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Gästeblog

Als Nausikaa mich eines Morgens im März

Aletzten Jahres sanft weckte – denn ich war

Adiese Woche fürs Frühstückmachen zuständig

A–, fuhr ein jäher Erkenntnisschock in meine

Glieder, der mich für geraume Zeit im Bett

erstarren ließ. Denn vor meinem inneren Auge

enthüllte die immer näher rückende Covid-19

-Krise unvermittelt ihr wahres Wesen. Corona

ist, dachte ich, eine kalte Revolutionärin, die

sämtliche Lebensbereiche radikal umpflügen

würde. Ich sah die Politik unter Druck geraten.

Wie würde sie mit der Gesundheit ihrer

Bürger*innen umgehen? Würden die von der

Bevölkerung geforderten harschen Einschränkungen

soziale Zustimmung finden? Die

physische Entleerung des öffentlichen Raumes,

leere Stadien, die verwaisten Bahnhöfe und

karg besetzten Züge verhießen nichts Gutes,

wenn man darauf baut, dass Demokratie den

öffentlichen Raum zur Auseinandersetzung

dringend benötigt. Der Staat versprach, alles

in den Kampf gegen die Krise zu investieren.

Folgten aus den massiven öffentlichen

Investitionen in die Krisenbewältigung für

die Kultur, die doch mein berufliches Leben

als leidenschaftlichen Museumsmacher

bestimmt, dass kaum mehr Geld für Theater,

Museen, Orchester oder Bands zur Verfügung

stehen würde. Wann wird der Steuerzahler die

gewaltige Miete der Krise zu bezahlen haben?

Wenn eine Gesellschaft in existentieller Not

einen Lockdown erlebt, der zynischerweise

beweist, dass sich Kultur auch über Monate

aussetzen lässt, führt dies zu der Erkenntnis,

dass eine Reihe von Kultureinrichtungen

für die Zukunft verzichtbar wäre. Und nicht

zuletzt beschäftigte mich, was Corona für den

Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedeutet,

die zu sozialer Distanz verurteilt wurde. Es

zeigte sich ein merkwürdiges Paradox, dass

eine Gesellschaft eine Krise nicht durch engeres

Zusammenrücken, sondern durch soziale

Entfernung bestehen wollte – statt gesellschaftlicher

Wärme empfahl sich die Kälte des

menschlichen Abstands.

All diese Corona-Gedanken fluteten meinen

Kopf, und ich lag immer noch wie paralysiert

im Bett, als Nausikaa mich bestimmt daran erinnerte,

dass nun endlich die Zeit fürs Frühstück

gekommen sei, das ich dann eilends vorbereitete.

Ich selbst machte mich nach meiner Morgendusche

flugs auf den Weg ins Büro.

Mir war klar: Im Lichte dieser Herausforderung

muss Kultur mehr denn je ihre soziale

Relevanz beweisen. Und Museen wie das tim

müssten demonstrieren, dass ihr Einsatz für

das historische Erbe der Stadt und des Landes

durch nichts zu ersetzen sei. Denn Kultur ist

systemrelevant.

„Who cares?

Solidarität neu

entdecken“

Deshalb versammelte ich mein kuratorisches

Team, und gemeinsam gingen wir auf

die Suche, wie das tim inhaltlich auf die Krise

reagieren müsse. In den Gesprächen kristallisierte

sich ein Begriff heraus, der im Zusammenhang

mit Corona zunehmend zu hören

war: Solidarität. Damit war das neue Ausstellungsthema

gefunden. Wir wollten erkunden,

wie grundlegend Solidarität als soziales

Prinzip für eine Gesellschaft sei. Oder handelte

es sich dabei nur um eine Worthülse, die

Politiker*innen allzu willfährig in den Mund

nahmen? Mit Unterstützung der Universität

Augsburg ging das tim daran, Solidarität als

besondere Form menschlicher Unterstützung

in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu

untersuchen. So ist die Ausstellung „Who cares?

Solidarität neu entdecken“ entstanden, die seit

Juli dieses Jahres im tim zu besichtigen ist. Die

Ausstellung betrachtet ganz unterschiedliche

Bereiche unserer Gesellschaft – sowohl historisch

als auch in der Gegenwart. Eine Sphäre,

in der Solidarität traditionell eine bedeutsame

Rolle spielt, begegnet im Arbeitsleben. Erst in

der Formierung der Gewerkschaften seit Ende

der 1860er Jahren erlaubte der solidarische

Zusammenschluss der Arbeiterschaft, der

deren Interessen dem Arbeitgeber gegenüber

vertrat – notfalls auch mit Hilfe von Streiks.

Das Solidaritätsprinzip steht jedoch auch im

Mittelpunkt unseres Versicherungswesens, wie

etwa bei der Krankenversicherung, die auf einer

Solidargemeinschaft der Versicherten beruht –

eine sehr konkrete Ausformung des Sozialstaats,

der uns ansonsten doch so abstrakt vorkommt.

Besonders eindringlich erscheint uns das Engagement

solidarischen Handelns beim Themenkreis

„Flucht und Asyl“. Geflüchtete aus dem

Mitteleer zu retten, stellt einen humanitären

Akt dar. Menschen dabei zu unterstützen, damit

sie gleiche Lebens- und Entwicklungsbedingungen

erhielten, kann dagegen als solidarische

Tätigkeit verstanden werden. Die gilt auch für

die Klimakrise, in der der Globale Norden, der

bei Weitem das meiste CO2 produziert, aufgerufen

ist, dem Globalen Süden beizustehen, der

am stärksten unter der Klimakatastrophe leidet.

Und wie sieht es mit unserem Konsum aus?

Kann es in der Textilindustrie gerecht zugehen,

wenn ein T-Shirt nur 1,85 Euro kostet? Müsste

es nicht Aufgabe unserer Gesellschaft sein, uns

solidarisch mit den Näher*innen in Bangladesch

zu erweisen?

All den vorstehenden Fragen versucht die

Ausstellung im tim, die noch bis Januar 2022

zu sehen ist, nachzugehen. Die Schau will mit

sinnlichen Mitteln den Besucher*innen Lust

machen, sich mit dem weitgespannten Thema

Solidarität zu beschäftigen. Ich bin persönlich

davon überzeugt, dass ohne Solidarität eine

gerechte Gesellschaft gar nicht bestehen kann.

Denn Solidarität ist diejenige soziale Kraft,

die unserem hemmungslosen Egoismus eine

gesellschaftliche Verpflichtung entgegensetzt.

Dabei ist Solidarität niemals als ein Almosen

zu verstehen, sondern als eine Hilfe auf

Augenhöhe, die auf die Ermächtigung des

Gegenübers zielt.

Als ich an jenem Märzmorgen nach einem

langen Bürotag – den eingangs geschilderten

Erkenntnisschock noch im Bewusstsein –

wieder zuhause in meiner Wohnung angelangt

war, empfing mich Nausikaa bereits an der

Tür und umschmeichelte mich charmant.

Offensichtlich war schon Zeit fürs Abendessen.

Nachdem ich unsere Main-Coon-Katze

schließlich gefüttert hatte, kehrte langsam

auch bei mir innerliche Ruhe ein. Wie die

Verantwortung für die Tierwelt gehört die

gesellschaftliche Solidarität zu den unbedingten

Verpflichtungen, die uns Menschen erst zu

Menschen machen.

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