42Zoom„Kulturmacht Sinn!“Dr. Karl Borromäus MurrMuseumsleiter des tim | Staatliches Textil-und Industriemuseum AugsburgFotos: Klaus Rainer KriegerDr. Karl B. Murr als Vorsitzender der European Museum Academybei der Verleihung des Europäischen Museumspreises ansChaplin Museum in der Schweiz
Zoom43GästeblogAls Nausikaa mich eines Morgens im MärzAletzten Jahres sanft weckte – denn ich warAdiese Woche fürs Frühstückmachen zuständigA–, fuhr ein jäher Erkenntnisschock in meineGlieder, der mich für geraume Zeit im Betterstarren ließ. Denn vor meinem inneren Augeenthüllte die immer näher rückende Covid-19-Krise unvermittelt ihr wahres Wesen. Coronaist, dachte ich, eine kalte Revolutionärin, diesämtliche Lebensbereiche radikal umpflügenwürde. Ich sah die Politik unter Druck geraten.Wie würde sie mit der Gesundheit ihrerBürger*innen umgehen? Würden die von derBevölkerung geforderten harschen Einschränkungensoziale Zustimmung finden? Diephysische Entleerung des öffentlichen Raumes,leere Stadien, die verwaisten Bahnhöfe undkarg besetzten Züge verhießen nichts Gutes,wenn man darauf baut, dass Demokratie denöffentlichen Raum zur Auseinandersetzungdringend benötigt. Der Staat versprach, allesin den Kampf gegen die Krise zu investieren.Folgten aus den massiven öffentlichenInvestitionen in die Krisenbewältigung fürdie Kultur, die doch mein berufliches Lebenals leidenschaftlichen Museumsmacherbestimmt, dass kaum mehr Geld für Theater,Museen, Orchester oder Bands zur Verfügungstehen würde. Wann wird der Steuerzahler diegewaltige Miete der Krise zu bezahlen haben?Wenn eine Gesellschaft in existentieller Noteinen Lockdown erlebt, der zynischerweisebeweist, dass sich Kultur auch über Monateaussetzen lässt, führt dies zu der Erkenntnis,dass eine Reihe von Kultureinrichtungenfür die Zukunft verzichtbar wäre. Und nichtzuletzt beschäftigte mich, was Corona für denZusammenhalt unserer Gesellschaft bedeutet,die zu sozialer Distanz verurteilt wurde. Eszeigte sich ein merkwürdiges Paradox, dasseine Gesellschaft eine Krise nicht durch engeresZusammenrücken, sondern durch sozialeEntfernung bestehen wollte – statt gesellschaftlicherWärme empfahl sich die Kälte desmenschlichen Abstands.All diese Corona-Gedanken fluteten meinenKopf, und ich lag immer noch wie paralysiertim Bett, als Nausikaa mich bestimmt daran erinnerte,dass nun endlich die Zeit fürs Frühstückgekommen sei, das ich dann eilends vorbereitete.Ich selbst machte mich nach meiner Morgenduscheflugs auf den Weg ins Büro.Mir war klar: Im Lichte dieser Herausforderungmuss Kultur mehr denn je ihre sozialeRelevanz beweisen. Und Museen wie das timmüssten demonstrieren, dass ihr Einsatz fürdas historische Erbe der Stadt und des Landesdurch nichts zu ersetzen sei. Denn Kultur istsystemrelevant.„Who cares?Solidarität neuentdecken“Deshalb versammelte ich mein kuratorischesTeam, und gemeinsam gingen wir aufdie Suche, wie das tim inhaltlich auf die Krisereagieren müsse. In den Gesprächen kristallisiertesich ein Begriff heraus, der im Zusammenhangmit Corona zunehmend zu hörenwar: Solidarität. Damit war das neue Ausstellungsthemagefunden. Wir wollten erkunden,wie grundlegend Solidarität als sozialesPrinzip für eine Gesellschaft sei. Oder handeltees sich dabei nur um eine Worthülse, diePolitiker*innen allzu willfährig in den Mundnahmen? Mit Unterstützung der UniversitätAugsburg ging das tim daran, Solidarität alsbesondere Form menschlicher Unterstützungin verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zuuntersuchen. So ist die Ausstellung „Who cares?Solidarität neu entdecken“ entstanden, die seitJuli dieses Jahres im tim zu besichtigen ist. DieAusstellung betrachtet ganz unterschiedlicheBereiche unserer Gesellschaft – sowohl historischals auch in der Gegenwart. Eine Sphäre,in der Solidarität traditionell eine bedeutsameRolle spielt, begegnet im Arbeitsleben. Erst inder Formierung der Gewerkschaften seit Endeder 1860er Jahren erlaubte der solidarischeZusammenschluss der Arbeiterschaft, derderen Interessen dem Arbeitgeber gegenübervertrat – notfalls auch mit Hilfe von Streiks.Das Solidaritätsprinzip steht jedoch auch imMittelpunkt unseres Versicherungswesens, wieetwa bei der Krankenversicherung, die auf einerSolidargemeinschaft der Versicherten beruht –eine sehr konkrete Ausformung des Sozialstaats,der uns ansonsten doch so abstrakt vorkommt.Besonders eindringlich erscheint uns das Engagementsolidarischen Handelns beim Themenkreis„Flucht und Asyl“. Geflüchtete aus demMitteleer zu retten, stellt einen humanitärenAkt dar. Menschen dabei zu unterstützen, damitsie gleiche Lebens- und Entwicklungsbedingungenerhielten, kann dagegen als solidarischeTätigkeit verstanden werden. Die gilt auch fürdie Klimakrise, in der der Globale Norden, derbei Weitem das meiste CO2 produziert, aufgerufenist, dem Globalen Süden beizustehen, deram stärksten unter der Klimakatastrophe leidet.Und wie sieht es mit unserem Konsum aus?Kann es in der Textilindustrie gerecht zugehen,wenn ein T-Shirt nur 1,85 Euro kostet? Müsstees nicht Aufgabe unserer Gesellschaft sein, unssolidarisch mit den Näher*innen in Bangladeschzu erweisen?All den vorstehenden Fragen versucht dieAusstellung im tim, die noch bis Januar 2022zu sehen ist, nachzugehen. Die Schau will mitsinnlichen Mitteln den Besucher*innen Lustmachen, sich mit dem weitgespannten ThemaSolidarität zu beschäftigen. Ich bin persönlichdavon überzeugt, dass ohne Solidarität einegerechte Gesellschaft gar nicht bestehen kann.Denn Solidarität ist diejenige soziale Kraft,die unserem hemmungslosen Egoismus einegesellschaftliche Verpflichtung entgegensetzt.Dabei ist Solidarität niemals als ein Almosenzu verstehen, sondern als eine Hilfe aufAugenhöhe, die auf die Ermächtigung desGegenübers zielt.Als ich an jenem Märzmorgen nach einemlangen Bürotag – den eingangs geschildertenErkenntnisschock noch im Bewusstsein –wieder zuhause in meiner Wohnung angelangtwar, empfing mich Nausikaa bereits an derTür und umschmeichelte mich charmant.Offensichtlich war schon Zeit fürs Abendessen.Nachdem ich unsere Main-Coon-Katzeschließlich gefüttert hatte, kehrte langsamauch bei mir innerliche Ruhe ein. Wie dieVerantwortung für die Tierwelt gehört diegesellschaftliche Solidarität zu den unbedingtenVerpflichtungen, die uns Menschen erst zuMenschen machen.