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Leseprobe Atlantis

Renzo Piano / Carlo Piano Auf der Suche nach Atlantis – Eine Reise durch die Architektur 160 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.90 | CHF 28 ISBN 978-3-03876-205-8 (Midas Kinderbuch)

Renzo Piano / Carlo Piano
Auf der Suche nach Atlantis – Eine Reise durch die Architektur
160 Seiten, Hardcover, Euro (D) 22 | Euro (A) 22.90 | CHF 28
ISBN 978-3-03876-205-8 (Midas Kinderbuch)

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CARLO & RENZO<br />

PIANO<br />

auf der suche nach<br />

ATLANTIS<br />

EINE REISE DURCH DIE ARCHITEKTUR<br />

illustriert von Tommaso Vidus Rosin<br />

MIDAS


NEW YORK<br />

SAN FRANCISCO<br />

ATLANTISCHER OZEAN<br />

PAZIFISCHER OZEAN


LONDON<br />

PARIS<br />

BERLIN<br />

ATHEN<br />

GENUA<br />

OSAKA<br />

ITHAKA<br />

ENTEBBE<br />

NOUMÉA<br />

INDISCHER<br />

OZEAN


© 2021 Midas Verlag AG<br />

ISBN 978-3-03876-205-8<br />

© Carlo Piano und Renzo Piano (Texte)<br />

© Renzo Piano (Skizzen)<br />

Texte: Carlo Piano und Renzo Piano<br />

Illustrationen: Tommaso Vidus Rosin<br />

Art Direction: Cristiano Guerri<br />

Übersetzung: Claudia Koch und Friederike Römhild<br />

Lektorat: Silvia Bartholl<br />

Satz: Ulrich Borstelmann<br />

Projektleitung: Gregory C. Zäch<br />

Printed in Italy<br />

Originalausgabe © Dalcò Edizioni S.r.l., 2021<br />

All rights reserved. Via Mazzini n. 6 – 43121 Parma (www.dalcoedizioni.it)<br />

Originaltitel: »ALLA RICERCA DI ATLANTIDE– Viaggio nell’architettura per ragazzi sognatori«<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie unter www.dnb.de.<br />

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder ist ohne<br />

schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar.<br />

Midas Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich<br />

kontakt@midas.ch, www.midas.ch, socialmedia: follow »midasverlag«


CARLO & RENZO<br />

PIANO<br />

auf der suche nach<br />

ATLANTIS<br />

EINE REISE DURCH DIE ARCHITEKTUR<br />

illustriert von Tommaso Vidus Rosin<br />

MIDAS


INHALT<br />

AUF DER SUCHE NACH ATLANTIS 6<br />

von Carlo Piano<br />

LOS GEHT’S! 10<br />

Der Beginn der Reise<br />

EIN SCHIFF IM TAL 14<br />

Die Ponte Genova San Giorgio in Genua<br />

WO ALLES ANDERS WIRD 24<br />

Der Hafen von Genua<br />

DIE INSEL, DIE VORHER NICHT DA WAR 36<br />

Der Flughafen Kansai<br />

SINGENDE HÄUSER IN TJIBAOU 48<br />

Kulturzentrum der melanesischen Kanak<br />

ÜBER DEN PAZIFIK 58<br />

Eine Lektion in den Wellen<br />

DIE WIESE SCHWEBT ÜBER DEM MUSEUM 66<br />

Die Akademie der Wissenschaften in Kalifornien


FUNDSTÜCKE IM BIG APPLE 78<br />

Der New York Times Tower, die Morgan Library,<br />

das Whitney Museum und die Columbia University<br />

EINE SCHERBE, DIE IN DEN HIMMEL RAGT 92<br />

Der Wolkenkratzer The Shard in London<br />

EIN RAUMSCHIFF IN PARIS 102<br />

Das Kulturzentrum Beaubourg<br />

EIN SEE IM HERZEN VON BERLIN 114<br />

Der Potsdamer Platz nach dem Mauerfall<br />

MARE NOSTRUM 124<br />

Schönheit, Erinnerungen und Geheimnisse<br />

des Mittelmeeres<br />

MIT SCHÖNHEIT GEGEN DEN KRIEG 132<br />

Das Kinderkrankenhaus in Uganda<br />

EIN FLIEGENDER TEPPICH AUF DEM MEER 142<br />

Das Kulturzentrum der Niarchos-Stiftung in Athen<br />

DAS ENDE DER REISE? 154<br />

Ithaka, die Insel des Odysseus


AUF DER SUCHE<br />

NACH ATLANTIS<br />

von Carlo Piano<br />

Im Durcheinander im Zimmer meiner Tochter Elsa, versteckt zwischen T-Shirts<br />

und verschiedenen Kram unter ihrem Bett, lag dieses Tagebuch mit rotem<br />

Einband, auf dem weiße Schlieren zu sehen waren. Ich war sofort neugierig, auch<br />

weil es mit einem Vorhängeschloss versehen war. Also fragte ich sie danach.<br />

Nun ja, sagte sie, es erzähle von ihrer Reise mit meinem Vater (und damit ihrem<br />

