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Kaddisch für einen Freund

Meine Freundschaft mit Peter hatte ungewöhnlich tiefe Wurzeln. Beide waren wir Kinder von jüdischen Kommunisten, die aus Hitler-Deutschland nach Belgien geflohen waren. In kommunistischen Kreisen in Antwerpen haben sich unsere Eltern kennengelernt. Nach dem Krieg beschlossen sie, sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen, Peters Eltern in der DDR, meine Eltern in Polen. Doch 1957 übersiedelte unsere Familie in die DDR. Mein Vater nahm Kontakt zu seinen alten Freunden aus Antwerpen auf. Ich lernte Peter kennen und freundete mich mit ihm an. Beide waren wir atheistisch orientiert und in jüdischen religiösen Riten völlig unbewandert. Und doch hatten wir ein tief empfundenes Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk. Ich ging 1977 in den Westen den Peter erst kurz vor dem Fall der Mauer. Wir blieben bis zu seinem Tod einander freundschaftlich verbunden. Er hatte nicht als Jude gelebt, wurde aber als als Jude bestattet. Ich sprach für ihn das Kaddisch.

Meine Freundschaft mit Peter hatte ungewöhnlich tiefe Wurzeln. Beide waren wir Kinder von jüdischen Kommunisten, die aus Hitler-Deutschland nach Belgien geflohen waren. In kommunistischen Kreisen in Antwerpen haben sich unsere Eltern kennengelernt. Nach dem Krieg beschlossen sie, sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen, Peters Eltern in der DDR, meine Eltern in Polen. Doch 1957 übersiedelte unsere Familie in die DDR. Mein Vater nahm Kontakt zu seinen alten Freunden aus Antwerpen auf. Ich lernte Peter kennen und freundete mich mit ihm an. Beide waren wir atheistisch orientiert und in jüdischen religiösen Riten völlig unbewandert. Und doch hatten wir ein
tief empfundenes Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk. Ich ging 1977 in den Westen den Peter erst kurz vor dem Fall der Mauer. Wir blieben bis zu seinem Tod einander freundschaftlich verbunden. Er hatte nicht als Jude gelebt, wurde aber als als Jude bestattet. Ich sprach für ihn das Kaddisch.

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Meine Freundschaft mit Peter hatte ungewöhnlich tiefe

Wurzeln. Beide waren wir Kinder von jüdischen Kommunisten,

die aus Hitler-Deutschland nach Belgien geflohen

waren. In kommunistischen Kreisen in Antwerpen haben

sich unsere Eltern kennengelernt. Nach dem Krieg beschlossen

sie, sich am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen,

Peters Eltern in der DDR, meine Eltern in Polen. Doch

1957 übersiedelte unsere Familie in die DDR. Mein Vater

nahm Kontakt zu seinen alten Freunden aus Antwerpen

auf. Ich lernte Peter kennen und freundete mich mit ihm

an.

Beide waren wir atheistisch orientiert und in jüdischen religiösen

Riten völlig unbewandert. Und doch hatten wir ein

tief empfundenes Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen

Volk, das sich nach dem Sieg Israels über die arabischen

Feinde im Jahre 1967 zum Stolz steigerte. Nach dem

Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die

Tschechoslowakei 1968 verloren wir den Glauben an einen

humanen, demokratischen Sozialismus. Ich ging 1977 in

den Westen, Peter erst kurz vor dem Fall der Mauer. Wir

blieben bis zu seinem Tod einander freundschaftlich verbunden.

Er hatte nicht als Jude gelebt, wurde aber als Jude bestattet.

Ich sprach für ihn das Kaddisch.


Gabriel Berger

K a d d

s c h

für meinen Freund


Textlayout: Gabriel Berger

Druck und Bindung:

