenn

Christiane, die aus dem Turm, etwas

verbockte, ja „-kackte“, um ihre eigenen

Worte zu verwenden, dann zementierte sie

die Unmöglichkeit, Schuld einzugestehen.

Zündelnd aus schützender Deckung erzwang

die Eingebildete Stille, schuf verstrahltes

Gelände. Gegen diese Mauer gibt man auf.

Jede Annäherung hieße, Arschlöcher auf den

Plan zu rufen. Das Recht zu beugen, konnte

mich nicht verbiegen. Erzwungene Integrität:

Als Hofnarr will ich nicht durch den Kakao

und über das Spiel- und Schenefeld

gezogen, von Schmeißfliegen verfolgt

werden.

***

Im Kescher gemeinsamer Historie

gefangen, spielen wir heute nach den

neuen Regeln. Meine Kunst lehnt den

Staat ab, riskiert Leben, verweigert Solidarität.

Bockig und voller Hohn finde

ich Wege, böse sind meine Scherze.

Zukunft fehlt, die verbliebene Motivation

unterscheidet sich von allem, was

ich mal dachte.

# Neid, dazwischen

Wenn Menschen psychisch krank werden,

scheint es angesichts einer Vielzahl möglicher

Diagnosen unangemessen, zu pauschal

gedacht, nach dem grundsätzlichen Übel zu

suchen, das allen Störungen zu Grunde liegt.

Aber genau das fragen sich die Erkrankten,

warum passiert es gerade mir? Was kann

ich dafür, nicht normal zu sein, was ist der

Grund? Der Arzt muss die detaillierte Lehrmeinung

– entsprechend seiner Ausbildung

– mit der Erwartungshaltung der Allgemeinheit

in Einklang bringen.

Ein Wunder möge geschehen: Patienten wird

der Therapeut mit einer These helfen, die

eine Erkrankung zugänglich beschreibt wie

etwa Krebs. Jeder glaubt ja zu wissen, was

das ist, und insofern hilft es, ein Erklärungsprinzip

vorrätig zu haben. Im Einzelfall

entwickelt sich die Suche, woran es liegt,

aber weiter. Wir Kranken denken: Wüsste ich,

woher das bei mir kommt, könnte

ich’s selbst abstellen. Der psychisch

Kranke erlebt Dysfunktion. Dem Arzt

genügen Abnormität der neuronalen

Systeme und Hinweise auf die spezielle

Verhaltensstörung, die Abgrenzung

zu genetischen Abweichungen

oder pathologischer Degeneration,

um seine Unterstützung anzubieten.

Einigen Patienten reicht das. Zufrieden,

wenn ihnen jemand zuhört, sind

sie bereit, betreut und mit Pillen

versorgt, in einem eigens für sie gebaggerten

Kanal parallel zum Mainstream der

normalen Gesellschaft im Schlepptau ihres

Arztes zu fahren. Anderen reicht die Einordnung

zum Menschsein zweiter Klasse nicht.

Immer wieder brechen sie aus der Behandlung

aus, teilweise mit fatalem Ergebnis.

Die normale Gesellschaft fremdelt mit

psychisch Kranken. Wer Schaden anrichtet

und nicht weiß, wie ihm geschieht, dem

kann man schlecht das gleiche Strafmaß

aufdrücken wie demjenigen, der sich Vorteile

verschafft. Wir erkennen eine Krankheit

dann, wenn Menschen sich selbst schaden,

wo sich andere klug oder sogar illegal zum

Gewinner machen und unterscheiden dieses

Verhalten von der Dummheit. Einen dummen

Dieb sperren wir ein. Einen kranken

Einbrecher werden wir therapieren; was ist

der Unterschied zwischen ihnen? Zunächst

einmal erkennen wir die Normalgesundheit

daran, dass Menschen sich integriert verhalten.

Sie sind klug genug, Erfolg zu erzielen,

ohne die Regeln zu verletzen. Dumme

Menschen begreifen wir als gesund, ordnen

diese als unnötigerweise begriffsstutzig ein.

Im Spruch „Genie und Wahnsinn lägen dicht

beieinander“, drücken wir aus, dass psychisch

krank zu sein nicht Einfalt bedeuten muss

oder es jemandem an Intelligenz mangelt.

Wir unterscheiden den Verrückten vom Blöden:

dem dummen Menschen. Was ein Einfältiger

zu Tage bringt, therapieren wir nicht.

Soll der doch selbst machen, wie er’s glaubt?

Wer nicht stört, kann eine simple Arbeit tun

zum Mindestlohn, wenn überhaupt. Mit dem

kann man „es“ machen, denken viele, wenn

jemand einfach gestrickt ist. Kranke sind anders,

möglicherweise unkontrollierbar? Das

Wichtigste ist der Gesellschaft die Sicherheit.

Der Arzt führt seine Praxis mit der erklärten

Absicht, für die Patienten da zu sein.

In erster Linie hilft der Psychiater aber der

Gesellschaft insgesamt. Wir brauchen einen

Spezialisten, der Verantwortung übernimmt,

wenn die Patienten dazu nicht in der Lage

sind. Obwohl es die unterschiedlichsten

psychischen Abnormitäten gibt, jedenfalls

die verschiedensten Verhaltensweisen

und entsprechende Diagnosen – was doch

suggeriert, man kenne sich aus – gelingt

es oft nicht, die Betroffenen zum dauerhaft

normalgesunden Verhalten richtigzustellen.

Tatsächlich können auch andere Erkrankungen

zu einem nicht lösbaren Problem für

Leidende werden, falls der Anspruch erhoben

wird, ganz gesund zu werden. Alzheimer

kennt nur eine Richtung. Parkinson ist nicht

heilbar. Multiple Sklerose verläuft schubweise.

Krankheitsaktive Phasen können heftig

sein und bedeuten, sich schrittweise vom

normalen Leben verabschieden zu müssen.

Die Krankheit entwickelt sich alternativ

milde, kommt zum Stillstand. Warum das

mal so oder anders geschieht, ist offen. Eine

erfolgreiche

Heilungsmethode

wird nicht

angeboten.

Verschiedene

Ansätze lindern

die Symptome.

Eine Vielzahl

von Missbildungen

begrenzen

die Normalität

des Menschseins.

Wir müssen hinnehmen, dass es diese

gibt und wissen nicht, warum es einige trifft,

die nun ihr ganzes Leben beeinträchtigt

sind. Manche Krankheiten bestehen von

Geburt an und bleiben. Einige treten irgendwann

auf und sind nicht heilbar. In vielen

Fällen kann die Medizin für Erleichterung

sorgen, ohne das Versprechen vollständiger

Gesundung abzugeben. Insofern darf auch

der Anspruch, psychisch Kranke – vor allem

unter Berücksichtigung der unterschiedlichen

Ausprägungen und Verläufe – restlos

zu heilen, nicht erhoben werden.

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 149 [Seite 149 bis 156 ]


Das ist aber weiterhin der Wunsch derjenigen,

die nicht verstehen können, warum

sie in einer Therapie besseres Verhalten

lernen müssen ohne erkennbares Ziel am

Ende. Das bleibt so vage wie die Normalität

ja ohnehin ein dehnbarer Begriff ist. Nach

einem grundsätzlichen Ansatz zu suchen,

psychische Krankheiten von den anderen zu

unterscheiden, wie den Fisch vom Landtier,

obwohl man weiß, wie verschieden diese

Störungen jeweils daherkommen, scheint so

abwegig nicht. Schließlich weckt die Therapie

Hoffnungen, man müsse nur folgsam

lernen, um irgendwann gesund zu werden?

Bei manchen ist ihre psychische Krankheit

so eindeutig, das Verhalten gezwungenermaßen

behandlungwürdig,

dass wir es doch schaffen

müssten, geistige Gesundheit

zu definieren. Könnten

Anfangspunkt und

These falschen Verhaltens

exakt definiert werden,

bewegte man sich in die

Richtung weg davon.

Es könnte jeder „facing

backwards“ navigieren,

wie es beim Fliegen heißt

und Fortschritte messen,

Etmale wie in einer Karte

eintragen.

