Flip-Uni2021-W
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
ArtMedia Verlag Freiburg Winter 2021 31. Ausgabe / 17. Jahrgang
Mehr als nur ein Kino
Nach anderthalbjähriger Coronapause öffnet der aka Filmclub wieder seine Tore – und steht vor einer
Herausforderung, die in der langen Geschichte des Vereins einmalig ist
W
er bis ins Jahr 2019 in
Freiburg studiert hat,
der kennt folgendes
Abendprogramm vermutlich
ganz genau: Snacks, Getränke
und Freunde einpacken, in
den Hörsaal der Biologie gehen
(oder früher in den großen Hörsaal
im KG II), Einsfünfzig bezahlen
und dann gemeinsam mit anderen
Studierenden einen Film auf großer
Leinwand schauen. Einen Film,
den man schon immer einmal sehen
wollte, den man unbedingt einmal
im Kino sehen möchte oder von
dem man sich überraschen lassen
will, weil man noch nie im Leben
etwas davon gehört hat.
Seit 1957 organisiert der akademische
Filmclub an der Uni Freiburg
e.V., kurz „der aka“, semesterweise
ein Kinoprogramm von
Studierenden für Studierende. Damit
zählt der Verein zu den traditionsreichsten
Institutionen der Freiburger
Studierendenkultur. Seine
Aufgabe sieht der Filmclub zweigeteilt:
Einerseits soll dem Publikum
ein anspruchsvolles Filmprogramm
präsentiert werden, das mit einem
rungen der Coronalage flexibel reagieren
zu können, plant der Verein
das Programm zunächst statt semesterweise
in Vierwochenrhythmen.
Zusätzlich wurde eine Fördermitgliedschaft
ins Leben gerufen, die
es Interessierten ermöglicht, den
aka finanziell und auch mit geringen
Beiträgen zu unterstützen.
Damit ist von Seiten des Filmclubs
eigentlich alles angerichtet. Wenn
jetzt noch die Zuschauer*innen so
treu und leidenschaftlich ins Kino
gehen, wie vor Corona, wird der
aka diese Krise überwinden und
es kann auch die nächsten 65 Jahre
heißen: Licht aus und Film ab!
Der aka spielt Dienstag bis Donnerstag
im Hörsaal der Biologie in
der Schänzlestraße (neben dem botanischen
Garten) unter Einhaltung
der Hygieneregeln. Programmbeginn
jeweils 20 Uhr, Eintritt 1,50€
auch für Nicht-Studierende. Wer
beim aka mitmachen will, kommt
einfach zu einer der Vollversammlungen
an jedem ersten Montag im
Monat. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Alle Infos zu Programm,
Verein und Fördermitgliedschaft
unter www.aka-filmclub.de
Johannes Litschel
Seit 2011 für Sie in der Region
Bietet Platz für bis zu 400 Zuschauer*innen: Der Kinohörsaal des aka Filmclub
© Svenja Alsmann
Aus Liebe. Für Menschen.
Aus dem Inhalt:
Kolja Reicherts Krypto-Kunst
3
Wir im Blick des Bären 4
Die letzten Orangen aus Jaffa
6
Die Herausforderungen des
Anthropozäns7
Im Gespräch: Heiner Tettenborn
über Afghanistan10
Der Umgang mit der NS-Justiz
vor und nach 194512
Das Massaker von Babyn Jar
13
Ohne Waffen gegen Hitler 15
geringen Eintrittspreis möglichst
jedem die Gelegenheit zur Teilhabe
gibt. Das Programm wird sorgfältig
und in langen Debatten kuratiert und
lenkt den Blick von amerikanischen
Blockbustern und dem sogenannten
Arthouse-Mainstream wie der französischen
Sommerkomödie oder
dem neuesten Reisefilm weg, und
stattdessen hin zu unbekannten,
anspruchsvollen und bisweilen vergessenen
Schätzen des internationalen
Kinos. Thematische Filmreihen
ergänzen sich mit Einzelfilmen, die
unabhängig von inhaltlichen Klammern
zeigens- und sehenswert sind.
Daneben steht der aka, wie der
Name schon sagt, in der Tradition
der Filmclubbewegung und versteht
sich auch nach innen als Kulturinstitution.
Basisdemokratisch
gestaltet und offen für alle Filminteressierten
ermöglicht der Verein
seinen Aktiven, sämtliche Facetten
eines Kinobetriebs mitzugestalten
– von der Programmplanung über
die Betreuung der Abspieltechnik
bis hin zu Finanzierung, Netzwerkund
Öffentlichkeitsarbeit. So wird
der aka weitgehend unabhängig von
der Universität und vor allem von
externen Geldgebern seit Generationen
von Studierenden ehrenamtlich
organisiert und weitergetragen.
Freilich machte Corona auch vor
dem Filmclub nicht halt. Drei Semester
lang ruhte der Spielbetrieb
gänzlich und auch das kurze Zeitfenster
im vergangenen Sommer,
als die Kinos unter strengen Auflagen
öffneten, war dem Filmclub
keine Hilfe. Die Hygieneregeln der
Universität sahen keine eigenen
und damit erst recht keine externen
Veranstaltungen vor, gleichzeitig
fiel ein Teil der Sommeröffnung in
die Semesterferien. Und noch etwas
unterscheidet den aka von herkömmlichen
Kinos: Während die
Auslagern
Aufbewahren
Abstellen
blau = C:100 | M:20 | Y:0 | Y: 0 | K: 0
Gelb = C:0 | M:10 | Y:100 | K:0
Neu in Freiburg
Wir vermieten
flexiblen
Lagerraum!
0761 • 45 99 00
zapf-selfstorage.de
24h
Zugang
Hilfspakete für Kinobetriebe weitgehend
erfolgreich ihre Zielgruppe
erreichten, fiel der aka durch sämtliche
Raster der Coronahilfe. Als
komplett ehrenamtlich geführter
Betrieb – so die Förderlogik – entstehen
dem Verein keine Fixkosten
im Personalbereich, womit die
entscheidende Hürde in den Hilfsanträgen
nicht genommen werden
konnte. Vernachlässigt wurde dabei
aber, dass der Verein durchaus laufende
Kosten hat, und zwar nicht zu
knapp: Verbandsmitgliedschaften,
Versicherungen, Zeitschriftenabos
und vor allem die Mietkosten für
das Vereinsbüro im Freiburger Sedanviertel
mussten auch während
der vergangenen Monate bezahlt
werden. Geldeingänge konnten lediglich
durch eine unkomplizierte
Spende vom Freiburger StuRa und
über zweckgebundene Mittel des
Stadtjubiläums verzeichnet werden.
Grethergelände, Mensagarten
und das Uniseum unterstützten den
aka zusätzlich ideell. Die Folge:
Das Vereinsvermögen, das für technische
Neuanschaffungen aufgebaut
wurde, ist durch Corona um rund
zwei Drittel geschmolzen und es ist
keine Übertreibung zu behaupten,
dass der aka ein weiteres Coronasemester
vermutlich nicht überlebt
hätte.
Diese Zeit ist nun vorbei: In den
ersten Wochen des Wintersemesters
wurden die Tore im Großen
Hörsaal der Biologie in Freiburg-
Herdern für das Publikum wieder
geöffnet. Formal wie inhaltlich ist
das Programm allerdings an die momentane
Situation angepasst. Denn
das Vorhaben, unbekannten oder
fordernden Filmen eine Plattform
zu geben, ist trotz des zweifelsohne
regen Zuspruchs der Freiburger
Studierendenschaft nicht immer
mit ökonomischem Erfolg verbunden.
Wie generell im Kulturbetrieb
wird auch hier mit zunehmender
Nischenlastigkeit die potenzielle
Zielgruppe kleiner. Hinzu kommt
eine Herausforderung, die einmalig
ist in der gut sechzigjährigen
Geschichte des Vereins: eine ganze
Kohorte hat ihr Studium zwar schon
zur Hälfte abgeschlossen, wegen
Corona aber bis dato noch nie etwas
von dem studentischen Verein
gehört, geschweige denn einen Film
im Hörsaal genossen. Publikum
wie neue Mitglieder müssen also,
zumindest in Teilen, überhaupt erst
auf das Angebot aufmerksam gemacht
werden.
Um dieses Dilemma zu lösen –
Verluste kompensieren, Interesse
beim Publikum (neu) wecken und
gleichzeitig dem Markenkern treu
bleiben – wird das Programm im
Wintersemester vor allen Dingen
aus erfolgsversprechenden Einzelfilmen
zusammengestellt, die aber
gleichzeitig einem cineastischen
Anspruch genügen und mehr sind,
als bloße Produkte einer Unterhal-
tungsindustrie. Der aktuelle, provokante
Berlinalegewinner beispielsweise,
Spielfilme mit politischem
Impetus oder auch Kooperationen
mit dem feministischen Freiburger
Indie-Pornolabel „feuer.zeug“ verbinden
spannende Filme mit dem
Ziel, das Kino als sozialen Raum zu
fördern, gemeinsames Filmeschauen
und gemeinsames Debattieren
zu ermöglichen. Um auf Verände-
2 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Ein neuer Ort der Bildung für Nachhaltige
Entwicklung
Der Lehr- und Lerngarten der Pädagogischen Hochschule Freiburg
A
m Institut für Biologie
der Pädagogischen Hochschule
Freiburg ist die
Bildung für eine nachhaltige
Entwicklung (BNE) seit vielen
Jahren ein zentraler Bestandteil in
der Lehre. In Seminaren zu verschiedenen
Ökosystemen (Wald, Wiese,
See, Stadt etc.) werden die fachwissenschaftlichen
Grundlagen einer
nachhaltigen Entwicklung und des
Klimawandels gelehrt. Aber auch in
fachdidaktischer Hinsicht erhalten
die Studierenden ein breitgefächertes
BNE-Angebot. Auf Grundlage
empirischer Forschungsergebnisse
wird vermittelt, welche Lehr- und
Lernverfahren besonders wirksam
sind, wie wichtige Teilkompetenzen
(z.B. das systemische Denken) gefördert
werden können, auf welche
nachhaltigkeitsrelevanten Schüler/-
innenvorstellungen man als Lehrperson
treffen wird und welchen Beitrag
außerschulische Lernorte zur BNE
leisten können.
Ein besonderer Ort der BNE, dem
eine hohe Wirksamkeit zugesprochen
wird und der an der Pädagogischen
Hochschule bisher leider
fehlte, ist der Lehr- und Lerngarten.
In ihm können vielfältigen nachhaltigkeitsrelevanten
Fragestellungen
ganz praktisch und unmittelbar
nachgegangen werden. Es kann die
Artenvielfalt erlebt, dokumentiert
und gefördert werden, indem man
verschiedene Bepflanzungen erprobt
und vergleicht. Der Gemüseanbau
kann praktiziert und verschiedene
Anbauweisen aus ökologischer, ökonomischer
und sozialer Perspektive
analysiert und auf ihre Nachhaltigkeit
hin diskutiert werden. Im Lehr- und
Lerngarten wird Gestaltungskompetenz
ausgebildet: Studierende planen
gemeinsam, motivieren sich gegenseitig,
werden aktiv und gestalten die
Zukunft. Diese Erfahrung sollen sie
später auch bei ihren Schülerinnen
und Schülern stiften. Denn um nachhaltig
zu handeln braucht es die Zuversicht,
dass man einen Unterschied
machen kann.
Im letzten Jahr konnte sich das Institut
für Biologie erfolgreich beim
Förderprogramm „Hochschulgärten
an den Pädagogischen Hochschulen
des Landes Baden-Württemberg“
des Ministeriums für Wissenschaft,
Forschung und Kunst bewerben.
Gemeinsam mit Studierenden wurde
im Wintersemester 2020/21mit der
Konzeption sowie Umsetzung des
Lehr- und Lerngartens begonnen.
Als geeignete Fläche wurde ein eingezäunter
Wiesenbereich zwischen
dem Kleinen Auditorium und den
Bahngleisen ausgemacht. Da die
Bodenqualität unzureichend war,
wurde vor allem in den Bereichen
der Ackerbeete eine enorme Menge
frische Erde eingebracht. In Kooperation
mit dem Institut für Technik
wurden die Hochbeete hergestellt
und anschließend im Hochschulgarten
aufgestellt und befüllt. Der Ausbau
des Lehr- und Lerngartens geht
fortwährend weiter: Gerade bekam
der Schuppen ein neues Dach und
als nächstes wird das Gewächshaus
aufgestellt und eine Bewässerungsanlage
installiert.
Im Laufe dieses Jahres konnte die
Der Hochschulgarten in voller Blüte
Bepflanzung angegangen werden. Es
wurden Bäume und Beerensträucher
gepflanzt, aber auch Bereiche mit
bienenfreundlichen Wiesenpflanzen
geschaffen. In den Beeten wurde Gemüseanbau
betrieben, mit Mischkulturen
und Fruchtfolgen experimentiert
sowie Bodenuntersuchungen
durchgeführt. Auch Kartoffeln und
verschiedene Kräuter wurden kultiviert.
App-Touren durch den Garten
Neben diesen sehr klassischen Tätigkeiten
haben die Studierenden aber
auch neue Wege der Hochschulgartenarbeit
beschritten, indem sie ihre
Arbeit und Erkenntnisse in App-Touren
dokumentiert haben. BNE und
digitale Medien werden zunehmend
als einander ergänzende Bildungskomponenten
verstanden. Der Einsatz
von Spielelementen wie Escape
Rooms, Quiz- und Rätsel elemente
innerhalb der App-Touren fördert
die Motivation sowie das emotionale
Erleben und unterstützt gerade
dadurch auch die Ziele der BNE.
Die Studierenden sollen diese Anwendungen
jedoch nicht nur nutzen,
sondern gemeinsam generieren, womit
die vier Kompetenzbereiche des
Foto: PH Freiburg
4K-Modells (Kreativität, Kollaboration,
Kommunikation und kritisches
Denken) gefördert werden. In einem
gemeinsamen Seminar mit dem Institut
für Geographie haben Studierende
Themen der Nachhaltigkeit erarbeitet
und diese in BNE-App-Touren im
Hochschulgarten erlebbar gemacht.
Nach der Erstellung, Erprobung und
Optimierung der BNE-App-Touren
wurden diese in die jeweiligen App-
Stores hochgeladen und stehen nun
der Öffentlichkeit zur Verfügung. Sie
können im Hochschulgarten durch
Seminargruppen, Schulklassen und
andere Besucherinnen und Besucher
genutzt werden. Im Sinne des Service
Learning werden wissenschaftliche
Inhalte einem breiten Interessentenund
Nutzerkreis zugänglich gemacht.
In einer Begleitforschung wurden die
Studierenden während der Seminare
über Fragebögen und Lerntagebücher
mehrfach befragt. Es wurden ihre
Einstellungen zu Umweltfragen sowie
zu digitalen Medien erhoben. Darüber
hinaus wurden sie zu ihrer Motivation
befragt, später als Lehrkraft
einen Schulgarten zu initiieren oder
zu betreiben und dort nachhaltigkeitsrelevante
Themen zu unterrichten. In
der Auswertung werden Studierende
verglichen, die mehr praktisch im
Hochschulgarten gearbeitet oder ihren
Schwerpunkt auf die Erstellung
digitaler Medien gelegt haben. Ziel
ist es, die Seminargestaltung in der
Lehramtsausbildung im Kontext von
BNE und Hochschulgarten zu optimieren
und Studierende als zukünftige
Akteurinnen und Akteure von
BNE möglichst effektiv zu fördern.
Dr. Christian Hörsch, Wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für
Biologie und Didaktik der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Jun.-Prof. Dr. Nadine Tramowsky,
Institut für Biologie und Didaktik,
Leiterin des Freiburger BioLab der
Pädagogischen Hochschule Freiburg
Dr. Anna Chatel, Wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Geographie
und Didaktik der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Diana Jakobschy, Wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Biologie
und Didaktik der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Spielend lernen!
Wege neuen Lernens am Zentrum für didaktische Computerspielforschung entdecken
C
omputerspiele, interaktive
Apps und virtuelle
Realität – das gehört
in den Unterricht! Mit
diesem Grundsatz erforschen die
Wissenschaftler*innen des Zentrums
für didaktische Computerspielforschung
(ZfdC) der Pädagogischen
Hochschule Freiburg die didaktischen
Potenziale digitaler Medien. Die
Projekte des Zentrums beleuchten
ein breites Spektrum bildungswissenschaftlicher
Themen rund um die
schulpraktischen und empirischen
Möglichkeiten des interaktiven Lernens,
der digital gestützten Lehr- und
Lernsettings und didaktischen Potenziale
unterschiedlicher Medienformen.
Im Rahmen des bundesweiten Maus-
Türöffnertags 2021 der Sendung mit
der Maus konnten neugierige Kinder
und Jugendliche sowie deren Eltern
im Oktober erstmals einen Einblick
in die Arbeit und die vielfältigen Projekte
des Zentrums gewinnen und
dabei eine Menge entdecken.Nach
einer Begrüßung und Einführung
durch die Zentrumsleitung, Prof. Dr.
Jan M. Boelmann und Dr. Lisa König,
konnten die Kinder an verschiedenen
Stationen Neues ausprobieren,
ihre Kompetenzen und Kreativität auf
die Probe stellen und so interaktiv die
vielfältigen Forschungsbereiche des
Zentrums kennenlernen.
Das Kernanliegen des Zentrums, Lernen
neu und umzugestalten,wurde für
die Besucher*innen am Türöffnertag
hautnah erlebbar. Bei ihrem Besuch
hatten sie vielfältige Möglichkeiten,
sich mit der lernförderlichen Rezeption
und Produktion verschiedener Medienformen
erkundend, fragend und
auch kreativ auseinanderzusetzen.Vor
einem Greenscreen unternahmen sie
Versuche eigener Fernsehauftritte und
animierten an der Trickfilm-Station,
mit Tablets und Playmobil-Figuren
ausgestattet, eigene Kurzfilme. Auf
der Augmented Reality-Couch erkundeten
die Nachwuchsforscher*innen
virtuell einen Bienenstock und konnten
per Merge Cube antike Skulpturen
unter die Lupe nehmen. Bei
Schüler*innen aller Altersgruppen erfreuten
sich die Tablet-Umgebungen
zur informatorischen Grundbildung
großer Beliebtheit, die einen spielerischen
Einstieg in die Welt des Programmierens
ermöglichen. Schließlich
konnten die Gäste auch erste
Erlebnisse in virtuellen Umgebungen
per VR- und Cardboard-Brille machen
und im Game Lab, das Herzstück des
2019 gegründeten Zentrums, mit
Computerspielen Kompetenzen und
Wissen erwerben.
Potenziale digitaler Medien
Doch warum braucht es die Arbeit
am Zentrum für didaktische Computerspielforschung
überhaupt? Die
systematische bildungswissenschaftliche
Erforschung digitaler Medien
ist hochaktuell: Hörbücher, Film und
Fernsehen ebenso wie digitale Spiele
und die zahllosen Möglichkeiten des
Internetsstellen heute mehr denn je einen
bedeutenden Teil der zunehmend
digitalisierten Gesellschaft dar, die die
Lebenswelt heutiger Schüler*innen
ist. Aus dem Alltag von Kindern und
Jugendlichen sind digitale Medien
vielfach kaum mehr wegzudenken.
Darüber hinaus sind verschiedenen
Medienformen gegenstandsspezifische
Besonderheiten inhärent, die
sich für das Lernen von Kindern und
Jugendlichen – auch in der Schule –
nutzen lassen.
Das Zentrum für didaktische Computerspielforschung
untersucht daher, als
europaweit einzigartige Einrichtung,
vorliegende lernförderlichen Potenziale
von interaktiven Medienformen
wie Apps, Computerspiele oder auch
Virtual und Augmented Reality-Anwendungen
und bringt diese in den
Unterricht verschiedener Fächer und
Schulformen. An der Pädagogischen
Hochschule fungiert das ZfdC als mediendidaktisches
Kompetenzzentrum,
das Bildungsangebote wie Workshops,
Fortbildungen und eigenständige Seminarangebote
anbietet. Während
der Semesterzeit werden in kurzen
Lunchtime-Lessons zentrale Themen
rund um den Einsatz interaktiver Medien
besprochen und diskutiert; in den
interdisziplinären Datenbanken finden
sich verschiedene Empfehlungen zu
Spielen und VR-AR-Angeboten für
die konkrete Anwendung in der Schule.
Viele davon werden zusätzlich in
der Reihe Computerspiele im Unterricht
auf dem zentrumseigenen Youtube-Kanal
vorgestellt und Chancen
und Herausforderungen für neue Lernwege
mit Expert*innen besprochen.
Dazu fungiert das Zentrum deutschlandweit
als zentrale Anlaufstelle für
Forschungsvorhaben im Bereich interaktiver
Medien und lädt mit seinem
Fellowship-Programm interessierte
Nachwuchswissenschaftler*innen und
Lehrkräfte zur aktiven Teilnahme ein.
Die Besucher*innen des Maus-Türöffnertags
konnten bereits einen Einblick
in die Arbeit des ZfdCs erhalten.
Sie wollen auch mehr wissen? Dann
besuchen Sie uns an der Hochschule
oder werfen Sie einen Blick auf unsere
Website: www.zfdc.de
Dr. Lisa König, Wissenschaftliche
Mitarbeiterin für Literatur- und Mediendidaktik
am Institut für Deutsche
Sprache und Literatur, stv. Direktorin
des Zentrums für didaktische Computerspielforschung
der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Jaron Müller, Doktorand im Forschungs-
und Nachwuchskolleg „Didaktik
des digitalen Unterrichts: Digital
gestützte Lehr-Lernsettings zur
kognitiven Aktivierung“ (Di.ge.LL)
der Pädagogischen Hochschule und
der Universität Freiburg
Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 3
Beglaubigte Fiktionen
Kolja Reicherts Krypto-Kunst. NFTs und digitales Eigentum
I
m März dieses Jahres
wurde im Auktionshaus
Christie‘s ein Kunstwerk
für rund 69 Millionen Dollar
vekauft. Daran ist soweit nichts
ungewöhnlich, ist der Kunstmarkt
doch dafür bekannt Preise hervorzubringen,
die jenseit der Vorstellungskraft
der meisten Menschen
liegen. Nun war es in diesem Fall
kein verschollener Picasso, noch
ein verchromter Ballonhund, der
in London den Besitzer wechselte,
sondern eine Collage des Digitalkünstlers
und Mediendesigners
Beeple. Das teuerste digitale Kunstwerk
aller Zeiten ist eine 319 Megabyte
große .jpeg-Datei mit dem
Titel „Everydays: The First 5000
Days“, bestehend aus 5000 Einzelbildern
mit schwankender künstlerischer
Qualität, die Mike Winkelmann,
wie Beeple mit bürgerlichem
Namen heißt, seit einigen Jahren
tagtäglich auf der kostenlosen Online-Plattform
tumblr veröffentlicht.