© Gabriel Berger


Mit Peter Schreier verband mich seit der Kindheit

eine besondere Freundschaft. Hören kulturbeflissene

Menschen höheren Alters, so auch viele meiner

Freunde, den Namen Peter Schreier, erstarrten sie in

Ehrfurcht, denn sie assoziierten mit diesem Namen

den weltberühmten Dresdener Tenor-Sänger. Mein

Freund Peter Schreier, von dem hier die Rede sein soll,

trug aber rein zufällig den Namen jenes berühmten

Opernsängers, hatte jedoch, außer der sächsischen

Geburtsstadt Meißen, mit ihm nichts Gemeinsames

und besonders nicht das musikalische Talent. Mit dem

war aber sein Bruder Martin bedacht, der Schlagzeuger,

Sänger und Leiter der Rockband „Sterncombo Meißen“,

die in der DDR bis zur Wende einen Kultstatus genoss

und noch heute in Ostdeutschland ihre inzwischen

ergrauten oder glatzköpfigen Fans hat. Martins Bruder

Peter war zwar weniger musikalisch, machte aber mit

seinem Stimmorgan dem Familiennamen Schreier alle

Ehre. Denn die für ihn normale Stimmlage erreichte

fast die eines Opernsängers würdige Lautstärke, die

man ohne weiteres als Schreien interpretieren konnte.

Peters aufdringliche, lautstarke Präsenz, besonders in

der Öffentlichkeit, hatte vermutlich mit seiner etwas

klein geratenen Körpergröße zu tun, die er von seinen

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beiden Eltern geerbt hatte. Wohl konnte es in einer

Menschenmenge vorkommen, dass man ihn übersah,

nicht aber, dass man ihn überhörte.

Unsere Beziehung hatte ungewöhnlich tiefe Wurzeln,

denn uns verband das gemeinsame Schicksal unserer

Eltern. Sie kannten sich aus Antwerpen, wo sie alle vier

noch vor dem Krieg als jüdische Emigranten gelebt

hatten. Beide Väter waren als Kommunisten, gleich

nach Hitlers Machtantritt, aus Deutschland geflohen.

Die beiden Mütter hatten polnische Wurzeln, meine

Mutter war selbst aus Polen nach Belgien gekommen,

Peters Mutter schon in Belgien geboren. Was die vier

verband, war die Sprache Jiddisch und der Glaube an

eine bessere, kommunistische Zukunft. Der deutsche

Einmarsch beendete den Kontakt beider Paare. Peters

Eltern überlebten die Naziherrschaft im belgischen,

meine im französischen Untergrund. So wurde ich

kurz vor Kriegsende in Südfrankreich geboren, Peter

dagegen kurz nach dem Krieg in Belgien. In Antwerpen

begegneten sich die beiden Paare nach dem Krieg

wieder. Sie entschieden sich, voneinander unabhängig,

im sowjetisch besetzten Teil Europas ihren kommunistischen

Traum einer menschlichen, sozialistischen

Gesellschaft zu verwirklichen, Peters Eltern in der

Ostzone Deutschlands, meine Eltern in Polen.

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Neun Jahre dauerte die Gastrolle unserer Familie

in der polnischen, vor dem Krieg deutschen Stadt

Breslau. Mit meiner drei Jahre älteren Schwester Rosette

und zwei Stiefschwestern, Frida und Irena, den

Töchtern meiner Stiefmutter Dora, die mein Vater in

Antwerpen nach dem Tod meiner Mutter geheiratet

hatte, wuchs ich weitgehend ohne Konflikte in einem

säkularen jüdischen Milieu auf. Ich hatte viele polnische

und jüdische Freunde und es war für mich als

Kind unvorstellbar, Polen zu verlassen. Ganz anders

gestaltete sich das Leben meines Vaters in der polnischen

Erwachsenenwelt, es verlief nicht konfliktfrei.

Mag sein, dass man ihn in der Breslauer Waggonfabrik,

wo er als Hauptbuchhalter arbeitete, als übereifrigen

Kommunisten und peniblen Kritikaster nicht gerade

mochte. Stein des Anstoßes war aber weniger sein

Übereifer, als seine jüdische Herkunft. Das erkannte

er spätestens nach seiner Entlassung aus der Arbeit

und der demonstrativen Aufforderung seiner Kollegen,

er solle nach Israel auswandern. Da er für sich

und seine Familie in Polen keine Perspektive mehr

sah, beschloss er, das Land zu verlassen, aber nicht in

das kapitalistische, zionistische Israel, sondern in die

sozialistische DDR zu emigrieren. Die DDR gewährte

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unserer Familie großzügig Asyl. So kam ich also 1957

dreizehnjährig nach Leipzig.