Spezialisten gelingt in den

meisten Fällen, Krankheiten

wie Krebs, Infektionen

und organische Dysfunktionen

von denen abzusondern,

die einer gestörten Psyche mit den

unterschiedlichen Ausprägungen Depression,

Psychose oder Neurose, Zwangsstörung

zugeordnet sind. Nun sollte möglich sein,

Therapieziele zu formulieren und Fortschritte

zu prüfen. Patienten müssten zum

Training finden, dürften nicht beim Hausarzt

oder praktischerweise beim Psychiater um

die Ecke landen.

Es gibt, um das Beispiel weiter zu verwenden,

Menschen, die mögen keinen Fisch. Sie

weigern sich, die unterschiedlichen Gerichte,

Zubereitungen der allerverschiedensten

Wasserlebewesen auszuprobieren. Diese

schmeckten ihnen nicht, sagen sie. Dem

Gourmet ist es ein Rätsel, bei der Vielfalt

an Geschmacksnuancen, die ein guter Koch

hervorzaubern kann, wenn Fisch auf der

Karte steht. Es gibt sie aus Fluss und Teich,

die Süßwasserfische. Wir fangen Fisch aus

dem Meer, Ozean und der Tiefsee inklusive

der Krabben, Krebse und Austern, Muscheln

und was weiß ich Oktopussen. Wir können

dünsten, köcheln, braten und gratinieren,

Salate machen, Sushi essen: Die schmecken

doch alle verschieden, die Fische. Es gibt

Vegetarier aus Überzeugung, aber manche

mögen fettes Fleisch, kümmern sich um

keinen Rat, wie es sich gehöre, gesund zu

essen. Die kleine Abschweifung mag illustrieren,

dass Haarspalterei in den Diagnosen

möglich und gelegentlich schwierig zu

sagen ist, worin eine psychische Erkrankung

besteht, aber auf der anderen Seite eine rote

Linie verläuft, die den geistig Gesunden von

demjenigen trennt, der zum Psychiater muss.

Fisch ist nicht Fleisch.

Und genauso, Luxus der Einbildung, wie

sich’s ein Hypochonder einredet, meint

wiedergeboren, im falschen Körper gefangen

zu sein oder mit aufgespritzten Lippen sei

es gut, gibt es den kranken Kopf wie den

gebrochenen Fuß. Die Grauzone aus Lebensüberdruss,

Langeweile, Desorientiertheit

eines im Wohlstand verlorenen Millionärs

oder der arbeitsunwilligen Person, die den

Gang zum Arzt als Zeitvertreib aufsucht,

endet dort, wo ein Mensch zwangsweise

eingewiesen wird, weil es nicht anders

geht. Neben den eindeutig pathologischen

Fällen finden sich etliche Menschen, deren

Normalität als grenzwertig anzusehen ist,

obwohl sie mit einem Verhalten aufwarten,

dass umgangssprachlich als bescheuert

bezeichnet wird. Als Spinner abgewertet,

können sie trotzdem auf individuelle Weise

integriert leben. Krank ist in erster Linie, wer

zum Arzt muss und nicht wer mal hingeht,

weil’s gefällt.

# Genie und

Wahnsinn, verrückte

Künstler

Nicht wirklich

ein neues Thema;

vom Spinner

ist es nicht weit

zum kultigen

Typen, der

irgendwie dazugehört.

Da stellt

sich die Frage,

warum gibt es

Künstler, und

wozu braucht

die Gesellschaft

ihre Objekte,

die Malerei und

den vielfältigen Kram, der zwar gelegentlich

hochwertig gehandelt wird, aber nicht

unbedingt nötig erscheint?

Das sind weniger verschiedene Themen,

sich näher als Fisch und Fleisch. Der normale

Mitbürger, auf der anderen Seite die

Kunst und die Suche nach dem Grund für

psychische Krankheit; warum gibt es das?

Es geht um die Existenz: Die individuelle

Antwort zum Lebensentwurf ist so verschieden

wie der Mensch an sich. Das Einfachste

wäre wohl, alle machten nur nutzbringende

Sachen. Die Handwerksberufe, die Ebene

der Führungskräfte, die Sicherheit im Staat,

Medizin, Politik, es gäbe ja genug.

Warum beginnen Menschen mit Malerei,

beschränken sich nicht wenigstens, wenn es

unbedingt sein

muss, darauf,

die Köter und

Enkelkinder der

Verwandtschaft,

die Brandung vor

Sylt oder die Porträts

der Kanzler

anzufertigen?

Warum sind Menschen

so blöd,

im Wahn einen

Amok zu starten,

anstelle einfach

zu arbeiten und

anschließend zu

chillen, ficken, was weiß ich? Warum lassen

sich nicht alle endlich gegen das Coronavirus

impfen usw. – das sind diese Fragen, die

sind so unmöglich zu beantworten, wie die

nach dem Grund, warum es uns überhaupt

gibt. Nichtsdestotrotz ignorieren nicht

wenige diese Tatsache und halten verbal

auf alles drauf, das ihnen nicht geheuer ist.

Besonders, wenn etwas nicht nutzt, sondert

Schaden anrichtet. Nicht wahrhaben wollen,

das manches zum Dasein auf diesem Planeten

dazugehört, ist ihre Haltung. Glücklich

sind diese – wie sie betonen – Klügeren

nicht und motzen, mobben, lynchen wo’s

geht.

Ein neuer Ansatz, Spinner, Geisteskranke,

Querdenker und Künstler, Andersdenkende

schlechthin zu begreifen, wäre, ihnen pauschal

Neid vorzuwerfen. Wer nicht mitmacht,

einfach normal dabei zu sein wie’s die Masse

hinbekommt, ist neidisch auf diese Fähigkeit

und Duldsamkeit, unter dem sozialen Druck

kein Unwohlsein zu spüren?

Eine Masse Mensch folgte Adolf Hitler

begeistert in das Naziregime. Eine breite

Menge trägt die Demokratie, und das sehen

wir überall: Eine Mitte der Gesellschaft ist

soweit zufrieden, dass sie als normaler Block

verstanden werden kann. Ob nun freiheitlich

und demokratisch streitend oder uniform in

der Diktatur, zunächst einmal gibt es immer

den größeren Kern eines Systems. Den Rand

bilden einzelne Sprenkler oder gruppierte

Andersdenkende, unter Umständen zum

Widerstand bereit. Der Innenminister unterscheidet

gern den Terrorist vom kranken Einzeltäter

im Falle von Attacken, aber zunächst

einmal können wir sagen, dass Amok, Geisteskrankheit

und dem System keinen Nutzen

bringende Menschen den Rand bilden.

Neid als Ausdruck darin zu sehen, würde ein

Handlungsfeld bedeuten, wenn wir diese

Haltung beschreiben könnten. Durch Zufall,

und weil ich als Jugendlicher etwas las,

fand ich einen Hinweis darauf, den Neid als

Körperfunktion zu isolieren und weniger

verbal zu begreifen. Neid gehört zu den unerwünschten

Gefühlen. Für viele Menschen

finden psychische Krankheiten im Kopf statt.

Im Gehirn, das messbar entgleist, finden sie

ihren wissenschaftlichen Halt, diese Störung

einzuordnen und vergessen gern, dass

jeweils ein Körper zum entsprechenden Kopf

gehört, der mit seinen Armen und Beinen

all diese absurden Dinge macht, die ein

Verrückter anstellt.

Die meisten Gesunden laufen einigermaßen

normal. Die wenigsten psychisch Kranken

erwecken den Anschein entspannter Bewegung,

aber es gibt auch Momente, in denen

sie uns alle übertreffen, manisch aufdrehen,

mitreißen und sich

besser bewegen als

Ottonormal. Sich

mit der Bewegung

und überhaupt den

Spannungen in der

Muskulatur auseinanderzusetzen,

könnte

helfen, psychische

Krankheiten als dem

ganzen Menschen

innewohnend zu

begreifen.

Was haben Körper

und Verhalten

gemein? In der Regel verstehen wir den

Umgang mit anderen als entweder normal

oder zu therapierende Fehlleistung. Dass der

Körper eines Verhaltensgestörten anormal

funktioniert, wird gern übersehen, wenn es

darum geht, diese Störungen in alltägliche,

die Existenz verbessernde Handlungen zu

ändern. Das ist nicht klug. Leicht kann sogar

der Laie den guten Sportler erkennen, den

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 150 [Seite 149 bis 156 ]


verkrampften Neurotiker. Ein disziplinierter

Berufssportler wird sich zudem keine Manie

erlauben. Er muss alltäglich funktionell

agieren. Daran sollte sich die Psychiatrie

orientieren, tut es aber nicht.