Millionen von Dollar für ein Ölgemälde
zu bezahlen ist schon nicht
ohne Weiteres nachvollziehbar, einen
solchen Betrag für etwas auszugeben,
das es genau genommen gar
nicht gibt, sprengt – gelinde gesagt
– unsere Vorstellungen davon, wie
kulturelle Bildung und Wertschöpfung
bisher funktioniert haben.
Beeples Collage ist, einige werden
es schon vermuten, ein NFT, ein
non fungible token. Kurz zur Erklärung:
Ein NFT bezeichnet technisch
gesehen nicht mehr als einen Registereintrag,
indem beispielsweise
steht, wem etwas gehört. Dieser
Eintrag wird in einer Blockchain,
einer riesigen kollektiven Datenbank,
gespeichert und ist damit
unfälschbar, da diesen grob gesagt
jede*r einsehen, aber niemand ändern
kann. Mit einer solchen digitalen
Echtheitssignatur versehen,
kann nun eine prinzipiell unendlich
kopierbare Datei zweifelsfrei
als Original ausgewiesen werden.
Unterscheiden tut sich das Original
der Beeplschen Collage von seinen
tausendfachen Kopien durch nichts
– außer eben dadurch, das es nur
einmal existiert und dass mit dem
Abschluss des Kaufvertrags festgelegt
ist, wem es gehört.
Originalitätskult
Verhießen die Anfangszeit des Internets
und das Aufkommen der
Postmoderne theoretisch wie praktisch
die Verabschiedung von Eigentum
und Urheberschaft, spielen
Kolja Reichert, Krypto-Kunst. NFTs
und digitales Eigentum, Reihe Digitale
Bildkulturen, Verlag Klaus Wagenbach,
ISBN 978-3-8031-3711-1
diese beiden Kategorien im digitalen
Raum nun wieder eine zentrale
Rolle. Und nicht nur dort, sondern
durchaus auch in der echten
Welt, denn es geht um ziemlich viel
Geld. Mit der Blockchain wurde
eine völlig neuartige Rahmentechnologie
geschaffen, mit der nahezu
jedes erdenkliche digitale Gut kapitalisiert
werden kann – von der
mittlerweile schon zehn Jahre alte,
pixelige Nyan-Cat (600.000 US-
Dollar) bishin zu einer Kopie von
Twitter-Erfinder Jack Dorseys erstem
Tweet (2,9 Mio. US-Dollar).
Das NFT beglaubigt die für das
Funktionieren dieses Prinzips notwendige
Fiktion des Eigentums, so
der Kunstkritiker und Programmkurator
der Bundeskunsthalle, Kolja
Reichert in seinem kürzlich erschienenen
Buch Krypto-Kunst. Reichert
zeichnet in seiner knapp 70 Seiten
umfassenden Studie, die in der
Reihe „Digitale Bildkulturen“ des
Wagenbach Verlags erscheint, hellsichtig
die bisherige Geschichte der
NFTs in all ihrer Ambivalenz nach
und landet damit eine Diagnose, die
näher an der Gegenwart kaum sein
könnte. Denn natürlich ist Krypto-
Kunst auch irgendwie Corona-
Kunst. Während den Wochen und
Monaten des harten Lockdowns
hatten sehr viele Menschen plötzlich
sehr viel Zeit und insbesondere
in den USA zirkulierte durch die
unbürokratische Ausschüttung der
Corona-Hilfen auf einen Schlag viel
Geld. Ein nicht unwesentlicher Teil
davon wurde in Kryptowährungen
und -kunst investiert, wie die Kursentwicklungen
von Bitcoin, Ethereum
und co. aus dem Frühling belegen.
Den Hype um NFTs als flüchtiges
Nebenprodukt der Pandemie
abzutun, wäre allerdings verfrüht.
Denn der digitale Handel mit Kunst
scheint, zumindest für den Moment,
das Gatekeeping des Kunstmarkts
und seinen Institutitionen
außer Kraft zu setzen – es liegt auf
der Hand, dass die Hemmschwelle,
ein Kunstwerk am Bildschirm zu
kaufen undgleich niedriger ist als
der Besuch einer Galerie, mit all
ihren ungeschriebenen Verhaltens-,
Dress- und Sprachcodes.
Kunst als Ware
Ob nun mit dem Aufkommen von
Krypto-Kunst die große Demokratisierung
des Kunstmarkts eingeleitet
wird, darüber lässt sich
streiten. Einerseits bieten NFTs
allen halbwegs technikaffinen
Kolja Reichert
Foto: Albrecht Pischel
Eine Auswahl von CryptoPunks
Hobbykünstler*innen die Möglichkeit,
ihre Arbeiten in ein Verhältnis
zu einem Wert zu setzen und zum
Verkauf anzubieten. Trotzdem werden
die höchsten Gewinne weiterhin
von etablierten Institutitionen
(Beeples Collage wurde im Traditionsauktionshaus
Christie‘s versteigert)
und von Menschen mit
entsprechendem sozialen Status,
siehe Jack Dorsey, eingefahren.
Dahingehend bleibt also alles beim
Alten und im Anschluss daran wird
oft argumentiert, NFTs seien ohnehin
mehr unternehmerische als ästhetische
Innovation. Natürlich sind
Krypto-Kunstwerke in einem nicht
unwesentlichen Maß Spekulationsobjekte,
mit denen durch Handel
und Wetten viel Geld verdient wird
– verglichen jedoch mit den Preisen,
die für „traditionelle“ Kunst erzielt
werden, erscheint der Vorwurf eher
mau. Dass Kunstwerke wie Waren
gehandelt werden, ist kein neues
Phänomen, nur ist es jetzt noch
einfacher sie zu ewerben oder, frei
nach Wolfgang Ullrich: Nie gab es
so viel Kunst wie heute und nie zuvor
war sie so käuflich. Kolja Reichert
sieht überhaupt im NFT als
Prinzip keine wirkliche Neuerung,
handelt es sich doch basal gesagt
nicht mehr als um eine Buchhaltungstechnologie,
deren Funktionieren
sich auf die soziale Fiktion
des Eigentums gründet. Trotzdem
oder gerade deswegen werden
NFTs immense Werte zugeschrieben,
wodurch eine neue Sorte Ware
entstanden ist, so Reichert, die mittlerweile
eine beachtliche kulturelle
Strahlkraft entwickelt hat. Und an
dieser Stelle stellt der Kunstkritiker
die richtigen Fragen: Bringen NFTs
eine spezifische Ästhetik hervor, die
verantwortlich für ihre auratische
Wirkung ist? Oder stecken hinter
dem Boom womöglich tiefgreifendere
kulturelle Veränderungen?
Vielseitig
ist einfach.
contouno ü18 – das Gratiskonto
für junge Leute bis 25 Jahre, die
entspannt in allen Situationen
unterwegs sein wollen.
Entdecken Sie unser Angebot
für Studierende.
Mehr erfahren Sie unter:
sparkasse-freiburg.de
Weil’s um mehr als Geld geht.
Foto: Larva Labs
Krypto-Ästhetik
Im Diskurs über Krypto-Kunst wird
der Begriff NFT oftmals verwendet,
als handele es sich dabei bereits um
eine feststehende Gattungsbezeichnung,
wie etwa „Renaissance“ oder
„Abstrakter Expressionismus“. Voraussetzung
dafür wäre, dass NFTs
durch gewisse ästhetische und formale
Merkmale auffallen, mit denen
sie sich in die Tradition eines
bestimmten Genres einschreiben
bzw. dieses durch wiederkehrendes
Auftreten begründen.
Es lässt sich nicht abstreiten, dass
einige prominente NFTs eine gewisse
inhaltliche Nähe zueinander
aufweisen. Das liegt aber vor allem
daran, dass sie sich an Elementen
nostalgischer Computer- oder Internetästhetik
bedienen, wie etwa
8-Bit Grafiken, Airbrushs, trashigen
Fantasymotiven oder retrofuturistischen
3D-Animationen. Für einen
verbindlichen Kanon genügt das
selbstverständlich noch nicht und
hier identifiziert Reichert ein grundlegendes
Problem. Die Gleichheit
der Distributionsform suggeriert
eine qualitative Gleichheit der
Werke – als hätte nun jede*r eine
Galerie. Dies sei weniger ein demokratischer
Fortschritt im Kampf
gegen die Institutitionen als ein Triumph
der Hobbykunst, konstatiert
der Kunstkritiker nicht ohne Polemik.
Und ein Stück weit müssen wir
ihm zustimmen, denn ein wichtiges
Argument für die Qualität eines
Kunstwerks ist ja sein Wissen um
die formalen und ästhetischen Konventionen
einer Gattung, deren es
sich – in welcher Weise auch immer
– bedient und damit in einen Dialog
mit allen bisherigen und noch
kommenden Werken tritt. Ein gelungenes
Kunstwerk handelt auch,
aber eben nicht nur von sich selbst.
Als ein gelunges Beispiel von
Krypto-Kunst nennt Kolja Reichert
die 2017 erschienenen CryptoPunks
des US-amerikanischen Software-
Studios Larva Labs (siehe Abbildung),
eine der ersten NFTs überhaupt.
Inspiriert von der Londoner
Punkszene der 1970er-Jahre, der
Cyberpunk-Bewegung und der Ästhetik
des französischen Elektroduos
Daft Punk, schufen die beiden
Entwickler John Watkinson und
Matt Hall insgesamt 10.000 digitale
„Sammelkarten“, aus wenigen
Pixeln bestehend und von einem
Blockchain-basierten Algorithmus
kreiert. Ihre Serialität und Willkür
erzeugen den Eindruck, die Blockchain
selbst sei hier als Autorin am
Werk, was die CryptoPunks in die
Nähe des Genres der generativen
Kunst rückt. Sie relativieren und
stellen, ähnlich wie Memes, die
Besonderheit des Einzelnen infrage
und stehen damit stellvertretend für
die Kultur gegenwärtiger Internetcommunities,
in denen das Konzept
individueller Autorschaft zugunsten
des kollektiven Hallraums aufgegeben
wurde. Die CryptoPunks beziehen
sich, wie die meisten Krypto-
Kunstwerke, weniger auf die Kunstals
auf ihre eigene Geschichte, der
noch jungen Geschichte der Videospiele,
des Internets und des digitalen
Bilds.
Übergreifend scheint die Krypto-
Kunst ihren ästhetischem Orientierungssinn
jedoch noch nicht
gefunden zu haben, diagnostiziert
Reichert zum Schluss seiner Analyse.
So zeigt sich auch an Beeples
Collage, wie in den meisten NFTs,
eher eine Drauflos-Mentalität als
ein ausgefeiltes Verfahren – konzeptuell
und ästhetisch erweist sich
Krypto-Kunst noch so volatil wie
der Markt, auf dem sie gehandelt
wird. Nichts lässt sich hier begründen
oder vorhersagen, so Reichert.
Und das macht die ganze Sache so
spannend.
Danny Schmidt
4 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Wir im Blick des Bären
Eine Erkundung des Menschen als Tier
W
ie nahe kommen wir
der Natur? Zwei philosophische
wie erzählende
Werke formulieren
diese Frage neu: Wie nahe
kommen wir der Natur, die wir
sind? Zwischen Bärenangriffen
und aggressiven Seelöwen sind
zwei Autoren gezwungen, ihr
Selbst und ihren Körper neu zu
entdecken und damit den Platz,
den der Mensch als Tier in der
Natur einnimmt.
„Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich
kein Tod ist.“ Der Bär
ist verschwunden. Die Anthropologin
bleibt blutend und mit zerrissenem
Gesicht zurück. In der
Wildnis Sibiriens ist Nastassja
Martin gezwungen, ihre Stellung
zur Natur neu zu denken und damit
ihre Stellung als Mensch. 2019
veröffentlicht sie ein Buch mit dem
Titel „Croire aux fauves“ (dt. Titel:
„An das Wilde glauben“) und
tut das, was man der Überlebenden
eines Bärenangriffs vielleicht am
wenigsten zutraut – die Rückkehr
zur Natur. Die Attacke bedeutet für
Nastassja Martin nicht das Ende,
sondern einen Anfang, eine Geburt.
Der Mensch selbst ist in die Natur
geboren, biologisch gesehen ein
Tier. Dennoch vergleicht er sich
nur ungerne mit Tieren, haarigen,
schleimigen primitiven Wesensformen,
die zwischen Fraß und
Kopulation alle Teile der Welt bevölkern,
unter uns denkenden Wesen
sind – in uns denkenden Wesen
sind. „We are not pure mind-stuff,
but are tangible bodies of thickness
and weight, and so have a great deal
in common with the palpable things
that we encounter.“ Die Feststellung,
dass der Mensch einen Körper
hat, mag banal sein, führt ihn
gleichzeitig aber zu Formen der
Erkenntnis, die ihn dem Tier nahebringen.
Darauf kann man eine Philosophie
gründen, wie der amerikanische
Anthropologe David Abrams
bereits mit dem Titel eines seiner
Bücher beweist: „Becoming Animal.
An Earthly Cosmology.“ 2010
erschienen hat das Buch, anders als
Nastassja Martins Geschichte keine
Übersetzung ins Deutsche erhalten.
Dabei gilt Abrams schon seit seinem
ersten Buch „The Spell of the
Sensous“ von 1996 (dt. Titel: „Im
Bann der sinnlichen Natur“) als Impulsgeber
engagierter Disziplinen
wie der Ökopsychologie. Abrams
zweifelt an einer objektifizierenden
Ökologie, die den Menschen als
Subjekt über die Natur erhebt. Wesentliche
Inspiration erhält er durch
die Denksysteme und Philosophien
außereuropäischer Kulturen. In sei-
Bären wie Menschen oder gibt es etwas dazwischen? William Beard: „Dancing Bears“
nem Buch beschreibt er seine Lehrzeit
bei einem Magier in den Bergen
Nepals. Der kalte, felsige Ort liegt
weitab des warmen Kaminfeuers,
vor dem der französische Philosoph
Réne Descartes seinen berühmten
Sinnspruch „Ich denke, also bin
ich“ getan haben soll, der den denkenden
Menschen einer Objektwelt
gegenüberstellte.
Auch in Nastassja Martins Buch
führt die Bewegung aus der westlichen
Kultur, die vor allem als
Desinfektionszone der Krankenhäuser
Frankreichs und Russlands
erscheint, zurück in die sibirische
Kälte und damit unter das Volk der
Ewenen. Hier kennt Martin Menschen,
die ihr eine ganz neue Deutung
der Begegnung mit dem Bären
nahelegen: „Du bist das Geschenk,
das die Bären uns gemacht haben,
in dem sie dich am Leben gelassen
haben.“
Offenes Fleisch, offene Grenzen
Wie kann man ein Trauma, eine
Leerstelle positiv deuten? Wie wird
der Bär, der einem Teile des Gesichts
zerreißt und der damit nur
aufhört, weil man ihm eine Hacke
in die Seite schlägt, zu „meinem
Bären“? Die sonderbare Verbindung,
die Nastassja Martin in ihrem
Buch entgegen aller Erwartung tut,
überbrückt nicht nur die Trennung
zwischen Mensch und Tier, sondern
auch zwischen Leid und Geschenk.
Das Gesicht der Anthropologin
wird nicht bloß zur verunstalteten
Stelle einer misslungenen Kommunikation
zwischen vermeintlich
verschiedenen Spezies. „Mein Körper
nach dem Bären, nach seinen
Krallen, mein Körper im Blut und
ohne den Tod, mein Körper voller
Leben, voller Fäden und Hände,
mein Körper in Gestalt einer offenen
Welt, in der sich vielfältige
Wesen begegnen, mein Körper, der
sich mit ihnen, ohne sie wiederherstellt;
mein Körper ist eine Revolution.“
Geburt, Revolution, Begegnungsraum.
Der positive Umgang
Nastassja Martins mit dem Angriff
des Bären braucht die Idee eines offenen
Körpers, eines Subjekts, das
sich nicht von seiner Umgebung
Foto: New York Historical Society
trennt, sondern sich ihr öffnet, zu
Begegnungen einlädt.
Offen ist der Körper des Menschen
ganz tierisch zunächst über seine
Sinne. Die Vereinigung mit der Natur
beginnt mit unserer Wahrnehmung.
Mit diesem Ansatz arbeitet
sich auch David Abrams voran,
nicht nur in seinem Buch „The
Spell of the Sensous“, das sich der
Wahrnehmung und Sprache einer
„More-than-Human World“ verschreibt.
Elemente unserer unmittelbaren
Wahrnehmung bestimmen
auch die Betrachtung in „Becoming
Animal“: Schatten, Räume,
Holz, Stein, Tiefe. Namen der verschiedenen
Kapitel. Erst nachdem
Abrams die Wahrnehmungen des
Menschen grundsätzlich betrachtet
hat, beginnt er die Verknüpfung
mit Elementen eines vermeintlich
menschlichen Selbstbewusstseins:
Geist, Stimmung, Sprache, aber
auch Sphären, die über den animistischen
Zugang Abrams Natur und
menschliches Denken miteinander
verbinden. Wobei bereits in dieser
Zusammenfassung ein erster Fehler
liegt. Denn so exakt trennt Abrams
Wahrnehmung und Denken, Sprache
und Welt, Mensch und Welt
nicht voneinander.
Zu Beginn seines Buchs beschreibt
Abrams die Bedeutung des Schattens,
den ein Berg wirft. Wer in den
Schatten tritt, wird Teil des Lebens
dieses Berges. Schatten sind nicht
Ihr AOK-KundenCenter
für die Hosentasche.
Jetzt downloaden! Als App im
App Store und auf Google Play.
Oder online unter meine.aok.de
Gerne führen wir die Registrierung mit Ihnen gemeinsam
durch. Telefonisch 0761 384096-25 oder vor Ort.
AOK – Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein
Körpergewordener Mensch. Egon Schiele: „Männlicher Akt, Selbstportrait“
Foto: Grafische Sammlung der Albertina
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 5
bloß flache zweidimensionale Flächen,
sondern Räume, die viel über
die Qualitäten der Objekte verraten,
die diese werfen. Oder sollten wir
„Subjekte“ sagen? Was David Abrams
in seinem Buch immer wieder
tut, ist die Handlungsmacht nicht
bloß in den Blick des Menschen zu
legen, der betrachtet. Wer sind wir
überhaupt im Schatten des Berges?
Wer sind wir gegenüber den Klauen
eines Bären? Wem das alles
kontraintuitiv, oder harscher gesagt
esoterisch vorkommt, der berührt
vermutlich den grundsätzlichen
Bruch, den ein Denken bedeutet,
das Menschtiersein als Verschwimmen
der Grenzen eines klaren Innen
und Außen bedeutet. Das zerrissene
Gesicht der Anthropologin ist nicht
mehr bloß Studienobjekt neugieriger
Ärzt*innen und Survivalfans,
sondern ein eigener Kosmos der
Begegnung geworden, der keine
klaren Subjekte und Objekte kennt.
Wer ist die Person Nastassja Martins
noch neben ihrem revolutionären
Körper?
Sprachtanz für die Seelöwen
„Animismus“, jener Glaube an eine
Belebung aller Wesen und Objekte,
bedeutet für Nastassja Martin, „in
einer Welt zu leben, in der alle einander
beobachten, zuhören, sich
erinnern, geben und nehmen“. David
Abram geht in seiner Kosmologie
noch weiter und definiert jenes
„alle“ nicht bloß als Sammlung
verschiedener Subjekte, sondern
als allumfassende Sphäre, die einen
eigenen Geist besitzt. Bewusstsein,
dieses disziplinübergreifend unbegriffene
Wort, wird nicht erst durch
das Subjekt in die Welt gesetzt,
sondern wartet dort bereits. Was der
Mensch nach Abrams tut, ist eine
Verbindung zu diesem Bewusstsein
herzustellen und dies eben nicht auf
eine Weise, die das eigene Bewusstsein
gegen etwas anderes stellt, sondern
über den Körper, der ganz tierisch
intuitiv vom allumfassenden
Bewusstsein bereits weiß.
Ein Beispiel dafür gibt David Abrams
mit einer skurrilen Begebenheit.
Auf einer seiner diversen Expeditionen
in die Natur sah er sich
zwar keinem Bären gegenüber, dafür
aber einer Horde von Seelöwen,
die sich entschlossen hatten, seinem
Boot zu folgen. Ohne Chance, den
schnellen Raubtieren durch sein
Paddeln zu entkommen, berief sich
Abrams intuitiv auf eine körperliche
Reaktion. Er begann zu tanzen.
Ein tanzender Mensch in einem
Kajak – und tatsächlich: eine Horde
Seelöwen, die innehaltend seinen
Bewegungen mit ihren Blicken
folgten. Jeder Versuch Abrams, die
Tanzbewegungen zu unterbrechen
und davonzufahren, blieb jedoch
ohne Erfolg. Still hielten die Tiere
nur, wenn sie den Mann in seinen
intuitiven Bewegungen betrachten
konnten. Mit nur einer Hand, die
andere weiterhin in ausgreifenden
Tanzbewegungen, konnte sich Abrams
erst langsam und dann immer
schneller, dann auch mit der anderen
Hand, aus der Situation manövrieren.