In der DDR suchte mein Vater alte Genossen. Er fand

einige Kommunisten aus seiner „guten alten Zeit“ vor

1933 in Berlin. Und er fand Esther und Israel Schreier,

seine alten Freunde aus Antwerpen. Sie lebten in der

idyllischen sächsischen Kleinstadt Meißen und wurden

zu unserer ersten Anlaufstelle in der DDR. Gleich

freundete ich mich mit deren Sohn Peter an, der ein

Jahr jünger war als ich, während mir sein vier Jahre

jüngerer Bruder Martin als Spielkamerad damals als

zu jung erschien. Die Eltern der beiden Jungen hatten

sich in Meißen bestens etabliert. Isi, so wurde der Vater

Israel in seiner Familie gerufen, war Dozent für Marxismus-Leninismus

an der Landwirtschaftshochschule,

Esther im Kreis Meißen verantwortlich für Handel und

Versorgung und in der Stadt bekannt wie ein bunter

Hund. Denn sie sprach nicht das in der Region übliche

breite sächsisch, vielmehr ihren eigenen Dialekt, ein

Gemisch aus Deutsch und Jiddisch. Sie war sehr resolut

und sehr laut. Peter hatte ohne Frage die Stimmgewalt

von seiner Mutter geerbt, im Gegensatz zu ihr sprach

er aber ein reines sächsisch, das auch später in Berlin

sein Markenzeichen bleiben sollte.

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Bei den Schreiers fühlten wir uns beide gleich wie

zu Hause, meine Schwester Rosette und ich. Und wir

verstanden uns mit ihnen sehr gut, trotz unserer anfangs

rudimentären deutschen Sprache, die wir von

Null an erlernen mussten. Esthers Herzlichkeit bedurfte

keiner Worte. Als Rosette Esther bat, ihre deutsche

Sprache zu korrigieren, winkte sie ab. Deutsch könne

sie ihr kaum beibringen, aber halb Meißen habe von

ihr Jiddisch gelernt, sagte sie nicht ohne Stolz.

Die Schreiers galten uns als reich, denn sie bewohnten

ein eigenes Einfamilienhaus, hatten schon ein damals

noch seltenes und teures Schwarz-Weiß-Fernsehgerät,

fuhren einen Trabant, und Esther, die „jiddische Mamme“,

verwöhnte die beiden Söhne, die sie über alles

liebte. Sie erfüllte ihnen alle Konsumwünsche: modische

Kleidung, Spielzeuge, Schalplatten mit aktuellen

Hits, Fahrräder. Als Verantwortlicher für Versorgung

des Kreises Meißen fiel ihr das, trotz des in der DDR

allgegenwärtigen Mangels, nicht besonders schwer. So

lebten also die Schreier-Söhne in einem für uns beneidenswerten

Wohlstand. Denn wir waren in Polen an

bittere Armut gewöhnt. Fahrräder etwa galten uns als

unerschwinglicher Luxus. Nicht einmal Schlittschuhe

konnten wir uns leisten, weshalb ich meine Klassen-

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kameraden beneidete, die sich an winterlichen Wochenenden

auf der Schlittschuhbahn trafen. Wohl hatten

wir Bücher und diverse Brettspiele, aber nur wenige

Spielzeuge. Kleidung wurde bei uns, bis auf Schuhe,

Strümpfe und Unterwäsche nicht gekauft, sondern

von unserer Stiefmutter zu Hause genäht, von einem

Mädchen auf das nächst jüngere weitergereicht, wenn

nötig geflickt und ausgebessert. Als frische Immigranten

aus Polen besaßen wir gar nichts. Während die beiden

Schreier-Söhne nach neuster Mode gekleidet waren und

sogar Jeans der Marke Levi-Strauss aus dem Westen

trugen, geriet unsere Familie in eine peinliche Lage,

als wir, meine fünfzehnjährige Stiefschwester Irena

und ich mit vierzehn Jahren in Leipzig zur Jugendweihe

erscheinen sollten. Denn wir hatten keine Kleidung, mit

der wir uns bei dem Fest präsentieren konnten. Onkel

Jupp aus Gelsenkirchen half uns mit einem Paket voll

Kleidung aus der Not heraus. Das akzeptierte mein

Vater ausnahmsweise, obwohl er als Kommunist für

den kapitalistischen Westen nichts als Schmähungen

und Schimpfworte übrighatte.