# Ein anderer Ansatz

Das schöne Leben der Gesunden? Sie gehen

ab wie die Raketen von Bazos. Schon in der

Schule starten welche durch, sind schöner.

Zu leben fällt ihnen scheinbar ganz leicht.

Das möchte ich auch; kann man’s lernen?

Wir könnten anders handeln. Wir könnten

auch anders behandeln, wüssten wir, Gefühle

aus dem intellektuellen Begriff hinaus zu

nehmen. Denn wenn ich zu jemanden sage,

er sei wohl ärgerlich,

ängstlich

oder neidisch,

wird allein diese

Zuweisung Zorn

hervorrufen.

Angenommen,

dem einen bedeutet

zu neiden eine

Gänsehaut und

anderen, dass sie

schwitzten, würde

es helfen, sie

wüssten davon.

Eine psychische

Erkrankung ist

schwer fassbar,

weil der Betroffene

Gefühle

nicht zuordnen

kann. Während

Psychopharmaka ihre emotionale Stabilität

zum Preis geistiger Beschränktheit bieten,

könnte ein besserer Ansatz die Intelligenz

der Kranken anregen. Wer mehr merkt,

handelt flexibel und wird konkurrenzfähig

mit denen, die er zu kopieren probiert, aber

scheitert, weil er nicht weiß, wie und wo er

sein System blockiert. Hier müsste die Psychiatrie

nicht demontiert werden, sondern

erweitert. In dramatischen Fällen ist der

moderne Apparat gut aufgestellt. Man hat

wirklich Erfahrung. Im Vergleich zum Grusel

damaliger Anstalten, wird in der Not auf

menschliche Weise mit guter Wirksamkeit

der Medikamente geholfen. Es fehlt vielmehr

daran, einzusehen, dass allein Leben

zu retten nicht genügt. Es muss lebenswert

sein. Niemand müsste anderen den Erfolg

neiden, könnte er handeln wie diese.

Wüssten wir, wo wir unbewusst hemmen,

könnten wir damit aufhören. Das ist schwieriger,

als etwas zu tun, denn wir müssten

etwas lassen, von dem wir nicht wissen, dass

wir es tun. Folgten wir dem Therapeuten, bewegten

wir uns weiter von uns weg. Wir sind

nun keinesfalls innovativer Unternehmensgründer.

Niemand schließt sich uns gern

an. Wir reißen andere nicht mit, sind dumpf

versteift und unsere Schwierigkeiten, angepasst

im Team zu funktionieren, werden fortdauern.

Wir sind nicht verrückt, immerhin,

aber zugedröhnt. Unter dem Medikament ist

der Behandelte noch weniger flexibel als

ohnehin. Therapiert, folgt ein Kranker dem

Arzt, bleibt an die Hand genommen, erkennt

seine hemmende Körperspannung

nicht,

kann sich sozial weiter

nicht behaupten.

Der erste Schritt hieße,

Emotionen daran

zu erkennen, was

sie – ganz individuell

– mit dem eigenen

Körper machen

oder dem Gesicht.

Erfolgreiche lernten,

dieses entweder als

individuelle Maske

in die Welt zu tragen

oder sind tatsächlich

offen. Normalgesund

zu leben, kann bedeuten

mitzulaufen oder

mutiger Gestalter

sein. Wir scheitern

dazwischen. Kranke zerren sich eine

Fratze und können das eigene Theaterspiel

nicht begreifen, als wüssten sie nicht, wo

die Bühne ihr Ende hat und persönliche

Intimität gefragt ist. Das Problem wird nicht

vom Psychiater gelöst, solange dieser nicht

sagen oder machen kann, dass sein Klient

fühlt, was er tut. Ein neuer Ansatz wäre

eine Benutzungsanleitung für Menschen zu

konzipieren, die der Patient quasi auf seine

eigene Festplatte, das Gehirn herunterlädt.

Neid beschreibt individuell und präzise, was

uns geschieht und krank macht, genauer als

Angst. Wir möchten etwas, können es nicht

bekommen. Angst hindert uns, aber das

Gefühl des Neides beinhaltet die persönliche

Note, zu sagen, was wir uns genau

wünschen. Das kombiniert Frust mit Furcht.

Wir halten uns zur nötigen Eigenleistung,

die wir aufbringen

müssten, Ziele zu erreichen,

nicht fähig und sind überfordert

Befriedigung zu erlangen.

Angst ist die Basis, aber Neid

ist persönlich. Manche möchten

Fußball spielen und andere

malen oder Musik machen. Wir

fürchten die, denen wir nicht

gewachsen sind, uns gegen

sie durchzusetzen auf einem

eigenen Weg. Ja, nicht einmal

genau zu wissen, wohin die

Reise geht, ist unser Problem.

Deswegen ist unklarer Neid

auf andere, denen zu leben

scheinbar leicht gelingt, der

Angst und Pudels Kern.

# In sehr seltenen Fällen

liegt das Herz auf der rechten

Seite des Brustkorbes.

Mediziner bezeichnen das Phänomen als

Dextrokardie. Häufig ist diese Anomalie

angeboren, manchmal sind alle Organe des

Körpers spiegelverkehrt angeordnet. Durch

Verletzungen oder Erkrankungen kann das

Herz aber auch erst im Laufe des Lebens

nach rechts verlagert werden. (Deutsche

Herzstiftung).

Die Organe sind in einer bestimmten Weise

im menschlichen Körper untergebracht.

In der Regel befindet sich das Herz links.

Die meisten Menschen sind Rechtshänder,

warum? Während vieles in unserer Existenz

mal so oder anders zu sein scheint, sind

diese Dinge recht konstant übereinstimmend:

Herz links, Rechtshändigkeit. Der

Anteil der Linkshänder in der Bevölkerung

scheint anzuwachsen, und möglicherweise

ernähren sich heute mehr Menschen

vegetarisch? Vielleicht wird es zukünftig

eine Operation geben, die unser Herz auf die

gegenüberliegende Seite bringt weil das für

manche besser wäre, die sonst mit falschem

Körper lebten, wer weiß? Jemand könnte es

behaupten und Follower finden.

Funktionelle Symmetrie hieße, mit rechts

wie links schreiben zu können, das Fahrrad

so- wie andersherum zu besteigen, ein

Telefon gleichermaßen am rechten wie

linken Ohr zu halten. Das würde bedeuten,

beim Warten auf den Bus zu gleichen Teilen

der Zeit, mal das linke bzw. rechte Bein als

„Standbein“ zu nutzen. Menschen, die darin

vollkommen wären, nach Belieben mit der

rechten oder linken Körperseite Handlungen

zu beginnen,

dürften

wir darin

bewundern

und möglicherweise

beneiden.

Das könnte

auch

unbewusst

geschehen.

Was würden

wir

neidisches

anstellen,

zunächst mit

dem eigenen

Körper?

Einer protzt

mit seinen

Muskeln,

stapft rum.

Jemand

drückt sich

verschämt

an der Wand

lang, kopiert

die Haltung

anderer,

tut so, als

ob. Manche

sind immer

auf der

Flucht. Für

alle diese

Kombinationen aus Angst und Neid, die wir

meinen zu benötigen, entwickeln Menschen

individuelle Muster, Spannungen in der

Muskulatur. Das Gehirn liefert die Vorgaben,

und der Körper setzt sie um. Psyche und

Physis werden nur in der Theorie getrennt

dargestellt. Einmal begriffen, kann die

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 151 [Seite 149 bis 156 ]


typische, aber falsche Denkweise „krank im

Kopf, im Körper normal“, umgekehrt und

effektiv zur Selbstbehandlung angewendet

werden. Bewusstheit ist besser als ein Arzt,

der uns Ratschläge erteilt. Ein System, dem

es möglich ist, eigenverantwortlich seine

Funktion mit dem gewünschten Verhalten

abzugleichen, handelt autark. Selbstkritik

und die Kontrolle, ob gewollte Einmischung

ins Ego zielführend ist, Vorbildern ähnlich

wird, diese sich überhaupt lohnen, nachgeahmt

zu werden, trennt Individualisten und

abnorme Menschen voneinander. Gesunder

Menschenverstand: Wir benötigen die Überprüfung,

ob es uns eigentlich nützt?