Erstaunt blickt der Anthropologe
auf seine riskante wie
wunderbare Begegnung zurück und
überlegt, wo die Kommunikation
des Tiers beginnt. Dass er keine genaue
Trennlinie zu ziehen vermag,
stößt ihn bald auf die Erkenntnis,
dass das körperlich agierende Tier
jede Bewegung, jeden Tanz, jeden
Klang als Stimme, Nachricht erkennen
kann und so die ganze Natur
als bedeutungsgebendes Ganzes
wahrnimmt. Erstaunt ruft es aus der
Prosa David Abrams: „Everything
speaks!“
In die Körperlichkeit gezwungen, zu
einer Dauergeste der Verletzlichkeit
sich selbst gegenüber und der Welt,
sieht sich Nastassja Martin nach
dem Kampf mit dem Bären. Angesichts
ihres neugeformten Kopfes
resümiert sie: „Ich sehe mir nicht
mehr ähnlich und bin dabei meinem
animischen Wesen noch nie so nah
gewesen; es hat sich meinem Körper
aufgeprägt, seine Textur zeugt
zugleich von einem Übergang und
einer Rückkehr.“ Mit David Abrams
könnte man vor allem von einer
Rückkehr sprechen, die Rückkehr
des Menschen zum tierischen
Selbst. Aber aus Perspektive einer
menschlich gedachten Welt, der wir
nicht entkommen können, bleibt es
doch immer auch ein Übergang, das
animische Wesen ein ständiges Gegenüber
und kein bleibendes neues
Selbst. Die Kontaktaufnahme mit
unserer tierischen Welt erfolgt in
stets neuen Begegnungen, auch solchen,
die gefährlich sind.
Ungeschriebene Mythen
Häufig ist die Einkehr in die Natur
mit Regression verbunden. Etabliert
ist etwa die Vorstellung, in eine
Art Geburtsschoß zurückzukehren.
Auch Nastassja Martin bleibt
nach dem Angriff des Bären mit
einer Sehnsucht nach dem „Bauch
des Waldes“. Für sie bedeutet es
Vergessen. Ein Vergessen, das urbiblische
Tradition hat, schließlich
ist es das Wissen des Menschen um
sich selbst, das ihn aus dem Paradies
verstoßen hat, dem archaischen
Ort der Natur im westlichen Denken.
Eine Trennung, die Nastassja
Martin im Mythos wieder aufgehoben
sieht. „Eine Zeit, in der ich
und der Bär, meine Hände in seinem
Fell und seine Zähne auf meiner
Haut, eine gegenseitige Initiation
darstellen; eine Verhandlung über
die Welt, in der wir leben werden.“
Die Sprache der Verhandlung bleibt
Körperarbeit, Körperlichkeit mit archaischem
Symbolgehalt.
Warum aber dann nicht einfach die
Mythen und ihre Weisheit, warum
der durchlebte Schmutz, das Blut,
der Schmerz für dieses Wissen? In
solchen Fragen bleibt auch David
Abrams gefangen, als er eines Tages
in eine wohlsortierte Buchhandlung
tritt, die alle Schulen der Weisheit
enthält und ihn dennoch im Zweifel
lässt. Denn: Wie können wir im
unwissenden Elend verbleiben, wo
doch alles von Meister*innen aller
Schulen gesagt und in unserer
globalisierten Welt schriftlich verfügbar
ist? Die Antwort kommt
simpel wie schallend: Weil es niedergeschrieben
ist. Und weil uns
das geschriebene Wort vom Wissen
der Körper fernhält, ebenso wie von
den äußerlichen Gegebenheiten, die
der Bedeutung zugrunde liegen.
Die körperliche Intelligenz anderer
Tiere fehlt dem Menschen dort, wo
er sich mit seiner eigenen Zeichensprache
nur selbst spiegelt, statt sich
den Elementen, den Impulsen, der
sprechenden Natur in Himmel und
Erde zu öffnen.
Nastassja Martin kehrt in den Bauch
des sibirischen Waldes zurück und
entflieht dem Deutungsraum der
Ärzt*innen, aber auch der ständigen
Selbstbespiegelung. „Wie ist es
dazu gekommen, dass die anderen
Wesen nur noch dazu da sind, unsere
eigenen Gemütslagen widerzuspiegeln?“
Die Selbstbespiegelung
hat den Grund in einer Leerstelle:
„Weil das, was im Körper des anderen
begründet liegt, für dich immer
unzugänglich bleiben wird.“
Martin kann ihre Rückkehr in den
Wald nicht zur Verhandlung mit
dem Bären machen, aber zumindest
zu einem Weg zur Selbstheilung,
Selbstverhandlung. Das Anerkennen
der eigenen Beschränktheit
legt nicht nur Demut, sondern auch
Handlungspotential frei, Potential,
das dem Menschen doch bleibt.
Wege in die Natur
„Wenn ich davonkomme, wird es
ein anderes Leben sein.“ Kurz nach
ihrem Überlebenskampf mit dem
Bären denkt Nastassja Martin an
die Zukunft. Eine Fähigkeit, die
dem Menschen eigen ist und die
immer neue Selbstkonzeptionen ermöglicht,
aber auch fordert. Handlungen,
Begegnungen sollen nicht
folgenlos sein, sondern Weiteres
bedingen. Tatsächlich ändert der
Zusammenstoß mit dem Bären das
Denken der Anthropologin, lässt sie
ihren Körper neu vermessen und
beim Vermessen scheitern. Der Weg
ihres Denkens wird zum tatsächlich
gegangenen Weg in die Natur. Die
Geburt als etwas Körperliches. Hier
könnte David Abrams ansetzen, der
eine Kommunikation mit der Natur
als umfassender und sinnstiftender
wertet als die zwischen zwei Buchdeckeln.
Nastassja Martins Geschichte
bleibt auf knapp 140 Seiten
beschränkt und lässt ihre weiteren,
tatsächlich gegangenen Wege unbeschrieben.
Das Buch „An das Wilde
glauben“ bleibt wie das Gesicht
seiner Autorin offen begehbares
Terrain, Ort eines ständigen Übergangs,
der wohl menschliches Leben
heißt.
RENAULT ZOE E-TECH
Deutschlands meistgekauftes Elektroauto*. Sofort verfügbar.
Mit 10.000 € Elektrobonus**
Renault ZOE LIFE R110/ Z.E. 40 ab mtl.
79,– €
Fahrzeugpreis: 25.961,– € (inkl. 4.000 € Renault-Anteil im Rahmen des Elektrobonus)*,
inkl. Antriebsbatterie. Finanzierung: nach Anzahlung von 3.140,– € (bereits
abgezogen: 6.000 € Bundeszuschuss)*, Nettodarlehensbetrag 16.821,56,–
€, 24 Monate Laufzeit (23 Raten à79,– €) und eine Schlussrate: 15.324,89,– €),
Gesamtlaufleistung 15.000 km, eff. Jahreszins 0,99 %, Sollzinssatz (gebunden)
0,99 %,Gesamtbetrag der Raten 17.141,89,– €. Gesamtbetrag inkl. Anzahlung
20.281,89,– € (bereits abgezogen: 6.000 € Bundeszuschuss). Ein Finanzierungsangebot
für Privatkunden der Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque
S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss.
• E-Shifter mit B-Modus (Ein-Pedal-Fahren) • Online-Multimediasystem EASY
Link mit 7”-Touchscreen und Smartphone-Integration • Digitale Instrumententafel
mit 10-Zoll Display (im Cockpit) • LED- Heckleuchten mit dynamischen
Blinkern • Licht- und Regensensor
Renault ZOE LIFE R110/ Z.E. 40, Elektro, 80 kW: Stromverbrauch kombiniert
(kWh/100 km): 17,2; CO₂-Emissionen: kombiniert 0 g/ km; Effizienzklasse A+.
Renault ZOE: Stromverbrauch kombiniert (kWh/100 km): 17,7 - 17,2; CO₂-Emissionen:
kombiniert 0 - 0 g/km; Effizienzklasse A+ - A+ (Werte gemäß gesetzl.
Messverfahren). Abb. zeigt Renault ZOE INTENS mit Sonderausstattung.
Besuchen Sie uns im Autohaus. Wir freuen uns auf Sie.
Nastassja Martin: „An das Wilde
glauben“, aus dem Französischen
von Claudia Kalscheuer, Matthes
& Seitz 2021.
David Abrams: „Becoming Animal.
An Earthly Cosmology“, Vintage
Books / Random House 2010.
Fabian Lutz
AUTOHAUS GUTMANN GMBH & CO. KG
Renault Vertragspartner
Wentzinger Straße 12
79238 Ehrenkirchen
Tel. 07633-95030 | renault-gutmann.de
*www.auto-motor-sport.de: „Zulassungszahlen BEV und PHEV in Europa 2020“.
**Der Elektrobonus i. H. v. insgesamt 10.000 € umfasst 6.000 € Bundeszuschuss
sowie4.000€Renault-AnteilgemäßdenFörderrichtliniendesBundesministeriums
für Wirtschaft und Energie (BMWi) zum Absatz von elektrisch betriebenen
Fahrzeugen. Die Auszahlung des Bundeszuschusses erfolgt erst nach positivem
Bescheid des von Ihnen gestellten Antrags bei derBAFA. Ein Rechtsanspruch
besteht nicht. Nicht mit anderen Aktionen kombinierbar.
6 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Die letzten Orangen aus Jaffa
Nadine Sayegh erzählt die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund palästinensischer Fluchterfahrungen
M
it ihrem Hybrid aus Sachbuch
und Roman „Orangen
aus Jaffa. Eine wahre
Geschichte über das Ende
der goldenen Ära Paläestinmas“
erzählt Nadine Sayegh von der Vertreibung
ihrer Familie im Vorfeld
der Staatsgründung Israels. Ein
weiterer Beitrag in der schwierigen
Debatte um die sogenannte Nakba
und eine vertane Chance um eine
differenzierte literarische Betrachtung
komplexer Verhältnisse.
Marcel Reich-Ranicki beschwerte
sich einmal im „Literarischen
Quartett“ darüber, dass manche
Autor*innen Kinder zu Erzählfiguren
ihrer Werke küren. Ein bisschen zu
einfach würden es sich diese damit
machen. Tatsächlich lassen sich auch
schwierige Themen über die Kinderperspektive
wunderbar unverfänglich
angehen. Unverfänglich, weil Kinder
gemeinhin als unschuldiger in ihren
Betrachtungen gesehen werden und
damit freier in ihren Urteilen agieren
können. Ihr naiver Blick strahlt über
die Verwerfungen der Geschichte und
bietet unverhofft spielerische Annäherungen
an schwierige Verhältnisse.
Der junge Palästinenser Nicolas Sayegh
ist ein solcher Spieler in schwierigen
Verhältnissen. Nicolas Sayegh
ist auch der Vater der Autorin Nadine
Sayegh, die in ihrem real fundierten
Roman ihre eigene Familiengeschichte
erzählt. Als Kind in den 1940ern erlebte
Nicolas Sayegh die „Nakba“, ein
Ereignis, das viele Pälestinenser*innen
als Vertreibung aus ihrer Heimat beschreiben.
Aufgewachsen ist Nicolas
Sayegh in Jaffa, das heute als das
israelische Tel Aviv oder Tel-Aviv-
Jaffa bezeichnet wird.
„Im Jaffa Ende der Vierzigerjahre gehörten
die Menschen zu den reichsten
in ganz Palästina. Riesige Schiffe standen
da und wurden mit Tonnen von
Orangen, Zitronen und Mandarinen
beladen. Ich kann mich noch genau
an den Geruch erinnern, der dort allgegenwärtig
war.“ Nicolas Sayegh
lernt Jaffa als duftendes Tor zur Welt
kennen, auch über seine kosmopolitisch
geprägte Familie. Der Sohn soll
wie der Vater ein großer Industrieller
werden, mit jenem angemessenen
Stil, den seine wohlhabende Familie
in Orientierung an französische oder
britische Gepflogenheiten entwickelte.
Nicht zuletzt trägt Nicolas selbst einen
Namen, der vor allem in europäischen
Kulturkreisen Verwendung findet.
Gleichzeitig ist der junge Palästinenser
den Verhältnissen nicht enthoben,
prügelt sich mit einem anderen Jungen,
schleicht sich heimlich ins Kino,
genießt mit seinen Freunden das wilde
und entdeckungsreiche Leben einer
Kindheit in Jaffa. Von seinem Vater
bekommt Nicolas viele Anekdoten zu
hören, nicht selten mit moralischem
Unterton, denn wichtig bleibt für den
Kosmopoliten, seinem Sohn einen respektvollen
Umgang fürs Leben mitzugeben.
Eine beinah neue Geschichtsschreibung
Respekt will auch Nadine Sayegh
ihrem Vater und seinem schweren
Schicksal zukommen lassen. Zwischen
die Kapitel der Erzählung um
Nicolas setzt die Autorin über Dokumente
und Berichte eine „Historie im
Hintergrund“, die belegen soll, dass
die „Nakba“, die schließlich auch den
jungen Nicolas einholen wird, einen
„eindeutigen Fall einer ethnischen
Säuberung“ darstellt. Der naiven Perspektive
des jungen Palästinensers
steht damit eine sachlich vermittelnde
Interpretation der Ereignisse zwischen
1947 und 1949, also im Vorfeld
der Gründung des Staates Israel gegenüber.
Die Verwendung des Begriffs der
„ethnischen Säuberung“ gilt als umstritten.
Entsprechend zeigt sich das
Buch bemüht, Belege für diese These
zu liefern. Originell ist es darin nicht.
Am Ende des Buchs verweist Nadine
Sayegh auf das Sachbuch „Die
ethnische Säuberung Palästinas“ des
israelischen Historikers Ilan Pappe
von 2006, das ihren Ausführungen
als maßgebliche Quelle dient. Pappe
wird gemeinhin zur Gruppe der Neuen
israelischen Historiker gezählt, die
auf Basis von israelischen Archivfunden
um die Jahrtausendwende eine
neue, kritische Geschichtsschreibung
des Staates Israel etablierten. Auch
wenn innerhalb der Gruppe verschiedene
Zugänge bestehen, sind diese
doch geeint in ihrer Abkehr von der
offiziellen israelischen Geschichtsschreibung.
Statt von einer freiwilligen
Migration wird aus Perspektive
der Neuen israelischen Historiker,
vergleichbar mit dem Narrativ der
„Nakba“, von einer Vertreibung der
palästinensischen Bevölkerung gesprochen.
Die Verantwortung für den
bis heute andauernden Nahostkonflikt
wird damit auch Israel zugewiesen.
Zunächst mag überraschen, dass sich
ein Buch aus palästinensischer Perspektive
auf das Werk eines israelischen
und nicht etwa auf das eines
palästinensischen Forschers bezieht.
Tatsächlich gibt es eine vergleichbare
kritische Archivarbeit auf arabischer
Seite nicht, dort ist eine „Oral History“
vorherrschend. Auch kollektive
Erinnerungen sind entscheidend für
die Erfahrung einer „Nakba“. Nadine
Sayeghs Buch wagt den Spagat aus
wissenschaftlicher Auseinandersetzung
und familiärer Oral History. Für
eine wissenschaftliche Reflexion ist
der junge Nicolas Sayegh in jedem
Fall noch nicht bereit. Für Abenteuer
im sonnenstrahlenden Jaffa dafür
umso mehr.
Palästinensische Flüchtlinge aus Galiläa, 1948
Eine beinah idyllische Kindheit
Obwohl „Orangen aus Jaffa“ keine
200 Seiten Text enthält und davon
nur etwa die Hälfte den Abenteuern
des „palästinensischen Tom Sawyer“
(Pressetext) gewidmet ist, überrascht
es doch, dass Nicolas Sayegh mit den
Konflikten im Kontext einer „Nakba“
nur wenig Berührung hat. Den
Berichten zu einem bei den UN-Teilungsverhandlungen
ignorierten Palästina,
zu einem Überfall des Dorfs
Khisas durch zionistische Paramilitärs
1947 und generell der „systematischen
und vollständigen Vertreibung der Palästinenser
aus ihrer Heimat“ stehen
die harmlosen Abenteuer eines Kindes
gegenüber. Wenn auch elegant
geschrieben und mit interessanten
Hintergründen zur Geschichte Jaffas
garniert, bleibt das launische Kindheitsabenteuer
doch seltsam unmotiviert
neben den detaillierten Untersuchungen
zu Gewaltverbrechen und
Vertragsbrüchen stehen.
Ein zweiter Blick lässt aber ahnen:
Die Freundlichkeit und Konturlosigkeit
der Erzählung hat Methode.
Die schöne Welt des jungen Nicolas
stellt das sorgfältig rein gehaltene
Gegenüber zu den kommenden Ereignissen
einer „Nakba“ dar. Bereits
der Untertitel des Buchs spricht von
einer „goldenen Ära Palästinas“. Vollkommen
entpolitisiert spielen sich die
Konflikte in Nicolas‘ Welt in Gestalt
von Prügeleien mit Klassenkameraden
oder einem unerlaubten Kinobesuch
ab. Nicolas ist so unschuldig, dass in
seinen Augen selbst die Beschreibung
des Holocaust zu einer beiläufigen comichaften
Betrachtung verkommt: „In
Europa waren schreckliche Dinge passiert.
Irgendetwas mit den Juden und
einem verrückten Mann mit einem
viereckigen Schnauzbart, der die rechte
Hand schräg nach oben ausstreckte.“
Auch die tatsächliche Vertreibung
der Familie Sayegh ganz am Ende der
Erzählung bleibt weitgehend konturlos.
Waffenlärm und Berichte von
einer meist ungreifbaren Bedrohung
machen erst den Nachbar*innen und
schließlich der Familie selbst Angst,
sodass diese schließlich flieht. Direkten
Kontakt mit den Repräsentant*innen
einer israelischen Siedlungspolitik
hat die Familie nicht. Erst als Nadine
Sayegh mit ihrem Vater viele Jahre
später in ihre Heimat zurückkehrt,
erleben beide kaltschnäuzige Grenzbeamte
und ein Jaffa mit heruntergekommenen
Häusern, ein konsequent
negatives Gegenbild zum Kindheitsidyll:
„Wie ein anderes Jaffa, jenes in
einer Parallelwelt.“ Erst angesichts
dessen kritisiert der nun 81-Jährige
Nicolas Sayegh explizit: „Wir waren
verwurzelt wie Bäume. Man hat uns
ausgerissen.“ Sein junges Ego 69
Jahre früher äußert dagegen nur: „Mit
Politik hatten wir nicht viel am Hut.
Unser Metier war die Orange. Alles
richtete sich danach aus. Wir konnten
unser Glück schälen.“
Natürlich bleibt das dem jungen Nicolas
nicht vorzuwerfen, schließlich
ist er ein unbedarftes Kind, das für
die politischen Konflikte seiner Zeit
keine Verantwortung trägt. Die Wahl
dieser Perspektive hingegen bleibt
weniger unbedarft, sondern entbehrt
nicht eines gewissen rhetorischen
Geschicks. Ein Kind seine geliebte
sonnenhelle Heimat verlieren zu
sehen angesichts einer ungreifbaren
Bedrohung schafft ein Gut-Böse-Verhältnis
mit klarer Identifikation. Die
Vertreibung aus dem Paradies Jaffa
könnte in dieser Fassung auch Märchenstoff
sein, eine Kindergeschichte.
Der komplexen Realität des Israel-
Palästina-Konflikts steht sie denkbar
fern. Oder etwa nicht? Möglicherweise
war Nicolas Sayeghs Kindheit
wirklich so idyllisch, möglicherweise
kam der Konflikt wirklich so unsichtbar
und plötzlich über seine Familie,
möglicherweise beruht der Eindruck
eines „Gut-Böse-Schemas“ auf realen
Begebenheiten oder bildet gar einen
falschen Kurzschluss.
Auch in diesem Fall bleibt es in literarischen
wie historischen Belangen
unbefriedigend, dass Nadine Sayegh
für ihre fundamentale Kritik an der
israelischen Geschichtsschreibung
Foto: Public Domain
selbst eine so schwache Geschichtsschreibung
ins Feld führt. Ihre palästinensische
Oral History bietet die
Romantisierung einer vergangenen
Zeit, keine Neuverhandlung des komplexen
Verhältnisses zweier Konfliktparteien.
Mit Muriel Asseburgs Sachbuch
„Palästina und die Palästinenser.
Eine Geschichte von der Nakba bis
zur Gegenwart“ ist dieses Jahr eine
Darstellung erschienen, die verschiedene
Persönlichkeiten der palästinensischen
Geschichte portraitieren soll.
Das ist schon einmal erfreulich und
dürfte zumindest vor einer weiteren
Kinderperspektive bewahren, die es
allen Lesenden doch wieder nur einfach
machen will.
Nadine Sayegh, „Orangen aus Jaffa.
Eine wahre Geschichte über das
Ende der goldenen Ära Palästinas“,
edition a 2021. Fabian Lutz
Du studierst – Wir machen den Rest!
Das Studierendenwerk Freiburg
(SWFR) ist für Studierende der
staatlichen Hochschulen in Freiburg,
Furtwangen, Villingen-
Schwenningen, Offenburg, Gengenbach,
Kehl und Lörrach zuständig.
Alle Studierenden dieser Hochschulen
zahlen jedes Semester einen Semesterbeitrag,
der sie dazu berechtigt,
die Leistungen des SWFR zu
nutzen:
WOHNEN: Wir helfen durch unsere
Zimmervermittlungein Zimmer
auf dem freien Wohnungsmarkt zu
finden, bieten günstigen Wohnraum
in unseren Wohnheimen und alternative
Wohnprojekte wie Wohnen
für Hilfe.
ESSEN & TRINKEN: In unseren
Mensen kochen wir täglich preisgünstige,
ausgewogene Mahlzeiten
aus hochwertigen Zutaten – auch
vegetarisch und vegan. Fair gehandelter
Kaffee und Backwaren aus
der Region gibt es in unseren Cafeterien.