Großvater) Renzo auf den Ozeanen der Welt. Das erklärt all die Salzrückstände,<br />

die es wie ein altes Pergament aussehen lassen, das in einer Flasche aufbewahrt<br />

und den Wellen anvertraut wurde! Es stammt aus Elsas Feder, und sie notierte<br />

alles, was ihr Großvater ihr erzählte.<br />

Sie waren mehrere Monate auf einem Schiff unterwegs. Mein Vater hatte sich in<br />

den Kopf gesetzt, nach <strong>Atlantis</strong> zu suchen, einem Geheimnis, das die Menschheit<br />

seit Jahrtausenden umtreibt. Sicher habt ihr schon von <strong>Atlantis</strong> gehört: eine<br />

schöne, reiche und perfekte Stadt, die der Legende nach in der Antike von den<br />

Wassern verschlungen wurde. Also bat mein Vater Elsa, ihn bei diesem Abenteuer<br />

zu begleiten, und sie stachen in See.<br />

Ob sie schließlich irgendwo in der Tiefe das versunkene Königreich fanden,<br />

kann ich nicht sagen. Wir wissen ja nicht einmal, ob <strong>Atlantis</strong> wirklich existierte.<br />

Sicherlich hat sein Mythos schon immer Fragen aufgeworfen und Neugierde<br />

geweckt, ganz zu schweigen von den Tausenden von Büchern, Videospielen und<br />

Filmen, die ihn zu einem der spannendsten Rätsel des Planeten werden ließen.<br />

Sogar Christoph Kolumbus soll auf der Suche nach <strong>Atlantis</strong> gewesen sein, als<br />

er Amerika entdeckte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber auf jeden Fall haben<br />

Elsa und Renzo danach gesucht und sind durch die ganze Welt gereist. Sie haben<br />

ferne und stürmische Meere befahren und Orte besucht, an denen mein Vater,<br />

der Architekt, die unterschiedlichsten Gebäude gebaut hat. In seiner langen<br />

Karriere hat er Erdbeben und Hurrikans herausgefordert und sogar Blindgänger<br />

aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen. Er hat Taucher, Wissenschaftler, Musiker,<br />

Bergsteiger, Minenarbeiter, Stammesführer und Schlangenjäger getroffen. Schon<br />

in seiner Kindheit suchte er nach <strong>Atlantis</strong>, am Strand von Genua beobachtete er<br />

stundenlang den Horizont, wo der Himmel das Meer berührt. Damals wurde sein<br />

Wunsch geboren, und er ist immer noch überzeugt: <strong>Atlantis</strong> muss irgendwo sein.<br />

Als Kind wurde mir oft die Geschichte von <strong>Atlantis</strong> erzählt, wie sie von dem griechischen<br />

Philosophen Platon überliefert wurde. Sie geht so: Es gab einmal, jen-<br />

7


seits der Straße von Gibraltar, eine Insel, die reich, glücklich und mächtig war, wo<br />

die Bewohner, die Söhne Poseidons, mehr mit der Pflege der Tugenden als mit<br />

dem Streben nach materiellen Gütern beschäftigt waren. Aber im Laufe der Zeit<br />

wurde ihre göttliche Seite von ihrer menschlichen Seite überwältigt, die, wie wir<br />

wissen, voller Fehler ist. Laut Platon haben die Bewohner den schlechten Weg<br />

der Gier und der Macht eingeschlagen. Also bestrafte sie Zeus mit Flutwellen und<br />

anderen Naturkatastrophen, sodass <strong>Atlantis</strong> innerhalb eines Tages und einer<br />

Nacht versank.<br />

Viele glaubten Platons Erzählung und suchten nach <strong>Atlantis</strong>. Manche vermuteten<br />

die Stadt vor den Azoren, andere in der Sahara-Wüste, wo einst ein Meer war.<br />

Über die Jahrhunderte ist die verlorene Stadt an die unterschiedlichsten Orte<br />

gezogen: von der Antarktis bis nach Palästina, von Skandinavien bis nach Sardinien.<br />

Manche verweisen auf die Insel Thera, die nach einem Vulkanausbruch im<br />

15. Jahrhundert v. Chr. versank. Andere bringen <strong>Atlantis</strong> mit dem Bermudadreieck<br />

in Verbindung, wo angeblich viele Flugzeuge und Schiffe auf mysteriöse Weise<br />

verschwanden. Wieder andere Gelehrte halten sie für ein Fantasiegebilde Platons,<br />

der <strong>Atlantis</strong> versinken sinken ließ, um seine politischen Theorien zu illustrieren<br />

und davor zu warnen, wie sich das Schicksal ändern kann.<br />

Renzo will ebenfalls nach <strong>Atlantis</strong> suchen. Denn wenn er sich etwas in den Kopf<br />

gesetzt hat, bleibt er stur dabei. Er behauptet, dass <strong>Atlantis</strong> existiert, und selbst<br />

wenn es nicht existiert, sollten wir trotzdem danach suchen. Weil es das perfekte<br />

Ziel für eine Forschungsreise/Entdeckungsreise ist. Elsa wird euch die ganze<br />