# Mehr als Kopfschmerzen

Es kann nicht bestritten werden, dass manche

Menschen diesem Ideal, falls es eines

ist, symmetrischer Selbstverwendung, nahe

kommen und andere weniger. Schneide ich

ein Blatt Papier heute mit der rechten Hand,

morgen nehme ich die Schere links, ohne

groß darauf zu achten; es könnte Menschen

geben, die das machten. Einen Anhaltspunkt,

ob jemand die Angewohnheit hat, Dinge

nur auf eine Weise zu tun, also nicht nur

Rechtshänder zu sein, sondern viele Dinge

sehr speziell ausführt, müsste sein Gesicht

zeigen. Zu individuell an Aufgaben heranzugehen,

kann nachteilig sein. Während wir

das Besondere bewundern, schauen wir auf

das Absonderliche herab. Das betrifft auch

das Gesicht unseres Gegenübers; symmetrische

Gesichtszüge werden von manchen

als vollkommen, schön empfunden, während

andere sich an geringen Abweichungen

erfreuen, die eine lebhafte Mimik bereichert.

Ein einseitiges, übertrieben schiefes Lächeln,

gewohnheitsmäßig hingezerrt, mögen die

wenigsten.

Das wurde zu meinem persönlichen Problem!

Ich sah mich dazu gezwungen, es zu

lösen, zumindest Besserung musste sein. Mir

fiel das mit den Jahren auf, und es hat mich

nicht nur

gestört, es

wurde zum

Gradmesser

für

emotionale

Probleme.

Wie

stark ich

zwanghaft

eine Gesichtsseite

zusammengezogen

halte, das kontrolliere ich heute oft. Dazu

helfen entsprechende Anwendungen, die ich

lernte, meine Bewusstheit zu schärfen. Durch

die Verbesserung, diese mehr als lästige

Angewohnheit abzumildern, sind nicht nur

extreme Kopfschmerzen zurückgegangen.

Ich möchte behaupten, dass gern gesagt

würde, Symmetrie sei langweilig, aber ausgeglichene

Selbstverwendung viele Leiden

bessern kann.

Für die Kopfschmerzen immerhin kann ich

einen Beleg anführen. (Für anderes auch,

möchte es aber an dieser Stelle nicht tun).

Ich bin seit der Jahrtausendwende verheiratet.

Während ich früher mit Freunden unterwegs

war, später mit der heutigen Ehefrau,

die Ostsee mit dem Boot zu erkunden, wurden

allmählich mit dem Auto angesteuerte

Urlaubsziele typisch. Nach jeder Anreise am

Ferienort verbrachte ich die folgende Nacht

mit heftiger Migräne. Das versaute noch

den ersten Urlaubstag, bis sich das Ganze

allmählich normalisierte, die Schmerzen

nachließen.

Das war auch beim Segeln passiert. Nach

dem harten Regattawochenende vielleicht

oder auf einer Sommerreise. Ich erinnere

eine anstrengende Episode über Nacht mit

unserem vergleichsweise winzigen Boot

ohne Motor. Wir entschlossen uns, von etwa

dem nördlichen Ausgang des kleinen Belts,

Strib, in einem Rutsch die Nordspitze Fünens

zu umsegeln. Es war ein schöner Tag mit

leichtem oder zunächst sogar mittleren

Wind. Das Wetter sollte schlecht werden,

sehr windig. Wir entschieden nördlich Korshavn,

einfach weiterzumachen.

Als wir Fünen dort

oben umsegelten,

wurde es dunkel – und

flau. In die beginnende

Nacht hinein tasteten

wir uns südlich in

den großen Belt.

Wir bändselten die

Petroleumlampe an

den Großbaum, wo sie

beständig schaukelte,

dass es schon Angst

machte, sie würde

deswegen verlöschen;

Feuerhand-Sturmkappe

geht nicht aus.

Gelegentlich zogen

wir die Karte zu Rate. Meine Nochnichtehefrau

besaß eine Taschenlampe. Wir kreuzten

schließlich gegen einen ganz leichten, südlichen

Wind unter Land in finsterster Nacht.

Einmal passierten wir überraschend eine

kleine Untiefentonne. Damit kannten wir

(enttäuscht, wie weit es noch zum Zielhafen

war) unsere Position und begriffen, dass wir

es nur knapp verfehlt hatten, mit ihr zu kollidieren!

Im Stockdunklen meinten wir, die

Bucht von Kerteminde anzusteuern, und das

war korrekt. Mit der beginnenden Morgendämmerung

erreichten wir die Molenköpfe.

Es war so flau, dass wir bis zum geeigneten

Liegeplatz paddelten. Wir machten fest, bauten

Persenning. Es wurde hell. Gegen sechs

Uhr morgens krochen wir in die Schlafsäcke,

um noch Erholung zu finden. Das Ganze war

nicht in dem Sinne körperlich anstrengend,

weil viel Wind uns zum sportlichen Segeln

nötigte, aber die angespannte Krabbelei in

der schmalen Jolle und die völlige Finsternis

im unbekannten Gewässer hatten an

unseren Nerven gezerrt und sicher auch in

den Gebeinen. Am Tag wachten wir gegen

Mittag auf. Die Sonne knallte geradezu vom

Himmel. Ein Oststurm nahm seinen Anfang,

bis zu sieben Beaufort wehten jetzt für

drei Tage durch. Wir blieben deswegen in

Kerteminde: So lang dauerte auch meine

anfänglich unerträglichste Migräne, die ich

bis dahin erlebte.

Dann Backnang, dorthin fahren wir regelmäßig.

Ich erinnere dieses bekannte Fußballdisaster

gegen Schweden. Das findet man

leicht bis heute im Internet.

# Es sah alles nach einem perfekten Tag für

die deutsche Nationalmannschaft aus. Vor

exakt (…) Jahren führte man am 16.10.2012

im Berliner Olympiastadion mit 4:0 gegen

Schweden und das

bereits nach 56

Minuten. Es schien

so, als hätte man

den Sieg sicher,

doch da hat man

die schwedische

Mannschaft um

Superstar Zlatan

Ibrahimović

unterschätzt. Das

DFB-Team legte

ab dem 4:0 den

Rückwärtsgang

ein und dadurch

bekamen sie dann

den ganzen Willen der Schweden zu spüren.

Nach den Toren von Ibrahimović (62.), Lustig

(64.) und Elmander (76.) hat man sich in der

93. Minute durch ein Tor von Elm wirklich

noch den Ausgleich eingefangen. Bitterer

Abend für Deutschland, doch es war der

Anfang einer Erfolgsgeschichte, denn bei

dem Spiel handelte sich um ein Qualifikationsspiel

für die Weltmeisterschaft 2014

in Brasilien – Ergebnis bekannt. (Webseite:

Fumsmagazin).

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Die fiesesten Kopfschmerzen, die ich an

diesem Abend und der folgenden Nacht

entwickelte, entsprachen denen von Kerteminde.

Ich erinnere mich so gut daran, weil

ich noch durch die Stadt gelaufen bin und in

einer Bar mit Sportbegeisterten ferngesehen

habe. Die Migräne hatte todsicher nichts

mit dem Versagen der Nationalmannschaft

zu tun. Aber bemerkenswert daran ist,

dass dieses bis dahin mehr als einmal pro

Jahr belastende Phänomen anschließend

zunächst schwächer wurde, schließlich nicht

mehr aufgetreten ist. Ich kann mich an keine

Attacke seit

vielen Jahren

erinnern. Moshe

Feldenkrais

und andere

publizierten

Ansätze, die

eine gute

Basis sind,

weitergedacht

zu werden:

Warum nur von

Kopfschmerzen

reden, von Rückenbeschwerden und psychische

Krankheiten woanders verordnen?

Ein Tabuthema mit diffusen Einschätzungen

und unzähligen Diagnosen aus der Ecke der

Quacksalber zu holen, bedeutet Fische in

Landtiere zu wandeln und gestaltet sich entsprechend

langwierig. Es ist aber möglich.