GELD: Die finanzielle Förderung
durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz
(BAföG) ist eine
unserer Hauptaufgaben. Unsere
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
informierenüber die gesetzlichen
Vorschriften und helfen beim Antragstellen.Außerdem
beratenwir
über weitere Finanzierungshilfen
wie Studienkredite, Stipendien oder
Darlehen. Und in unserer Jobvermittlungfindet
manstudentische Nebenjobs.
BERATUNG & SOZIALES: Unsere
Sozialberatunghat Informationen
zur Krankenversicherung, zum
Ausländerrecht, zum Wohngeld
oder zu Sozalleistungen. Für Studierende
mit Nachwuchs bieten wir
Kindertagesstätten oder helfen bei
der Suche nach einem Kindergartenplatz
oder anderer Betreuung.
Ein Anwalt hilft bei Rechtsfragen.
Und wer zwischendurch mal in
eine Krise gerät,ist in unserer Psychotherapeutischen
Beratungsstelle
gut aufgehoben. Unsere Therapeutinnen
und Therapeuten helfen
bei persönlichen oder studienbedingten
Problemen. Außerdem bieten
wir regelmäßig Seminare und
Workshops zu Stressbewältigung,
Prüfungsangst oder Selbstmanagementan.
VERANSTALTUNGEN: Ebenso
wichtig wie Essen, Wohnen und
Finanzen ist es, andere Leute kennenzulernen.
Bei unseren Sport- &
Freizeitangeboten, bei den Studitours
oder im Internationalen
Clubfindet man leicht Kontakt. In
unserer MensaBar im Foyer der
Mensa Rempartstraße, gibt es während
des Semesters ein vielfältiges
Veranstaltungsprogramm mit Musik,
Party, Film, Comedy, Slam,
Ping Pong Club u.v.a. mehr. Wer
mitmachen will, ist willkommen.
Unser Infoladen, unsere Broschüren
und unsere Website informieren
euch umfassend über alle unsere
Angebote und Aktivitäten. Täglich
Neues gibt es auf unseren Social
Media Kanälen.
Infoladen des Studierendenwerks,
Basler Str. 2, 79100 Freiburg
Mo –Fr 9.00 – 17.00 Uhr, Tel. 0761
2101-200, info@swfr.de
www.swfr.de
www.instagram.com/studierendenwerk_freiburg
www.facebook.com/studierendenwerk.freiburg
twitter.com/studentenwerkfr
studierendenwerkfreiburg.wordpress.com
Das Studierendenwerk Freiburg in den Räumen der Basler Straße
Foto: Christoph Düpper
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 7
Die Geisteswissenschaften und die
Herausforderungen des Anthropozäns
Zwei junge Veröffentlichungen entdecken im modernen Denken Ressourcen für die gegenwärtigen
Aufgaben der Menschheit
S
eit seiner Einführung zu
Beginn des 21. Jahrhunderts
durch die Wissenschaftler
Paul Crutzen
und Eugene F. Stormer und der
Übernahme als offizielle Bezeichnung
eines 1950 beginnenden neuen
geologischen Zeitalters, das das
Holozän abgelöst und in dem der
Mensch zum geologischen Faktor
geworden ist, hat der Begriff Anthropozän
eine steile, wenn auch
nicht unumstrittene Karriere gemacht.
Mit Blick auf die gerade beendete
und mehr von Enttäuschung
als Durchbruchsstimmung charakterisierte
UN-Klimakonferenz in
Glasgow spielt er eine heute mehr
denn je bedeutende Rolle in der
Auseinandersetzung mit der Frage,
wie die Menschheit in den nächsten
Jahrzehnten mit den selbstverursachten
globalen Problemen fertig
werden kann und will: Klimawandel,
Entwaldungen, Artensterben
und natürlich die zunehmende
Gefahr von Pandemien. Von den
Klimaaktivist*innen wird richtigerweise
gefordert, dass die internationale
Politik angesichts der ökologischen
Krise endlich auf die Wissenschaft
hören soll, wobei damit
die Naturwissenschaften gemeint
sind, die bereits vor Jahrzehnten mit
ihren Klimamodellen die Folgen
unseres Lebensstils vorausgesehen
und davor gewarnt hatten. Wenn
uns tatsächlich nur Physik und
Chemie erklären können, welche
Prozesse in der Atmosphäre von unserem
Tun in Gang gesetzt werden
und wie sie das Leben auf der Erde
bedrohen, sind zur Überwindung
dieser Krise auch die Geistes- und
Kulturwissenschaften gefragt, denn
die Umstellung unseres Lebensstils
und eine ernsthafte Verantwortungsübernahme
gegenüber unserem
Planeten werden nicht ohne ein kritisches
Hinterfragen des geschichtlich
gewordenen abendländischen
Mensch-Natur-Verhältnisses gelingen,
das unserer Zivilisation zugrunde
liegt.
Einen solchen Beitrag zu leisten
versuchen zwei jüngst erschienene
Bücher, die beide ihren Fokus auf
das moderne Selbst- und Naturverständnis
legen. Es ist eine verbreitete
Annahme, dass sich in der Moderne
eine Trennung zwischen Natur
und Kultur etabliert hat, die sich
für die erstere als verhängnisvoll erwiesen
hat, wurde sie ja zum bloßen
materiellen Fundus im Dienste der
menschlichen Interessen degradiert.
Eine solche verkürzende Naturauffassung
ist zwar schon lange in
Frage gestellt worden (man denke
nur an Autoren wie Heidegger und
Adorno), sie ist aber hartnäckig und
noch heutzutage leitend für unsere
Welterfahrung. Dementsprechend
gilt es nach wie vor, ihr entgegenzuwirken,
indem ihre geschichtlichen
Voraussetzungen untersucht und
ihr alternative Konzepte der Natur
und der Stellung des Menschen in
ihr entgegengestellt werden, die
von der Philosophie, der Literatur,
der Rechtswissenschaft erarbeitet
werden. Die Pointe der neuen Veröffentlichungen
liegt darin, dass sie
in derselben Moderne konzeptuelle
Ressourcen für den Aufbau eines respektvollen
Umgangs mit der Natur
auffindbar machen.
Anthropozän – Klimawandel –
Biodiversität
Der von Stascha Rohmer und Georg
Toepfer herausgegebene Sammelband
„Anthropozän – Klimawandel
– Biodiversität. Transdisziplinäre
Perspektiven auf das gewandelte
Verhältnis von Mensch und Natur“
(Verlag Karl Alber, 2021) verfolgt
genau dieses Ziel. Er geht auf eine
internationale Tagung zurück, in
der Wissenschaftler*innen unterschiedlicher
fachlicher Provenienz
zusammengekommen sind, um auf
dem Gebiet der Geisteswissenschaften
Ansätze zu erproben, die der
gegenwärtigen Krise in sowohl diagnostischer
als auch therapeutischer
Hinsicht gerecht werden. In Bezug
auf den ersten Aspekt waren insbesondere
die Philosophen dazu aufgerufen,
zu einer Klärung der Implikationen
von allgegenwärtigen aber
in der alltäglichen Verwendung oft
unzureichend reflektierten Begriffen
beizutragen, wie das gerade beim
„Anthropozän“ der Fall ist.
Wie Eva Raimann in ihrem Aufsatz
zeigt, wird das interpretatorische
Potential dieses Ausdrucks erst
dann völlig ausgeschöpft, wenn er
konsequent zur Durchbrechung der
tradierten Dichotomie Natur-Kultur
eingesetzt wird, wenn auch eine
solche Opposition in der Begriffsentstehung
zum Teil mitspielte. Es
geht nämlich nicht darum, wie der
Begriff nahelegen könnte, die Natur
als eine vom menschlichen Handeln
bis vor Kurzem wesentlich unangetastete
Sphäre zu betrachten, in die
der Mensch seit Beginn der Industrialisierung
gewaltig als Antagonist
eindringen würde. Es geht um ein
Verständnis der radikalen Eingebundenheit
des Menschen in die
natürlichen Prozesse, welche unter
der von der bedrohten Natur ausgehenden
Bedrohung für den Menschen
als eine Spezies unter anderen
womöglich zum ersten Mal konkret
erfahrbar wird.
Eine Verflüssigung der Grenzen
zwischen Natur und Kultur mit
Blick auf die jeweiligen Zeitskalen
steht im Zentrum des Beitrags
von Eva Horn, die ausführt, wie der
Übergang vom Holozän ins Anthropozän
die Notwendigkeit, aber auch
die Schwierigkeit mit sich bringt,
Menschengeschichte und Erdgeschichte
zusammenzuführen. Dabei
rücken die Dimensionen der Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft in
ein anderes, unheimlicheres Licht.
Auch der Begriff der Biodiversität
wird von Georg Toepfer einer
gründlichen historischen Rekonstruktion
unterzogen, wobei der Autor
gerade auch auf die problematischen
Züge dieses in der zweiten
Dekade des 21. Jahrhunderts hoch
im Kurs stehenden Schlagworts
aufmerksam macht. Der Schutz der
Biodiversität und der Kampf gegen
den Klimawandel bilden das Thema
folgender, rechtswissenschaftlicher
Beiträge. Zum einen wird
die Dringlichkeit dieser Aufgaben
anhand einer Rekognition der bereits
katastrophalen Lage in den
lateinamerikanischen Ländern, vor
allem Brasilien – die Umweltpolitik
des amtierenden Präsidenten
Bolsonaro wird dabei von Felipe
Calderon-Valencia scharf kritisiert
– und Kolumbien, veranschaulicht.
Zum anderen stellt Lateinamerika
den Schauplatz der interessantesten
Anstrengungen dar, den Wert
der Natur jenseits eines anthropozentrischen
Standpunktes auch in
verfassungsrechtlicher Hinsicht zur
Geltung zu bringen. Dabei kann ein
im sogenannten nuevo constitucionalismo
entwickelter biozentrischer
Ansatz, der die Natur als Trägerin
von Rechten ansieht, durchaus an
die Weltanschauung indigener Völker
mit dem für sie zentralen und
der abendländischen Opposition
zwischen Natur und Kultur fremden
Prinzip der Mutter Erde anknüpfen.
Diese in unserem Denken verankerte,
fatale Teilung lässt sich jedoch
gleichsam nicht nur durch den
Rekurs auf außerhalb unserer Zivilisation
entwickelte Vorstellungen,
sondern auch von Innen sprengen.
Wie Stascha Rohmer in dem abschließenden
Beitrag des Bandes
zeigt, sind auch in der philosophischen
Tradition von der Antike bis
in dieselbe Moderne Ansätze zu
finden, den Eigenwert der Natur
angemessen zu fassen, sie stehen
allerdings in einem Spannungsverhältnis
zu einem von Descartes mit
seiner Unterscheidung von rex cogitans
und rex extensa eingeführten
materiellen Reduktionismus der
Natur auf ihre mechanischen Eigenschaften,
der eine Verbannung
von teleologischen Prinzipien aus
der Naturerklärung und damit einhergehend
die Verkennung der
Selbstzweckmäßigkeit der Natur
implizierte. In diesem Sinne gilt
Descartes als Begründer des modernen
Wirklichkeitsverständnisses, in
dessen Koordinaten die Natur „nur
als Rohstoff für die wissenschaftliche
Produktion dient“ und ihren
Eigenwert einbüßt. Zwar habe es
nach Descartes an Brechungen dieser
Gesamteinstellungen nicht gefehlt:
in seiner ästhetischen Theorie
hat Kant die Idee von immanenten
Zwecken der natürlichen Organismen
gerettet, obwohl nur in heuristischer
Hinsicht, während Hegel
noch einen Schritt weiter in Richtung
einer Anerkennung des Eigenwerts
der Natur gegangen ist, indem
er neben der teleologischen Struktur
der Organismen ihre gegenseitige
Bezogenheit thematisiert, und damit
zumindest im Ansatz ein Naturganzes
denkbar gemacht hat, in
dem auch der Mensch ein Bestandteil
ist. Diese Keime eines anderen
Umgangs mit der Natur sind in der
Moderne nicht wirklich zum Tragen
gekommen, die Trennung zwischen
Mensch und Natur ist auch bei Kant
und Hegel leitend und ist in der Folgezeit
dominant geblieben. Jedoch
ist es ein gemeinsames Anliegen der
Autoren des Sammelbandes, nicht
nur zu den modernen Denkern auf
Distanz zu gehen, sondern die in
ihren Entwürfen enthaltenen fruchtbaren
Impulse weiterzuentwickeln,
um die Stelle des Menschen in der
Natur und seine Verantwortung ihr
gegenüber neu zu definieren. Wichtige
moderne Referenzpunkte sind
Helmut Plessner (in dem Beitrag
von Joachim Fischer) und Alfred
North Whitehead mit seiner Prozessphilosophie,
die die cartesischen
Dichotomien ablehnt und eine alle
Lebewesen einbeziehende „Solidarität
des Universums“ zu denken
erlaubt.
Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart
des Klimas
Die Idee, dass alles mit allem zusammenhängt,
und dass zwischen
Natur und Kultur nicht eine Trennung
als vielmehr fluide Übergänge
bestehen, findet sich im Zentrum
der ökologischen Theorien der
Gegenwart. In ihrem Buch „Übergängliche
Natur. Kant, Herder,
Goethe und die Gegenwart des
Klimas“ (August Akademie, 2021)
meint Hanna Hamel, in den im Titel
aufgeführten Autoren „alternative
Denk- und Darstellungsweisen
von Natur und Kultur“ auffinden
zu können, „die deren Verhältnis
nicht als simple Opposition, sondern
von vornherein in Verflechtung
[...] entwickeln“. Um solche auf
Anhieb nicht immer ersichtlichen
Züge des modernen Denkens ans
Licht zu bringen, setzt sie die historischen
Positionen mit aktuellen
Theorien jenseits rekonstruierbarer
Genealogien in Verbindung. Indem
Hamel vergangene und gegenwärtige
Überlegungen zum Klima abwechselnd
diskutiert – Kant/Latour,
Herder /Morton und Goethe/Lynch
– verdeutlicht sie, wie stark das Interesse
der Autoren des 18. Jahrhunderts
an einer „Dynamisierung des
Natur-Kultur-Verhältnisses, an der
Darstellung ihrer durchdringenden
und wechselseitigen Einflussnahme
und an der Auflösung starrer Grenzziehungen
und Dichotomien“ schon
war, und lässt auf dieser Weise ein
viel bewegteres Bild der modernen
Naturentwürfe entstehen, als es
üblicherweise angenommen wird.
Durch eine penetrante Lektüre der
anthropologischen Schriften Kants
zeigt die Autorin, dass der Mensch
darin nicht auf Distanz zur Natur,
sondern als dezidiert natürlich und
historisch lokalisiert verstanden
wird. So konzipiert entspricht ein
solcher Mensch überraschend sogar
den Aufforderungen Bruno Latours
zum Aufbau eines menschlichen
und nicht-menschlichen Wesens
versammelnden „Parlaments der
Dinge“, in dem auch letztere adäquat
vertreten werden sollen. Bei
Herder wird die Vernetzung zwischen
Mensch und Natur ästhetisch
gefasst, wobei sich interessante Parallelen
zu Timothy Mortons ökologischen
Überlegungen ergeben.
Besondere Aufmerksamkeit widmet
Hamel Goethes Annäherungsversuchen
an Naturphänomene wie
die Witterung, die über ein Zusammenspiel
wissenschaftlicher und
ästhetischer Ansätze erfolgen. Auf
diese Weise bricht Goethe mit dem
zu seiner Zeit herrschenden wissenschaftlichen
Weltbild und verweist
indirekt auf die Möglichkeit eines
nicht auf Dominanz ausgerichteten
Umgangs mit der Natur. In diesem
Sinne hätte nach Hamel derselbe
Bruno Latour Recht mit seiner
Feststellung, dass „wir […] nie modern
gewesen [sind]“, und zwar in
größerem Maße, als von ihm selbst
vermutet: es stimmt nämlich, dass
die moderne Gesellschaft und das
moderne Denken nie strikt nach
der von Descartes eingeführten
Trennung funktioniert haben. Das
ist freilich nicht zu bedauern, im
Gegenteil: man kann sich darüber
freuen, gegenüber den Herausforderungen
des Anthropozäns Verbündete
solchen Rangs wie Kant,
Herder und Goethe neben sich zu
wissen.
Stascha Rohmer (Herausgeber),
Georg Toepfer (Herausgeber), „Anthropozän
– Klimawandel – Biodiversität.Transdisziplinäre
Perspektiven
auf das gewandelte Verhältnis
von Mensch und Natur“, Verlag
Karl Alber, 2021 (ZfL)
Hanna Hamel, „Übergängliche Natur.
Kant, Herder, Goethe und die
Gegenwart des Klimas“, August
Akademie 2021 (ZfL).
Luca Marras
– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR
8 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Der Auszug aus dem Kapitalismus
Perspektiven auf neue Wirtschaftskonzepte und die Suche nach dem Sinn
Vom ökologischen Zugriff des Menschen
Foto: Alena Koval
D
rei Unternehmer zeigen
sich kritisch gegenüber
dem bestehenden Wirtschaftssystem
und geben
Beispiele für ein neues Denken.
Eine Akademie für Wirtschaftsbionik
denkt derweil über eine
Änderung des Währungssystems
nach. Hinter beiden Vorstößen
steckt die Suche nach Sinn in unserer
Wirtschaft. Ein Streifzug
zwischen Duftkerzen, Grundeinkommen
und den Kreisläufen der
Natur.
Der Baumeister kehrt in seine
Klause ein und betet. Um ihn herum
Wald, nur zu einer Seite blickt
er hinab aufs Land. „Die Zivilisation
mit ihren Lichtern, die in
der Nacht da unten leuchten, und
mit ihren Straßen, auf denen sich
leuchtende Punkte bewegen.“ Seinen
neuen Zufluchtsort sieht Robert
Rogner nicht als Endstation, eher
als Ort, an dem er Orientierung
und Inspiration schöpfen kann, um
dann zurückzukehren, in die Zivilisation
da unten. Denn das Leben
des Baumeisters soll nicht kontemplativ
bleiben, sondern vom
Spirituellen inspiriert zum guten
Handeln führen. „Das Handeln aus
dem Bewusstsein für unseren Kern
heraus ist letztendlich das, was
uns in all unserer Individualität zu
einem guten Ganzen verbindet, das
uns Kraft gibt und uns gemeinsam
weiterbringt.“
Robert Rogner ist einer der drei
Unternehmer hinter dem Buch
„Eine Neue Wirtschaft. Zurück
zum Sinn“. Zusammen mit Johannes
Gutmann, Gründer des Bio-
Unternehmens Sonnentor und Josef
Zotter, Leiter des weltbekannten
Unternehmens Zotter Schokolade,
tritt der renommierte Baumeister
für eine Neukonzeption der Wirtschaft
ein. Ganzheitlicher soll sie
werden, mehr an dem Menschen
und seinen Bedürfnissen ausgerichtet.
Gewünscht ist ein Modell jenseits
neoliberaler Eigendynamiken
und Selbstoptimierung. Keine unbedingt
überraschende Perspektive,
auch nicht aus der Position des
wohlmeinenden Unternehmers.
Denn der ist in den letzten Jahren
zu verdächtiger Popularität gelangt.
Allzu gängig ist es für Firmen mittlerweile
„Fair Trade“ oder „Bio“,
„nachhaltig“ oder „klimaneutral“
als Label auf ihre Produkte zu
kleben. Sonderlich kritisch mutet
die Verwendung solcher Begriffe
heute nicht mehr an. Der Politik
entwachsen sind sie zu vermarktbaren
Lifestyle-Slogans geworden.
Unternehmer*innen, die auf Besinnung
plädieren, stehen also unter
Rechtfertigungsnot, wollen sie
sich nicht neben ökologisch und
menschenfreundlich gewordene
Unternehmen wie Coca Cola, Google
oder H&M stellen.
Hilfreich ist da zumindest, dass alle
drei Unternehmer nicht erst seit den
weltweiten Klimaprotesten grüne
Flagge zeigen. In den persönlichen
Berichten, die ihren Thesen beiliegen,
stellen alle ihr langjähriges
Engagement für eine nachhaltige
Unternehmenskultur heraus. Zotter
ist bereits seit 2004 Vertragspartner
von Fair Trade, Sonnentor vertreibt
seine Produkte aus biologischem
Anbau bereits seit Ende der 80er-
Jahre. In seinem persönlichen Bericht
schreibt Johannes Gutmann,
wie die Arbeit auf seinem Bauernhof
Anfang der 90er-Jahre an den
Kreisläufen der Natur orientiert
war. „Der Mensch nimmt nicht,
sondern die Natur gibt, das wurde
eine unserer zentralen Botschaften.“
Der Auszug Buddhas aus dem
Neoliberalismus
Robert Rogners Karriere stand zunächst
unter anderen Vorzeichen
als denen eines naturnahen Wirtschaftens.
Dank der erfolgreichen
Revitalisierung eines denkmalgeschützten
Gebäudes im damaligen
Ostblock war der Baumeister in
Österreich anerkannt. Bei der Suche
nach neuen Anlegern für sein
Unternehmen stieß er auf einen
Mann, der vom Wirtschaftssystem
gebeutelt, „zum Spielball der
Mächte gemacht, denen er sich aus
Leichtsinn und Größenwahn ausgeliefert
hatte“. Hier setzt die innere
Wandlung Robert Rogners an, die
ein wenig an den Auszug Buddhas
aus dem heimischen Palast erinnert.
Der verwöhnte Prinz stößt auf die
Bedingungen der Wirklichkeit und
muss sich fragen: „Wozu das alles?
Was sollte ich tun? Was war der
Sinn meines Lebens?“ So Rogners
Worte. In der Selbstbefragung wurde
für ihn klar: Wie der gebeutelte
Mann möchte er nicht enden. Weder
sich selbst noch seiner Umgebung
würde er damit helfen.
„Zurück zum Sinn“ fordert der Untertitel
des Buchs. Und impliziert:
Der aktuell bestehenden Wirtschaftsordnung
fehlt es an Sinn.