Geschichte erzählen.<br />

8


LOS GEHT'S!<br />

Der Beginn der Reise<br />

Mein Name ist Elsa und ich komme nächstes Jahr aufs Gymnasium. Vorausgesetzt,<br />

ich bestehe die Abschlussprüfung am Ende der 8. Klasse, aber das hoffe ich<br />

sehr! Wahrscheinlich gehe ich auf ein humanistisches Gymnasium. Ich lese gern,<br />

und zwar alles, was mir in die Quere kommt, von Comics über Romane bis hin<br />

zu Zeitungen. Mein Großvater besuchte auch das humanistische Gymnasium<br />

Giuseppe Mazzini in Genua, aber er war nicht Klassenbester – besonders in<br />

Griechisch und Latein schwächelte er, das hat er mir selbst gestanden.<br />

Ich bin nicht so groß, aber die anderen sagen, dass ich gut aussehe. Und ich liebe<br />

Tiere. Ich liebe sie alle, auch die winzigsten Insekten (außer Mücken), Fische und<br />

Vögel. Aber Hunde sind meine Lieblingstiere: vielleicht weil ich einen habe, seit<br />

ich klein war, und wir miteinander aufgewachsen sind. Er heißt Sigfrid und ist<br />

ein Mischling, halb Windhund, halb Italienischer Bracco. Er ist weiß mit braunen<br />

Flecken auf der Schnauze, wunderschön. Wenn ich mit ihm spiele, wedelt er wie<br />

wild mit dem Schwanz.<br />

Was noch? Ich bewundere Greta Thunberg und das, was sie tut. Warum?<br />

Weil ein Mädchen es geschafft hat, den Erwachsenen klarzumachen, dass<br />

wir auf dem falschen Weg sind. Dass wir die Natur nicht weiter so ausbeuten<br />

können wie bisher. Die Welt ist unser Zuhause und alles, was wir haben. Die<br />

Umweltverschmutzung, das von Plastik verseuchte Meer, die schmelzenden<br />

Gletscher sind Zeichen, die wir nicht ignorieren können. In diesem Punkt stimme<br />

ich mit Greta überein.<br />

Eine letzte Sache über mich: Ich mag Rap und klassische Musik. Ja, es sind<br />

zwei gegensätzliche Genres, aber ich höre beide gerne: Welches mir lieber ist,<br />

hängt von der Stimmung ab. Ihr werdet mich auf dieser Reise aber noch besser<br />

kennenlernen.<br />

Doch nun zu meinem Opa, es gibt viel über ihn zu sagen. Er ist sogar einmal von<br />

der Schule geflogen. Dabei hat er viel gelernt. Und er weiß, dass man anderen<br />

vertrauen muss und dass es von anderen immer etwas zu lernen gibt.<br />

Alle reden von Teamwork. Ich habe es immer ernst genommen. Auch heute<br />

noch im Büro, dort arbeiten wir zu viert, zu sechst, zu acht zusammen.<br />

Der beste Vorschlag gewinnt, egal von wem er kommt. Wenn ein von uns<br />

entworfenes Gebäude fertig ist, kann man nicht mehr nachvollziehen, wer was<br />

hineingesteckt hat. Die Idee ist ganz einfach: Man muss den Menschen vertrauen,<br />

mit denen man arbeitet. Es gibt Diskussionen und manchmal auch Streit. Oft<br />

sind es gerade diese nervigen Momente, die uns erfolgreich werden lassen.<br />

10


Mein Großvater heißt Renzo und ist seit mehr als einem halben Jahrhundert<br />

Architekt. Er hat viele Gebäude entworfen: Museen, Konzertsäle, Flughäfen,<br />

Universitäten, Krankenhäuser, Bibliotheken. Er hat sie in Italien, Frankreich,<br />

Griechenland, Spanien, Norwegen, Großbritannien, Deutschland und auch in<br />

Japan, Russland, den Vereinigten Staaten, Neukaledonien, Uganda ... gebaut.<br />

Ich bin sicher, dass ich ein paar Länder vergessen habe, aber sie werden mir<br />

unterwegs wieder einfallen.<br />

Ihr kennt vielleicht das Centre Pompidou in Paris, das Gebäude mit den bunten<br />

Röhren. Er hat es als junger Architekt mit seinem Freund Richard Rogers<br />

entworfen. Oder The Shard, den über 300 Meter hohen Wolkenkratzer, der in den<br />

Londoner Himmel ragt? Stammt ebenfalls von ihm. Und auch die Ponte Genova<br />

San Giorgio in Genua, die kürzlich fertiggestellt wurde. Er hat auch den Pritzker-<br />

Preis gewonnen, so etwas wie ein Nobelpreis für Architektur.<br />

Er hat vier Kinder: Carlo (mein Vater), meine Matteo und Giorgio (meine Onkel) und<br />

Lia (meine Tante). Er war zwei Mal verheiratet: das erste Mal mit Magda (meine<br />

Großmutter) und das zweite Mal mit Milly.<br />

Neben der Architektur hat er eine weitere große Leidenschaft: das Segeln. Er geht<br />

jedes Mal segeln, wenn ihm seine Arbeit etwas freie Zeit lässt. Sein Boot heißt<br />