# Stress ist ein Wort für alle …

… bedeutet aber ganz individuelle Probleme

zu haben. Es ist wie mit der Intelligenz, was

soll das denn sein? Nur weil jeder ein Wort,

einen Begriff verwendet, heißt es nicht zu

verstehen. Wie

mit der Elektrizität

oder dem

Darknet, das

sind zunächst

Krücken für die

einfache Kommunikation.

Ich

weiß nicht, was

das ist: „Darknet“,

und von

der Elektrizität

habe ich in der

Schule gehört.

Strom kommt

aus der Steckdose,

ist meine

Erklärung. Ich

kaufe keine

illegalen Dinge

auf Plattformen,

die ich im Internet

nicht erreiche. Diese zunächst nichts

miteinander gemein habenden Dinge verdeutlichen,

dass es sich mit der Intelligenz

und dem Stress gleichermaßen verhält: Wir

erklären uns die Dinge weg, können über

etwas reden, müssen aber genau genommen

Unwissen eingestehen. Kopfschmerzen sind

der einfache Zugang, zu begreifen, dass

Stress die Ursache sein kann, wenn etwas

weh tut. Andere verbinden Stress mit Fressattacken

und haben keine Kopfschmerzen.

Insofern ist das ein dehnbarer Begriff, der

die Probleme zwischen Körper und Geist

individuell verhäkelt, aber kaum hilft, diese

zu lösen.

Psychische Belastungen werden für gewöhnlich

nicht mit Schmerzen in Verbindung

gebracht. Ein krankes Gehirn tut nicht weh.

Ist das das Knie lädiert, achten wir nur auf

die Mechanik. Manche wissen, dass sie ihre

orthopädischen Beschwerden dem Verhalten

zuzurechnen haben. Untrainiert einen Marathon

mitzumachen, wäre ein Beispiel, wo

Dummheit und psychische Egomanie sich

die Hand reichen mit dem Ergebnis eines

Meniskusschadens. Intelligenz ist ebenfalls

hilfreich, näher gedeutet zu werden, weil

diese dann undeutlicher wird, bei genauer

Betrachtung. Aus diesem Grunde wurde die

„emotionale Intelligenz“ als Begriff etabliert.

Das entspricht dem Paradox, von „positivem

Stress“ zu sprechen. Bald fallen

weitere Blödheiten auf, die „gefühlte

Temperatur“ ist ebenfalls

mit Vorsicht zu bewerten, was

ihre Aussagekraft betrifft. Ein

Stuhl ist einer, ein Auto kann

man fahren. Ein Gedächtnis

ist aber erst einmal nur ein

Wort, wie auch Beschleunigung

nur ein Begriff ist, den

wir nicht ohne ein Fahrzeug

verwenden können, das Gas

gibt oder ein Gehirn haben,

das sich erinnert. Eine Erinnerung kann

man nicht anfassen: Dinge und Begriffe

vermischen sich gern auf eine ungesunde

Weise des Halbwissens. Psychische

Krankheiten sind real, verursachen Leid, aber

die Behandlung der Patienten übersieht oft,

dass ein Gehirn den entsprechenden Körper

in die Psychose, Depression oder eine der

unzähligen anderen Störungen manövriert.

Der ganze Mensch entwickelt sich problematisch,

bevor eine psychische Störung

ihren Namen bekommt.

# Das Gehirn erkrankt nicht isoliert vom

Menschen

Die These hier ist, dass wir ein Bild der

Umgebung gewinnen und Anpassungen

kreieren, die unserem Naturell zu passen

scheinen. Dazu kommt, dass der Mensch

individuelle Lösungen anstrebt. Es wäre

sicher einfacher, wenn allen das Ziel, wo sie

eigentlich hin möchten klar wäre. Auf den

ersten Blick haben Tiere es dahingehend

besser, weil sie weniger spezielle Wünsche

entwickeln dürften als der Mensch. Sie werden

sich deswegen je nach Gattung gleich

bewegen, während Menschen etwa meinen,

das Haltungsmuster anderer nachzuahmen,

die ihnen imponieren. Tatsächlich wurde

Mobbing bei Gänsen schon von Konrad

Lorenz thematisiert. Könnten Tiere neidisch

sein und den Wunsch entwickeln, Artgenossen

zu imitieren? Es dürfte noch schwieriger

sein, das nachzuweisen und Belege dafür

anzuführen, als es dem Menschen als grundsätzliches,

sich auf die

Psyche auswirkendes

Problem zu postulieren

und überzeugend

darzulegen,

wie der Körper diese

Abnormen individuell

im Bewegungsmuster

abbildet. Ich glaube

fest daran, dass dies

der Fall ist. Ich vermute

eine eindeutige

Relation.

Je mehr ein Gehirn

dem zu leitenden

Menschen Anweisungen

gibt, seinem

System mittels der Muskulatur dauerhaft

ein Korsett zu formen, um unangenehmen

Gefühlen Ausdruck zu verleihen, nähert sich

dieser Organismus einer fatalen Entgleisung.

Beispiele: Die Rückmeldungen der Muskulatur

vom Körper an die Zentrale oben, es

sei nun gut, täte schon weh am Rücken, das

Becken weiterhin zu penetrieren um das

Gemächt wie präsentiert in Stellung zu bringen,

damit die anwesende Weiblichkeit es ja

mitbekomme oder umgekehrt bei der Frau,

das einengende Gefühl, es reiche, den Busen

verstecken zu wollen, indem die Schultern

vorgerollt würden, die Wirbelsäule zu krümmen,

kommen schließlich nicht mehr an. Wir

gewöhnen uns an unsere Muster. Einen Zug

in das Gesicht zu bringen, der gewohnheitsmäßig

nicht mehr weg geht, bedeutet, dem

gesamten Körper nicht unerhebliche Verwindungen

zu befehlen. Es gibt keine Reste,

insofern zieht ein Muskel am anderen – vom

Augenlied bis zum kleinen Zeh. Das ist eine

Maske für den Menschen, eine Rüstung, die

eigene Haltung; sie gibt uns das Gefühl ganz

individueller Kleidung, und wir gewöhnen

uns an die Einbildung, dass es Stärke sei.

Niemand mit einer ausgeprägt ungewöhnlichen

Haltung macht wirklich Eindruck

damit. Im Gegenteil, Menschen, die sich

leicht und symmetrisch bewegen, können

alles besser tun. Diese nehmen ihre Ängste

wahr, und die anderen verstecken sich, bis

ernsthafte Beschwerden auftreten. Es ist

falsch, den schmerzenden Rücken anders zu

interpretieren als eine Psychose, aber genau

das tut der Mensch.

Es geht wohl nicht an, zu behaupten, wer

schief lächle sei krank. Wer aber nicht anders

kann, als melancholisch oder einschleimend

andere anzugrinsen, könnte erfahren, wie

befreiend spontanes Lachen ist. Es scheint

nicht haltbar oder kausal darzulegen, wie

eine Asymmetrie krank oder gar psychisch

krank macht. Wer zwanghaft gestört unter

den selbstgeschaffenen Verhaltensweisen

leidet, die gerade ihm eingefallen sind,

kann neue Wege zu gehen lernen, körpereigene,

eingefleischte Muskelkontraktionen

erkennen und auflösen. Darzulegen, warum

alles mit dem Gefühl

des Neides zusammenhängt,

dürfte

schwierig werden.

Ein Versuch lohnt

dennoch. Zunächst

eine Anekdote; ich

erinnere eine kleine

Angeltour in Dänemark

und möchte

davon erzählen.

# Herr Doktor?

An anderer Stelle

war ich offen, einige

Probleme meines

Lebens zu verschrift-

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 153 [Seite 149 bis 156 ]


lichen. Das gehört nicht hierher, ich möchte

nur andeuten, etwas vom Thema zu verstehen,

ohne mich als Arzt zu legitimieren,

umgekehrt als Idioten zu outen, dem es um

die Anteilnahme in einer Selbsthilfegruppe

ginge. Mir geht es prima, ich bin kein Doktor

und erzähle gern! Als Kreativer ist zu denken

und kommunizieren mir eine Herzensangelegenheit.

Meine Ansicht, dass die Kindheit

und Jugend uns prägen, zu Gewohnheiten

führen, die möglicherweise krank machen, ist

bekannt. Ich halte wenig davon, psychische

Krankheiten auf Vererbung hin festlegen

zu wollen. Keine Veranlagung bindet so

fest, dass wir nicht, unterwegs auf eigenen

Wegen, von unserer individuellen Geschichte

verändert werden.

