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12 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Der Umgang mit der NS-Justiz vor und
nach 1945
Im Gespräch: Dr. Thomas Kummle, früherer Amtsgerichtspräsident und Initiator der Ausstellung im
Freiburger Amtsgericht
S
eit einigen Monaten
kann man im Flur des
Amtsgerichts Freiburg
einen neuen Aspekt der
NS-Zeitin Freiburg kennenlernen,
dreizehn Ausstellungstafeln
befassen sich dort mit der damaligen
Justiz. Initiiert vom früheren
Amtsgerichtspräsident Dr.
Thomas Kummle, der das Projekt
in Kooperation mit dem Historiker
Dr. Michael Hensle und
dem Staatsanwalt Dr. Dominik
Stahl leitet, zeigt die Ausstellung
das Wirken der NS-Justiz in Freiburg
auf. Erstmals wird so eine
wichtige Tatsache der Stadtgeschichte
analysiert, dass nämlich
der Volksgerichtshof in Freiburg
Sitzungen abhielt; daran werden
auch Zusammenhänge mit
NS-Verbrechen im annektierten
Elsass-Lothringen und im besetzten
Frankreich sichtbar. Drei spezielle
NS-Gerichte haben in Freiburg
getagt: Das Sondergericht,
das Reichskriegsgericht und der
Volksgerichtshof, was für Baden
und Württemberg als durchaus
ungewöhnlich gelten darf.
Die Ausstellung, deren Tafeln
neben Texten auch Abbildungen
von Originaldokumenten und Fotos
enthalten, gliedert sich in drei
Bereiche. Fünf Tafeln thematisieren
das Sondergericht Freiburg.
Drei Tafeln widmen sich
der Rechtssprechung des Reichskriegsgerichts
und zeigen, dass in
Freiburg Verfahren gegen hierher
verschleppte Mitglieder der französischen
Widerstandsorganisation
„Réseau Alliance“ verhandelt
wurden. Des Weiteren befassen
sich Texte mit dem Volksgerichtshof,
zu dessen Opfern etwa Regimegegner
zählten, auch aus dem
Elsass. Abschließend wird „Der
Umgang mit der NS-Justiz nach
1945“ angesprochen. Unsere Mitarbeiterin
Cornelia Frenkel hat
Thomas Kummle zu dieser Ausstellung
befragt.
UNIversalis: Herr Kummle, wie kam
es zu Ihrem Forschungsprojekt?Wie
sind Sie darauf gestoßen, dass das
Reichskriegsgericht und der Volksgerichtshof,
die ihren Sitz in Berlin
hatten, auch in Freiburg Unrecht
gesprochen haben?
Thomas Kummle: Aufgrund eines
Hinweises des französischen Vereins
„Souvenir Français“ wurde
bekannt, dass das Reichskriegsgericht
im Justizgebäude am Holz-
Land- und Amtsgericht, Ecke Wall- und Kaiserstraße um 1930
markt Militärgerichtsverfahren
durchführte. Bei meinen Recherchen
stieß ich auf die überraschende
Tatsache, dass auch der berüchtigte
Volksgerichtshof im heutigen Gebäude
des Amtsgerichts Freiburg
Sitzungen abhielt.
UNIversalis: Das Reichskriegsgericht
in Freiburg hat insbesondere
Verfahren gegen Mitglieder der
französischen Widerstandsorganisation
„Réseau Alliance“ durchgeführt.
Ist die Zahl der Gerichtsverfahren
und deren Ausgang bekannt?
Thomas Kummle: Das Reichskriegsgericht
verhandelte 27 Verfahren
gegen 67 Mitglieder der
„Réseau Alliance“in Freiburg – es
gab bis zu fünf Angeklagte in einem
Verfahren. 58 Angeklagte wurden
zum Tode verurteilt, neun zu langjährigen
Freiheitsstrafen. Freisprüche
gab es nicht. Die Verurteilungen
erfolgten jeweils wegen Spionage.
Die „Réseau Alliance“ betätigte
sich hauptsächlich als Nachrichtendienst,
indem sie Regierungskreise
und Kommandanturen abhörte sowie
deutsche Verteidigungslinien
Denkansätze für einen nachhaltigen
Ausweg aus der Krise
„Eine Umorientierung zu
mehr Lebensqualität statt
quantitativem Wachstum
ist möglich!“
Michael von Brück
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auskundschaftete – sie leistete auch
Fluchthilfe.
UNIversalis: Vor das Reichskriegsgericht
in Freiburg waren zahlreiche
Angeklagte aufgrund des
sogenannten Nacht- und Nebel-Erlasses
verschleppt worden. Gab es
weitere Verfahren gegen Mitglieder
der „Réseau Alliance“?
Thomas Kummle: Das spurlose
Verschwindenlassen von Menschen
war im Nacht- und Nebel-Erlass geregelt.