Kirribilli, was in der Sprache der Aborigines »fischreicher Ort« bedeutet. Der Wind,<br />

die Wellen und die Stille sind sein Rückzugsort. Als er ungefähr so alt war wie ich,<br />

hat er mit eigenen Händen in seiner Garage ein Boot gebaut. Er war sich sicher,<br />

dass er die richtigen Maße genommen hatte, aber um das Boot nach draußen zu<br />

bringen, musste er das Tor herausreißen, und sein Vater (mein Urgroßvater) wurde<br />

sehr wütend.<br />

Das sind wir also, Großvater Renzo und ich. Wir sind dabei, auf eine lange und<br />

abenteuerliche Seereise zu gehen. Mir gefällt sein Wunsch, immer neue Dinge<br />

zu entdecken. In unserer Familie nennen wir ihn manchmal den Entdecker. Seine<br />

Freunde nennen ihn oft Geometer, weil er immer alles vermisst: Wellen, Gebäude,<br />

Bäume ...<br />

Wir werden bald in See stechen, gleich verlassen wir sein Atelier, fahren zum Hafen<br />

und los geht's. Das Atelier hier in Italien befindet sich in Punta Nave zwischen<br />

Genua und Arenzano, an einem Berghang mitten im Grünen, mit Blick aufs Meer.<br />

Er sagt, es sei sein Heißluftballon, von dem aus er die Dinge von oben beobachten<br />

kann. Bis zur Anlegestelle, an der wir uns einschiffen werden, dauert es mit dem<br />

Auto eine halbe Stunde.<br />

11


Vor ein paar Jahren schenkte mir mein Großvater zu Weihnachten einen Baukasten,<br />

weil er sich freuen würde, wenn ich Architektin würde. Mein Vater ist kein<br />

Architekt, also verlässt sich Großvater Renzo auf seine Enkelin, also auf mich. Ich<br />

muss ehrlich sein: Damals war ich ein bisschen enttäuscht von dem Geschenk,<br />

aber dann fragte ich ihn: »Was bedeutet es, ein Architekt zu sein?« Seine Antwort<br />

lautete:<br />

Siehst du, Elsa, das Handwerk des Architekten ist so alt wie die Jagd, der<br />

Fischfang, der Ackerbau und die Forschung. Gleich nach der Suche nach<br />

Nahrung kommt die Suche nach dem Zuhause. Irgendwann wurde der Mensch,<br />

unzufrieden mit dem Leben in ungemütlichen, hässlichen, feuchten Höhlen,<br />

zum Architekten.<br />

Kurzum, Architektur ist seiner Meinung nach nicht nur die Kunst des Bauens,<br />

sondern die Kunst, auf die Bedürfnisse und Träume der Menschen einzugehen.<br />

Großvater Renzo entwirft vor allem öffentliche Orte, Gebäude, in denen sich<br />

Menschen treffen, kennenlernen und gemeinsam etwas erleben. So wie es in<br />

Schulen geschieht. Wir sprechen über Museen, Konzertsäle, Krankenhäuser,<br />

Bibliotheken ... Er behauptet, dass öffentliche Orte Festungen gegen die Barbarei<br />

sind.<br />

Da stimme ich ihm zu, denn ich bin verrückt nach Gemälden (nicht nach allen,<br />

aber nach den schönen), nach Musik, Filmen und auch nach Büchern.<br />

Ich fühle mich nach dem Lesen anders, vielleicht möchte ich auch<br />

deshalb an ein humanistisches Gymnasium. Ob ich Architektur<br />

studiere, entscheide ich später.


EIN SCHIFF IM TAL<br />

Die Ponte Genova San Giorgio in Genua<br />

Um zum Hafen zu gelangen, überqueren wir mit dem Auto die Brücke, die er vor<br />

Kurzem fertiggestellt hat. Sie heißt Ponte Genova San Giorgio, nach St. Georg, den<br />

die Genueser sehr verehren, denn der Legende nach unterstützte er sie bei den<br />

Kreuzzügen. Ich schaue auf das Licht auf dem Meer in der Ferne, während Großvater<br />

mir vom Einsturz der alten Brücke am 14. August 2018 erzählt. In Zeitungen und im<br />

Fernsehen wurde darüber berichtet – ich habe noch das Bild des Viadukts vor Augen,<br />

das wie ein Zweig knackte, während die Menschen schrien. Ich haben sie viele Male<br />

überquert, und sie war hoch, sehr hoch sogar. Es war wie im Himmel, genau wie<br />

jetzt, als wir die neue an diesem strahlenden Sonnentag überqueren.