Gene, mit denen wir ins Leben starten,

haben Einfluss auf unser Verhalten. Ihre

Aktivität kann sich aber durch Emotionen in

Reflexion zur Umgebung ändern. Das Gute

daran, es auf diese Weise zu betrachten, ist

die Möglichkeit positiver Entwicklung. Die

statische Sicht auf die Welt und uns als Person

verselbständigt sich. Wir berauben uns

der Perspektive, uns noch ändern zu können.

Eltern wollen das Beste unbedingt. Gut

gedacht ist aber nicht immer gut gemacht.

Wir sollten einsehen, dass der Begriff

„Eltern“ zusammenfügt, was es so nicht gibt.

Es ist eine Abstraktion von Familie, Eltern,

den Erziehern oder Freunden zu sprechen,

verstempelt Individuen zur intellektuellen

Kombi. Die Liebe von Vater und Mutter zueinander

ist eine gleichermaßen dynamische

wie abstrakte Verbalisierung, die auch im

Begriff der Mutterliebe zum Kind nichts

weiter als einen zusätzlichen Ast wachsen

lässt, einen Arm dieser Konstruktion ausfährt,

der ein Kind bestenfalls trägt. Wie das

genau geschieht, ob es die Arme der Mutter

sind, die das Kind halten und schützen oder

es die Angewohnheit einer Familie ist, mit

Worten Trost zu geben, wenn es mal nicht so

gut läuft für einen Heranwachsenden, ist so

individuell, dass es sich verbietet zu urteilen,

wie es richtig gehöre zu lieben.

# Nun die erwähnte Geschichte mit unserem

Boot

Wir waren im kleinen Belt mit dem Delfin

unterwegs. Das muss Anfang der Achtziger

gewesen sein. Sämtliche Boote, die

mein Vater erwarb,

segelte, nannte er

gleich. Sie hießen,

wie man bekanntlich

die Weltenbummler

nennt; aber niemals

sprachen wir von

unserer Yacht als

„die“ Globetrotter,

entsprechend der

weiblichen, für

Schiffe bevorzugten

Anrede. Dieser Kielschwerter

mit der

Baunummer 32 war

der Nachfolger unseres Jollenkreuzers, den

meine Eltern nur wenige Jahre besaßen. „Der

Delf“ hatte die Abmessungen einer komfortablen

Kieljacht, ging aber nur gut einen

Meter tief, was sich auf der Elbe im Tidengewässer

auszahlt. Ich habe ein Foto aus dem

Jahr 1980 gefunden, das mich mit meinen

Eltern im Schlauchboot hinter Fænø vor der

Biegung in Richtung Middelfart zeigt.

Das kommt so ungefähr hin mit dem Ort

und der Zeit, in der ich die erzählenswerte

Begebenheit erlebte. Als Jugendlicher mit

vierzehn oder jedenfalls noch nicht siebzehn

Jahren, verbrachte ich die Sommer mit meinen

Eltern an Bord. Wir segelten etwa vier

Wochen, meistens auf der Ostsee. Zwischen

der erwähnten Insel und der Landzunge (auf

deren gegenüberliegenden Seite Middelfart

liegt), gibt es einen schmalen Wasserarm.

Bevor die Marina in eine nahe Bucht gebaut

wurde, war das bereits

ein beliebter Ankerplatz.

Es steht hoher Wald,

der gibt Schutz gegen

plötzlichen Wind über

Nacht, und es ist eine

Engstelle, an der typischerweise

keine Welle

steht, idyllisch.

Meine Eltern hatten als

Fischhändler in Wedel

auch außerhalb des

Berufs ein Faible für das

Angeln und selbst Zubereiten

ihres Lieblingstieres

aus dem Meer.

Wir schleppten am Bott

auf- bzw. abgewickelt

Sehne mit wirbelndem

Zugblinker nach,

fingen Hornhechte. Mein

Vater ließ das Schiff an

guter Tiefenlinie bei

Flaute treiben, und die

ganze Familie pilkte

auf Dorsch. „Hört auf!“,

mahnte meine Mutter,

„wer soll die alle essen?“

Sie erinnerte ihre tollen

Fischerslüd an begrenzte

Kapazitäten! Nicht

nur unsere Mägen, auch

der damals fehlende

Kühlschrank an Bord,

setzten dem Gemetzel schließlich ein Ende,

wenn wir das Cockpit wie im Rausch mit den

schönsten Fischen voll angelten. Mein Vater

Erich stellte (auf Anholt) Aalkörbe aus. Er

verlegte gelegentlich eine Reuse. Dazu verankerte

er diese mit dem kleinen Draggen

für das Beiboot, kennzeichnete die Stelle

mit einem Fender, der ihm als Boje geeignet

schien, um sie anderntags wiederzufinden.

Immer wieder brachen wir zum Fang auf. Wir

angelten vom Boot

und vom Strand aus.

Wir aßen mindestens

zweimal die Woche

Fisch, manchmal

auch mehr. Nur nicht

an Heiligabend.

Nach dem Schlachten

von vorbestellten

Karpfen, Schlei’

und Forellen in derartigen

Massen, wie

wir sie im Advent

verkauften, mochte

Weihnachten niemand noch dran denken.

Räucherlachs zum Frühstück an den Feiertagen

und ein winziges Glas mit echtem

russischen Kaviar, der ja quasi ein Vermögen

kostete, war erlaubt! Sylvester, obwohl auch

dann viel bestellt wurde, aßen wir durchaus

Karpfen mit den Gästen aus Blankenese.

Ich liebte diese geschlagene Sahne mit

Meerrettich dazu und die zerlassene Butter;

mag es heute noch. Oberhalb vom Maul

des Karpfens in seiner weichen Backe, dort,

wo das Fleisch gern rötlich ist und einen

ganz eigenen Geschmack anbietet, suchten

wir dieses kleine Fischlein aus Gräte, eine

winzige, knöcherne Platte, fast hauchdünnes

Porzellan …

Das sogenannte „Karpfenglück“ mussten wir

finden, um es über das Jahr im Portemonnaie

dabeizuhaben.

Wir konnten nie

genug kriegen,

auch im

Sommerurlaub

beim Segeln. Es

gab andauernd

Fisch. Mein

Lieblingsessen

war gebratener

Aal, und den

aßen wir sogar

einige Male im

Restaurant, dem

„Aalekrøn“ auf

der Insel Møn.

Normalerweise

gingen meine Eltern

in Dänemark

mit uns Kindern

nicht essen. Das

war hier teuer,

im Vergleich zu

den in Hamburg

gewohnten

Preisen. Meine

Mutter kochte

hervorragend,

auch an Bord, auf

dem praktischen,

zweiflammigen

Gasherd, der auf

der Backbordseite

gleich am

Niedergang

montiert war.

Die Stücke vom frischen Aal, den mein Vater

nach dem Fang etwa in Salz tot laufen ließ

(keine freundliche Methode), zuckten noch

beim Braten und hatten tatsächlich die Neigung,

aus der Pfanne springen zu wollen.

Ich war nicht tierlieb. Interessiert las ich die

beliebten Sachkinderbücher von Tessloffund

Bunter Kinder-Kosmos. Als ich zum

ersten Mal einen Flusskrebs abgebildet sah,

musste mein Vater sofort welche vom Markt

mitbringen, die wir wie Hummer kochten.

Diese genauso, sie kamen mit zusammengebundenen

Scheren lebend ins kochende

Wasser. Waren sie gar, hatten die Tiere ihre

rote Färbung, schmeckten köstlich mit

Majonäse. Wir hatten eine eigene Majonäsemaschine

im Laden; alles drehte sich um

Fische und Delikatessen in unserem Leben,

auch im Urlaub auf der Ostsee. Ich las Moby

Dick, und meine erste Reaktion auf den Walfang

war, ein Steak von diesem Riesentier

essen zu wollen wie Taschtego. Ich bekam

Thunfisch, immerhin.