Dass Sinn zunächst etwas ist, das
vom Individuum gegeben wird,
verstehen die Autoren. Deshalb
richten sie sich nach dem Individuum,
konkret nach den Lesenden
des Buchs, vor denen das Bild einer
defizitären Wirtschaftswelt aufgefaltet
liegt. Man möge dem Vorbild
des sich selbst befragenden Robert
Rogner folgen, da man liest: „Niemand
fragt mehr: Was möchte ich
eigentlich wirklich machen? Was
erfüllt mich? Brauche ich das überhaupt?“
Die Wirtschaft hingegen
flüstere uns ein: „Befolge meine
Regeln, dann wird alles gut. Ideen
sind ein Luxus, den du dir nicht leisten
kannst, wenn du Erfolg haben
willst.“
Die gewinn optimierte Wirtschaft
als entfremdetes, verführerisches
Gegenüber. Ein Negativbild, das
längst über die Popkultur verankert
und konturlos geworden, sicherlich
aber nicht unzutreffend ist. Fasst
man den geflüsterten Begriff „Erfolg“
dabei etwas weiter als „Entlohnung“
wird recht schnell deutlich,
warum. Schnell sind dann empfindliche
Fragen berührt, die auch
nicht bekennende Kapitalist*innen
zur Unterstützung des bestehenden
Wirtschaftssystems bringen.
Im aktuellen Wahlkampf durften
Grüne, aber auch Linke die Skepsis
von Unternehmer*innen wie
Bürger*innen spüren, die in Steuersätzen
für Reiche eine Herabwürdigung
der Leistungen einzelner
sehen, eine Motivationsbremse
für junge Innovative, wie es Wirtschaftsliberale
vielleicht formulieren
würden. Und weiter: Arbeitsplätze
sind in Gefahr, wenn der Erfolg
ausbleibt, Lebensgrundlagen.
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 9
den Raum hinein „horchte“: „Mir
wurde klar, dass Menschen, Unternehmen
und Orte so etwas wie einen
inneren Kern haben, und dass,
je näher wir diesem Kern kommen,
sich alles immer dynamischer und
immer richtiger fügt.“ Rogners
Sinn des Lebens sei, das wurde ihm
darüber klar, sich mit Beziehungen
zu beschäftigten, zu sich, anderen
Menschen, aber auch zu Orten, der
Natur.
Wer nach konkreten Initiativen
fragt, um der „Monsterwirtschaft“,
wie sie Rogner nennt, entgegenzutreten,
bekommt sie nachgereicht.
Robert Rogner gründete eine „Gesellschaft
für Beziehungsethik“,
die Menschen und Unternehmen
bei ihrer Selbstfindung begleitet.
Am Ende steht die Aufklärung, die
der Baumeister auf seinem Hügel
für die Gesellschaft da unten bereithält.
In jedem Fall eine, die zu
mehr Gleichheit in der Gesellschaft
führen soll: „Schuster, Tischler
oder Verkäuferinnen sehen sich auf
Augenhöhe mit Politikern und Firmenbossen,
weil sie erkennen, dass
ihre Arbeit ebenso wertvoll ist. […]
In einer Wirtschaft, in der jeder
seinem Sinn folgt und seine Schaffenskraft
in den Dienst der Gesellschaft
stellt, entsteht automatisch
ein demokratisches Miteinander.“
Exkurs zum Schluss: Eine Neue
Wirtschaft
Gleichbehandlung aller, Entlohnung
auf Augenhöhe. Seltener werden
die Probleme eines neoliberalen
Wirtschaftssystems wie unserem
deutlicher als bei dieser Problematik,
die in der Corona-Krise noch
deutlich verschärft wurde. Angesichts
der schlechten wirtschaftlichen
und damit sozialen Lage
erreichen auch Botschaften mit
visionären Ideen ein größeres Publikum.
Ein solches wünscht sich
nicht nur, sondern braucht die zwar
international vernetzte, aber doch
eher kleine Gradido-Akademie für
Wirtschaftsbionik. In nichts Geringerem
als einer internationalen
Neukonzeption des Geldsystems
sieht die Akademie die Lösung globaler
Krisen. Bleibt ihr Ansatz auch
deutlich konzeptorientierter als die
mehr philosophisch grundierte Perspektive
Gutmanns, Rogners und
Zotters bleibt doch auch hier die
metaphysische Idee einer Orientierung
an den Kreisläufen der Natur.
„Kern und Basis für das Gradido-
Modell ist der natürliche Kreislauf
von Werden und Vergehen.“ So die
Botschaft aus einem Newsletter der
Akademie.
Stetig ist das neue Geldprinzip, das
sich als Abkehr vom Schuldprinzip
sieht, tatsächlich. Initial dafür
ist die Einführung des „Gradido“
(GDD) als neue Währungseinheit.
Im Rahmen des so versprochenen
„dreifachen Wohls“ erhält jeder
Mensch monatlich 1000 Gradido
als „Aktives Grundeinkommen“.
Dafür solle sich jeder Mensch so
für die Gesellschaft einbringen, wie
er es seinen Neigungen nach gern
möchte. Sinnsuche als Systemfaktor.
Apropos System: Die Gemeinschaft
erhält ebenfalls monatliche
1000 Gradido, wodurch Steuern
überflüssig werden sollen. Und zuletzt:
Weitere 1000 Gradido sollen
monatlich für einen Umweltfonds
geschöpft und dem Schutz und der
Sanierung der Natur gewidmet werden.
„Künftige Naturkatastrophen
werden dadurch abgemildert und
nicht mehr zwangsläufig zu wirt-
schaftlichen Katastrophen führen.“
Das neue Geldsystem der Gradido-
Akademie könnte als Fallbeispiel
im Anhang des Buchs „Eine Neue
Wirtschaft“ stehen. Denn eine neue,
neuartige Wirtschaft skizziert es
definitiv. Dabei rückt die Ermöglichung
der Sinnsuche und Sinnfindung
in den Kompetenzbereich
einer Wirtschaft, die Freiräume
schafft. Der Gedanke ist deutlich:
Erst durch die richtige finanzielle
Umgebung können Mensch, Gesellschaft
und Natur Raum zur Entfaltung
finden. Und darum geht es
doch letztlich, oder nicht? Wo auch
immer man ansetzen mag, ob beim
Individuum oder dem Geldsystem,
das Verlangen nach Bedeutung,
Ganzheitlichkeit, metaphysischer
Begründung wächst und dürfte einen
Indikator dafür geben, dass uns
unsere käufliche Welt ganz schön
schal geworden ist.
Johannes Gutmann, Robert Rogner,
Josef Zotter, „Eine Neue Wirtschaft.
Zurück zum Sinn“, edition a 2020.
Website der Gradido-Akademie:
www.gradido.net
Fabian Lutz
Zurück in der Natur - Die Gradido-Gründer Margret Baier und Bernd Hückstädt
Foto: Gradido
Wenn das Großunternehmen nicht
wirtschaftet, hat auch der kleine
Mann nichts mehr zum Leben.
Thatchers Invisible Hand füttert die
Ärmeren nicht mehr, lässt sie auf
den Straßen verhungern. Bedeutet
eine „Neue Wirtschaft“ da nicht
pure Rücksichtslosigkeit?
Die Einkehr des Individuums
Orientiert am Wohlbefinden des
Individuums setzt auch das Plädoyer
der „Neuen Wirtschaft“ an:
„Wirtschaft ist von den Menschen
für die Menschen gemacht. Sie
soll unseren Bedarf an Dienstleistungen
und Gütern decken. Sie
soll dafür sorgen, dass niemand
hungern oder frieren muss.“ Dann
aber beschreiten die Autoren andere
Wege, beziehungsweise lassen
diese beschreiten. Denn mit dem
Blick auf die Bedürfnisse des Individuums
fängt auch die Arbeit
des Individuums an. Wir sitzen mit
Robert Rogner vor einem desolaten
Wirtschaftssystem und müssen
nicht dieses, sondern uns selbst fragen:
„Was ist der Sinn meines Lebens?
Was empfinde ich als meinen
inneren Auftrag? Wie kann ich ihn
erfüllen?“ Und damit beginnt eine
größere Bewegung.
Denn die Visionäre einer neuen
Wirtschaft glauben an die Vorbildlichkeit
ihrer Methode. Wer seine
Sinnsuche mit anderen teilt, im
Netzwerk handelt, stiftet andere zu
ähnlichemVerhalten an. Das Beispiel
der drei Unternehmerfiguren
illustriert dies. Am Anfang all ihrer
Bemühungen steht das Individuum
mit seinen Visionen und am Ende
ein Unternehmen, das diese verkörpert.
Im Falle Robert Rogners begann
das Netzwerken mit Mönchen, die
regelmäßig ein Bad in Bad Blumau
nahmen, dem Thermalbad, dem der
Baumeister vorstand. Sonderlich
erfolgreich war Rogner mit dem
Bad nicht, wurde von den Mönchen
aber darauf hingewiesen, dass
das Wasser wertvoll sei. Ermutigt
folgte er den Ratschlägen der
Mönche und ließ Kerzen aufstellen,
das Licht dimmen und Weihrauch
im Bad verteilen. Gleichzeitig gestaltete
Rogner das Bad grundsätzlich
um, ließ die Gäste nicht mehr
anhand von Hinweisschildern,
sondern selbst auf Erkundungstouren
gehen. Das Bad als meditativer
Ort des Abenteuers. Nicht nur über
die Mönche kam Rogner zu dieser
Vision, sondern auch, indem er in
SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
Junge Akademie für
Nachhaltigkeitsforschung
IMPRESSUM
Herausgeber:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Auerstr. 2 • 79108 Freiburg
Telefon: 07 61 / 72 072
e-mail: redaktion@kulturjoker.de
Redaktionsleitung
(V.i.S.d.P):
Christel Jockers
Autoren dieser Ausgabe:
Dr. Cornelia Frenkel
Fabian Lutz
Luca Marras
Danny Schmidt
u.a.
Satz/Gestaltung:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Druck:
Rheinpfalz Verlag und Druckerei
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen
Der Nachdruck von Texten und den vom
Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher
Genehmigung des Verlags.
Als erste ihrer Art in Deutschland startet die Young Academy for Sustainability
Research an der Universität in Freiburg
Angesiedelt am Institute for Advanced
Studies und gefördert durch die
Eva Mayr-Stihl Stiftung startete im
Oktober die Young Academy for
Sustainability Research an der Universität
Freiburg als erste ihrer Art
in Deutschland. Die Young Academy
soll eine Plattform für den interdisziplinären
Austausch und die
wissenschaftliche Zusammenarbeit
von 16 ausgewählten Forschenden
zum Thema Nachhaltigkeit werden.
Neben der Förderung des wissenschaftlichen
Diskurses hat die Akademie
das Ziel, Initiativen an den
Schnittstellen von Wissenschaft und
Gesellschaft zu unterstützen und
das Forschungsfeld der Nachhaltigkeit,
als eines der wohl wichtigsten
unserer Zeit, zu bereichern.
Die Arbeit der international besetzten
Akademie ist zunächst auf zwei
Jahr angesetzt. In diesem Zeitraum
werden sich Forschende der Albert-
Ludwigs-Universität, aber auch
von internationalen Universitäten
regelmäßig austauschen sowie in
Freiburg treffen, um gemeinsame
Forschungsvorhaben, Projekte
und Publikationen im Bereich der
Nachhaltigkeitsforschung voranzutreiben,
wissenschaftliche Konferenzen
und Workshops zu organisieren
und den Kontakt zu weiteren
Instituten der Universität sowie zu
außeruniversitären Forschungseinrichtungen,
Organisationen und öffentlichen
Institutionen aus dem Bereich
der Nachhaltigkeit zu suchen.
10 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
„Das war vor allem ein riesen Geschäft –
Die Kriegsindustrie hat Milliarden gemacht“
Im Gespräch: Heiner Tettenborn, Rechtsanwalt, Afghanistankenner und Referent beim 18. Mundologia-
Festival
Auf seinen Reisen durch Afghanistan lernte Heiner Tettenborn Land und Leute kennen
Foto: Tettenborn
I
n Afghanistan sind die
Taliban nach dem Abzug
der internationalen
Truppen wieder an der
Macht. Während zahllose Menschen
eine neue Schreckensherrschaft
fürchten, begrüßen andere
die Rückkehr in der Hoffnung auf
mehr Stabilität und Sicherheit.
Die Afghanistan-Kenner Monika
Koch und Heiner Tettenborn haben
das Land seit 2003 mehrfach
bereist und zeitweise dort auch
gelebt. Ihre Live-Reportage „Afghanistan
- Einblicke in ein zerrissenes
Land“ präsentieren sie
am 6. Februar 2022 im Rahmen
des 18. Mundologia-Festivals im
Konzerthaus Freiburg. Im Interview,
das von Janine Böhm
geführt wurde, berichtet Heiner
Tettenborn von der aktuellen
Lage im Land und erläutert die
Hintergründe.
UNIversalis: Guten Tag Herr
Tettenborn, zu Beginn eine Frage,
die sich vermutlich einige gestellt
haben: Im September dieses Jahres
gingen 300 vollverschleierte Afghaninnen
auf die Straße und demonstrierten
mit Transparenten ihre Unterstützung
für das Taliban-Regime.
Gibt es tatsächlich Frauen, die sich
über die Rückkehr der Islamisten
gefreut haben?
Tettenborn: Ich kann mir das sehr
gut vorstellen. Das Land war in
einer absoluten Sackgasse, kam
nicht zur Ruhe, der Krieg dauerte
an. In den Jahren 2018 bis 2020
sind bei Kampfhandlungen über
100.000 Menschen gestorben. Die
Lage war sehr unübersichtlich, im
Schnitt sind jährlich 30.000 Menschen
umgekommen, die meisten
waren Kämpfer, aber es gab auch
viele Zivilisten unter den Opfern.
Wobei man sich klarmachen muss,
dass die meisten Männer aus Not
für Geld gekämpft haben: Zurück
bleiben Waisenkinder und eine Familie
ohne Einkommen.
Universalis: Das heißt, die Frauen
unterstützen die Taliban nicht aus
religiösen Gründen, sondern weil
sie sich von ihnen mehr Sicherheit
und Ruhe erhoffen?
Tettenborn: Genau, zumindest
auch deswegen. Die Sicherheitslage
war in den letzten 15 Jahren desolat.
Freunde im Land haben mir berichtet,
dass es in Teilen von Afghanistan
nach der Machtübernahme
der Taliban sehr viel besser geworden
ist. Es ist wichtig zu erkennen,
dass wir hier eine zutiefst gespaltene
Gesellschaft haben. Die Aussagen
der Menschen sind diametral:
Je nachdem wen man fragt und
wessen Schicksal gerade betroffen
ist. Wir im Westen hatten meist keinen
Kontakt zu Leuten, die die Taliban
unterstützt haben und die unter
den Angriffen der nationalen Armee
oder der ausländischen Truppen
gelitten haben. Deren Berichte
sind weniger präsent, aber sie haben
auch viel Leid erfahren. Wenn
schon die Afghanen sich nicht einig
werden, was in ihrem Land richtig
und falsch ist, wie will man das von
außen beurteilen? Für mich ist das
zumindest sehr schwierig.
UNIversalis: Wünscht sich die
Mehrheit der Afghanen eine strikte
wörtliche Auslegung des Koran
und die strenge Orientierung an der
Scharia?
Tettenborn: Ich glaube, das
wünscht sich so nur eine Minderheit
der Bevölkerung. Die Leute sind
aus unserer Sicht extrem religiös.
Auf dem Land und in vielen Milieus
auch innerhalb der Städte ist die Religion
das zentrale Element für den
Zusammenhalt der Gesellschaft.
Die Menschen beten mindestens 5
mal am Tag ganz konsequent, da
schert niemand aus. Dennoch sind
sie im Alltag nicht so strikt, wie die
Taliban. Man muss einfach sehen,
dass das Land wirklich krasse Probleme
hat, unter denen die Taliban
nicht das größte darstellen.
UNIversalis: Wo sehen Sie gerade
das größte Problem?
Tettenborn: Das größte Problem
haben viele hier nicht im Bewusstsein:
Trotz unserer Präsenz dort
sind 50 Prozent der Kinder und 30
Prozent der Erwachsenen mit Nahrungsmitteln
unterversorgt, Hunger
ist allgegenwärtig. Das muss man
sich klar machen. Die Leute wollen
einfach überleben. Solange Krieg,
Kämpfe, Unsicherheit, Kriminalität
und die staatliche Korruption andauern,
sehen sie keine Gerechtigkeit
und kommen zu dem Schluss,
dass letztendlich nur der Islam Gerechtigkeit
bringen kann. Die Menschen
sagen sich, die Taliban sind
viel weniger korrupt und viel geradliniger,
was ihre Politik angeht.
Dann schlucken wir halt die Kröte:,
sie sind ein bisschen extrem, aber
sie können wenigstens für Ruhe
sorgen. Das ist aus meiner Sicht
einer der Hauptgründe, warum die
Taliban in Teilen der Bevölkerung
Rückhalt haben. Es hat nicht in erster
Linie etwas mit Religion zu tun,
sondern damit, dass die Staatsform
und Regierung der letzten 20 Jahre
so schlecht bewertet wird. Das beim
Vormarsch der Taliban niemand den
Staat verteidigt hat, ist für mich eine
Art „demokratische Abstimmung“ –
mit den Füßen sozusagen.
UNIversalis: Die Menschen haben
sich also nicht klar für die Taliban
aber sehr deutlich gegen die bisherige
Regierung entschieden.
Tettenborn: Ja, das trifft es sehr
gut.
UNIversalis: Sie sind Jurist, können
Sie uns was zur Scharia sagen?
Ist das eine Art Gesetzesbuch, das
alle Lebensbereiche umfasst?
Tettenborn: Im Prinzip schon. In
Afghanistan gilt vielleicht nach
außen hin die Scharia, aber bei
der größten und stärksten Bevölkerungsgruppe,
den Paschtunen,
sind die Stammesgesetze von noch
größerer Bedeutung. Es handelt
sich dabei um einen Rechtscodex,
Paschtunwali genannt, der älter
als der Islam ist. Das ist gelebtes
Recht, da gibt es kein einheitliches
Buch. Islamisches Recht und das
Paschtunwali überlagern sich. Man
kann dort nicht einfach kommen,
beide wegwischen und ein anderes
Rechtssystem einführen. Man muss
auf dem aufbauen, was die Leute
als Recht empfinden. Es gibt darin
durchaus auch positive Elemente
wie basisdemokratische Entscheidungen
auf Gemeindeebene. Offiziell
beteiligen sich an solchen
Prozessen zwar nur die männlichen
Familienoberhäupter, aber im Vorfeld
zuhause hat die ganze Familie
und gerade auch die älteren Frauen
ein Mitspracherecht. Die älteren
Frauen haben über ihre Männer
oft beträchtlichen Einfluss und entscheiden
mit, wie sich die Familie
zu einzelnen Fragen verhält. Die
Rolle der Frau in der afghanischen
Gesellschaft lässt sich nicht innerhalb
einer Generation völlig verändern.
UNIversalis: Aber es gibt doch diese
Bilder aus den 1960er Jahren,
auf denen man afghanische Frauen
sieht, die in Miniröcken durch Kabul
spazieren.
Tettenborn: Wir haben verschiedene
afghanische Freunde dazu befragt
und die alle meinten, das sei
nur eine sehr kleine Gruppe aus der
gebildeten Mittel- und Oberschicht
der großen Städte gewesen, die
keinerlei Einfluss auf die restliche
Bevölkerung hatte. Das ist ein gutes
Beispiel dafür, was dem Land in
den letzten 100 Jahren wirklich zu
schaffen macht, nämlich die Gleichzeitigkeit
höchst unterschiedlicher
kultureller Entwicklungen. Auf der
einen Seite gibt es die in traditionellen
Kulturmustern verankerte
Landbevölkerung und auf der anderen
eine städtische Schicht, modern,
gebildet und über Auslandskontakte
und Auslandaufenthalte
mit der westlichen Kultur vertraut.
Sie können sich mit Europäern,
Amerikanern und Russen viel besser
austauschen und reden als mit
ihren Verwandten und Landsleuten
zehn Kilometer außerhalb der
Stadt. Diese kulturelle Spaltung
ist ein gefährlicher Nährboden für
politische Auseinandersetzungen.
Aus machtpolitischem Interesse
haben die Großmächte beide Seiten
gegeneinander ausgespielt und
für sich die Schwierigkeiten in der
Bevölkerung ausgenutzt. Das war
zumindest mein Eindruck.
UNIversalis: Für viele junge Menschen,
die in den letzten Jahren zur
Schule gegangen sind, studiert haben,
Zukunftspläne hatten, ist die
Rückkehr der Taliban ein besonders
harter Schnitt.
Tettenborn: Ja, fürchterlich. Einer
meiner besten afghanischen
Freunde, den wir bei unserem ersten
Aufenthalt 2003/2004 kennengelernt
hatten, er war damals 17, jetzt
ist er Mitte Dreißig, hat ebenso wie
seine Geschwister und Freunde sein
ganzes Leben auf der westlichen
Präsenz aufgebaut. Gleichzeitig
gibt es viele Millionen Afghanen,
die trotz der Präsenz des Westens
ganz traditionell gelebt haben. Die
stehen sich nun mit sehr unterschiedlichen
Lebensauffassungen
gegenüber. Die einen sagen, wenn
ihr nicht so engstirnig und rückständig
wärt, und die Ausländer
und uns nicht bekämpfen würdet,
könnten wir ein tolles Land aufbauen.
Und die anderen sagen, wenn
ihr Verräter nicht mit den Ausländern
gemeinsame Sache gemacht
hättet, dann würden unsere Verwandten,
die bombardiert wurden,
noch leben. Das ist jetzt zu stark
vereinfacht, aber auf beiden Seiten
gab es viele Tote, und das macht
das miteinander Reden sehr schwer.
Hinzu kommt die wirtschaftliche
Lage. Afghanistan steht mit dem
Rücken zur Wand. Man hat ein
Kartenhaus ohne wirtschaftliche
Tragfähigkeit aufgebaut, die Hälfte
des Bruttosozialprodukts sind
ausländische Transferleistungen.