Viele Menschen starben bei dem Unglück, einige von ihnen waren auf dem Weg<br />

in den Urlaub. Seitdem war Genua zweigeteilt, denn die Autobahnbrücke, die wie<br />

die Brooklyn-Bridge aussah, führte über den Fluss Polcevera. Sie lag mittendrin in<br />

Genua und verband den West- mit dem Ostteil der Stadt. Großvater meinte, eine<br />

Brücke dürfe niemals einstürzen, weil sie eine viel zu edle Aufgabe erfülle: Sie<br />

verbinde. Nach der Tragödie entwarf er eine neue Brücke, und alle krempelten<br />

die Ärmel hoch, um sie zu bauen, sodass hier in weniger als zwei Jahren eine viel<br />

sicherere Brücke entstanden ist. Sie ist nicht aus Beton wie die alte, sondern aus<br />

Stahl, und ruht auf tief in den Boden gerammten Pfeilern. Sie sieht ein bisschen<br />

aus wie eines der Schiffe, die in den Hafen ein- und auslaufen.<br />

»Die hält über tausend Jahre«, sagt Großvater Renzo immer, wie die Brücken der<br />

alten Römer, die immer noch stehen. Dabei kannten sie Stahl noch gar nicht! Auf<br />

einer Klassenfahrt war ich an der Ponte Milvio in Rom. Sie wurde 100 v. Chr. aus<br />

Stein und Ziegeln gebaut und ist also mehr als 2.000 Jahre alt. Die römischen<br />

Architekten müssen wirklich gut gewesen sein! Die Brückenteile für die Ponte<br />

Genova San Giorgio wurden von denselben Männern in den Werften hergestellt,<br />

die auch die großen Schiffe bauen, so lang wie drei oder mehr Fußballfelder, hoch<br />

wie Hochhäuser, schwer wie 100.000 Elefanten. Großvater Renzo sagt: »Wer<br />

weiß, wie man Schiffe baut, kann alles: gießen, schneiden, schweißen, drehen,<br />

schrauben ...«<br />

Dann bauten sie die Brücke Stück für Stück zusammen, wie bei einem Baukastenspiel,<br />

nur viel komplizierter. Noch während die Reste des eingestürzten Viadukts<br />

abgetragen wurden, baute man bereits das neue auf. Es ist 1.067 Meter lang und<br />

besteht aus 19 horizontalen Stahlteilen, die nacheinander zusammengesetzt<br />

wurden. Sie bilden das, was die Ingenieure das »Deck« nennen. Großvater erzählte<br />

mir, dass die Brücke von 18 Stahlbetonpfeilern getragen wird. Sie sind 90 Meter<br />

hoch, davon sind 45 Meter im Boden verankert, um die Brücke zu halten, die<br />

anderen 45 Meter ragen in die Höhe und stützen die Brücke. Ihre Form erinnert an<br />

den Bug eines Dampfschiffes. Sie wurden in einem Abstand von 50 Metern gesetzt,<br />

mit Ausnahme der drei zentralen Pfeiler, die 100 Meter auseinander liegen, weil sie<br />

den Fluss Polcevera überspannen müssen.<br />

Großvater Renzo findet, dass die neue Brücke wie ein großes, magisches, weißes<br />

Schiff aussieht, das im Tal vor Anker liegt. Es ist, als würde sie einen Fuß vor den<br />

anderen setzen und höflich um Erlaubnis bitten, wie man es tut, wenn man das<br />

Haus eines anderen betritt.<br />

Siehst du, Elsa, wie das geht? Es ist einfach, die Betonpfeiler sind 45 Meter<br />

hoch, auf ihnen lagert der Stahlkörper des Schiffs. Die alte Brücke war 18 Meter<br />

breit, diese hier 30 … Dazu wurden 67.000 Kubikmeter Beton verbaut, das<br />

hätte für anderthalb Empire State Buildings gereicht. Außerdem benötigte man<br />

24.000 Tonnen Stahl, das dreifache Gewicht des Eiffelturms.<br />

16


Hier sind die Skizzen für die Ponte<br />

Genova San Giorgio. Die Säulen<br />

ähneln wirklich einem Schiffsbug!<br />

Alle Skizzen in diesem Buch wurden<br />

von meinem Großvater Renzo<br />

angefertigt.


Tausend Arbeiter aus allen Regionen Italiens und dem Ausland arbeiteten auf<br />

der Baustelle. Und zwar ohne Unterbrechung, nicht einmal zu Weihnachten<br />

oder Ostern. Die Maurer, Ingenieure, Bagger- und Kranführer und Techniker<br />

wurden in Schichten eingeteilt: Die einen arbeiteten unter der Erde, andere auf<br />

dem Vorplatz, wieder andere hoch oben auf dem Gerüst oder im Inneren des<br />

Senkkastens oder ganz oben, um die Straße zu bauen. Jeden Tag, 24 Stunden<br />

am Tag. Es war eine Baustelle, die niemals schlief. Ich habe gesehen, wie sie<br />

die Brücke gebaut haben, und alle waren mit Begeisterung dabei und haben<br />

hart gearbeitet. Es war fast ein bisschen Hokuspokus: Am Tag zuvor lagen nur<br />

Metallteile auf dem Boden, und am nächsten Tag hatten zwei riesige Kräne wie<br />

von Zauberhand einen weiteren Teil der Brücke auf die Pfeiler gehievt. Großvater<br />

sagt, dass man den Stolz der Arbeiter förmlich riechen kann.<br />

18


Weil man etwas für die Gemeinschaft tut und dabei Teil eines Teams ist.<br />

Unterschiede und Missverständnisse werden abgebaut. Auch die Angst vor dem<br />

Scheitern verschwindet. Die Arbeit auf einer Baustelle ist eine Teamleistung und<br />

das Team wie ein Sicherheitsnetz. Diese Baustelle hier war die schönste meines<br />

