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6 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Die letzten Orangen aus Jaffa
Nadine Sayegh erzählt die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund palästinensischer Fluchterfahrungen
M
it ihrem Hybrid aus Sachbuch
und Roman „Orangen
aus Jaffa. Eine wahre
Geschichte über das Ende
der goldenen Ära Paläestinmas“
erzählt Nadine Sayegh von der Vertreibung
ihrer Familie im Vorfeld
der Staatsgründung Israels. Ein
weiterer Beitrag in der schwierigen
Debatte um die sogenannte Nakba
und eine vertane Chance um eine
differenzierte literarische Betrachtung
komplexer Verhältnisse.
Marcel Reich-Ranicki beschwerte
sich einmal im „Literarischen
Quartett“ darüber, dass manche
Autor*innen Kinder zu Erzählfiguren
ihrer Werke küren. Ein bisschen zu
einfach würden es sich diese damit
machen. Tatsächlich lassen sich auch
schwierige Themen über die Kinderperspektive
wunderbar unverfänglich
angehen. Unverfänglich, weil Kinder
gemeinhin als unschuldiger in ihren
Betrachtungen gesehen werden und
damit freier in ihren Urteilen agieren
können. Ihr naiver Blick strahlt über
die Verwerfungen der Geschichte und
bietet unverhofft spielerische Annäherungen
an schwierige Verhältnisse.
Der junge Palästinenser Nicolas Sayegh
ist ein solcher Spieler in schwierigen
Verhältnissen. Nicolas Sayegh
ist auch der Vater der Autorin Nadine
Sayegh, die in ihrem real fundierten
Roman ihre eigene Familiengeschichte
erzählt. Als Kind in den 1940ern erlebte
Nicolas Sayegh die „Nakba“, ein
Ereignis, das viele Pälestinenser*innen
als Vertreibung aus ihrer Heimat beschreiben.
Aufgewachsen ist Nicolas
Sayegh in Jaffa, das heute als das
israelische Tel Aviv oder Tel-Aviv-
Jaffa bezeichnet wird.
„Im Jaffa Ende der Vierzigerjahre gehörten
die Menschen zu den reichsten
in ganz Palästina. Riesige Schiffe standen
da und wurden mit Tonnen von
Orangen, Zitronen und Mandarinen
beladen. Ich kann mich noch genau
an den Geruch erinnern, der dort allgegenwärtig
war.“ Nicolas Sayegh
lernt Jaffa als duftendes Tor zur Welt
kennen, auch über seine kosmopolitisch
geprägte Familie. Der Sohn soll
wie der Vater ein großer Industrieller
werden, mit jenem angemessenen
Stil, den seine wohlhabende Familie
in Orientierung an französische oder
britische Gepflogenheiten entwickelte.
Nicht zuletzt trägt Nicolas selbst einen
Namen, der vor allem in europäischen
Kulturkreisen Verwendung findet.
Gleichzeitig ist der junge Palästinenser
den Verhältnissen nicht enthoben,
prügelt sich mit einem anderen Jungen,
schleicht sich heimlich ins Kino,
genießt mit seinen Freunden das wilde
und entdeckungsreiche Leben einer
Kindheit in Jaffa. Von seinem Vater
bekommt Nicolas viele Anekdoten zu
hören, nicht selten mit moralischem
Unterton, denn wichtig bleibt für den
Kosmopoliten, seinem Sohn einen respektvollen
Umgang fürs Leben mitzugeben.
Eine beinah neue Geschichtsschreibung
Respekt will auch Nadine Sayegh
ihrem Vater und seinem schweren
Schicksal zukommen lassen. Zwischen
die Kapitel der Erzählung um
Nicolas setzt die Autorin über Dokumente
und Berichte eine „Historie im
Hintergrund“, die belegen soll, dass
die „Nakba“, die schließlich auch den
jungen Nicolas einholen wird, einen
„eindeutigen Fall einer ethnischen
Säuberung“ darstellt. Der naiven Perspektive
des jungen Palästinensers
steht damit eine sachlich vermittelnde
Interpretation der Ereignisse zwischen
1947 und 1949, also im Vorfeld
der Gründung des Staates Israel gegenüber.
