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10 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

„Das war vor allem ein riesen Geschäft –

Die Kriegsindustrie hat Milliarden gemacht“

Im Gespräch: Heiner Tettenborn, Rechtsanwalt, Afghanistankenner und Referent beim 18. Mundologia-

Festival

Auf seinen Reisen durch Afghanistan lernte Heiner Tettenborn Land und Leute kennen

Foto: Tettenborn

I

n Afghanistan sind die

Taliban nach dem Abzug

der internationalen

Truppen wieder an der

Macht. Während zahllose Menschen

eine neue Schreckensherrschaft

fürchten, begrüßen andere

die Rückkehr in der Hoffnung auf

mehr Stabilität und Sicherheit.

Die Afghanistan-Kenner Monika

Koch und Heiner Tettenborn haben

das Land seit 2003 mehrfach

bereist und zeitweise dort auch

gelebt. Ihre Live-Reportage „Afghanistan

- Einblicke in ein zerrissenes

Land“ präsentieren sie

am 6. Februar 2022 im Rahmen

des 18. Mundologia-Festivals im

Konzerthaus Freiburg. Im Interview,

das von Janine Böhm

geführt wurde, berichtet Heiner

Tettenborn von der aktuellen

Lage im Land und erläutert die

Hintergründe.

UNIversalis: Guten Tag Herr

Tettenborn, zu Beginn eine Frage,

die sich vermutlich einige gestellt

haben: Im September dieses Jahres

gingen 300 vollverschleierte Afghaninnen

auf die Straße und demonstrierten

mit Transparenten ihre Unterstützung

für das Taliban-Regime.

Gibt es tatsächlich Frauen, die sich

über die Rückkehr der Islamisten

gefreut haben?

Tettenborn: Ich kann mir das sehr

gut vorstellen. Das Land war in

einer absoluten Sackgasse, kam

nicht zur Ruhe, der Krieg dauerte

an. In den Jahren 2018 bis 2020

sind bei Kampfhandlungen über

100.000 Menschen gestorben. Die

Lage war sehr unübersichtlich, im

Schnitt sind jährlich 30.000 Menschen

umgekommen, die meisten

waren Kämpfer, aber es gab auch

viele Zivilisten unter den Opfern.

Wobei man sich klarmachen muss,

dass die meisten Männer aus Not

für Geld gekämpft haben: Zurück

bleiben Waisenkinder und eine Familie

ohne Einkommen.

Universalis: Das heißt, die Frauen

unterstützen die Taliban nicht aus

religiösen Gründen, sondern weil

sie sich von ihnen mehr Sicherheit

und Ruhe erhoffen?

Tettenborn: Genau, zumindest

auch deswegen. Die Sicherheitslage

war in den letzten 15 Jahren desolat.

Freunde im Land haben mir berichtet,

dass es in Teilen von Afghanistan

nach der Machtübernahme

der Taliban sehr viel besser geworden

ist. Es ist wichtig zu erkennen,

dass wir hier eine zutiefst gespaltene

Gesellschaft haben. Die Aussagen

der Menschen sind diametral:

Je nachdem wen man fragt und

wessen Schicksal gerade betroffen

ist. Wir im Westen hatten meist keinen

Kontakt zu Leuten, die die Taliban

unterstützt haben und die unter

den Angriffen der nationalen Armee

oder der ausländischen Truppen

gelitten haben. Deren Berichte

sind weniger präsent, aber sie haben

auch viel Leid erfahren. Wenn

schon die Afghanen sich nicht einig

werden, was in ihrem Land richtig

und falsch ist, wie will man das von

außen beurteilen? Für mich ist das

zumindest sehr schwierig.

UNIversalis: Wünscht sich die

Mehrheit der Afghanen eine strikte

wörtliche Auslegung des Koran

und die strenge Orientierung an der

Scharia?

Tettenborn: Ich glaube, das

wünscht sich so nur eine Minderheit

der Bevölkerung. Die Leute sind

aus unserer Sicht extrem religiös.