Lebens, denn die Tragödie des Einsturzes wurde dadurch immer wieder von<br />

Hoffnung und Vertrauen überlagert.<br />

Wie gesagt, Großvater spricht oft mit mir über die Arbeit im Team und wie wichtig<br />

sie ist. Es ist wichtig, dass man weiß, wie man gut zusammenarbeitet, auch an<br />

Bord eines Schiffes. Jedes Mitglied der Crew hat seine Rolle, aber man braucht die<br />

Unterstützung von allen, um navigieren zu können. Es gibt auch ein Sprichwort:<br />

»Wir sitzen alle im selben Boot ...« Neulich, als wir zusammen die Reiseroute<br />

anschauten, hat Großvater Renzo gemeint:<br />

Man muss mutig sein und Risiken eingehen. Ich sage immer: Man hat oft<br />

Angst, einen Fehler zu machen, und das ist auch richtig so, aber man muss die<br />

Angst vor dem Fehler überwinden und den Absprung wagen. Auch dafür ist es<br />

gut, in einer Gruppe zu arbeiten, denn dann geben dir die anderen Sicherheit.<br />

Beim Abriss der alten Brücke machten die Arbeiter übrigens eine kuriose<br />

Entdeckung: In einem Senkkasten wurden zwei Taubenküken gefunden. Es ging<br />

ihnen gut, aber ihre Mutter hatte sie verlassen, wahrscheinlich abgeschreckt vom<br />

Geräusch der Presslufthämmer. Die Arbeiter fütterten sie, denn die kleinen Vögel<br />

zwitscherten hungrig. Dann wurden sie in eine Tierstation gebracht, die sich um<br />

sie kümmerte. Vielleicht fliegen sie jetzt über uns in den Wolken, wer weiß.


Die Ponte Genova San<br />

Giorgio: Sie wird Tausende<br />

von Jahren halten!


Großvater erklärte mir außerdem, dass es sich um eine intelligente Brücke<br />

handelt, eine smart bridge, weil sie tagsüber die Energie der Sonne aufnimmt<br />

und sie nachts in Form von Licht zurückgibt. An den Rändern entlang der ganzen<br />

Brücke wurden Photovoltaik-Paneele angebracht. Für die Beleuchtung wird also<br />

keine zusätzliche Energie benötigt, das ist ökologisch.<br />

Aber die Brücke ist auch schlau, weil es Roboter gibt, die wie Wachen überprüfen,<br />

ob das Bauwerk stabil ist, und die Alarm schlagen, wenn Nachbesserungen<br />

nötig sind. Andere Roboter reinigen die Solarpaneele und die gläserne Windschutzwand,<br />

damit man beim Überqueren der Brücke die Aussicht und das Licht<br />

genießen kann. Zu den Sicherheitssystemen, die sich die Tüftler ausgedacht<br />

haben, gehört eines, das Feuchtigkeit aus dem Inneren der Konstruktion entfernt<br />

und damit Korrosion verhindert. Hier sind wir in der Nähe des Meeres und man<br />

hat mit salzhaltigem Kondenswasser zu kämpfen, das den Stahl angreift. Man<br />

hatte auch mögliche Erdbeben im Blick, denn Italien ist seismisch gefährdet:<br />

Die Brücke ist auf den Pfeilern auf großen Federn gelagert, damit sich das<br />

Viadukt bewegen und wieder an seinen Platz zurückkehren kann. Das sind alles<br />

Erfindungen, die man braucht, damit sie ewig hält, aber laut Großvater Renzo<br />

helfen auch sie nicht, wenn keine Liebe im Spiel ist. Er hat wirklich von Liebe<br />

gesprochen!<br />

Eine Brücke muss Tausende von Jahren halten, aber nichts hält so lange ohne<br />

ein bisschen Liebe. Man muss die Dinge lieben und sich um sie kümmern. In<br />

Japan halten die Gebäude so lange, weil sie ständig instandgehalten werden,<br />

weil man sie liebt. »Liebe« ist ein romantisches Wort, aber ich benutze es<br />

gern, um zu betonen, dass Bauwerke Zuneigung brauchen. Es gibt kein<br />

Gebäude, auch nicht aus Stein, das tausend Jahre hält, ohne dass man ihm<br />

Aufmerksamkeit schenkt.<br />

Unterhalb der Ponte Genova San Giorgio entsteht ein großer Park mit Rasenflächen<br />

und Bereichen, in denen Hunde frei laufen können, mit Radwegen, Sportplätzen<br />

und botanischen Gärten. Das wird bestimmt schön! Aber jetzt ist es schon spät und<br />

unser Schiff wartet am Pier. Es wird uns auf der Suche nach <strong>Atlantis</strong> begleiten, dem<br />

aus den Märchen. Für Großvater Renzo ist es jedoch kein Märchen. Er ist überzeugt,<br />

dass das Unterwasserreich in einem Abgrund verborgen ist. Er glaubt, dass es<br />

wirklich existiert. Denn wovon kann ein Architekt träumen, wenn nicht von der<br />

perfekten Stadt?<br />

22


EIN RAUMSCHIFF IN PARIS<br />

Das Kulturzentrum Beaubourg<br />

Wir überquerten den Ärmelkanal und fuhren die Seine hinauf Richtung Paris.<br />

Allerdings nicht mit der Magnaghi: Sie liegt so tief im Wasser, dass wir riskiert<br />

hätten, im Flussbett auf Grund zu laufen. So stiegen mein Entdecker-Großvater<br />

und ich im Flusshafen von Rouen auf einen Kahn um. Aber warum sind wir in die<br />