Die Verwendung des Begriffs der
„ethnischen Säuberung“ gilt als umstritten.
Entsprechend zeigt sich das
Buch bemüht, Belege für diese These
zu liefern. Originell ist es darin nicht.
Am Ende des Buchs verweist Nadine
Sayegh auf das Sachbuch „Die
ethnische Säuberung Palästinas“ des
israelischen Historikers Ilan Pappe
von 2006, das ihren Ausführungen
als maßgebliche Quelle dient. Pappe
wird gemeinhin zur Gruppe der Neuen
israelischen Historiker gezählt, die
auf Basis von israelischen Archivfunden
um die Jahrtausendwende eine
neue, kritische Geschichtsschreibung
des Staates Israel etablierten. Auch
wenn innerhalb der Gruppe verschiedene
Zugänge bestehen, sind diese
doch geeint in ihrer Abkehr von der
offiziellen israelischen Geschichtsschreibung.
Statt von einer freiwilligen
Migration wird aus Perspektive
der Neuen israelischen Historiker,
vergleichbar mit dem Narrativ der
„Nakba“, von einer Vertreibung der
palästinensischen Bevölkerung gesprochen.
Die Verantwortung für den
bis heute andauernden Nahostkonflikt
wird damit auch Israel zugewiesen.
Zunächst mag überraschen, dass sich
ein Buch aus palästinensischer Perspektive
auf das Werk eines israelischen
und nicht etwa auf das eines
palästinensischen Forschers bezieht.
Tatsächlich gibt es eine vergleichbare
kritische Archivarbeit auf arabischer
Seite nicht, dort ist eine „Oral History“
vorherrschend. Auch kollektive
Erinnerungen sind entscheidend für
die Erfahrung einer „Nakba“. Nadine
Sayeghs Buch wagt den Spagat aus
wissenschaftlicher Auseinandersetzung
und familiärer Oral History. Für
eine wissenschaftliche Reflexion ist
der junge Nicolas Sayegh in jedem
Fall noch nicht bereit. Für Abenteuer
im sonnenstrahlenden Jaffa dafür
umso mehr.
Palästinensische Flüchtlinge aus Galiläa, 1948
Eine beinah idyllische Kindheit
Obwohl „Orangen aus Jaffa“ keine
200 Seiten Text enthält und davon
nur etwa die Hälfte den Abenteuern
des „palästinensischen Tom Sawyer“
(Pressetext) gewidmet ist, überrascht
es doch, dass Nicolas Sayegh mit den
Konflikten im Kontext einer „Nakba“
nur wenig Berührung hat. Den
Berichten zu einem bei den UN-Teilungsverhandlungen
ignorierten Palästina,
zu einem Überfall des Dorfs
Khisas durch zionistische Paramilitärs
1947 und generell der „systematischen
und vollständigen Vertreibung der Palästinenser
aus ihrer Heimat“ stehen
die harmlosen Abenteuer eines Kindes
gegenüber. Wenn auch elegant
geschrieben und mit interessanten
Hintergründen zur Geschichte Jaffas
garniert, bleibt das launische Kindheitsabenteuer
doch seltsam unmotiviert
neben den detaillierten Untersuchungen
zu Gewaltverbrechen und
Vertragsbrüchen stehen.
Ein zweiter Blick lässt aber ahnen:
Die Freundlichkeit und Konturlosigkeit
der Erzählung hat Methode.
Die schöne Welt des jungen Nicolas
stellt das sorgfältig rein gehaltene
Gegenüber zu den kommenden Ereignissen
einer „Nakba“ dar. Bereits
der Untertitel des Buchs spricht von
einer „goldenen Ära Palästinas“. Vollkommen
entpolitisiert spielen sich die
Konflikte in Nicolas‘ Welt in Gestalt
von Prügeleien mit Klassenkameraden
oder einem unerlaubten Kinobesuch
ab. Nicolas ist so unschuldig, dass in
seinen Augen selbst die Beschreibung
des Holocaust zu einer beiläufigen comichaften
Betrachtung verkommt: „In
Europa waren schreckliche Dinge passiert.