Auch das Verhältnis von Export
und Import ist besorgniserregend.
Es wird viel mehr importiert als
exportiert. Das ist uns schon 2004
aufgefallen. Volle Lastwagen fuhren
von Pakistan und Indien nach
Kabul und leere Lastwagen fuhren
zurück. Das kann auf Dauer nicht
gut gehen. Man hat ein Land in einer
fürchterlichen Abhängigkeit erschaffen,
fast alles ist von Transferzahlungen
abhängig und das wird
nun als Druckmittel gegen die Taliban
benutzt. Darunter leiden wird
vor allem die Bevölkerung.
UNIversalis: Warum konnte die afghanische
Wirtschaft nicht besser
aufgebaut werden?
Tettenborn: Afghanische Freunde
von uns bezweifeln, dass wirtschaftliche
Unabhängigkeit je gewünscht
war. Obwohl die Fläche
da ist, obwohl das Wasser da ist,
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 11
Tettenborn reist seit 2003 regelmäßig nach Afghanistan und lebte dort auch für eine kurze Zeit
ist Afghanistan von Nahrungsmittelimporten
und Transferzahlungen
abhängig. Klar ist es nicht einfach
eine Wirtschaft aufzubauen, aber
ich frage mich, ob das je Priorität
hatte. Die Transferzahlungen haben
auch zu einer Schieflage bei den
Gehältern und beim Preisniveau
in der Region geführt. Der Aufbau
eines wirtschaftlich konkurrenzfähigen
Unternehmens war unter
diesen Umständen fast unmöglich.
In Pakistan oder auch Iran hat man
günstiger bei gleichzeitig höherer
Produktivität wirtschaften können.
UNIversalis: Aber in das Bildungswesen
wurde investiert, viele sind
zur Schule gegangen.
Tettenborn: Die schulische Förderung
hat lange nicht alle erreicht.
Und ein guter Freund, Khazan Gul,
über dessen Leben wir ein Buch
geschrieben haben, kritisiert, dass
die Qualität der Schulen viel niedriger
ist, als sie sein könnte, weil
ausländische Hilfsorganisationen
und Armeen die guten Lehrer von
den Schulen und Hochschulen abgeworben
haben, um sie als Koch
oder Fahrer einzustellen. Einfach
weil es angenehmer ist, mit einem
gebildeten Menschen zu tun zu
haben, der auch noch Eenglisch
spricht. Die Lehrer haben so mehr
verdient und waren dann weg von
den Schulen. Das war von erheblichem
Nachteil für die Bildungsqualität.
Das gleiche gilt für die
Lehrerinnen der Mädchenschulen.
Viele wurden ebenfalls abgeworben
und arbeiteten denn bei NGOs
und bei der Regierung, wo es durch
Programme viel Geld gab.
UNIversalis: Die Situation für die
Menschen war also auch unter der
Präsenz der Amerikaner und seiner
Verbündeten alles andere als rosig.
Tettenborn: Deshalb darf man
auch den Stab nicht über jenen Afghanen
brechen, die sich für 300 €
im Monat den Taliban, den Regierungstruppen
oder der afghanischen
Nationalpolizei angeschlossen hatten.
Das sind dann zwar nominell
Kämpfer, sie haben aber überhaupt
kein Interesse daran zu kämpfen,
sondern müssen einfach irgendwie
Geld für ihre Familie, für ihre Kinder
verdienen.
UNIversalis: Wie kann es in Zukunft
weitergehen? Die Taliban
sind doch sicherlich nicht die Richtigen
für den Aufbau eines funktionierenden
Staates. Braucht es dafür
nicht Experten?
Tettenborn: Die Taliban sind sicher
nicht die Richtigen, aber sie
sind im Moment die Einzigen, die
für Ruhe und Sicherheit sorgen
können. Und das auf eine Weise, die
uns überhaupt nicht gefällt. Aber
was wäre aktuell die Alternative?
Will man wieder Krieg führen und
sie erneut vertreiben? Wer ist Experte
für Afghanistan? Die Taliban
sind alles Afghanen, kennen sich
mit ihrer Kultur und militärischen
Auseinandersetzungen unter den
Bedingungen in Afghanistan sehr
gut aus. Im Moment sind das dort
die Experten. Natürlich sind sie
keine Experten für Welthandel und
viele andere Dinge. Eine provokante
Frage: Wäre es nicht ein viel
menschlicherer Ansatz, man bittet
sie darum, bestimmte Dinge nicht
zu tun und arbeitet dann mit ihnen
im Interesse der afghanischen Bevölkerung
zusammen? Wäre das
nicht menschlicher, als einfach nur
zu sagen, das Problem sind die Taliban?
Bis vor kurzem waren wir,
der Westen, mit all unseren Experten
dort das Problem. Wir haben
es nicht geschafft, eine funktionierende
Wirtschaft aufzubauen,
wir haben es nicht geschafft, für
genügend Nahrung zu sorgen und
wir haben es nicht geschafft, für
Sicherheit zu sorgen.
UNIversalis: Das bedeutet, sich
dort erneut einzumischen, wäre Ihrer
Meinung nach nicht sinnvoll?
Tettenborn: Warum sollte es nun
anders laufen? Die letzten 20 Jahre
waren vor allem ein Riesengeschäft.
Die Kriegsindustrie hat Milliarden
verdient.
UNIversalis: Es gibt also eigentlich
keine Alternative dazu, ein
paar, nicht allzu hohe Bedingungen
zu stellen und den Taliban nach
deren Zusage Unterstützung und
finanzielle Hilfen zukommen zu
lassen?
Tettenborn: Ich halte das für den
richtigen Ansatz. Es ist nur die Frage,
ob dabei nicht falsch gespielt
wird. Man kann die Bedingungen
ja immer so stellen, dass die Gegenseite
ihr Gesicht verliert, wenn
sie diese akzeptiert. Ich fürchte, die
Bedingungen werden so gestellt,
dass das Ergebnis der Verhandlungen
am Ende nicht im Interesse
der afghanischen Bevölkerung ist.
Vielleicht darf man auch gar keine
Bedingungen stellen, wenn es darum
geht, Menschen vor dem Verhungern
zu retten.
UNIversalis: Es fällt uns sehr
schwer mit Machthabern zusammen
zu arbeiten, die drakonische
Strafen aussprechen und Frauen
ein selbstbestimmtes Leben verwehren.
Tettenborn: Keine Frage, es gibt
Menschenrechtsverletzungen. Aber
man darf nicht vergessen, dass wir
bereits mit anderen Ländern sehr
eng zusammenarbeiten, darunter
Saudi- Arabien, wo Menschen ausgepeitscht
und öffentlich hingerichtet
werden, aus Gründen, die nach
unserer Auffassung nichtig oder
politisch motiviert sind.
UNIversalis: Würden Ihre afghanischen
Freunde, die aktuell sehr
unter den Taliban leiden und sich
zum Teil verstecken müssen, das
Land verlassen, wenn sie könnten?
Tettenborn: Ja, würden sie gerne,
aber sie sitzen fest. Es gibt ein
paar Flüge, aber um einen Platz
an Bord zu bekommen, braucht
man die Bewilligung eines aufnehmenden
Landes und die Erlaubnis
der Taliban. Das sind zwei immens
hohe Hürden. Auf normalem Weg
kommt man im Moment fast nicht
raus. Die ganzen Flüchtlingsströme
werden natürlich weitergehen,
viele haben Angst vor den Taliban,
noch mehr aber haben sie Angst
vor Hunger, andere fliehen, weil
sie keine positive Perspektive für
ihr Leben sehen.
Ich fände es gut, wenn man in Anbetracht
des drohenden Winters für
Afghanistan spendet, gleichzeitig
ist es gerade sehr schwierig, den
Menschen Geld zukommen zu
lassen. Man weiß nicht wie man
es machen soll. Als Afghane im
Ausland, kann man seiner Familie
aktuell nicht einfach Geld überweisen.
Auf der Ebene der Banken
und des Geldtransfers ist gerade
alles blockiert. Das ist ein großes
Problem und ich frage mich, wer
Interesse daran hat, das Problem
zu lösen und wer nicht. Haben die
Taliban Interesse an der Blockade,
oder sind es vielmehr die USA und
ihre Verbündeten, die zeigen wollen,
dass es die Taliban auch nicht
besser hinkriegen?
UNIversalis: Was wäre Ihrer Ansicht
nach jetzt sinnvoll?
Tettenborn: Es ist seit langem
eine sehr unübersichtliche Lage
und leider sind seit über 40 Jahren
die Afghaninnen und Afghanen
die Leidtragenden. Wenn man den
Menschen helfen will, müsste man
meiner Ansicht nach die Taliban
und ihre Art zu regieren erst einmal
hinnehmen und statt die geschaffene
Abhängigkeit auszunutzen
oder zu instrumentalisieren, Verantwortung
übernehmen und die Menschen
unterstützen. Ich denke einfach
an die Leute, die da irgendwie
existieren müssen. Die Preise für
Nahrungsmittel haben in den letzten
Wochen um bis zu einem Drittel
angezogen. Die Not ist immens,
die Leute verkaufen alles was sie
haben, manche selbst ihre Kinder.
Irgendjemand bietet Geld für eine
11-Jährige auf dem Heiratsmarkt.
Normalerweise würden die Menschen
so etwas nie machen, aber
die nackte Not zwingt sie dazu.
Nicht alles was in Afghanistan
schlecht läuft, ist unsere Schuld.
Aber der Westen hatte sich auf die
Fahnen geschrieben dieses Land
aufzubauen und den Menschen ein
besseres Leben zu ermöglichen
und da ist es schon traurig zu sehen,
was tatsächlich erreicht wurde
und in welchem Zustand sich
das Land heute befindet. Jetzt mit
dem Finger auf die Menschen zu
Foto: Tettenborn
zeigen, ist sicher nicht angebracht.
Ich finde es auch seltsam zu denken,
wir wüssten es besser als die
Afghanen. Man stelle sich mal
vor, jemand käme von außen aus
einem weit entfernten Land zu uns,
spricht kaum unsere Sprache aber
behauptet: Ich habe lange studiert,
ich weiß besser als ihr, was für euch
gut ist.
UNIversalis: War die Mission des
Westens in Afghanistan wegen der
großen kulturellen Differenzen von
vornherein zum Scheitern verurteilt?
Tettenborn: Viele Leute waren zu
Beginn über den Einmarsch der
Amerikaner und ihrer Verbündeten
erfreut und die ersten Jahre sehr offen
für Neues. Durch das hohe Ausmaß
an Korruption und die fehlende
Bereitschaft ausländischer Armeen,
vieler NGOs und anderer Akteure,
auf afghanische Belange Rücksicht
zu nehmen, kippte jedoch die Stimmung.
Oft wurden Afghanen bei
wichtigen Entscheidungen nicht
einbezogen. Es wurden Gebiete
Häuser und Menschen bombardiert,
obwohl sich die afghanische
Regierung dagegen ausgesprochen
hatte. Mit welchem Recht, fragten
sich die Menschen. Was soll das für
eine Regierung sein, wenn sie im
eigenen Land nicht mitbestimmen
kann und bei wichtigen Entscheidungen
nicht gefragt wird? Darüber
hatte sich der frühere Präsident
Hamid Karzai mehrfach öffentlich
beschwert. Immer dann, wenn sich
die Afghanen eigentlich ziemlich
einig waren, Widerstandsgruppen,
Taliban, Warlords und Regierung,
und gesagt haben, so geht das hier
nicht, wurden sie komplett übergangen
und man hat einfach weiter
gemacht.
UNIversalis: Der Westen ist also
extrem arrogant aufgetreten?
Tettenborn: Die Frage ist vor
allem, wie verträgt sich das mit
der Demokratie? Wenn 95 Prozent
der Afghanen sagen: „Das wollen
wir nicht.“ Und die Amerikaner
und westlichen Ausländer antworten:
„Das ist uns egal. Wir bringen
euch gerade die Demokratie.“ Der
Widerspruch ist doch mit den Händen
zu greifen. Das fällt jedem auf,
da muss man nicht studiert haben
zumindest wenn man in dem Land
lebt, das betroffen ist.
UNIversalis: Sie werden gemeinsam
mit Monika Koch auf dem 18.
Mundologia-Festival am 6. Februar
2022 im Konzerthaus Ihren
Vortrag „Afghanistan - Einblicke in
ein zerrissenes Land“ zeigen. Was
erwartet die Zuschauer?
Tettenborn: Wir werden die jüngere
Geschichte Afghanistans beleuchten,
um die bisherigen Geschehnisse
besser einordnen zu
können. Vieles was jetzt passiert
ist, hängt mit der Geschichte der
Heiner Tettenborn und Monika Koch werden am 6. Februar 2022 den
Vortrag „Afghanistan - Einblicke in ein zerrissenes Land“ auf dem 18.
Mundologia-Festival halten
Foto: Privat
letzten 40 Jahre zusammen. Auch
aktuelle Stimmen aus Afghanistan
werden zu Wort kommen, wir versuchen
Interviews einzubauen.
Außerdem werden wir von persönlichen
Begegnungen berichten, von
Gesprächen und Diskussionen, die
uns geholfen haben, die Kultur besser
zu verstehen. Sehr unterstützt
hat uns dabei Khazan Gul, ein Afghane,
der in Deutschland studiert
hat und uns auf Deutsch sehr viel
erklären konnte. Durch ihn und
seine Familie, aber auch durch andere
Freunde haben wir viel dazugelernt,
beispielsweise was afghanische
Gastfreundschaft bedeutet,
und wie die Familienstrukturen
funktionieren. Die überwältigende
Gastfreundschaft der Menschen haben
wir übrigens bei Gegnern und
Anhängern der Taliban gleichermaßen
erlebt. Das ist etwas, was einen
sehr einnimmt für die Leute.
Wir erzählen von unseren Erfahrungen
in der Zeit, als wir dort
gelebt haben und von unseren
Eindrücken auf Reisen durch das
Land. Es sind natürlich subjektive
Wahrnehmungen und Erkenntnisse,
ich denke sie geben dennoch gute
Einblicke in die Gesellschaft und
helfen dabei, Verständnis für die
Entscheidungen und Reaktionen
der Afghanen zu entwickeln. Viele
Afghanen, egal welcher politischen
Richtung sie angehören, treffen
aus unserer Sicht sehr harte und
Premiumhändler
Südbaden
Konviktstr. 21 - 23
79098 Freiburg
Tel. 0761 37536
www.culinara-freiburg.de
manchmal auch unmenschlich erscheinende
Entscheidungen. Aber
wenn man sich klar macht, wie die
politischen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen sind, merkt
man, dass sie sich fast immer bemühen,
trotz extrem schwieriger
Umstände, für ihre Familie, für
ihre Kinder, auch für die Mädchen,
immer das Bestmögliche zu erreichen.
So wie wir wünschen sich
auch afghanische Eltern für ihre
Kinder eine glückliche Zukunft und
sind bei ihrem Handeln von Liebe
geleitet. Ihre Lebensbedingungen
sind jedoch extrem schwierig, sodass
bei jeder Entscheidung überlegt
werden muss, wie überlebt die
Familie als Ganzes. Das bringt für
den Einzelnen zum Teil unglaubliche
Härten.
Wir hoffen mit unseren persönlichen
Erlebnissen nicht nur einen
verstandesmäßigen, sondern auch
einen emotionalen Zugang zu den
Menschen zu eröffnen. Letztendlich
haben sie doch sehr ähnliche
Wünsche und Bedürfnisse wie
wir, nur äußert sich das durch die
Umstände in einer anderen Weise.
Wir jedenfalls fühlen uns den Menschen
dort sehr nahe.
UNIversalis: Herr Tettenborn, vielen
Dank für das Gespräch.
Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France
12 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Der Umgang mit der NS-Justiz vor und
nach 1945
Im Gespräch: Dr. Thomas Kummle, früherer Amtsgerichtspräsident und Initiator der Ausstellung im
Freiburger Amtsgericht
S
eit einigen Monaten
kann man im Flur des
Amtsgerichts Freiburg
einen neuen Aspekt der
NS-Zeitin Freiburg kennenlernen,
dreizehn Ausstellungstafeln
befassen sich dort mit der damaligen
Justiz. Initiiert vom früheren
Amtsgerichtspräsident Dr.
Thomas Kummle, der das Projekt
in Kooperation mit dem Historiker
Dr. Michael Hensle und
dem Staatsanwalt Dr. Dominik
Stahl leitet, zeigt die Ausstellung
das Wirken der NS-Justiz in Freiburg
auf. Erstmals wird so eine
wichtige Tatsache der Stadtgeschichte
analysiert, dass nämlich
der Volksgerichtshof in Freiburg
Sitzungen abhielt; daran werden
auch Zusammenhänge mit
NS-Verbrechen im annektierten
Elsass-Lothringen und im besetzten
Frankreich sichtbar. Drei spezielle
NS-Gerichte haben in Freiburg
getagt: Das Sondergericht,
das Reichskriegsgericht und der
Volksgerichtshof, was für Baden
und Württemberg als durchaus
ungewöhnlich gelten darf.
Die Ausstellung, deren Tafeln
neben Texten auch Abbildungen
von Originaldokumenten und Fotos
enthalten, gliedert sich in drei
Bereiche. Fünf Tafeln thematisieren
das Sondergericht Freiburg.
Drei Tafeln widmen sich
der Rechtssprechung des Reichskriegsgerichts
und zeigen, dass in
Freiburg Verfahren gegen hierher
verschleppte Mitglieder der französischen
Widerstandsorganisation
„Réseau Alliance“ verhandelt
wurden. Des Weiteren befassen
sich Texte mit dem Volksgerichtshof,
zu dessen Opfern etwa Regimegegner
zählten, auch aus dem
Elsass. Abschließend wird „Der
Umgang mit der NS-Justiz nach
1945“ angesprochen. Unsere Mitarbeiterin
Cornelia Frenkel hat
Thomas Kummle zu dieser Ausstellung
befragt.
UNIversalis: Herr Kummle, wie kam
es zu Ihrem Forschungsprojekt?Wie
sind Sie darauf gestoßen, dass das
Reichskriegsgericht und der Volksgerichtshof,
die ihren Sitz in Berlin
hatten, auch in Freiburg Unrecht
gesprochen haben?
Thomas Kummle: Aufgrund eines
Hinweises des französischen Vereins
„Souvenir Français“ wurde
bekannt, dass das Reichskriegsgericht
im Justizgebäude am Holz-
Land- und Amtsgericht, Ecke Wall- und Kaiserstraße um 1930
markt Militärgerichtsverfahren
durchführte. Bei meinen Recherchen
stieß ich auf die überraschende
Tatsache, dass auch der berüchtigte
Volksgerichtshof im heutigen Gebäude
des Amtsgerichts Freiburg
Sitzungen abhielt.
UNIversalis: Das Reichskriegsgericht
in Freiburg hat insbesondere
Verfahren gegen Mitglieder der
französischen Widerstandsorganisation
„Réseau Alliance“ durchgeführt.
Ist die Zahl der Gerichtsverfahren
und deren Ausgang bekannt?
Thomas Kummle: Das Reichskriegsgericht
verhandelte 27 Verfahren
gegen 67 Mitglieder der
„Réseau Alliance“in Freiburg – es
gab bis zu fünf Angeklagte in einem
Verfahren. 58 Angeklagte wurden
zum Tode verurteilt, neun zu langjährigen
Freiheitsstrafen. Freisprüche
gab es nicht. Die Verurteilungen
erfolgten jeweils wegen Spionage.
Die „Réseau Alliance“ betätigte
sich hauptsächlich als Nachrichtendienst,
indem sie Regierungskreise
und Kommandanturen abhörte sowie
deutsche Verteidigungslinien
Denkansätze für einen nachhaltigen
Ausweg aus der Krise
„Eine Umorientierung zu
mehr Lebensqualität statt
quantitativem Wachstum
ist möglich!“
Michael von Brück
Interkulturelles
Ökologisches Manifest
€ 19,00 | 152 Seiten | Gebunden
ISBN: 978-3-495-49156-0
auskundschaftete – sie leistete auch
Fluchthilfe.
UNIversalis: Vor das Reichskriegsgericht
in Freiburg waren zahlreiche
Angeklagte aufgrund des
sogenannten Nacht- und Nebel-Erlasses
verschleppt worden. Gab es
weitere Verfahren gegen Mitglieder
der „Réseau Alliance“?
Thomas Kummle: Das spurlose
Verschwindenlassen von Menschen
war im Nacht- und Nebel-Erlass geregelt.
Es war ein Mittel zur Terrorisierung,
das auch gegen den französischen
Widerstand eingesetzt
wurde. In den Listen der Freiburger
Verfahren des Reichskriegsgerichts
sind weitere 47 Widerstandskämpfer
erwähnt. Sie wurden ohne Gerichtsverhandlung
entweder in Konzentrationslager
verschleppt oder
direkt ermordet.
UNIversalis: Beim Thema Volksgerichtshof
denkt man vor allem an
seinen Präsidenten Roland Freisler;
kannte er die Verhandlungen
in Freiburg oder wer hat ihn vertreten?
Thomas Kummle: Roland Freisler
wurde im Jahr 1942 Präsident des
Volksgerichtshofs und Vorsitzender
des 1. Senats. Dieser Senat verhandelte
im Jahr 1944 Strafverfahren in
Freiburg. Die Fälle lagen daher im
Zuständigkeitsbereich von Freisler,
er leitete jedoch nicht die Hauptverhandlungen
in Freiburg. Sein
Vertreter war Landgerichtsdirektor
Martin Stier. Der Senat wurde durch
den zweiten Berufsrichter Dr. Erich
Schlemann sowie durch drei Volksrichter
komplettiert. Volksrichter
waren regimetreue Laienrichter
und gehörten der NSDAP und deren
Gliederungen an.
UNIversalis: Gab es im NS-Justizsystem,
das zum Instrument der
organisierten Willkür wurde, noch
unabhängige Richter?