Nach einem Jahr in Deutschland waren meine

Deutschkenntnisse noch ziemlich dürftig. Meine Klassenkameraden

in der Leipziger Grundschule testeten

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mich, indem sie mich aufforderten: „Geh mal zum

Bäcker und hole dort Gewichte für die Wasserwaage.“

Verstanden hatte ich sie nicht, weil sie aber ihr Kichern

nicht unterdrücken konnten, verbat mir mein gesundes

Misstrauen ihrer Aufforderung zu folgen. Ich begriff auch

den Sinn der „Jugendweihe“ nicht richtig, außer dass

sie wohl eine Konkurrenz zur christlichen Konfirmation

sein sollte, was für mich, ein nichtreligiöses Kind,

sowieso ohne Belang war. Und von Bar Mitzwa, der

jüdischen Weihe, wusste ich damals nichts. Mit dem

offiziellen Fest war die Jugendweihe für mich erledigt.

Ich erhielt das Buch „Vom Ursprung der Dinge“ über

das Weltall und die Evolution von Einzellern bis zum

Menschen sowie eine Urkunde, auf der geschrieben

stand, dass ich nun in die sozialistische Gemeinschaft

der Erwachsenen aufgenommen war. Ganz anders

sah es ein Jahr später bei Peter in Meißen aus. Seine

Eltern arrangierten für ihn aus Anlass der Jugendweihe

einen Empfang in einem vornehmen Restaurant, mit

vielen Gästen und einem Gelage, wie zu einer Hochzeit.

Jeder der Gäste brachte ein Geschenk mit. Es

war eine weltliche Variante der Bar-Mizwa-Feier, die

unter den Juden meist mindestens ebenso prunkvoll

begangen wird.

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Die beiden Schreier-Söhne waren ihrem Äußeren,

aber auch ihrem Wesen nach sehr unterschiedlich.

Martin hatte die schwarzen lockigen Haare und die

dunklen Augen seiner ostjüdischen Mutter geerbt.

Sein Gesicht zierte eine große, leicht gebogene Nase.

Ende der sechziger Jahre ließ er sich, schon als Rockmusiker,

eine schwarze Löwenmähne wachsen, die

ihn zum Schwarm aller pubertierenden Mädchen in

Meißen machte. Er hielt aber eisern an seiner Auserwählten

Freundin fest, die er auch später heiratete.

Das widersprach dem verbreiteten Klischee über das

lockere, quirlige Leben der Rockmusiker ebenso, wie

seine meist besonnene, ruhige Art, mit der er wohl

nach seinem Vater geraten war.

Die krausen Haare seines Bruders Peter waren dagegen

blond, die Augen graublau, so wie man es den

Jeckes, den Juden aus Deutschland, in Israel nachsagte.

Sein Äußeres hatte er ohne Frage von seinem aus

Deutschland stammenden Vater geerbt. Nur wenn man

Peter genau ansah, konnte man in seiner Physiognomie

etwas Jüdisches erahnen. Vielleicht machte es die Mandelform

der Augen, vielleicht die schmale, vorn leicht

gebogene Nase. In jungen Jahren war seine Ähnlichkeit

mit Bob Dylan nicht zu verkennen und mit der Brille

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auf der Nase glich sein Gesicht im fortschreitenden

Alter immer mehr dem von Leo Trotzki.

Mit der Haarfarbe hat es bei den Juden eine besondere

Bewandtnis. Denn die Nichtjuden pflegen oft

stereotype Vorstellungen über äußere Merkmale der

Juden zu haben. Dazu gehört eine mehr oder weniger

ausgeprägte Hakennase, dunkle, oft gekräuselte Haare

und dunkle Augen. In der Nazizeit war das der finstere

Gegentyp zu blonden, blauäugigen Germanen mit

einer geraden Nase, zum „arischen“ Schönheitsideal.

Deshalb haben sich Jüdinnen in der Nazi-Zeit oft die

Haare blondiert, um „arischer“ auszusehen und so ihre

Chancen zu verbessern, außerhalb des Ghettos auf der

„arischen“ Seite mit falscher Identität zu überleben.