Irgendetwas mit den Juden und
einem verrückten Mann mit einem
viereckigen Schnauzbart, der die rechte
Hand schräg nach oben ausstreckte.“
Auch die tatsächliche Vertreibung
der Familie Sayegh ganz am Ende der
Erzählung bleibt weitgehend konturlos.
Waffenlärm und Berichte von
einer meist ungreifbaren Bedrohung
machen erst den Nachbar*innen und
schließlich der Familie selbst Angst,
sodass diese schließlich flieht. Direkten
Kontakt mit den Repräsentant*innen
einer israelischen Siedlungspolitik
hat die Familie nicht. Erst als Nadine
Sayegh mit ihrem Vater viele Jahre
später in ihre Heimat zurückkehrt,
erleben beide kaltschnäuzige Grenzbeamte
und ein Jaffa mit heruntergekommenen
Häusern, ein konsequent
negatives Gegenbild zum Kindheitsidyll:
„Wie ein anderes Jaffa, jenes in
einer Parallelwelt.“ Erst angesichts
dessen kritisiert der nun 81-Jährige
Nicolas Sayegh explizit: „Wir waren
verwurzelt wie Bäume. Man hat uns
ausgerissen.“ Sein junges Ego 69
Jahre früher äußert dagegen nur: „Mit
Politik hatten wir nicht viel am Hut.
Unser Metier war die Orange. Alles
richtete sich danach aus. Wir konnten
unser Glück schälen.“
Natürlich bleibt das dem jungen Nicolas
nicht vorzuwerfen, schließlich
ist er ein unbedarftes Kind, das für
die politischen Konflikte seiner Zeit
keine Verantwortung trägt. Die Wahl
dieser Perspektive hingegen bleibt
weniger unbedarft, sondern entbehrt
nicht eines gewissen rhetorischen
Geschicks. Ein Kind seine geliebte
sonnenhelle Heimat verlieren zu
sehen angesichts einer ungreifbaren
Bedrohung schafft ein Gut-Böse-Verhältnis
mit klarer Identifikation. Die
Vertreibung aus dem Paradies Jaffa
könnte in dieser Fassung auch Märchenstoff
sein, eine Kindergeschichte.
Der komplexen Realität des Israel-
Palästina-Konflikts steht sie denkbar
fern. Oder etwa nicht? Möglicherweise
war Nicolas Sayeghs Kindheit
wirklich so idyllisch, möglicherweise
kam der Konflikt wirklich so unsichtbar
und plötzlich über seine Familie,
möglicherweise beruht der Eindruck
eines „Gut-Böse-Schemas“ auf realen
Begebenheiten oder bildet gar einen
falschen Kurzschluss.
Auch in diesem Fall bleibt es in literarischen
wie historischen Belangen
unbefriedigend, dass Nadine Sayegh
für ihre fundamentale Kritik an der
israelischen Geschichtsschreibung
Foto: Public Domain
selbst eine so schwache Geschichtsschreibung
ins Feld führt. Ihre palästinensische
Oral History bietet die
Romantisierung einer vergangenen
Zeit, keine Neuverhandlung des komplexen
Verhältnisses zweier Konfliktparteien.
Mit Muriel Asseburgs Sachbuch
„Palästina und die Palästinenser.
Eine Geschichte von der Nakba bis
zur Gegenwart“ ist dieses Jahr eine
Darstellung erschienen, die verschiedene
Persönlichkeiten der palästinensischen
Geschichte portraitieren soll.
Das ist schon einmal erfreulich und
dürfte zumindest vor einer weiteren
Kinderperspektive bewahren, die es
allen Lesenden doch wieder nur einfach
machen will.
Nadine Sayegh, „Orangen aus Jaffa.
Eine wahre Geschichte über das
Ende der goldenen Ära Palästinas“,
edition a 2021. Fabian Lutz
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