Es war ein Mittel zur Terrorisierung,
das auch gegen den französischen
Widerstand eingesetzt
wurde. In den Listen der Freiburger
Verfahren des Reichskriegsgerichts
sind weitere 47 Widerstandskämpfer
erwähnt. Sie wurden ohne Gerichtsverhandlung
entweder in Konzentrationslager
verschleppt oder
direkt ermordet.
UNIversalis: Beim Thema Volksgerichtshof
denkt man vor allem an
seinen Präsidenten Roland Freisler;
kannte er die Verhandlungen
in Freiburg oder wer hat ihn vertreten?
Thomas Kummle: Roland Freisler
wurde im Jahr 1942 Präsident des
Volksgerichtshofs und Vorsitzender
des 1. Senats. Dieser Senat verhandelte
im Jahr 1944 Strafverfahren in
Freiburg. Die Fälle lagen daher im
Zuständigkeitsbereich von Freisler,
er leitete jedoch nicht die Hauptverhandlungen
in Freiburg. Sein
Vertreter war Landgerichtsdirektor
Martin Stier. Der Senat wurde durch
den zweiten Berufsrichter Dr. Erich
Schlemann sowie durch drei Volksrichter
komplettiert. Volksrichter
waren regimetreue Laienrichter
und gehörten der NSDAP und deren
Gliederungen an.
UNIversalis: Gab es im NS-Justizsystem,
das zum Instrument der
organisierten Willkür wurde, noch
unabhängige Richter?
Thomas Kummle: Die in der Ausstellung
„NS-Justiz in Freiburg“
dokumentierten Verfahren der NS-
Ausnahmegerichte betreffen die
Kriegszeit. Das Sondergericht Freiburg
verhandelte sein erstes Strafverfahren
am 13. Oktober 1939, das
Reichskriegsgericht war ab Dezember
1943 und der Volksgerichtshof
ab Mai 1944 in Freiburg. Die Nationalsozialisten
hatten bereits im
Jahr 1933 mit dem Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums
nach ihrem Sprachgebrauch
mit einer „personellen Säuberung“
von jüdischen Beamten und Richtern
begonnen. In der Folgezeit
nahm das Reichsjustizministerium
fortlaufend stärkeren Einfluss auf
die Rechtsprechung. Maßnahmen
zur Lenkung der Justiz waren beispielsweise
neu geschaffene Berichtspflichten
oder Vor- und Nachschauen,
bei denen der Richter oder
Staatsanwalt Fälle vor und nach der
Sitzung mit seinem Behördenleiter
besprechen und ggf. rechtfertigen
musste. Im Jahr 1942 wurden sogenannte
Richterbriefe eingeführt.
Sie gaben Rechtsauffassungen des
Ministeriums wieder und wurden
gegen Empfangsbekenntnis dem
Justizjuristen ausgehändigt. Bei
dem vielschichtigen und massiv
ausgeübten äußeren Druck kann
für die Kriegszeit sicher nicht von
einer Unabhängigkeit des Richters
gesprochen werden.
UNIversalis: Zahlreiche Widerstandskämpferinnen
und Widerstandskämpfer
aus Frankreich
und dem Elsass wurden in den badischen
Städten wie Kehl, Rastatt,
Offenburg, Freiburg, Bühl, Gaggenau
und Pforzheim hingerichtet.
Wurden diese Verbrechen nach
1945 ausreichend geahndet?
Thomas Kummle: Als die vorrückenden
Truppen der Alliierten am
23. November 1944 Straßburg erreichten,
wurden 70 Mitglieder der
„Réseau Alliance“, die in Gefängnissen
der erwähnten Städte inhaftiert
waren, ermordet. Dies geschah
in der sogenannten Schwarzwälder
Blutwoche vom 23. bis 30. November
1944. Julius Gehrum, Leiter der
für die Verfolgung der Widerstandskämpfer
zuständigen Gestapo-
Sektion in Straßburg, nahm selbst
an den Massakern teil. In Freiburg
wurden drei Widerstandskämpfer,
die wie alle anderen nicht verurteilt
© Stadtarchiv Freiburg
waren, vor der Justizvollzugsanstalt
Freiburg erschossen. Eine Gedenktafel
an der Außenmauer des
Gefängnisses erinnert an die drei
Franzosen Edouard Kauffmann,
Emile Pradelle und Jean-Marie Lordey.
Am 17. Mai 1947 wurde Julius
Gehrum von einem französischen
Militärgericht zum Tode verurteilt
und am 10. November 1947 in
Straßburg hingerichtet. Dem Leiter
der Gestapo in Straßburg, Helmut
Schlierbach, konnte von der
bundesdeutschen Justiz eine nahe
liegende Verantwortung für die 70
Morde nicht nachgewiesen werden.
Er wurde wegen anderer Delikte
durch ein britisches Militärgericht
zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Ein französisches Militärgericht
verurteilte ihn 1954 in Abwesenheit
zum Tode, er wurde als deutscher
Staatsangehöriger aber nicht an
Frankreich ausgeliefert.