In einem dieser Jahre ankerten wir an der

erwähnten Stelle. Mein Vater machte die

Angelruten klar, wir pumpten das Schlauchboot

auf. Nachdem die nötigen Vorbereitungen

getroffen waren, lösten Erich und

ich uns vom Dickschiff und pullten das

kleine Beiboot einige hundert Meter an eine

mutmaßlich günstige Stelle zum Fischen.

Es stand Strom, fast wie auf der Elbe. Das

ist im Kleinen Belt nicht ungewöhnlich. Wir

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verankerten uns in Landnähe zur dunkel

bewaldeten Insel, unweit eines anderen

Bötchens mit Jugendlichen. Mein Vater

bereute bald, derartig nahe zu den Jungs, die

ebenfalls angelten, seinen Fischereiplatz gewählt

zu haben. Aber man fing hier gut, wie

sich schnell zeigte. Wir pilkten glaube ich,

kann mich aber irren. Es waren andere Köder

vorrätig. Einige Male gingen wir nachts auf

die Suche nach Taumetten.

Es hätte schönes Angeln sein können an

diesem warmen Sommertag im Belt. Die

neben uns quatschten die ganze Zeit, dass

es nervte: „Angeln Sie gerne?“, wurden wir

wiederholt angepreit. Dabei zog der naseweise

Typ das Wort ge-äeerne in die Länge,

als käme er aus Barmbek oder Wilhelmsburg,

jedenfalls wo die Leute das Hamburgische

breit und einfach

sprechen.

Wir blieben mehr als

eine Nacht und Tag hier

vor Anker. Nachdem wir

die Angelei beendeten,

kam es noch dazu,

dass wir uns mit dem

Nebenlieger (von dem

diese Kinder gekommen

waren) zu Landgängen

verabredeten. In Middelfart

ist ein Supermarkt.

Einige wussten

den Weg durch den Wald

über die Landzunge.

Jugendliche in meinem

Alter zu treffen, kam

selten vor, oft trafen wir

ja auf dänische Besatzungen. Dieser penetrante

Frager aus dem anderen Schlauchboot

erwies sich bald als einfallsreicher

Spielkamerad. Wir verbrachten einige Tage

zusammen. Die Eltern vertrugen sich mit

meinen. Es kam dazu, sich über manches

auszutauschen, bis jedes Schiff eigene Wege

segelte. Diese Leute habe ich nie wieder

gesehen und keine detaillierte Erinnerung

daran. Aber einen Satz, eine Frage, der ich

mich zu stellen hatte, erinnere ich genau.

Das war dieser Junge, der mir ein wenig

frech und mutiger in Erinnerung ist. Ich

musste an „Joschi bummelt durch die Stadt“

denken, das wir im Deutschunterricht lasen;

und ich war nicht „Joschi“ bei dieser hier

nur gedachten Rollenbesetzung, sondern

das angepasste Kind, das den anderen nicht

begreift und ein wenig fürchtet.

„Warum ziehst du deinen Mund immer so

schief, wenn du mich ansiehst, du lachst so

komisch mit nur einer Seite?“, das hat der

mich gefragt.

Mir war es peinlich, unverständlich; ich

konnte es ihm nicht erklären, ja ich glaube,

ich begriff zum ersten Mal, dass ich hier von

der Normalität offensichtlich abwich und

zur schnellen Änderung jedenfalls unfähig

war. Der war dann trotzdem nett und

klug sowieso. Wir erdachten feine Sachen,

fanden einiges zu erkunden, dem Alter

damals gemäß, wenn man mit den Eltern

segelte und so zwischen zwölf und sechzehn

Jahren alt gewesen ist. Es gab kein Internet;

dass unsere Kindheit sich vergleichsweise

behütet in die Länge gezogen hat, war so

ungewöhnlich nicht.

# Linksgesichtig?

Ich zeichnete fleißig und ließ mich gern

dafür loben. Dass sich parallel eine Entwicklungsstörung

anbahnte,

wurde allgemein übersehen.

Als ich noch Jugendlicher war,

las ich in einer Zeitschrift über

„linksgesichtige“ Künstler.

Jemand hatte eine Arbeit

verfasst, die untersuchte, dass

einige Menschen bevorzugt

mit einer Gesichtshälfte aktiver

sind, diese Seite „interessanter“

strukturiert sei und wollte

belegen, bei gerade musischen,

künstlerischen Menschen wäre

es deren linke.

Als ich vor kurzem Ai Weiwei im Interview

sah, musste ich

wieder daran denken.

Der Chinese

zieht seine Augen

zu schmalsten

Schlitzen zusammen.

Trotzdem

schien es mir, als

kniffe er sein linkes

Auge noch mehr

zu als die andere

Seite, besonders,

weil das Licht

denken ließ, er

krampfe auch seine

linke Wange dem

Auge nach oben

entgegen, kürze

also gewohnheitsmäßig

die linke Gesichtshälfte.

Das ist genau wie ich’s mache

und schmerzhaft bewusst. Der hat das auch,

überlegte ich.

Nicht schwer, den berühmten Kollegen zu

googeln. Sein Gesicht erscheint ganz glatt

und doch sehr gleichmäßig. Man muss einige

Aufnahmen ansehen, um zu verstehen,

dass ich mich nicht täuschte. Ich machte

eine kleine Zeichnung mit Kugelschreiber

und finde die gut gelungen. Dabei habe ich

auf seine Mundwinkel geachtet und überlegt,

was mir an dem Mann unsympathisch

ist. Ich empfinde so eine unbeschreibliche

Mischung aus Überheblichkeit, fast weibischer

Schnippigkeit und gekränkter Eitelkeit

in den dünnen Spitzen der Linie, ganz außen

zwischen den Lippen. Das mag davon herrühren,

wie viel Unbill dieser Mann erfahren

hat.

Nun ging ich dran, interessehalber die alte

Studie meiner Jugendzeit in irgendeiner

Form zu finden, gab den Begriff „linksgesichtig“

ein; es

erschien beinahe

gar nichts. Ich

fand ein Dokument

für den

Unterricht an

einer Uni herausgegeben.

Dort

geht es um die

Übersetzung einer

geschichtlichen

Sprache.

Ich zitiere daraus.

#

Das K’iche’ kennt

zusammengesetzte

Verben, die

allerdings nur mit

wenigen Verbstämmen

belegt und

oft nicht eindeutig

analysierbar sind.

Hierzu gehören

insbesondere Ableitungen

von dem

bedeutungsmäßig

schwer fassbaren,

von wach »Gesicht« abgeleiteten Verbstamm

wachi-j »etwas oder jemanden ein Gesicht

geben«, das u. a. »Frucht oder Blüten tragen

(von Pflanzen)« bedeuten kann. Ein vorangestelltes

Nomen oder Adjektiv bestimmt

das Verb adverbial, d. h. es gibt die Art und

Weise der Handlung an: moywachi-j »blind

machen, d. h. betrügen« oder winaqwachi-j

»etwas menschengestaltig machen«. Einige

Zusammensetzungen sind idiomatisch:

q’aq’wachi-j »eifersüchtig (wörtl. feuergesichtig)

machen« oder moxwachi-j »neidisch

(wörtl. linksgesichtig) machen«

Der Publizist ist Michael Dürr, mir unbekannt

wie sein Aufsatz.

Das Interessante ist, dass jemanden „neidisch

zu machen“ hier gleichgesetzt ist mit

dem ungewöhnlichen Begriff. Etwas Rechtes

zu tun, ist eine bekannte Formulierung und

was eine linke Type ist, bedeutet gemeinhin

nichts Gutes, warum? Ein bisschen zu spinnen,

kann nützlich sein. Einmal angenommen,

es kommt nicht von ungefähr, dass so

viele Rechtshänder sind oder wir das Herz

mehrheitlich links haben? Einiges ist unabänderlich

wie die Kindsgeburt durch die

Frau. So dürften sich in mancher Formulierung

Wahrheiten verbergen, die gern einmal

neu betrachtet werden sollten.

Hier ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen

in der Welt. Neidisch zu sein, kann

Antrieb werden, Ziele anzustreben und adelt

schließlich das Negative an diesem Gefühl.

Manche hätten mit dem Tennisschläger der

Eltern Banjo oder Gitarre nachgeahmt als

Kind, meinte Addi Münster – ein in unserer

Stadt sich dem traditionellen Jazz verdient

gemachter Posaunist – einmal, bevor sie ein

echtes Instrument bekamen.