Das tat während der deutschen Besatzung in Belgien

auch Esther, die Mutter von Peter und Martin, was

aber bei ihrer großen, durchaus „jüdischen“ Nase

nicht einer bitteren Komik entbehrte. Und so gesehen

sah der schwarzhaarige Martin jüdischer aus als sein

blonder Bruder Peter.

Im Gegensatz zu dem eher zurückhaltend wirkenden

Martin lenkte Peter mit lauter Stimme in jeder Gesellschaft

die Aufmerksamkeit auf sich, was oft kindisch

und unseriös wirkte. Er konnte aber, wenn es um ihn

interessierende Themen ging, logisch stringent und

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eloquent argumentieren, was später im Beruf des

Anwalts für ihn sehr hilfreich werden sollte.

Peters Idol war in der Kindheit Charlie Chaplin,

dessen watschelnden Entengang mit nach außen gekehrten

Füßen er so intensiv nachahmte, dass er ihm

zur Gewohnheit wurde und bis ins hohe Alter sein

Markenzeichen blieb. Man konnte ihn schon vom Weiten

am Gang erkennen. Mit seiner recht kleinen, eher

zierlichen Statur wirkte er zudem nicht sehr männlich,

doch als Teenager konnte sich Peter, vermutlich wegen

seiner forschen Art, nicht über mangelnden Erfolg bei

Mädchen beklagen. Daran, dass seine Partnerinnen

mindestens einen halben Kopf größer als er zu sein

pflegten, musste er sich allerdings gewöhnen. Mit seinem

zur Schau getragenen, machohaften Selbstbewusstsein

kompensierte er die klein geratene Statur. Außerdem

war er, was man ihm gar nicht ansah, ziemlich stark

und mutig, was sich in der kleinstädtischen Atmosphäre

abendlicher Tanzvergnügungen als vorteilhaft erwies,

wenn es mal zu einer Rauferei um eine in Meißen begehrte

Schönheit kam. Gern demonstrierte er seine

Kraft mit dem Armdrücken auf einem Tisch, bei dem

er mich regelmäßig besiegte, obwohl ich ihn um einen

halben Kopf überragte.

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Nicht zu lachen hatten bei ihm die Antisemiten, falls

er zufällig solchen begegnete. Irgendwann saß Peter

in einem Lokal und erlauschte ein Gespräch, das ein

etwa zwanzigjähriger junger Mann am Nebentisch mit

deutlich polnischem Akzent führte. „Die Juden sitzen

in Polen in führenden Positionen und lassen nur ihre

Leute hochkommen. Die Polen haben in ihrem eigenen

Land keine Chancen, weil die jüdische Mafia das Land

regiert und aussaugt.“ Das und ähnliche „Weisheiten“

erzählte der Pole seiner jungen deutschen Tischpartnerin.

In Peter kochte es, er saß wie auf Kohlen. Mit

Antisemiten, das war der Grundsatz, den die Eltern

den beiden Söhnen seit ihrer frühsten Kindheit vermittelt

hatten, diskutiert man nicht. Ihnen zeigt man

entschieden die Rote Karte. Nachdem der Pole gezahlt

und mit der jungen Frau das Lokal verlassen hatte,

sprang Peter auf und eilte den beiden hinterher. Er

überholte sie, postierte sich vor ihnen und sagte zu

dem Mann: „Für deine Sprüche über die Juden“. Er

holte aus, verpasste ihm in sein verdutztes Gesicht

einen Kinnhaken und rannte schnell davon.

Als sich Peter mit Anfang zwanzig, dem in der DDR

üblichen Heiratsalter, immer noch nicht für eine Partnerin

entscheiden konnte, sprach seine Mutter ein

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Machtwort. Er solle doch die Bärbel, mit der er seit

Jahren mehr oder weniger kontinuierlich das Bett teilte,

endlich heiraten. Äußerlich war Bärbel eine typische

Friseuse, der Traum vieler Männer, vermutlich auch

vieler kleiner Mädchen. Denn mit den dunkel oder

kastanienbraun gefärbten, akkurat frisierten Haaren

glich sie einer Barby-Puppe: Hübsches, zu jeder Tageszeit

geschminktes Gesicht, blaue Augen, schlanke,

sportliche Statur, schmale Taille und breite Hüfte, hohe

Absätze, und als Blickfang für die Männer der voluminöse

Busen, den sie mit einem damals modischen

Büstenhalter zu zwei kegelförmigen Spitzen formte. Da

waren Peters schnelle Fäuste sehr angebracht, denn

Bärbels Anblick bereitete manch einem jungen Mann

schlaflose Nächte. Peter beugte sich schließlich dem

Drängen seiner Mutter und gab sein Lotterleben auf.