Auf dem Land und in vielen Milieus

auch innerhalb der Städte ist die Religion

das zentrale Element für den

Zusammenhalt der Gesellschaft.

Die Menschen beten mindestens 5

mal am Tag ganz konsequent, da

schert niemand aus. Dennoch sind

sie im Alltag nicht so strikt, wie die

Taliban. Man muss einfach sehen,

dass das Land wirklich krasse Probleme

hat, unter denen die Taliban

nicht das größte darstellen.

UNIversalis: Wo sehen Sie gerade

das größte Problem?

Tettenborn: Das größte Problem

haben viele hier nicht im Bewusstsein:

Trotz unserer Präsenz dort

sind 50 Prozent der Kinder und 30

Prozent der Erwachsenen mit Nahrungsmitteln

unterversorgt, Hunger

ist allgegenwärtig. Das muss man

sich klar machen. Die Leute wollen

einfach überleben. Solange Krieg,

Kämpfe, Unsicherheit, Kriminalität

und die staatliche Korruption andauern,

sehen sie keine Gerechtigkeit

und kommen zu dem Schluss,

dass letztendlich nur der Islam Gerechtigkeit

bringen kann. Die Menschen

sagen sich, die Taliban sind

viel weniger korrupt und viel geradliniger,

was ihre Politik angeht.

Dann schlucken wir halt die Kröte:,

sie sind ein bisschen extrem, aber

sie können wenigstens für Ruhe

sorgen. Das ist aus meiner Sicht

einer der Hauptgründe, warum die

Taliban in Teilen der Bevölkerung

Rückhalt haben. Es hat nicht in erster

Linie etwas mit Religion zu tun,

sondern damit, dass die Staatsform

und Regierung der letzten 20 Jahre

so schlecht bewertet wird. Das beim

Vormarsch der Taliban niemand den

Staat verteidigt hat, ist für mich eine

Art „demokratische Abstimmung“ –

mit den Füßen sozusagen.

UNIversalis: Die Menschen haben

sich also nicht klar für die Taliban

aber sehr deutlich gegen die bisherige

Regierung entschieden.

Tettenborn: Ja, das trifft es sehr

gut.

UNIversalis: Sie sind Jurist, können

Sie uns was zur Scharia sagen?

Ist das eine Art Gesetzesbuch, das

alle Lebensbereiche umfasst?

Tettenborn: Im Prinzip schon. In

Afghanistan gilt vielleicht nach

außen hin die Scharia, aber bei

der größten und stärksten Bevölkerungsgruppe,

den Paschtunen,

sind die Stammesgesetze von noch

größerer Bedeutung. Es handelt

sich dabei um einen Rechtscodex,

Paschtunwali genannt, der älter

als der Islam ist. Das ist gelebtes

Recht, da gibt es kein einheitliches

Buch. Islamisches Recht und das

Paschtunwali überlagern sich. Man

kann dort nicht einfach kommen,

beide wegwischen und ein anderes

Rechtssystem einführen. Man muss

auf dem aufbauen, was die Leute

als Recht empfinden. Es gibt darin

durchaus auch positive Elemente

wie basisdemokratische Entscheidungen

auf Gemeindeebene. Offiziell

beteiligen sich an solchen

Prozessen zwar nur die männlichen

Familienoberhäupter, aber im Vorfeld

zuhause hat die ganze Familie

und gerade auch die älteren Frauen

ein Mitspracherecht. Die älteren

Frauen haben über ihre Männer

oft beträchtlichen Einfluss und entscheiden

mit, wie sich die Familie

zu einzelnen Fragen verhält. Die

Rolle der Frau in der afghanischen

Gesellschaft lässt sich nicht innerhalb

einer Generation völlig verändern.

UNIversalis: Aber es gibt doch diese

Bilder aus den 1960er Jahren,

auf denen man afghanische Frauen

sieht, die in Miniröcken durch Kabul

spazieren.