Hauptstadt Frankreichs gekommen? Vielleicht weil unsere lange Reise genau hier<br />

hätte anfangen sollen: In dieser Stadt begann die eigentliche Architektenkarriere<br />

meines Großvaters Renzo. In Paris hatte er schon vor langer Zeit nach <strong>Atlantis</strong><br />

gesucht, als er mit seinem Freund Richard Rogers ein merkwürdiges Raumschiff<br />

aus farbigen und transparenten Röhren baute und es Beaubourg nannte. Der<br />

offizielle Name des Kulturzentrums ist Centre Pompidou, und ich will erklären,<br />

warum. Großvater bevorzugt die Bezeichnung Beaubourg.


Es waren die Anfänge der 1970er Jahre, als der damalige französische Staatspräsident<br />

Georges Pompidou einen Architekturwettbewerb ausschrieb, um<br />

ein Kulturzentrum im Marais-Viertel entwerfen zu lassen, ein Gebäude, das ein<br />

Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, eine große Bibliothek und<br />

Konzertsäle, ein Kino, Räume für Ausstellungen, Informationen und Design<br />

enthalten sollte. Kulturzentren dieser Art nennen sich »multifunktionale Zentren«,<br />

weil sie viele Zwecke und Nutzungsmöglichkeiten haben. Renzo und Richard, die<br />

beide damals Anfang 30 waren, nahmen an dem Wettbewerb teil, ohne ernsthaft<br />

daran zu glauben, ihn zu gewinnen. Sie waren noch nicht berühmt, niemand<br />

kannte sie. Aber sie hatten eine Idee und wollten es versuchen.<br />

Sieh mal, Elsa, als das Beaubourg konzipiert wurde, war es ganz anders als<br />

heute. Nur wenige Leute gingen in Museen, es waren triste, düstere Orte,<br />

langweilig und auch ein bisschen verstaubt. Sie schüchterten die Mütter ein und<br />

die Kinder fürchteten sich. Wir wollten gegen diese Situation rebellieren.<br />

Großvater Renzo und Richard entwarfen deshalb eine Art Vergnügungspark der<br />

Kultur, heiter, alles bunt und fröhlich. In jenen Jahren gab es die Achtundsechziger,<br />

eine Zeit, in der Studenten und Jugendliche auf die Straßen gingen, um die<br />

Gesellschaft herauszufordern und zu verändern. Es waren die gleichen Jahre, in<br />

denen die Hippies in Amerika demonstrierten. Ich war noch nicht geboren, und<br />

mein Großvater erklärt es mir noch etwas genauer, als wir an einem schönen,<br />

sonnigen Tag vor dem Gebäude spazieren gehen.<br />

In gewisser Weise ist Beaubourg ein Kind der Achtundsechziger. Es war höchste<br />

Zeit, auf die Tatsache zu reagieren, dass Museen nur für wenige bestimmt<br />

waren, sie müssen für alle offen sein. Wir wollten eine unbekümmerte und<br />

ungehorsame Kulturmaschine bauen, die nicht nur Kultur anbieten, sondern<br />

auch Kultur zu produzieren sollte.<br />

Als Großvater erfuhr, dass er den Wettbewerb gewonnen hatte, traute er seinen<br />

Ohren nicht. Es ist eine lustige Geschichte. Sie riefen ihn aus Paris an, um ihm<br />

Bescheid zu geben, und eine Dame sagte zu ihm: »Vous êtes le lauréat!«, »Sie<br />

sind der Gewinner!« Aber er konnte nicht gut Französisch, denn er war, wie ich<br />

schon sagte, in der Schule nicht wirklich gut gewesen, und so verstand er es<br />

völlig falsch. Er antwortete, dass er natürlich einen Abschluss (im Italienischen<br />

sagt man dazu laureato) in Architektur habe und sein Diplom an der Universität<br />

Mailand abgelegt habe. Die Frau musste es drei- oder viermal wiederholen, bis er<br />

verstand. Erst einmal war mein Großvater fassungslos. 681 Architekturbüros aus<br />

49 Ländern, darunter erfolgreiche, renommierte, hatten sich an dem Wettbewerb<br />

beteiligt, Und ausgerechnet ihr Entwurf war ausgewählt worden!<br />

Auf der gegenüberliegenden Seite sind der Großvater und Richard Rogers als junge<br />

Architekten in ihrem Atelier zu sehen, mit Skizzen für das Beaubourg-Projekt.<br />