Thomas Kummle: Die in der Ausstellung
„NS-Justiz in Freiburg“
dokumentierten Verfahren der NS-
Ausnahmegerichte betreffen die
Kriegszeit. Das Sondergericht Freiburg
verhandelte sein erstes Strafverfahren
am 13. Oktober 1939, das
Reichskriegsgericht war ab Dezember
1943 und der Volksgerichtshof
ab Mai 1944 in Freiburg. Die Nationalsozialisten
hatten bereits im
Jahr 1933 mit dem Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums
nach ihrem Sprachgebrauch
mit einer „personellen Säuberung“
von jüdischen Beamten und Richtern
begonnen. In der Folgezeit
nahm das Reichsjustizministerium
fortlaufend stärkeren Einfluss auf
die Rechtsprechung. Maßnahmen
zur Lenkung der Justiz waren beispielsweise
neu geschaffene Berichtspflichten
oder Vor- und Nachschauen,
bei denen der Richter oder
Staatsanwalt Fälle vor und nach der
Sitzung mit seinem Behördenleiter
besprechen und ggf. rechtfertigen
musste. Im Jahr 1942 wurden sogenannte
Richterbriefe eingeführt.
Sie gaben Rechtsauffassungen des
Ministeriums wieder und wurden
gegen Empfangsbekenntnis dem
Justizjuristen ausgehändigt. Bei
dem vielschichtigen und massiv
ausgeübten äußeren Druck kann
für die Kriegszeit sicher nicht von
einer Unabhängigkeit des Richters
gesprochen werden.
UNIversalis: Zahlreiche Widerstandskämpferinnen
und Widerstandskämpfer
aus Frankreich
und dem Elsass wurden in den badischen
Städten wie Kehl, Rastatt,
Offenburg, Freiburg, Bühl, Gaggenau
und Pforzheim hingerichtet.
Wurden diese Verbrechen nach
1945 ausreichend geahndet?
Thomas Kummle: Als die vorrückenden
Truppen der Alliierten am
23. November 1944 Straßburg erreichten,
wurden 70 Mitglieder der
„Réseau Alliance“, die in Gefängnissen
der erwähnten Städte inhaftiert
waren, ermordet. Dies geschah
in der sogenannten Schwarzwälder
Blutwoche vom 23. bis 30. November
1944. Julius Gehrum, Leiter der
für die Verfolgung der Widerstandskämpfer
zuständigen Gestapo-
Sektion in Straßburg, nahm selbst
an den Massakern teil. In Freiburg
wurden drei Widerstandskämpfer,
die wie alle anderen nicht verurteilt
© Stadtarchiv Freiburg
waren, vor der Justizvollzugsanstalt
Freiburg erschossen. Eine Gedenktafel
an der Außenmauer des
Gefängnisses erinnert an die drei
Franzosen Edouard Kauffmann,
Emile Pradelle und Jean-Marie Lordey.
Am 17. Mai 1947 wurde Julius
Gehrum von einem französischen
Militärgericht zum Tode verurteilt
und am 10. November 1947 in
Straßburg hingerichtet. Dem Leiter
der Gestapo in Straßburg, Helmut
Schlierbach, konnte von der
bundesdeutschen Justiz eine nahe
liegende Verantwortung für die 70
Morde nicht nachgewiesen werden.
Er wurde wegen anderer Delikte
durch ein britisches Militärgericht
zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Ein französisches Militärgericht
verurteilte ihn 1954 in Abwesenheit
zum Tode, er wurde als deutscher
Staatsangehöriger aber nicht an
Frankreich ausgeliefert.
UNIversalis: Die letzte Tafel der
Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“
thematisiert, wie es nach
1945 weiterging. Warum scheiterten
Aufarbeitungsversuche seit
der Nachkriegszeit häufig, welche
Mechanismen waren ausschlaggebend?
Thomas Kummle: Bei der Aufarbeitung
nach dem Zweiten Weltkrieg
gilt es zu unterscheiden
zwischen der Rehabilitierung von
NS-Justizopfern einerseits und der
Strafverfolgung von NS-Straftätern
andererseits. Im französisch besetzten
Teil von Baden wurden ab
November 1945 Verurteilungen
wegen politischer Straftaten auf
Anordnung der Militärregierung
durch sogenannte Straftilgungskommissionen
gelöscht. Am 14.
Januar 1947 trat ergänzend die Badische
NS-Urteile-Aufhebungsverordnung
in Kraft. Sie ermöglichte
auf Antrag eine Aufhebung von
Verurteilungen, die auf nationalsozialistischem
Gedankengut beruhten.
Nach langem Ringen verabschiedete
der Bundesgesetzgeber
im Jahr 1998 das NS-Aufhebungsgesetz,
das weiterreichend war und
unter anderem pauschal alle Urteile
des Volksgerichtshofs aufhob. In
den Jahren 2002 und 2009 wurden
durch Gesetzesänderungen auch
NS-Urteile gegen Homosexuelle,
Deserteure und „Kriegsverräter“
pauschal aufgehoben.
Die Verfolgung von NS-Straftätern
lag nach Ende des Krieges zunächst
in den Händen der vier Hauptsiegermächte.
Sie übten die oberste
Regierungsgewalt und damit auch
die Justizhoheit aus. Nach dem
gemeinsam geführten Nürnberger
Hauptkriegsverbrecherprozess vor
dem Internationalen Militärgerichtshof
führten die US-Amerikaner
alleine zwölf sogenannte Nürnberger
Nachfolgeprozesse durch.
Der dritte dieser Prozesse, der sogenannte
Juristenprozess, richtete
sich in der Zeit vom 14. Februar
bis zum 4. Dezember 1947 gegen
16 Juristen, darunter drei ehemalige
Richter des Volksgerichtshofs
und drei ehemalige Reichsanwälte
des Volksgerichtshofs. Sechs Angeklagte
wurden zu langjährigen, vier
zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen
verurteilt. Vier Angeklagte wurden
freigesprochen, ein Angeklagter ist
wegen Krankheit aus dem Verfahren
ausgeschieden, ein anderer beging
Selbstmord.
Die juristische Ahndung von NS-
Justizverbrechen in der Bundesrepublik
Deutschland kann nur als
gescheitert qualifiziert werden.
Letztlich wurde kein NS-Justizjurist
rechtskräftig verurteilt, der Todesstrafen
beantragt oder gefällt hatte.
Die in Baden-Württemberg im Juli
1960 eingesetzte „Kommission zur
Überprüfung von Vorwürfen gegen
Richter und Staatsanwälte wegen
ihrer früheren Tätigkeit bei Sondergerichten“
riet nach der Sichtung
von Todesurteilen in der Regel von
strafrechtlichen Schritten ab. Dies
beruhte insbesondere auf der damaligen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,
die praktisch zu einem
Ausschluss der Strafbarkeit wegen
Rechtsbeugung für ehemalige NS-
Richter führte. Diese Rechtssprechung
war auch Folge einer sehr
hohen personellen Kontinuität im
Justizbereich: Der Anteil der ehemaligen
NSDAP-Mitglieder war in
den fünfziger und sechziger Jahren
an manchen Gerichten höher als im
Jahr 1939. Das sog. „131er-Gesetz“
- beruhend auf Artikel 131 Grundgesetz
- machte nämlich im Jahr
1951 die politisch motivierte Entlassung
vieler Beamten und Richter
wieder rückgängig und gewährte
diesen einen Rechtsanspruch auf
Wiedereinstellung. Zur Lösung dieser
untragbaren Situation schuf der
Gesetzgeber im Jahr 1961 durch §
116 des Deutschen Richtergesetzes
die Möglichkeit, dass Richter, die
während des Krieges in der Strafrechtspflege
mitgewirkt hatten, auf
Antrag in den Ruhestand versetzt
werden konnten. Die Zahl der Anträge
blieb mit 149 allerdings niedrig.
UNIversalis: In der frühen Bundesrepublik
war anscheinend sogar
Mainstream, die Urteile der „Nürnberger
Prozesse“ abzulehnen?
Thomas Kummle: Die deutsche
Bevölkerung stand den Alliierten
Gerichten in Nürnberg, Lüneburg
oder Rastatt, wie Umfragen der
US-Militärregierung zwischen Oktober
1945 und August 1946 zeigen,
anfangs nicht ablehnend gegenüber
– zumal die Verfahren hauptverantwortliche
Nationalsozialisten
betrafen. Wie schon bei anderen
Kriegsverbrecherprozessen stand
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 13
Dr. Thomas Kummle
© privat
aber der allgemeine Vorwurf der
„Siegerjustiz“ im Raum. Allerdings
bleibt bei diesem Einwand die Frage
unbeantwortet, wer sonst die
Prozesse hätte führen sollen. Den
weiteren politischen Säuberungen
stand die deutsche Bevölkerung
skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Angesichts der allgemeinen Notlage
und der veränderten politischen
Rahmenbedingungen sah man keine
Notwendigkeit für Entnazifizierungen
mehr. Bereits ab 1946/47
setzte eine „Schlussstrichmentalität“
ein. Auf politischer Ebene fand
dies in Amnestierungen in den Jahren
1949 und 1954 seinen Niederschlag,
die auch Auswirkungen auf
die Verfolgung und Aburteilung von
NS-Verbrechen hatten.
UNIversalis: Sehr geehrter Herr
Kummle, wir bedanken uns für Ihre
Auskünfte.
Die Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“
kann während der Öffnungszeiten
des Amtsgerichts am Holzmarkt
im 1. Obergeschoß besichtigt
werden. Mo-Do 8-16, Fr 8– 12 Uhr
Literaturhinweise
• Michael P. Hensle.Die Todesurteile
des Sondergerichts Freiburg.
1996
• Christine Oehler. Die Rechtsprechung
des Sondergerichts Mannheim
1933 – 1945. 1997
•Walter Wagner. Der Volksgerichtshof
im nationalsozialistischen Staat.
Erw. Neuausgabe 2011
• Lothar Gruchmann. Justiz im
Dritten Reich 1933 – 1940. 3. Aufl.
2001
• Marie-Madeleine Fourcade,
L‘arche de Noé – Réseau“Alliance“
1940 – 1945. 1998
• Brigitte und Gerhard Brändle.
Hinrichtungen im Hardtwald 1944.
NS-Mordserie begann in Karlsruhe:
ww.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/blick_geschichte/blick100/
reseau-alliance.de
• Auguste Gerhards. Tribunal de
guerre du IIIe Reich. 2014
Blick in die Ausstellung im Amtsgericht Freiburg
© T. Kummle
1941 Kiew. Vor 80 Jahren:
das Massaker von Babyn Jar
Zu Ort, Tat und Erinnerung – Sonderausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“
B
estialischer geht es nicht.
Vor 80 Jahren hat das
Massaker von Babyn Jar
stattgefunden, es gilt als
Symbol für den sogenannten „Holocaust
durch Kugeln“. Im Jahr 1941,
am 29. und 30. September, ermordeten
deutsche Truppen – SS, Wehrmacht
und Polizeibataillone – am
Stadtrand von Kiew, in der Schlucht
von Babyn Jar, innerhalb von zwei
Tagen 33.771 Menschen, in den
Monaten danach ging das Morden
weiter. Diese Verbrechen waren bereits
vor der Wannsee-Konferenz ein
Auftakt zur Vernichtung der europäischen
Juden. Diesem grauenhaften
Geschehen widmet die Monatszeitschrift
Osteuropa ihr aktuelles Heft.
Im Editorial legen die Herausgeber
Manfred Sapper und Volker Weichsel
dar, dass das Blutbad von Babyn
Jar über Jahrzehnte von mehreren
Seiten verschleiert wurde; dementsprechend
schwierig gestaltet sich
heute die Erinnerungsarbeit.Der
Historiker Bert Hoppe rekonstruiert
minutiös die Ereignisse: die Wehrmacht
marschiert in die Sowjetunion
ein, besetzt u.a. Kiew, die Rote Armee
zieht sich zurück, während der
sowjetische Geheimdienst Anschläge
auf deutsche Besatzungsstellen
verübt: „In den zeitgenössischen
deutschen Dokumenten wurde das
Massaker durchweg als militärische
Reaktion auf die Bombenanschläge
dargestellt. Doch handelte es sich
dabei um einen Vorwand, um den
ohnehin geplanten Massenmord zu
legitimieren: Auffällig war schon
allein, dass nur Juden erschossen
werden sollten. Zwischen (SS-
Standartenführer Paul) Blobel und
(Generalfeldmarschall Walter von)
Reichenau bestand hinsichtlich des
Judenmords große Einigkeit. Schon
einen Monat vorher hatte von Reichenau
persönlich die Tötung von
90 jüdischen Kindern in der südlich
von Kiew gelegenen Stadt Bila
Cerkva angeordnet“, deren Eltern
waren zuvor erschossen worden.
Während der deutschen Besetzung
der Ukraine wurden fast 100.000
Menschen ermordet, mehrheitlich
Juden, doch auch Regimegegner
und Roma. In der Sowjetunion ging
das Verbrechen rasch unter: „Nach
der Befreiung Kiews Anfang 1943
durch die Rote Armee nahm eine sowjetische
Kommission die Untersuchung
der Gräueltaten auf. Ihren Bericht
sandte sie nach Moskau. Dort
wurde er allerdings umgeschrieben.
Die Opfer wurden als ‚sowjetische
Bürger‘ bezeichnet. Dass vor allem
Juden ermordet worden waren, wurde
verschleiert. Das „Schwarzbuch“
über den Genozid an den sowjetischen
Juden, das Wassili Grossman
und Ilja Ehrenburg zwischen
1943 und 1947 zusammengestellt
hatten und das mit einer Schilderung
der Ereignisse von Babyn Jar
einsetzt, durfte in der Sowjetunion
nicht erscheinen.“
So subsumierte man die jüdischen
NS-Opfer unter die Gesamtverluste
des sowjetischen Staates. Im
Deutschland der Nachkriegszeit,
im Land der Täter, wurden die Verbrechen
von Einsatzgruppen und
Polizeibataillonen insgesamt weitgehend
beschwiegen, darunter auch
die brutalen Exekutionen in Litauen
(s. dazu: W. Wette. Karl Jäger.
Mörder der litauischen Juden). Es
dauerte bis 1967, ehe Mitglieder
des Sonderkommandos 4a für die
Tötung von circa 60.000 Menschen
in der Ukraine zur Verantwortung
gezogen wurden, doch das Verfahren,
der„Callsen-Prozess, der wie
der Frankfurter Auschwitz-Prozess
maßgeblich vom Hessischen Generalstaatsanwalt
Fritz Bauer vorangetrieben
wurde, fand kein Interesse.
Die Zuschauerbänke im Landgericht
Darmstadt blieben meist leer. Die
Zeugenaussage von Dina Proničeva,
einer der wenigen Überlebenden des
Massakers, erregte keine öffentliche
Aufmerksamkeit.“ Die Aussage
dieser Zeugin, entstanden im April
1968, wird in Osteuropa erstmals
publiziert.
Auch was nach dem Massaker geschah,
ist an Grausamkeit kaum zu
übertreffen, wie Erhard Roy Wiehn
mit dem Band „Jüdische Schicksale
in Kiew 1941–1943“ aufgezeigt hat:
Im Frühjahr 1942 wurde nämlich am
Stadtrand von Kiew das Konzentrationslager
Syrez eingerichtet, in dem
die Nazis Hunderte von Gefangenen
auf sadistische Weise inhaftieren.
SS-Standartenführer Paul Blobel
gab 1948 in Nürnberg zu Protokoll,
dass er vom Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) 1942 mit der Aufgabe
betraut wurde, die Spuren der von
den deutschen Einsatzgruppen verübten
Exekutionen zu beseitigen.
Die Häftlinge des Lagers Syrez wurden
nun eingesetzt, die Leichen derer
auszugraben, die Ende September
1941 in Babyn Jar erschossen
worden waren; diese mussten sie auf
Wertgegenstände untersuchen und
verbrennen. Danach fürchteten diese
Häftlingssklaven als lästige Zeugen
beseitigt zu werden, weshalb
sie Ende September 1943 aus dem
Lager ausbrachen. Meist wurden sie
auf der Flucht erschossen, nur vierzehn
überlebten. Das Morden in den
osteuropäischen Ländern, in Polen,
Weißrussland und der Ukraine, gehört
zu den grausamsten Gewalttaten
der NS-Diktatur und seine verschiedenen
Aspekte werden immer
wieder erschüttern und die Gemüter
erhitzen. Die Massenerschießungen
durch die Nazis in Osteuropa, die
mit dem Überfall auf die Sowjetunion
begannen, an denen Tausende
Soldaten und SS-Einsatzgruppen
beteiligt waren, kommen im Geschichtsbewusstsein
der Deutschen
zu wenig vor, ein Versäumnis, wie
Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier kürzlich in einer Rede in
Kiew eingestanden hat.
• Babyn Jar. Der Ort, die Tat und
die Erinnerung.Osteuropa.Manfred
Sapper/Volker Weichsel (Hg.).Berlin
1-2/2021
Cornelia Frenkel
14 UNIversalis-Zeitung Winter 2021
Fatale Kontinuitäten – „documenta. Politik
und Kunst” und die „Gottbegnadeten“
D
ie personelle Kontinuität
in allen gesellschaftlichen
Bereichen nach
1945 ist zwar ebenso
bekannt wie die Barrieren gegen
unbequeme Wahrheiten in dieser
Hinsicht; trotzdem kann erstaunen,
warum manche geschichtlichen
Vorgänge in der Bundesrepublik
noch kaum belichtet wurden,
so etwa die Zusammenhänge,
die das Deutsche Historische
Museum in Berlin (DHM) nun
durch zwei Ausstellungen aufdeckt,
mit „documenta. Politik
und Kunst” sowie „Die Liste der
Gottbegnadeten“.
„Documenta. Politik und Kunst“
geht erstmals der Frage nach, wie
mit Kunst in der Nachkriegszeit
Politik gemacht wurde. Klar ist,
dass die Moderne Kunst den Initiatoren
der documenta zur dezidierten
Abgrenzung von der NS-Vergangenheit
diente; zwar verhalfen
sie damit einem Teil des vormals
Verfemten zu Anerkennung, aber
Werke emigrierter oder ermordeter
Künstlerinnen und Künstler waren
in Kassel kaum vertreten; denn ihre
Kunst hätte an ihre Vertreibung
erinnert, vermerkt die Kunsthistorikerin
Julia Friedrich. Stattdessen
aber wurde etwa Emil Nolde zum
Vertreter der „inneren Emigration”
verklärt, obwohl er Anhänger der
Nazis war. Nicht nur diesbezüglich
lässt sich Kontinuität feststellen.
Hinzu kommt, dass fast die Hälfte
derjenigen, die an der Organisation
der ersten documenta mitwirkten,
Mitglied von NSDAP, SA oder SS
gewesen waren. Markantester Fall
ist dabei der Kunsthistoriker Werner
Haftmann, als Berater und Kurator
eine Schlüsselfigur der documenta
1-4; wie der Historiker Carlo Gentile
zeigt, war er in Kriegsverbrechen
involviert und wurde 1946
von italienischen Behörden gesucht.
Auch der an der documenta
1 mitwirkende Kunsthistoriker Kurt
Martin hatte im „Dritten Reich“
Karriere gemacht; 1934 war er von
Doppelausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin
NS-Gauleiter Robert Wagner zum
Chef der Karlsruher Kunsthalle
ernannt worden und betätigte sich
seit 1941 als Generaldirektor der
Oberrheinischen Museen - auch im
annektierten Elsass. Im Gegensatz
dazu steht allerdings Arnold Bode
(1900-1977), Initiator und wichtigster
Organisator der documenta,
er hatte Unterdrückung durch die
Nazis erlebt; seit 1930 als Dozent
am Städtischen Werklehrer-Seminar
in Berlin und Mitglied der Berliner
Secession, war er am 1. Mai 1933
wegen seiner Lehrmethoden und
politischen Überzeugung aus dem
Amt entfernt worden.
Dass nach 1945 eine offene Auseinandersetzung
mit der NS-Vergangenheit
unterblieb, hat viele Ursachen,
eine davon ist der rasch einsetzende
Kalte Krieg; die entsprechende
Blockbildung brachte mit
sich, dass sich das Deutschland der
Westbindung, während es in höchsten
Tönen der „Moderne“ huldigte,
gleichzeitig vom sozialistischen
Kunstbegriff des „Ostblocks“ distanzierte.
Auf dieser Basis wurde
dem documenta-Publikum seit
1955 eine Epoche präsentiert, die
in Deutschland zwischen 1933 und
1945 als „entartet“ gegolten hatte,
aber es wurde kaum bemerkt, dass
verfolgte und emigrierte Künstlerinnen
und Künstler ausgegrenzt
blieben, etwa Otto Freundlich,
Rudolf Levy, Felix Nussbaum und
Ludwig Meidner; aber auch weitere
Verfemte, die teils politisch und gegenständlich
orientiert waren und
innovative ästhetische Verfahren
entwickelten, wie etwa John Heartfield,
George Grosz, Hannah Höch,
Raoul Hausmann, Georg Scholz
oder Conrad Felixmüller, blieben
bis in die 1960er Jahre weitgehend
marginalisiert, da sie nicht in die
Behauptung passten, die Kunst sei
über alle Zeitgebundenheit erhaben.
Die Abstraktion galt seit der
documenta 2 (1959) als Gipfel des
Zeitgenössischen und Inbegriff
des Universellen. Nachdem die
NS-konforme Kunst nun erklärtermaßen
verpönt war, aber auch die
kritischen Tendenzen der Weimarer
Republik an den Rand gedrängt
blieben, wurde des Weiteren die
figürlich-realistische Kunst aus dem
„Osten“ und der DDR abgelehnt.
Derartige Fronten entspannten sich
erst in den 1970er Jahren, als Maler
wie Werner Tübke und Willi Sitte
auf der documenta ausstellen durften.
