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Wolfgang Sander: Europäische Identität (Leseprobe)

Was verbindet die Europäer? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Zukunft der europäischen Einigung ab. Historisch ist Europa wesentlich durch die christliche Tradition geprägt. Zwar ist diese Tradition blasser geworden. Aber noch immer liegen hier entscheidende Ressourcen für eine ganz Europa verbindende europäische Identität. Europa braucht eine christliche Renaissance, die die christliche Tradition wiederentdeckt, um sie für heute weiterzudenken: Wie verhält sich der christliche Glaube zu den Wissenschaften, wie zu den sogenannten europäischen Werten, wie zu Diversität in modernen Gesellschaften? Wie lässt sich Freiheit anders denken denn als Narzissmus und Egoismus, wie ein Weltbezug jenseits des bloßen Verfügbarmachens? Und wie müssen die christlichen Kirchen sich selbst erneuern?

Was verbindet die Europäer? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Zukunft der europäischen Einigung ab. Historisch ist Europa wesentlich durch die christliche Tradition geprägt. Zwar ist diese Tradition blasser geworden. Aber noch immer liegen hier entscheidende Ressourcen für eine ganz Europa verbindende europäische Identität. Europa braucht eine christliche Renaissance, die die christliche Tradition wiederentdeckt, um sie für heute weiterzudenken: Wie verhält sich der christliche Glaube zu den Wissenschaften, wie zu den sogenannten europäischen Werten, wie zu Diversität in modernen Gesellschaften? Wie lässt sich Freiheit anders denken denn als Narzissmus und Egoismus, wie ein Weltbezug jenseits des bloßen Verfügbarmachens? Und wie müssen die christlichen Kirchen sich selbst erneuern?

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Zur Einführung<br />

pas bis heute prägt, sondern in der nachträglichen Deutung als<br />

Beginn der ›Neuzeit‹ gesehen wird. Aber auch die Scholastik in<br />

der mittelalterlichen Theologie und Philosophie war stark von<br />

der Wiederentdeckung der Antike, insbesondere der Schriften<br />

des Aristoteles, geprägt. Später, im frühen 19. Jahrhundert, trug<br />

der Rückbezug auf die griechische Antike zur neuhumanistischen<br />

Bildungstheorie bei, die entscheidende Anstöße zur Entwicklung<br />

der höheren Schulen und der Universitäten gab. Ein<br />

anderes Beispiel ist die Reformation. Luthers Kritik der kirchlichen<br />

Tradition stützte sich auf Paulus und Augustinus, und seine<br />

Alternative zur kirchlichen Dogmatik seiner Zeit bestand im<br />

Kern im Rückgriff auf die Bibel als einziger normativer Quelle<br />

des christlichen Glaubens (›sola scriptura‹). Jürgen Habermas<br />

hat erst kürzlich in seiner Geschichte der Philosophie wieder<br />

gezeigt, wie wichtig das nur scheinbar rückwärtsgewandte Denken<br />

Luthers für die Entwicklung des modernen europäischen<br />

Verständnisses des Menschen als Subjekt war. 5<br />

Als letztes Beispiel sei auf Karl den Großen verwiesen, dessen<br />

Siegel – mehr als 300 Jahre nach dem Untergang des weströmischen<br />

Reiches – die Umschrift »Renovatio Imperii Romani«<br />

trug (Erneuerung des Römischen Reiches). Zur politischen<br />

Bedeutung dieses Rückbezugs um das Jahr 800 für die europäische<br />

Geschichte schreibt Hagen Schulze: »Europa wäre in eine<br />

unzusammenhängende Vielfalt primitiv verfaßter Stämme auseinandergefallen,<br />

wäre da nicht die einigende Kraft der Kirche<br />

gewesen, und die fortdauernde Erinnerung an Rom.« 6 Im Reich<br />

Karls des Großen tauchte auch der Begriff Europa als Selbstbezeichnung<br />

auf, nicht zuletzt in Abgrenzung zu den islamischen<br />

Eroberern im Süden. Wie auch immer man die wechselhafte<br />

Geschichte der nachfolgenden römischen Kaiser im bis 1806<br />

existierenden »Heiligen Römischen Reich« in Europa beurteilen<br />

mag – es ist bemerkenswert, dass das Gebiet der in den<br />

1950er-Jahren gegründeten Europäischen Gemeinschaften mit<br />

den sechs Mitgliedsstaaten Frankreich, Italien, Bundesrepublik<br />

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