Neue Szene_21-10_Epaper
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Gästeblog
Als Nausikaa mich eines Morgens im März
Aletzten Jahres sanft weckte – denn ich war
Adiese Woche fürs Frühstückmachen zuständig
A–, fuhr ein jäher Erkenntnisschock in meine
Glieder, der mich für geraume Zeit im Bett
erstarren ließ. Denn vor meinem inneren Auge
enthüllte die immer näher rückende Covid-19
-Krise unvermittelt ihr wahres Wesen. Corona
ist, dachte ich, eine kalte Revolutionärin, die
sämtliche Lebensbereiche radikal umpflügen
würde. Ich sah die Politik unter Druck geraten.
Wie würde sie mit der Gesundheit ihrer
Bürger*innen umgehen? Würden die von der
Bevölkerung geforderten harschen Einschränkungen
soziale Zustimmung finden? Die
physische Entleerung des öffentlichen Raumes,
leere Stadien, die verwaisten Bahnhöfe und
karg besetzten Züge verhießen nichts Gutes,
wenn man darauf baut, dass Demokratie den
öffentlichen Raum zur Auseinandersetzung
dringend benötigt. Der Staat versprach, alles
in den Kampf gegen die Krise zu investieren.
Folgten aus den massiven öffentlichen
Investitionen in die Krisenbewältigung für
die Kultur, die doch mein berufliches Leben
als leidenschaftlichen Museumsmacher
bestimmt, dass kaum mehr Geld für Theater,
Museen, Orchester oder Bands zur Verfügung
stehen würde. Wann wird der Steuerzahler die
gewaltige Miete der Krise zu bezahlen haben?
Wenn eine Gesellschaft in existentieller Not
einen Lockdown erlebt, der zynischerweise
beweist, dass sich Kultur auch über Monate
aussetzen lässt, führt dies zu der Erkenntnis,
dass eine Reihe von Kultureinrichtungen
für die Zukunft verzichtbar wäre. Und nicht
zuletzt beschäftigte mich, was Corona für den
Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedeutet,
die zu sozialer Distanz verurteilt wurde. Es
zeigte sich ein merkwürdiges Paradox, dass
eine Gesellschaft eine Krise nicht durch engeres
Zusammenrücken, sondern durch soziale
Entfernung bestehen wollte – statt gesellschaftlicher
Wärme empfahl sich die Kälte des
menschlichen Abstands.
All diese Corona-Gedanken fluteten meinen
Kopf, und ich lag immer noch wie paralysiert
im Bett, als Nausikaa mich bestimmt daran erinnerte,
dass nun endlich die Zeit fürs Frühstück
gekommen sei, das ich dann eilends vorbereitete.
Ich selbst machte mich nach meiner Morgendusche
flugs auf den Weg ins Büro.
Mir war klar: Im Lichte dieser Herausforderung
muss Kultur mehr denn je ihre soziale
Relevanz beweisen. Und Museen wie das tim
müssten demonstrieren, dass ihr Einsatz für
das historische Erbe der Stadt und des Landes
durch nichts zu ersetzen sei. Denn Kultur ist
systemrelevant.
„Who cares?
Solidarität neu
entdecken“
Deshalb versammelte ich mein kuratorisches
Team, und gemeinsam gingen wir auf
die Suche, wie das tim inhaltlich auf die Krise
reagieren müsse. In den Gesprächen kristallisierte
sich ein Begriff heraus, der im Zusammenhang
mit Corona zunehmend zu hören
war: Solidarität. Damit war das neue Ausstellungsthema
gefunden. Wir wollten erkunden,
wie grundlegend Solidarität als soziales
Prinzip für eine Gesellschaft sei. Oder handelte
es sich dabei nur um eine Worthülse, die
Politiker*innen allzu willfährig in den Mund
nahmen? Mit Unterstützung der Universität
Augsburg ging das tim daran, Solidarität als
besondere Form menschlicher Unterstützung
in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu
untersuchen. So ist die Ausstellung „Who cares?
Solidarität neu entdecken“ entstanden, die seit
Juli dieses Jahres im tim zu besichtigen ist. Die
Ausstellung betrachtet ganz unterschiedliche
Bereiche unserer Gesellschaft – sowohl historisch
als auch in der Gegenwart. Eine Sphäre,
in der Solidarität traditionell eine bedeutsame
Rolle spielt, begegnet im Arbeitsleben. Erst in
der Formierung der Gewerkschaften seit Ende
der 1860er Jahren erlaubte der solidarische
Zusammenschluss der Arbeiterschaft, der
deren Interessen dem Arbeitgeber gegenüber
vertrat – notfalls auch mit Hilfe von Streiks.
Das Solidaritätsprinzip steht jedoch auch im
Mittelpunkt unseres Versicherungswesens, wie
etwa bei der Krankenversicherung, die auf einer
Solidargemeinschaft der Versicherten beruht –
eine sehr konkrete Ausformung des Sozialstaats,
der uns ansonsten doch so abstrakt vorkommt.
Besonders eindringlich erscheint uns das Engagement
solidarischen Handelns beim Themenkreis
„Flucht und Asyl“. Geflüchtete aus dem
Mitteleer zu retten, stellt einen humanitären
Akt dar. Menschen dabei zu unterstützen, damit
sie gleiche Lebens- und Entwicklungsbedingungen
erhielten, kann dagegen als solidarische
Tätigkeit verstanden werden. Die gilt auch für
die Klimakrise, in der der Globale Norden, der
bei Weitem das meiste CO2 produziert, aufgerufen
ist, dem Globalen Süden beizustehen, der
am stärksten unter der Klimakatastrophe leidet.
Und wie sieht es mit unserem Konsum aus?
Kann es in der Textilindustrie gerecht zugehen,
wenn ein T-Shirt nur 1,85 Euro kostet? Müsste
es nicht Aufgabe unserer Gesellschaft sein, uns
solidarisch mit den Näher*innen in Bangladesch
zu erweisen?
All den vorstehenden Fragen versucht die
Ausstellung im tim, die noch bis Januar 2022
zu sehen ist, nachzugehen. Die Schau will mit
sinnlichen Mitteln den Besucher*innen Lust
machen, sich mit dem weitgespannten Thema
Solidarität zu beschäftigen. Ich bin persönlich
davon überzeugt, dass ohne Solidarität eine
gerechte Gesellschaft gar nicht bestehen kann.
Denn Solidarität ist diejenige soziale Kraft,
die unserem hemmungslosen Egoismus eine
gesellschaftliche Verpflichtung entgegensetzt.
Dabei ist Solidarität niemals als ein Almosen
zu verstehen, sondern als eine Hilfe auf
Augenhöhe, die auf die Ermächtigung des
Gegenübers zielt.
Als ich an jenem Märzmorgen nach einem
langen Bürotag – den eingangs geschilderten
Erkenntnisschock noch im Bewusstsein –
wieder zuhause in meiner Wohnung angelangt
war, empfing mich Nausikaa bereits an der
Tür und umschmeichelte mich charmant.
Offensichtlich war schon Zeit fürs Abendessen.
Nachdem ich unsere Main-Coon-Katze
schließlich gefüttert hatte, kehrte langsam
auch bei mir innerliche Ruhe ein. Wie die
Verantwortung für die Tierwelt gehört die
gesellschaftliche Solidarität zu den unbedingten
Verpflichtungen, die uns Menschen erst zu
Menschen machen.