Die Schau im DHM Berlin verweist
mit Werken von Rudolf Levy, der
als Jude wie viele andere verfolgt
war, auf die erinnerungspolitische
Leerstelle der frühen documenta-
Jahre, Levy bildet aber nur die
Spitze des Eisbergs, zu den oben
bereits genannten Künstlern gesellen
sich viele Weitere, die ins Exil
gedrängt wurden; dies haben u.a.
Thomas B. Schuman mit seiner
Recherche „Deutsche Künstler im
Exil 1933-1945“ (Edition Memoria
2016), aber auch Gerhard Schneider
(„Verfemt – Vergessen – Wiederentdeckt“)
aufgezeigt. Die documenta
pflegte also ein Narrativ vom kulturellen
Neuanfang, ließ aber verschiedene
Opfer von Krieg, Verfolgung
und Massenmord außer Acht,
indes sie sich mit dem Bekenntnis
zur universellen Moderne auf mirakulöse
Weise unangreifbar machte.
Werner Haftmann hatte sich sogar
zu der Meinung verstiegen, „nicht
ein einziger der deutschen modernen
Maler“ sei Jude gewesen. Die
„antisemitische Vernichtungspolitik“
fand „in der Einladungspraxis“
zur documenta quasi ihre Fortführung,
so Raphael Gross, Direktor
des DHM.
Der „Mythos documenta“ war, betont
Hortensia Völckers, „von der
ersten bis zur zehnten Ausgabe immer
auch von geopolitischen Interessen
in der deutschen Nachkriegsgeschichte
geprägt.“ Seit Gründung
der internationalen Großausstellung
erhoben die Macherinnen und Macher
zwar den Anspruch, aktuelle
künstlerische Trends zu vermitteln,
blieben dabei aber von kultur- und
gesellschaftspolitischen Entwicklungen
der Bundesrepublik abhängig.
Dies änderte sich erst in den
1960er Jahren. 1977 wurden erstmals
Werke von DDR-Künstlern
gezeigt und die NS-Kunst thematisiert.
Selbstverständlich veränderte
dann der Fall der Mauer den Blick
auf das Großereignis, das stets auch
Plattform für politische Aktivitäten
war, etwa für Beuys, aber auch für
die aufklärende „Besucherschule“
von Bazon Brock, und z.B. für die
feministische Künstlerinnengruppe
Guerrilla Girls aus New York, die
1987 (d8) provokant fragte: „Warum
ist die documenta 1987 zu
95% weiß und zu 83% männlich?“
Für die d9 (1991) hat sich dann die
Künstlerin Annemarie Burckhardt
ein ironisches Objekt ausgedacht,
das „documenta-Kissen“.
© Gueriila Girls
Als internationales Ereignis mit
Festivalcharakter steigerte sich die
documenta von anfänglich 130.000
Besuchern auf mehr als eine halbe
Million. Die Schau im DHM veranschaulicht
mit Werken, Filmen, Dokumenten,
Oral-History-Interviews
und anderen Originalzeugnissen
über zwei Etagen die Verbindung
der documenta zu politisch-sozialen
Kontexten und kann mit berühmten
Exponaten aufwarten, u.a. von
Joseph Beuys, den Guerrilla Girls,
Hans Haacke, Séraphine Louis,
Wolfgang Mattheuer, Jackson Pollock,
Emy Roeder, Klaus Staeck,
Andy Warhol oder Fritz Winter. Ein
gelehrter Katalog schlüsselt zudem
die komplexen Zusammenhänge
der Ausstellung auf.
• „documenta. Politik und Kunst“.
Deutsches Historisches Museum
Berlin. Bis 9. Januar 2022. www.
dhm.de
Die Liste der „Gottbegnadeten“
Künstler des Nationalsozialismus
in der Bundesrepublik
Parallel zu „documenta. Politik
und Kunst“ setzt sich das Deutsche
Historische Museum mit einem
weiteren relevanten Aspekt der
Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts
auseinander, nämlich mit dem
Wirken der Künstler, die im August
1944 im Auftrag von Hitler und
Goebbels auf der sogenannten „Liste
der Gottbegnadeten“ erscheinen.
378 Künstlerinnen und Künstler,
darunter 114 Bildhauer und Maler,
werden hier als „unabkömmlich“
klassifiziert und damit von Frontund
Arbeitseinsatz verschont, etwa
Arno Breker, Hermann Kaspar,
Willy Meller, Paul Mathias Padua,
Richard Scheibe und Adolf Wamper.
Die Nachkriegskarrieren dieser
Akteure, die in den antisemitischen
und modernefeindlichen NS-Kunstbetrieb
verstrickt waren und in sein
Konzept passten, zeigen, dass diese
nach 1945 in der BRD sehr präsent
blieben, sie „erhielten Aufträge
von Staat, Wirtschaft und Kirche,
lehrten an Kunstakademien und waren
in Ausstellungen vertreten. Ihre
Gestaltungen von Standbildern,
Reliefs und Gobelins auf Plätzen,
an Fassaden und in Foyers prägen
bis heute das Gesicht vieler Innenstädte.
Dabei konnten sie auch von
dem antimodernistischen Klima der
ersten Nachkriegsjahrzehnte profitieren“,
so der Kurator Wolfgang
Brauneis.
Die Ausstellung zeigt – auch mittels
Karten – präzise auf, wie stark
die NS-belasteten Künstler im öffentlichen
Raum sowie in Einrichtungen
des politischen und kulturellen
Lebens salonfähig blieben.
Ihre Bildthemen, Netzwerke und
Biographien belegen, dass sie versuchten,
den Erwartungshaltungen
öffentlicher Auftraggeber und dem
neuen Kunstgeschmack gerecht zu
werden. Auf zwei Etagen zeigen
rund 300 Skulpturen, Gemälde,
Zeichnungen, Fotografien, Filmund
Tondokumente, Plakate, Originalpublikationen
sowie Presseberichte,
wie ehemals „gottbegnadete”
Maler und Bildhauer bis in die
1970er Jahre in der Bundesrepublik,
in Österreich sowie vereinzelt in der
DDR arbeiteten. Zwar konnten sie
auf der documenta nicht vertreten
sein, weil ihre Werke dem Selbstverständnis
der jungen BRD nicht
entsprachen, aber sie wirkten weiter.
So provozierte kaum kritische
Stimmen, dass z.B. das „Ehrenmal
für die Opfer des 20. Juli 1944“
(1953) im Berliner Bendlerblock
von Richard Scheibe realisiert wurde
oder Willy Mellers Skulptur „Die
Trauernde“ (1962) sich vor dem ersten
NS‐Dokumentationszentrum in
Oberhausen platzieren konnte. Besonders
frappiert hat Kurator Wolfgang
Brauneis, dass gerade er hier
eine Plastik errichten durfte, „denn
Meller war einer der erfolgreichsten
Bildhauer im Nationalsozialismus
gewesen. Er wurde unter anderem
mit der Bauplastik für NS-Ordensburgen
oder dem KdF-Seebad Prora
beauftragt (…).“ Viele weitere
Beispiele wären zu nennen; etwa
wurde im Kongresssaal des Deutschen
Museums in München ein
monumentales Wandmosaik von
Hermann Kaspar, Chefausstatter
der Reichskanzlei, 1935 begonnen
und 1955 vollendet. Viele der ehemals
Regimetreuen erhielten nach
kurzer Pause ihre Professuren an
den Akademien in Düsseldorf und
München wieder.
Die Gedächtnislücken in der deutschen
Kulturgeschichte und die
NS-Tradierung weit über die Nachkriegszeit
hinaus, weisen auf die
Selbstgerechtigkeit, mit der hierzulande
oft ein gelungener Bruch
behauptet wird. Die Erinnerungskultur
steht unbedingt vor der
Notwendigkeit, sich verstärkt auf
die Spur fataler Kontinuitäten zu
begeben und den Kanon zu hinterfragen.
Eine multimediale Präsentation
dokumentiert zum Abschluss
der Ausstellung fotografisch rund
dreihundert Arbeiten von Künstlern
der „Gottbegnadeten‐Liste“ in
Deutschland und Österreich, die in
der NS-Zeit und danach entstanden
sind. Eine interaktive Karte (www.
dhm.de/ gottbegnadete /karte), die
sich als work in progress versteht,
und eine Publikation (Die Liste der
„Gottbegnadeten“. Künstler des
Nationalsozialismus in der Bundesrepublik.
Prestel Verlag 2021) bie-
Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 15
ten weitere Information. Im DHM
lassen sich längst fällige Kapitel
zur Kunst im 20. Jahrhundert entdecken.
Hut ab vor den Forschern.
• „Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘.
Künstler des Nationalsozialismus
in der Bundesrepublik.“ Deutsches
Historisches Museum Berlin. www.
dhm.de. Bis 5. Dezember 2021
Cornelia Frenkel
Bundespräsident Theodor Heuss auf der ersten documenta 1955
documenta archiv Foto: Erich Müller
„Ohne Waffen gegen Hitler“
Studien zum zivilen Widerstand in Europa während der NS-Zeit
V
iel zu selten wurde den
zahlreichen unscheinbaren
Helden der NS-
Zeit, die sich dem System
auf subtile und unspektakuläre
Weise widersetzten, ein Denkmal
gesetzt; doch der Historiker Jacques
Semelin hat dies mit seiner Studie
„Ohne Waffen gegen Hitler“ unternommen.Um
bei der „Monstrosität“
der NS-Barbarei nicht stehen zu
bleiben, wollte er Verhaltensweisen
erforschen, die sich in einer Diktatur
als Abweichung zeigen und von
Frauen und Männern ungeschützt
geleistet wurden.Wie lässt sich die
Einstellung derjenigen konturieren,
die sich während des Nationalsozialismus
eine humane Orientierung
bewahren konnten? Einfache Antworten
sind nicht möglich.
So rekonstruiert Jacques Semelin in
seiner Studie „Ohne Waffen gegen
Hitler“ verschiedene Formen zivilen
Widerstands gegen das NS-Regime,
wie sie in Frankreich, Dänemark,
Skandinavien, den Benelux-Staaten
und Deutschland stattgefunden haben.
Unbewaffneter Widerstand ist
erfinderisch, erfolgt durch Taktiken
der Verweigerung, verzögertes Arbeiten,
Sabotage, heimliches Informieren,
Sympathiebekundungen,
ironische Aktionen, Ausstellen
falscher Papiere, Geldgeschenke
oder Fluchthilfe. Durchaus trugen
manche der widerständigen Personenfür
den Fall einer eventuell
notwendigen Selbstverteidigung
eine Waffe bei sich. Einige ihrer
Handlungsweisen lassen sich unter
dem Begriff Zivilcourage fassen;
Arno Lustiger spricht bevorzugt von
„Rettungswiderstand“, der Historiker
Fritz Stern hat die stille, meist
heimliche Form des Widerstands
als „aktiven Anstand“ charakterisiert.
Viele oppositionelle Aktionen
schienen zunächst aussichtslos, doch
behinderten sie das mörderische Räderwerk
der Nationalsozialisten und
gelangen häufig.
Jacques Semelin geht nicht nur Formen
des Boykotts und der Hilfeleistung
nach, sondern zeigt auch, was
Menschen dabei im tagtäglichen
Kampf bewegte. Als zentrales Beispiel
kann der französische Ort
Chambon-sur-Lignon dienen, ein
mehrheitlich hugenottisches Dorf
im Departement Haute-Loire, in
dem zwischen 1940 und 1944 mindestens
fünftausend Juden vor dem
Zugriff der Nazis gerettet wurden;
man versteckte sie in Privathäusern,
öffentlichen Gebäuden und umliegenden
Wäldern, stellte „gefälschte“
Papiere aus oder schleuste sie über
die Schweizer Grenze. Rückten Patrouillen
der deutschen Besatzer an,
so wurden die Verfolgten durch ein
Lied gewarnt. Bedeutenden Rettungswiderstand
gab es für Emigranten
aus ganz Europa zudem
in Dieulefit, einem südost-französischen
Städtchen im bäuerlichen
Umland.Viele nonkonformistisch
denkende Menschen waren notwendig,
um solche „Heldentaten“ zu
vollbringen, zahlreich waren Frauen
beteiligt, politisch überzeugte Personen,
auch der katholische Klerus.
Viele wurden von der bewaffneten
Macht perfide ermordet, man denke
stellvertretend an Marianne Cohn
und ihr Netzwerk.
Eine bemerkenswerte Solidaritätsbewegung
während der Shoáh war
die Rettung der Juden in Dänemark:
95 Prozent der jüdischen Gemeinde
wurden von der Deportation verschont.
Das Land war weitgehend
frei von Antisemitismus und verfügte
über starken sozialen Zusammenhalt.
Die dänische Regierung
vertrat gegenüber den Nazis einen
festen politischen Grundsatz, sie ergriff
Partei für die Juden, um einen
Grundpfeiler der Verfassung zu verteidigen,
die rechtliche Gleichstellung
aller Bürger. Es war ein Lehrstück
darüber, „welch ungeheure
Macht in gewaltloser Aktion und im
Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln
vielfach überlegenen Gegner
liegt“, so Hannah Arendt in ihrem
Essay „Eichmann in Jerusalem“.
Dänemark wurde zum Beweis, dass
ein kleines, unbewaffnetes Volk die
Möglichkeit hatte, die Logik des
Holocaust zu durchbrechen. Freilich
ist zu beachten, dass die Nazis
gegenüber den Dänen eher vorsichtig
agierten, weil sie diese quasi als
ihre „arischen“ Verwandten betrachteten.
Auch lebten in Dänemark nur
rund 8.000 jüdische Staatsbürger, in
Frankreich waren es über 300.000;
fast die Hälfte von diesen war erst
seit 1933 eingewandert, besaß
keine Staatsbürgerschaft und war
insofern viel schwieriger zu schützen.
Nichtsdestotrotz überlebten
Dreiviertel von ihnen die Vernichtungspläne
der Nazis, vor allem die
Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen.
Serge Klarsfeld und Arno
Lustiger haben dies immer betont
und für diejenigen, die im Oktober
1940 aus Südwestdeutschland nach
Frankreich abgeschoben und verschleppt
wurden, ist dies mittlerweile
von den Historikern Brigitte und
Gerhard Brändle genau recherchiert
und in der atemberaubenden Dokumentation
„Gerettete und ihre RetterInnen.
Jüdische Kinder im Lager
Gurs: Fluchthilfe tut not – eine notwendige
Erinnerung“ festgehalten.
Viel schwieriger war es, in Polen
Rettungswiderstand zu leisten, doch
gab es ihn sehr wohl. Die Historikerin
Christiane Goos zeigt in ihrer
Studie „Ich habe mich geschämt,
dass ich zu denen gehöre …“ (Verlag
v. Hase & Koehler 2020), wie
sogar Wehrmachtsangehörige in
Polen 1939-1945 Befehle verweigerten
und Leben retteten; meisthinter
der Front, wo der Kriegseinsatz
organisiert wurde und sich die
Konzentrationslager befanden. Sie
stellten Zivilcourage und Humanität
über Befehls- und Gehorsamspflicht,
wirkten auf diese Weise der
NS-Vernichtungspolitik entgegen,
leisteten Fluchthilfe oder erklärten
ihre Arbeiter als unverzichtbar, um
deren Deportation zu verhindern;
manchmal waren sie Retter und Erfüllungsgehilfen
gleichzeitig, mitunter
stellten sie sich direkt gegen
Vernichtungskommandos, etwa in
der polnischen Stadt Przemysl.
Bis zum Kriegsende wurde der
Rettungswiderstand zur letzten
Möglichkeit für Verfolgte; denn der
Holocaust stand am Ende einer Entwicklung
antisemitischer Kräfte, die
anwuchsen, als das internationale
Umfeld gleichgültig blieb, etwa seit
der Konferenz von Evian von 1938,
deren Resultat war, dass kein Land
der Welt mehr Verfolgte aufnehmen
wollte, diese in ganz Europa in der
Falle saßen und von den Nazis gejagt
wurden. Auch die Alliierten,
obwohl informiert, entwickelten
keine Strategie gegen die Vernichtungsmaschinerie,
mitten im Weltkrieg
war Auschwitz für sie kein
Hauptthema. Die selbstlosen Helfer,
die ihren Einsatz oft mit dem Leben
bezahlten, später teils als „Gerechte
unter den Völkern“ gewürdigt,
sind das kostbarste ethische Kapital
der europäischen Gesellschaften,
weil sie die Würde ihrer Mitbürger
während einer barbarischen Ära
bewahrt haben. Zumeist waren es
einfache Menschen, die nie wie
Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg
bekannt wurden, an Ruhm
gar nicht dachten, jedoch über einen
humanen Kompass verfügten.
Mehr als 27.000 „Gerechte unter
den Völkern“ zählt die Gedenkstätte
Yad Vashem, was nur die Spitze des
Eisbergs ist.Wie Arno Lustiger und
Jacques Semelin deutlich machen,
dürfen als Rettungswiderstand nicht
nur die Aktionen derer gelten, die als
„Gerechte“ geehrt wurden, sondern
auch die vielen unbekannten Hilfeleistungen,
die von Bäckerinnen und
Hausfrauen, Bauern, Diplomaten,
Geistlichen, Polizisten, Soldaten,
Beamtinnen und Beamten der Zivilverwaltung
erbracht wurden; ob erfolgreich
oder missglückt, sie konnten
den Gang der Geschichte nicht
aufhalten, ihm aber in die Speichen
greifen – wofür ihnen unsere Anerkennung
zusteht. Sie zu verschweigen,
könnte fatale Folgen zeitigen.
• Brigitte und Gerhard Brändle.
Jüdische Kinder im Lager Gurs.
Gerettete und ihre RetterInnen. Israelitischen
Religionsgemeinschaft
Baden, Download: www.irg-baden.
de
• Bernard Delpal. Dieulefit. Rettungswiderstand
eines Dorfes in der
Provence während der Nazi-Besatzung.
Aus dem Frz. von Ursula Bös.
Brandes & Apsel. Ffm 2021
• Gérard Bollon. Le Chambon-sur-
Lignon d’hier et d’aujourd’hui. Ed.
Dalmazon 1999
• Jacques Semelin. Ohne Waffen gegen
Hitler. Eine Studie zum zivilen
Widerstand in Europa. Aus dem Frz.
von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag,
Göttingen 2021
Cornelia Frenkel
Auf der Suche nach den Tätern
Grafic Novel „Beate und Serge Klarsfeld. DIE NAZIJÄGER“
B
ilderzählungen sind ein
gutes Medium, um die
jüngere Generation für
ein Sachthema anzusprechen,
das versucht die Graphic
Novel „Beate & Serge Klarsfeld.
DIE NAZIJÄGER“. Schon der Titel
deutet an, dass dieses außergewöhnliche
Duo Spannungsreiches
vollbracht hat, woraus eine Geschichte
entsteht, die auf Thrillerkitsch
getrost verzichten kann,
denn sie führten einen gefährlichen
Kampf gegen größte Widerstände:
da sie nie akzeptiert haben, dass
Verbrechen verharmlost werden
und NS-Täter einfach davonkommen,
begannen sie diese aufzuspüren.
Der Autor Pascal Bresson
und der Zeichner Sylvain Dorange
zeigen dies mit Text und Bild auf,
nicht ohne Humor. Ihre Erzählung
bezieht sporadisch Privates ein, er-
gibt aber insbesondere einen Rückblick
auf die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg, in der Beate und Serge
Klarsfeld zu den politischen Personen
gehörten, die es sich nicht
leicht machten.
Die Wege von Serge Klarsfeld
(*1935), der als Kind knapp den
deutschen Besatzern entkam, während
sein Vater deportiert wurde,
und Beate A. Künzel (*1939 Berlin)
kreuzten sich 1960 in Paris. Aus
ihrer Liebe wurde bald eine Familie,
in der die Auseinandersetzung
mit NS-Verbrechen ins Zentrum
rückte. Zunächst kritisierte Beate
etwa in der Zeitschrift „Combat“,
dass Georg Kiesinger, der seine
Nazivergangenheit kaschierte, zum
Bundeskanzler gewählt wird. Daraufhin
wurde sie beim deutschfranzösischen
Jugendwerk (OFAJ)
entlassen. Um ihren Protest gegen
die NS-Verstrickung der jungen
Bundesrepublik öffentlich zu machen,
unternahm sie 1968 die berühmte
Ohrfeige, die nicht nur ein
enormes Medienecho hervorrief.
Unbeirrt führte das Ehepaar Klarsfeld
seinen strapaziösen Kampf fort,
erstellte Prozessakten und machte
Täter ausfindig, die im Nahen Osten,
in Südamerika und in der BRD
straffrei lebten, darunter die Herren
Hagen, Heinrichsohn, Lischka und
Brunner, und erreichten z.B., dass
der ehemalige Gestapo-Chef von
Lyon, Klaus Barbie, der in Bolivien
lebte, vor Gericht gestellt wurde.
Morddrohungen, bürokratische
Hindernisse und Gefängnisstrafen
vermochten sie nicht einzuschüchtern.
Sie zogen Kriminelle zur Verantwortung,
traten für die Rechte
der Geschädigten ein, entrissen die
Opfer der Shoah dem Vergessen und
erarbeiteten historische Standardwerke
wie „Vichy – Auschwitz“.
In den letzten Jahren söhnten sie
sich mit Deutschland aus, erhielten
2015 das Bundesverdienstkreuz für
ihr Lebenswerk und wurden zu UN-
ESCO-Sonderbotschaftern ernannt.
All dies macht die Graphic Novel
anschaulich und regt zu kritischem
Denken an.
Pascal Bresson & Sylvain Dorange.
BEATE & SERGE KLARSFELD.
DIE NAZIJÄGER. Aus dem Frz.
von Christiane Bartelsen. 208 S.,
farbig. Carlsen Verlag 2021
Cornelia Frenkel
Starte jetzt dein Projekt auf:
> schwarzwald-crowd.de
250 Euro Weihnachtsbonus sichern
Wir belohnen Crowdfunding-Projekte in diesem Jahr mit einem zusätzlichen
Weihnachtsbonus. Die ersten zehn Projekte, die im Aktionszeitraum vom 1. bis
24. Dezember online sind, erhalten einen Startzuschuss in Höhe von 250 Euro.