UNIversalis: Die letzte Tafel der
Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“
thematisiert, wie es nach
1945 weiterging. Warum scheiterten
Aufarbeitungsversuche seit
der Nachkriegszeit häufig, welche
Mechanismen waren ausschlaggebend?
Thomas Kummle: Bei der Aufarbeitung
nach dem Zweiten Weltkrieg
gilt es zu unterscheiden
zwischen der Rehabilitierung von
NS-Justizopfern einerseits und der
Strafverfolgung von NS-Straftätern
andererseits. Im französisch besetzten
Teil von Baden wurden ab
November 1945 Verurteilungen
wegen politischer Straftaten auf
Anordnung der Militärregierung
durch sogenannte Straftilgungskommissionen
gelöscht. Am 14.
Januar 1947 trat ergänzend die Badische
NS-Urteile-Aufhebungsverordnung
in Kraft. Sie ermöglichte
auf Antrag eine Aufhebung von
Verurteilungen, die auf nationalsozialistischem
Gedankengut beruhten.
Nach langem Ringen verabschiedete
der Bundesgesetzgeber
im Jahr 1998 das NS-Aufhebungsgesetz,
das weiterreichend war und
unter anderem pauschal alle Urteile
des Volksgerichtshofs aufhob. In
den Jahren 2002 und 2009 wurden
durch Gesetzesänderungen auch
NS-Urteile gegen Homosexuelle,
Deserteure und „Kriegsverräter“
pauschal aufgehoben.
Die Verfolgung von NS-Straftätern
lag nach Ende des Krieges zunächst
in den Händen der vier Hauptsiegermächte.
Sie übten die oberste
Regierungsgewalt und damit auch
die Justizhoheit aus. Nach dem
gemeinsam geführten Nürnberger
Hauptkriegsverbrecherprozess vor
dem Internationalen Militärgerichtshof
führten die US-Amerikaner
alleine zwölf sogenannte Nürnberger
Nachfolgeprozesse durch.
Der dritte dieser Prozesse, der sogenannte
Juristenprozess, richtete
sich in der Zeit vom 14. Februar
bis zum 4. Dezember 1947 gegen
16 Juristen, darunter drei ehemalige
Richter des Volksgerichtshofs
und drei ehemalige Reichsanwälte
des Volksgerichtshofs. Sechs Angeklagte
wurden zu langjährigen, vier
zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen
verurteilt. Vier Angeklagte wurden
freigesprochen, ein Angeklagter ist
wegen Krankheit aus dem Verfahren
ausgeschieden, ein anderer beging
Selbstmord.
Die juristische Ahndung von NS-
Justizverbrechen in der Bundesrepublik
Deutschland kann nur als
gescheitert qualifiziert werden.
Letztlich wurde kein NS-Justizjurist
rechtskräftig verurteilt, der Todesstrafen
beantragt oder gefällt hatte.
Die in Baden-Württemberg im Juli
1960 eingesetzte „Kommission zur
Überprüfung von Vorwürfen gegen
Richter und Staatsanwälte wegen
ihrer früheren Tätigkeit bei Sondergerichten“
riet nach der Sichtung
von Todesurteilen in der Regel von
strafrechtlichen Schritten ab. Dies
beruhte insbesondere auf der damaligen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,
die praktisch zu einem
Ausschluss der Strafbarkeit wegen
Rechtsbeugung für ehemalige NS-
Richter führte. Diese Rechtssprechung
war auch Folge einer sehr
hohen personellen Kontinuität im
Justizbereich: Der Anteil der ehemaligen
NSDAP-Mitglieder war in
den fünfziger und sechziger Jahren
an manchen Gerichten höher als im
Jahr 1939. Das sog. „131er-Gesetz“
- beruhend auf Artikel 131 Grundgesetz
- machte nämlich im Jahr
1951 die politisch motivierte Entlassung
vieler Beamten und Richter
wieder rückgängig und gewährte
diesen einen Rechtsanspruch auf
Wiedereinstellung. Zur Lösung dieser
untragbaren Situation schuf der
Gesetzgeber im Jahr 1961 durch §
116 des Deutschen Richtergesetzes
die Möglichkeit, dass Richter, die
während des Krieges in der Strafrechtspflege
mitgewirkt hatten, auf
Antrag in den Ruhestand versetzt
werden konnten. Die Zahl der Anträge
blieb mit 149 allerdings niedrig.
UNIversalis: In der frühen Bundesrepublik
war anscheinend sogar
Mainstream, die Urteile der „Nürnberger
Prozesse“ abzulehnen?
Thomas Kummle: Die deutsche
Bevölkerung stand den Alliierten
Gerichten in Nürnberg, Lüneburg
oder Rastatt, wie Umfragen der
US-Militärregierung zwischen Oktober
1945 und August 1946 zeigen,
anfangs nicht ablehnend gegenüber
– zumal die Verfahren hauptverantwortliche
Nationalsozialisten
betrafen. Wie schon bei anderen
Kriegsverbrecherprozessen stand