MinD-Mag 145

Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa. Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa.

07.12.2021 Aufrufe

DIE M VON NEBENAN Eintauchen in andere Zeiten Sybille Angharad Beyer über Naturverbundenheit, Späterkanntsein und das „Fertig machen“. Die frischgebackene Wildnislehrerin ist außerdem Geschichtsvermittlerin, Schreinerin, Patientenfürsprecherin und Journalistin. Ihr Interview für das „M von nebenan“ verläuft genauso wie ihr Lebensweg: Mit vielen spannenden Abbiegungen. Angharad, vielen Dank, dass du die Zeit für ein Gespräch gefunden hast. Du hast ja gerade verschiedene Projekte, die dich sehr beschäftigen. Ja, zum einen habe ich meinen neuen Job als Patientenfürsprecherin beim Landratsamt angefangen, zum anderen habe ich gerade meine vierjährige Ausbildung zur Wildnislehrerin beendet. In naher Zukunft möchte ich mit Leuten rausgehen und ihnen helfen, ihre Naturverbundenheit auszubauen. Eine Anmerkung: In der Geschichtsdarstellung und im Naturbereich bin ich unter meinem selbstgewählten Namen Angharad bekannt, den ich auch als Künstlernamen in den Personalausweis eingetragen habe. Der Name kommt aus dem Walisischen und steht für die Bereiche meines Lebens, in denen ich erfolgreich und auch glücklich bin, wogegen der offizielle Name Sybille mit all den schwierigen Zeiten, von der Schule bis zum Berufsleben, verbunden ist. Wie bist du in zwei so unterschiedliche Gebiete gerutscht? Die Belebung eines spätmittelalterlichen Stadthauses im Themenpark Archeon in den Niederlanden. In den letzten zwanzig Jahren habe ich so genannte „heritage interpretation“ betrieben. Das ist eine Form der Natur- und Museumspädagogik, die Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Amerika im Zusammenhang mit der Errichtung der ersten Nationalparks begründet wurde. Dahinter steht der Gedanke: Um Dinge jemandem als schützenswert zu vermitteln, muss ich die Menschen dazu bringen, deren Wert zu erkennen. Dazu kommt ein Konzept von Wissensvermittlung, bei dem die Menschen nicht in einem Vortrag mit Zahlen und Fakten zugeschmissen und belehrt werden, sondern bei dem man Geschichten erzählt und Emotionen weckt. Die Idee ist, dass man gewisse Personen sprechen lässt, die aus der Geschichte kommen, also zum Beispiel Fallensteller oder einen Flößer. Da man keinen echten zur Verfügung hat, braucht man einen Darsteller, der sich möglichst authentisch anzieht und auch authentisch spricht und riecht. Das klingt wie die Nachtwächteroder Hebammenführungen, die es in vielen Städten gibt, nur mit Naturbezug. Bitte nicht. Diese Nachtwächtervorführungen sind nach den Maßstäben der heritage interpretation meist völliger Blödsinn. Über die Wichtigkeit von korrekter Ausstattung und Aussehen einer historischen Darstellung haben mein Kollege 8 | mind magazin 145/dezember 2021

DIE M VON NEBENAN und ich auch einige Fachvorträge gehalten. In diesem Bereich werden leider auch im musealen Bereich viele Fehler gemacht. Die heritage interpretation hat sich dann irgendwann aufgeteilt: Auf der einen Seite liegt der Fokus auf der Bewahrung der Natur und der Vermittlung der Naturgeschichte, zum Beispiel durch Parkranger, auf der anderen in der historischen Darstellung. Und da gibt es in Angharad mit einem selbstgebauten Tragekorb aus Haselruten und Rohhautstreifen. Alle Fotos: Sybille Angharad Beyer Amerika und in Großbritannien richtig hochklassige Angebote, bei denen ganze Siedlungen nachgebaut sind, zum Beispiel Colonial Williamsburg oder Plimoth Plantation. Ich habe mein Handwerk in dieser Form der Museumsarbeit bei einem Mann gelernt, der im Tower of London die living history mitgestaltet: Neben ganz viel Vorwissen über die zu vermittelnde Epoche braucht man idealerweise die komplette Ausstattung einer Person dieser Epoche, also Kleidung, Schuhe, Schmuck, passende Trinkgefäße. Auf jeden Fall gibt’s nichts, was aus der Zeit fallen würde, wie beispielsweise Brillen. Auch die Sprache der Zeit muss man lernen oder nachahmen, damit der Besucher wie durch einen Zeittunnel in die Zielzeit eintauchen kann. „Heritage interpretation“ ist der Überbegriff, weil es wörtlich übersetzt nur „Vermittlung von Erbe“ bedeutet, und zwar kulturellem oder dem der Natur. Und „living history“ – „lebendige Geschichte“ – wird häufig für die Vermittlungsarbeit in Freilichtmuseen genutzt. Viele der Darsteller erarbeiten sich all das Wissen und das Material als Hobby. In Deutschland ist Napoleonik ganz beliebt. Und das Mittelalter? Ja, das ist die Gelddruckmaschine mit all diesen Märkten und Spektakeln, deren historische Korrektheit meist zu wünschen übriglässt! Allerdings bin auch ich über Mittelaltermärkte zur living history gekommen. Dieses Konzept kennt man in Deutschland etwa seit dem Jahrtausendwechsel, Mittelaltermärkte gibt es schon seit den Siebzigerjahren. Eine richtig gute Darstellung in der living history oder heritage interpretation hat eine fundierte wissenschaftliche Basis: Du musst Quellen lesen und Quellenkritik beherrschen und wissen, woher du Infos zu deiner Darstellung bekommst: Was hatte deine Figur an? Wie wurde es genäht? Aus welchem Material war es gefertigt? War das verar- mind magazin 145/dezember 2021 | 9