Die beiden heirateten.

Dass Bärbel eine Nichtjüdin war, ist für Peters

weltoffene Eltern kein Problem gewesen, obwohl es

für die beiden sehr wichtig war, Juden zu sein, was

sie auch nach außen nie verbargen. Sie hatten die

beiden Jungen beschneiden lassen, waren Mitglieder

der Dresdner jüdischen Gemeinde und sahen darin

keinen Widerspruch zu ihrer Mitgliedschaft in der

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kommunistischen SED. Damit unterschieden sie sich

sehr von meinem Vater, der mich nicht beschneiden

ließ und, nachdem wir aus Polen in die DDR gekommen

waren, großen Wert darauflegte, dass er selbst

und seine Kinder nicht als Juden auffielen, so sehr war

ihm die polnische Erfahrung der Ausgrenzung als Jude

in die Knochen gefahren. In Polen ist er ganz in das

säkulare jüdische Milieu Breslaus integriert gewesen,

hatte kaum andere Freunde und Bekannte als Juden,

sprach mit ihnen Jiddisch. Dagegen lehnte er in der DDR

eine Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde strikt

ab. Folgerichtig ließ er irgendwann die Verbindung zu

den Schreiers einschlafen. Sie waren ihm zu jüdisch.

Im Bücherschrank meines Vaters entdeckte ich einen

reich bebilderten dicken Band des deutsch-jüdischen

Sexualforschers Magnus Hirschfeld über sexuelle Organe

und sexuelle Bräuche von Naturvölkern. Als pubertierender

Junge vertiefte ich mich in die ungewöhnlich

interessanten, exotischen Kulturphänomene in Asien,

Afrika, Polynesien, Südamerika. Bei genauer Betrachtung

der Bilder von Sexualorganen entdeckte ich an mir

einen kleinen Defekt, der in medizinischer Fachsprache

Phimose genannt wird. Die Vorhaut war bei mir zu

eng geraten. Erst mit neunzehn Jahren fasste ich den

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Mut, mich diesbezüglich an einen Arzt zu wenden. In

einer Leipziger Klinik wurde das störende Stück Haut

von meinem männlichen Teil entfernt. Als mich meine

aus dem Städtl Nižny Verechi bei Mukatschevo in der

Karpatoukraine stammende Stiefmutter Dora in der

Klinik besuchte, kommentierte sie den kleinen Eingriff:

„Du wolltest nicht kein Jidd sein, jetzt bist du a Jidd.“

Im Gegensatz zu meinem Vater, der mich und meine

Schwester ermahnte, nie unseren jüdischen Hintergrund

preiszugeben, vermittelten die Schreiers den beiden

Söhnen, jenseits jeder Religiosität, einen Stolz, Juden

zu sein. Sie sollten sich nicht ängstlich wegducken,

nicht ihre jüdische Identität verschweigen. Namen von

Dutzenden jüdischen Nobelpreisträgern, Schriftstellern,

Künstlern, Musikern, Wissenschaftlern, von jüdischen

Kämpfern gegen die Nazis konnte Peter aus dem Kopf

aufsagen. Gemessen an der geringen Anzahl der Juden

in der Welt waren es unvorstellbar viele. Allein das war

Grund genug, als Jude erhobenen Hauptes zu stolzieren.

Und die israelischen Kibbuzim betrachtete Peter

als gelungene kommunistische Gemeinschaften, dazu

noch, ganz im Gegensatz zur DDR, auf der Basis völliger

Freiwilligkeit. Zum politischen System der DDR, das nur

durch die Mauer überleben konnte, darin waren wir

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uns beide spätestens seit Mitte der sechziger Jahre

einig, stand Peter, ganz im Gegensatz zu seinen Eltern,

auf Kriegsfuß. In einem Punkt verteidigte er aber den

Staat. Niemals, so versicherte er mir nach der Wende

von 1989, sei er in der DDR vonseiten der Behörden

mit einem Antisemitismus konfrontiert gewesen, wenn

man von der Haltung zu Israel absieht. Sicher habe es

in der DDR Antisemiten gegeben, das Gegenteil wäre

wohl in Deutschland nach der Nazizeit ein Wunder

gewesen. Aber zumindest habe es niemand gewagt,

ihn als Juden zu beleidigen, weil alle wussten, welche

furiose Reaktion seinerseits sie damit auslösen würden.