Sich etwas abzuschauen, das machen

welche, die später Künstler sind. Nun reden

wir da nicht von Neid. Vielleicht sollten wir

es so sehen? Das ist

ja nur ein Wort. Eine

nagende Sehnsucht, das

wäre so eine leidende

Sache, ein Schmachten

mit neidvollen Zügen?

Wenn wir das Gefühl

anschaulicher machten,

dürften sich einige in

ihrer Migräne wiederfinden

(die sie nach

einer übertriebenen

Bestleistung plagt). Das

heißt wohl nicht, dass

jemand, der sich links

(oder möglicherweise

rechts) zusammenzieht,

nun zwingend psychisch

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 155 [Seite 149 bis 156 ]


krank wird? Wir könnten Psyche und Physis

mit gutem Ergebnis in unseren Theorien

verbinden und lernen, über den Tellerrand zu

schauen. Ich habe mich auf die Suche nach

anderen gemacht und Christo gefunden, der

ebenfalls seinen linken Mundwinkel hochzieht.

Bei dem ist kurioserweise das Auge

auf dieser Seite offener. Es wird schwierig,

eine entsprechende These zu belegen, wenn

man naiv drauflos Gesichter googelt.

# Liebe im Spiegel

Unbedingt musste noch eine Zeichnung von

Christo mit Jeanne-Claude zusammen in diese

Geschichte hinein. Sie ist, was den Mund

betrifft, sein spiegelbildliches Gegenstück

gewesen. Schauten die beiden einander an,

werden sie jeweils ihre eigene Asymmetrie

erkannt haben – wie im Spiegel. Dieses Paar

nahm vermutlich vom jeweils anderen an,

das Gegenüber machte es wie sie selbst?

Wir anderen hingegen, die beide nebeneinander

betrachten, können schnell bemerken,

dass Christo seinen linken Mundwinkel

hochgezogen hielt und Jeanne-Claude ihren

rechten.

Claus Kleber, den bekannten Nachrichtensprecher,

werden einige asymmetrisch

erinnern, aber mit viel Charisma. Und Christo

als Neidhammel zu betrachten, würde

niemandem einfallen. Dass aber die Mimik,

und bei Kleber gut zu sehen, der ganze

Körper gewohnheitsmäßig verzogen durchs

Leben getragen werden, ist nicht selten. Als

ein Beispiel für den effektiven, symmetrisch

geformten Sportler mit bester Selbstausnutzung

der Muskulatur kommt mir Manuel

Neuer in den Sinn.

Es gibt da einen alten Witz.

Diese Zote aus dem vorigen Jahrhundert

wollte sicher mehr als unterhalten. Das

ist ganz nebenbei eine Geschichte, die so

wunderbar illustriert, wie sich jemand buchstäblich

anpasst, ja verbiegt bis zum geht

nicht mehr. Gut möglich, dass der antiquierte

Kalauer heute anstößig wirkt und sich welche

dran stören?

Man dürfte, passte man

sich Idioten an, nichts

mehr sagen, schreiben.

Ein Mann lässt sich einen

Anzug schneidern, kauft

also nicht von der Stange,

geht zum Spezialisten.

Der ist tatsächlich einer;

aber kein Könner mit der

Nadel: Dieser Schneider

verkauft sich gut. Der

neue Anzug, das zeigt

sich bei der Anprobe,

sitzt schlecht. Der

Kunde – sein Naturell

ist das des Zaghaften,

der sich überzeugen

lässt, obschon ihm dabei

unwohl ist – der Mann

beginnt, einiges am neuen

Kleidungsstück, vorsichtig wohlgemerkt,

zu monieren. Der Ärmel, hier links, sei doch

wohl kürzer? Da stimme offenbar etwas

(noch) nicht, meint der Enttäuschte.

„Sie müssten sich ein wenig beugen, ja

genau so, hier“, der Schneider fasst vorsichtig

den Ellenbogen des Irritierten, „den Arm

leicht winkeln und die Schulter hängen

lassen, dann sieht es gleich viel besser

aus“, beginnt er gekonnt, seine Fehler dem

Kunden anzunähen.

„Die Hose sackt mir von den Hüften“, klagt

der Betrogene nun. „Das kommt Ihnen nur

so vor“, schmeichelt der Nähfritze, um gleich

einen Rat zu geben, wie das Problem zu

beheben sei. Der

Mann müsse voll

einatmen, die Luft

anhalten! Da sei der

Bauch gewölbt und

die Hose halte Platz.

Gute und reichliche

Mahlzeiten täten

ihr übriges, und der

Meister empfiehlt

jetzt ein Restaurant.

Nicht unwahrscheinlich,

dass er

den Wirt kennt?

Der einfallsreiche

Schneidersmann,

weiter frech:

„Darf ich?“, öffnet

ungeniert die Gürtelschnalle, reißt das Ende

beherzt um gleich zwei Löcher fester. „So!“,

meint der Schlaue, jetzt halte die Hose doch.

Das gute Wirtshaus mit dem fetten Essen

wäre eben um die Ecke, lockt er (charmant

feixend) – und beschreibt den Weg.

Ein Hosenbein schiene ihm kürzer, dasselbe

Problem wie beim Arm, findet der Kunde,

hin- und hergerissen, die Weisungen anzunehmen

oder Korrekturen zu verlangen. „Und

dieselbe Lösung“, belehrt ihn der Schneider.

Er folgt seiner Logik, das verschnittene Ding

in jedem Fall „an den Mann zu bringen“, gibt

Tipps, der Käufer solle sich hier ein wenig

sacken lassen, dort das Becken drehen und

so fort. „Winkeln Sie ihr Bein am Knie, stupsen

Sie beim Gehen nur kurz die Fußspitze

auf den Boden, während Sie auf der anderen

Seite mehr mit der

Hacke auftreten. Das

kann man auch üben“,

gibt der Fadenfuchser

listig zum Besten

– und schiebt den

Kunden in Richtung

Ladenkasse …

„Heben Sie den linken

Fuß einfach immer

ein wenig an!“

Er hat Erfolg damit,

tatsächlich, der Mann

bezahlt und verlässt

das Geschäft!

An dieser Stelle wechselt der Witz die Erzählperspektive.

Zwei neue Personen werden

in die Geschichte eingeführt. Man wartet

zufällig gemeinsam an einer Fußgängerampel.

Raunt der eine dem anderen zu:

„Sieh mal, dieser Mann dort.“

„Der scheint behindert zu sein, der Arme.“

„Wie schief dieser Krüppel dasteht, oh weh.“

„Aber einen tollen

Schneider hat er!“

„Sein Anzug, unglaublich

(!)

– sitzt wie angegossen

…“

# Kein Frieden

Manche verbiegen sich,

andere bleiben sich

treu? Das Recht wird

von denen, die meinen,

es in ihren Händen zu

halten, verbogen, das

habe ich erlebt. Druck

auszuüben, kommt

nicht selten als böser Schlag zurück. Eine

federnde Metallstange, oder ein krummer

Prügel, gar ein Bumerang, der wiederkehrend

den Werfer am Hinterkopf trifft. Geschäfte

mit der Macht, Neid hat viele Gesichter,

Eifersucht ist eines davon. Der schwarze

Peter geht von einem zum nächsten. Es fühlt

sich besser an, selbst zu bestimmen, als

abgestempelt in die Ecke zu müssen.

Wir Menschen möchten uns frei bewegen.

Ich bin überzeugt, dass es nur schwer

möglich wäre, auszuloten, was genau das

individuelle Muster anderer ist. Aber jeder

kann lernen, Spannungen wahrzunehmen,

wenn ihm gelehrt würde (am Besten bereits

in der Schule), wie das geht. Wer den Mundwinkel

hochzieht, gewinnt erst Sympathien,

wenn so viel menschliche Reife erreicht

wurde, dass daraus eine individuelle Nuance

geworden ist. Als Jugendlicher die anderen

zu beneiden, kann später eine unbemerkte

Altlast im eigenen Verhalten sein. Bei sich

selbst anzufangen, kann heißen, andere

entschieden zurück weisen zu müssen – und

Träume aufzugeben. Aus Erfahrung weiß ich,

wie viel man sich verbaut, bis es schließlich

gelingt, einen gordischen Knoten zu

zerschlagen.

:)

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg

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