DIE M VON NEBENAN<br />

Eintauchen in andere Zeiten<br />

Sybille Angharad Beyer über Naturverbundenheit,<br />

Späterkanntsein und das „Fertig machen“.<br />

Die frischgebackene Wildnislehrerin ist außerdem Geschichtsvermittlerin, Schreinerin,<br />

Patientenfürsprecherin und Journalistin. Ihr Interview für das „M von nebenan“ verläuft<br />

genauso wie ihr Lebensweg: Mit vielen spannenden Abbiegungen.<br />

Angharad, vielen Dank, dass du die<br />

Zeit für ein Gespräch gefunden hast.<br />

Du hast ja gerade verschiedene<br />

Projekte, die dich sehr beschäftigen.<br />

Ja, zum einen habe ich meinen<br />

neuen Job als Patientenfürsprecherin<br />

beim Landratsamt angefangen,<br />

zum anderen habe ich<br />

gerade meine vierjährige Ausbildung<br />

zur Wildnislehrerin beendet.<br />

In naher Zukunft möchte<br />

ich mit Leuten rausgehen und<br />

ihnen helfen, ihre Naturverbundenheit<br />

auszubauen.<br />

Eine Anmerkung: In der Geschichtsdarstellung<br />

und im Naturbereich<br />

bin ich unter meinem<br />

selbstgewählten Namen<br />

Angharad bekannt, den ich auch<br />

als Künstlernamen in den Personalausweis<br />

eingetragen habe.<br />

Der Name kommt aus dem Walisischen<br />

und steht für die Bereiche<br />

meines Lebens, in denen<br />

ich erfolgreich und auch glücklich<br />

bin, wogegen der offizielle<br />

Name Sybille mit all den schwierigen<br />

Zeiten, von der Schule bis<br />

zum Berufsleben, verbunden ist.<br />

Wie bist du in zwei so<br />

unterschiedliche Gebiete gerutscht?<br />

Die Belebung eines spätmittelalterlichen<br />

Stadthauses im Themenpark<br />

Archeon in den Niederlanden.<br />

In den letzten zwanzig Jahren<br />

habe ich so genannte „heritage<br />

interpretation“ betrieben. Das<br />

ist eine Form der Natur- und<br />

Museumspädagogik, die Ende<br />

des neunzehnten, Anfang des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts in<br />

Amerika im Zusammenhang<br />

mit der Errichtung der ersten<br />

Nationalparks begründet wurde.<br />

Dahinter steht der Gedanke: Um<br />

Dinge jemandem als schützenswert<br />

zu vermitteln, muss ich die<br />

Menschen dazu bringen, deren<br />

Wert zu erkennen.<br />

Dazu kommt ein Konzept von<br />

Wissensvermittlung, bei dem<br />

die Menschen nicht in einem<br />

Vortrag mit Zahlen und Fakten<br />

zugeschmissen und belehrt<br />

werden, sondern bei dem man<br />

Geschichten erzählt und Emotionen<br />

weckt. Die Idee ist, dass<br />

man gewisse Personen sprechen<br />

lässt, die aus der Geschichte<br />

kommen, also zum Beispiel<br />

Fallensteller oder einen Flößer.<br />

Da man keinen echten zur Verfügung<br />

hat, braucht man einen<br />

Darsteller, der sich möglichst<br />

authentisch anzieht und auch<br />

authentisch spricht und riecht.<br />

Das klingt wie die Nachtwächteroder<br />

Hebammenführungen,<br />

die es in vielen Städten<br />

gibt, nur mit Naturbezug.<br />

Bitte nicht. Diese Nachtwächtervorführungen<br />

sind nach den<br />

Maßstäben der heritage interpretation<br />

meist völliger Blödsinn.<br />

Über die Wichtigkeit von<br />

korrekter Ausstattung und Aussehen<br />

einer historischen Darstellung<br />

haben mein Kollege<br />

8 | mind magazin <strong>145</strong>/dezember 2021

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