So war es in Meißen und später auch in Leipzig, wo

Peter an der Universität ein Lehrerstudium bestritt,

für niemanden ein Geheimnis, dass er ein Jude war.

Und Peter hatte damit keine Probleme, zumindest im

Prinzip.

Einer von Peters Leipziger Kommilitonen war ein

Ägypter. Nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967,

bei dem die israelische Armee die hochgerüsteten

Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens spektakulär

geschlagen hatte, sprach der Ägypter Peter in der

Mensa an: „Du hast doch verwandte in Israel, ist es

so?“ „Ja“, antwortete Peter nichts ahnend, worauf

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der Ägypter erwiderte: „Dann werde ich sie dort in

Stücke zerhacken, sie in einen Sack stecken und ihn

dir vor die Füße werfen“. In Peter kochte es. Obwohl

er in Konfliktsituationen zu lautstarken Ausbrüchen

neigte, hielt er ausnahmsweise seine Wut zurück,

wurde nicht handgreiflich. „Dafür wirst du büßen“,

zischte er mit zugekniffenen Augen und eilte zum

Prorektorat der Universität Leipzig. „Der ägyptische

Student“, er nannte seinen Namen, „betreibt antisemitische

Nazipropaganda“, sagte er im Sekretariat,

fest davon überzeugt, die Universitätsleitung als Vertreter

des antifaschistischen Staates DDR würde ihn

vor dem rassistischen Angriff des Ägypters schützen.

Stattdessen wurde er aber eindringlich ermahnt, seine

„zionistische Propaganda“ für Israel einzustellen.

Es kam zu einem heftigen Wortgefecht, bei dem

Peter das Recht Israels, die von den Nachbarstaaten

geplante Vernichtung des Staates einschließlich seiner

jüdischen Bevölkerung zu verhindern, verteidigte. Das

widersprach aber der politischen Linie der DDR, nach

der Israel ein imperialistischer Aggressor im Dienst

der USA gewesen ist. Nicht der Ägypter, Peter stand

nun am Pranger und wurde schließlich wegen seiner

„untragbaren politischen Haltung“ von der Universität

Leipzig verwiesen.

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Das war ein Schlag nicht nur für ihn, sondern ganz

besonders für seine Eltern, die nicht nur etabliert waren,

sondern die DDR als ihre ideelle, sozialistische Heimat

aus vollem Herzen vertraten und vor böswilligen Angriffen

der „Klassenfeinde“ verteidigten. Jetzt kamen

sie aber ins Grübeln, nicht so sehr wegen ihres Sohnes,

der sich aufbrausend und deshalb wie ein Dummkopf

verhalten habe. Die Reaktion der Universitätsleitung

hatte sie im Inneren getroffen. Denn so sehr die DDR

ihr Staat gewesen ist, so sehr schlug ihr Herz auch für

Israel. Zahlreiche Verwandtschaft von ihnen war vor

den Nazis nach Palästina geflohen, lebte jetzt dort und

engagierte sich für die Stärkung des jüdischen Staates.

Die Schreiers konnten die Angriffe der Zeitungen und

des Fernsehens der DDR auf Israel als einen „zionistischen

Aggressor“ und als „Schoßhündchen der USA“

kaum ertragen, umso mehr als sie wussten, dass eine

öffentliche Kritik an dieser plumpen, an die Nazizeit

erinnernden Propaganda sie die Karrieren kosten

könnte. Nach außen hielten sie sich zurück, unter sich

und im Kreis jüdischer Freunde, alle wie sie Mitglieder

der SED, äußerten sie aber ihre Bewunderung für den

grandiosen Sieg der israelischen Armee über die, wie

es vorher schien, kaum zu bezwingende arabische

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Übermacht, die zudem von der mächtigen Sowjetunion

mit Waffen und Militärberatern unterstützt wurde.