Tettenborn: Wir haben verschiedene

afghanische Freunde dazu befragt

und die alle meinten, das sei

nur eine sehr kleine Gruppe aus der

gebildeten Mittel- und Oberschicht

der großen Städte gewesen, die

keinerlei Einfluss auf die restliche

Bevölkerung hatte. Das ist ein gutes

Beispiel dafür, was dem Land in

den letzten 100 Jahren wirklich zu

schaffen macht, nämlich die Gleichzeitigkeit

höchst unterschiedlicher

kultureller Entwicklungen. Auf der

einen Seite gibt es die in traditionellen

Kulturmustern verankerte

Landbevölkerung und auf der anderen

eine städtische Schicht, modern,

gebildet und über Auslandskontakte

und Auslandaufenthalte

mit der westlichen Kultur vertraut.

Sie können sich mit Europäern,

Amerikanern und Russen viel besser

austauschen und reden als mit

ihren Verwandten und Landsleuten

zehn Kilometer außerhalb der

Stadt. Diese kulturelle Spaltung

ist ein gefährlicher Nährboden für

politische Auseinandersetzungen.

Aus machtpolitischem Interesse

haben die Großmächte beide Seiten

gegeneinander ausgespielt und

für sich die Schwierigkeiten in der

Bevölkerung ausgenutzt. Das war

zumindest mein Eindruck.

UNIversalis: Für viele junge Menschen,

die in den letzten Jahren zur

Schule gegangen sind, studiert haben,

Zukunftspläne hatten, ist die

Rückkehr der Taliban ein besonders

harter Schnitt.

Tettenborn: Ja, fürchterlich. Einer

meiner besten afghanischen

Freunde, den wir bei unserem ersten

Aufenthalt 2003/2004 kennengelernt

hatten, er war damals 17, jetzt

ist er Mitte Dreißig, hat ebenso wie

seine Geschwister und Freunde sein

ganzes Leben auf der westlichen

Präsenz aufgebaut. Gleichzeitig

gibt es viele Millionen Afghanen,

die trotz der Präsenz des Westens

ganz traditionell gelebt haben. Die

stehen sich nun mit sehr unterschiedlichen

Lebensauffassungen

gegenüber. Die einen sagen, wenn

ihr nicht so engstirnig und rückständig

wärt, und die Ausländer

und uns nicht bekämpfen würdet,

könnten wir ein tolles Land aufbauen.

Und die anderen sagen, wenn

ihr Verräter nicht mit den Ausländern

gemeinsame Sache gemacht

hättet, dann würden unsere Verwandten,

die bombardiert wurden,

noch leben. Das ist jetzt zu stark

vereinfacht, aber auf beiden Seiten

gab es viele Tote, und das macht

das miteinander Reden sehr schwer.

Hinzu kommt die wirtschaftliche

Lage. Afghanistan steht mit dem

Rücken zur Wand. Man hat ein

Kartenhaus ohne wirtschaftliche

Tragfähigkeit aufgebaut, die Hälfte

des Bruttosozialprodukts sind

ausländische Transferleistungen.

Auch das Verhältnis von Export

und Import ist besorgniserregend.

Es wird viel mehr importiert als

exportiert. Das ist uns schon 2004

aufgefallen. Volle Lastwagen fuhren

von Pakistan und Indien nach

Kabul und leere Lastwagen fuhren

zurück. Das kann auf Dauer nicht

gut gehen. Man hat ein Land in einer

fürchterlichen Abhängigkeit erschaffen,

fast alles ist von Transferzahlungen

abhängig und das wird

nun als Druckmittel gegen die Taliban

benutzt. Darunter leiden wird

vor allem die Bevölkerung.

UNIversalis: Warum konnte die afghanische

Wirtschaft nicht besser

aufgebaut werden?

Tettenborn: Afghanische Freunde

von uns bezweifeln, dass wirtschaftliche

Unabhängigkeit je gewünscht

war. Obwohl die Fläche

da ist, obwohl das Wasser da ist,

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