Ganz anders sah mein Vater die Lage. In einem Brief

an seinen in Israel lebenden jüngeren Bruder Ephraim

richtete er an ihn die rhetorische Frage: „Wie fühlt

man sich in einem Land, das seine Nachbarn heimtückisch

überfällt?“ Kein Wunder, dass mein Vater mit

Juden keinen Kontakt mehr haben wollte, nun aber

ebenso sein Bruder Ephraim mit ihm. Doch auch mir,

seinem Sohn, konnte er seinen radikal ablehnenden

Standpunkt zu Israel nicht vermitteln. Denn, wie bei

vielen Juden in der DDR, erwachten in mir nach dem

Sechstagekrieg Stolz und Trotz.

Wie in allen Betrieben und Institutionen der DDR

fanden auch an der Technischen Universität Dresden

Veranstaltungen statt, bei denen die „imperialistische

Aggression Israels gegen die friedliebenden arabischen

Nachbarvölker“ scharf verurteilt wurde. Und alle anwesenden

Studenten sollten der Protestresolution

gegen die „israelische Aggression“ mit erhobener

Hand zustimmen. Anlässlich einer solchen Propagandaveranstaltung

im großen Physik-Hörsaal meldete

ich mich zu Wort und sagte: „Als Jude solidarisiere ich

mich mit dem Kampf Israels gegen seine Feinde, deren

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erklärtes Ziel es ist, den Staat Israel zu vernichten.“

Ganz anders als bei Peter an der Universität Leipzig

blieb mein Auftritt ohne Folgen. Ich hatte mich also,

entgegen dem Ratschlag meines Vaters, als Jude geoutet.

Nun wurde im Kreis meiner Kommilitonen der

Fachrichtung Physik aus aktuellem Anlass und nicht

zuletzt um mich zu provozieren geschlussfolgert, dass

die Juden wohl selbst die Schuld daran trügen, wenn

sie zu allen Zeiten und in allen Ländern gehasst und

verfolgt worden seien.

Anlässlich meines Besuchs in Meißen stöberte Peters

Vater Isi im Bücherschrank und überreichte mir

eine alte Propagandabroschüre des Zentralkomitees

der SED aus dem Jahr 1948. Darin wurde die Ausrufung

des Staates Israel geradezu euphorisch begrüßt

und Israel als eine fortschrittliche Bastion gegen den

britischen Imperialismus und die feudale arabische

Reaktion gepriesen. Nur wenige Jahre später wurden

aber im Nahen Osten die Karten neu gemischt. Der

Suez-Kanal und die Ölquellen, bis dahin im britischen

und französischen Besitz, wurden von arabischen

Staaten nationalisiert und alles drehte sich auf den

Kopf: Israel war nun der Böse, Araber die Guten und

als solche Freunde der sozialistischen Staaten.

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Esther und Isi mussten für ihren gestrauchelten

Sohn die Feuerwehr spielen, ihn aus der Schusslinie

der Staatssicherheit nehmen. Durch gute Kontakte

zu Genossen im Zentralkomitee der SED, die wie sie

als Juden die Nazizeit in der Westemigration überlebt

hatten, gelang es ihnen, die „Dummheit“ ihres Sohnes

auszubügeln. Schon im nächsten Jahr begann er in

Berlin mit dem Jura-Studium, das eigentlich nur ideologisch

gefestigten jungen DDR-Bürgern offenstand.

Aus Rücksicht auf die als Kommunisten bewährten

Eltern gaben die Genossen ihrem Sohn Peter noch

eine Chance. Und obwohl er kein fleißiger Student war

und die Ostberliner Kneipen vermutlich besser als die

Lehrbücher kannte, nutzte er die ihm gebotene Chance

und beendete schließlich sein Studium.

Das Jahr 1968 war für Peter und für mich ein

Schicksalsjahr. Beide waren wir euphorische

Anhänger des tschechoslowakischen Reformers Alexander

Dubček, der die kommunistische Partei zum

Motor der Umwandlung des verkrusteten, stalinistischen

in ein demokratisches Staatssystem gemacht

hatte. Der mutige Kurs der Öffnung des bis dahin, wie

der ganze Ostblock, mit Brettern vernagelten Staates

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