104


So entstand dieses Gebäude, das aussieht, als sei ein außerirdisches Raumschiff<br />

mitten im Herzen der Stadt gelandet. Wenn sie es heute bauten, würde ich sagen,<br />

es sähe aus wie aus einem der Transformers-Filme. Auf dem großen Platz vor dem<br />

Gebäude tummeln sich Seiltänzer, Zauberkünstler und Straßenmusiker. Gerade<br />

macht ein Mädchen riesengroße Seifenblasen mit einem seltsamen Gerät, das aus<br />

zwei mit einer Schnur verbundenen Stöcken besteht. Die Seifenblasen schillern<br />

in allen Regenbogenfarben, und ich beobachte gebannt, wie leicht sie in den<br />

Himmel aufsteigen. Einige Kinder klatschen. Das Beaubourg liegt direkt vor mir: ein<br />

gigantischer Quader, 42 Meter hoch, 166 Meter lang und 60 Meter breit, getragen<br />

von einer Stahlkonstruktion in leuchtenden Farben und mit Glaswänden. Für den<br />

Bau wurden 15.000 Tonnen Stahl, mehr als doppelt so viel wie für den Eiffelturm,<br />

und 11.000 Quadratmeter Glas benötigt. Eine Glasfläche, so groß wie die Piazza De<br />

Ferrari, der zentrale Platz in Genua. Das Beaubourg hat fünf Etagen, jede so groß<br />

wie zwei Fußballfelder, und ganz oben eine Terrasse, von der aus das Panorama<br />

von ganz Paris zu sehen ist. Am besten gelangt man mit der Rolltreppe dorthin, die<br />

in einer großen, transparenten Röhre eingeschlossen ist und schräg im Zickzack an<br />

der Fassade entlang nach oben führt. Und die vielen farbigen Rohre? Nicht nur aus<br />

Gründen der Schönheit, sagt Großvater Renzo.<br />

Um die Innenräume frei und flexibel zu halten, haben wir all das, was normalerweise<br />

nicht woandershin verlegt werden kann, außerhalb des Gebäudes<br />

angebracht: Gerüste, Aufzüge, Rolltreppen, Installationen.<br />

Und wie sieht es mit den Farben aus? Die Außenrohre haben je nach Funktion<br />

unterschiedliche Farben: Blau für die Klimaanlage, Gelb für die Elektrik, Grün für<br />

die Sanitäranlagen, Rot für die Rolltreppen und Aufzüge.


Der Bau war bis zum Tag der Eröffnung 1977 von vielen kontroversen<br />

Debatten begleitet: Das Gebäude war zu eigenartig und zu originell, um<br />

gut aufgenommen zu werden. Einige liebten es, aber die meisten waren irritiert<br />

oder fanden es hässlich. Sechs Kläger versuchten, die Fertigstellung zu verhindern –<br />

ohne Erfolg. Sie argumentierten, es sähe wie eine Raffinerie aus, wie ein Parkhaus oder<br />

ein Ungetüm. Und wenn sie Richard und Großvater damit konfrontierten, antworteten<br />

diese: »Je ne comprends pas«, »Ich verstehe nicht«. Es stimmte, beide konnten kein<br />

Französisch, aber auf diese Weise konnten sie auch einfach weiter tun, was sie wollten.<br />

Was für Sturköpfe …<br />

Inzwischen befinden wir uns im Museum, direkt vor den Bildern berühmter Maler wie<br />

Picasso, Miró, Chagall und Matisse. Die Gemälde von Chagall erinnern an die Illustrationen<br />

in einem Märchenbuch, sie lassen die Fantasie fliegen. Großvater erzählte mir noch<br />

von einer merkwürdigen Begebenheit. Es war, als Beaubourg noch nicht fertig gebaut<br />

war, und es regnete heftig und stürmte. Einer Frau, die gerade vorbeilief, stülpte sich<br />

der Regenschirm um, und Richard half ihr freundlicherweise, ihn wieder aufzuspannen.<br />

108


Die Frau bedankte sich bei ihm, aber als sie erfuhr, dass es die Architekten des Gebäudes<br />

waren, die vor ihr standen, schloss sie ihren Regenschirm und fuchtelte mit ihm<br />

über ihren Köpfen herum. Eine andere Geschichte handelte von den Lüftungsrohren,<br />

die vor dem Gebäude aus dem Boden ragen und Windsäcken von Frachtern ähneln.<br />

Als deren Montage der begann, ließ uns ein hoher Verwaltungsbeamter wissen: »Das<br />

ist zu viel, wirklich zu viel, Sie haben jede Grenze überschritten.« Er verbot uns die<br />

weitere Installation. Wir waren gezwungen, die Lüftungsrohre zurück ins Lager zu<br />

bringen. Nach drei Monaten versuchten wir es erneut, und wieder bekamen wir Besuch<br />

aus der Verwaltung: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Meine Geduld ist<br />

am Ende …« Er hatte sich geschworen, dass er das nie zulassen würde: »Jamais, moi<br />

vivant!« Das heißt: »Niemals, solange ich lebe.« Also mussten wir erneut zurückrudern.<br />

So haben wir ein Jahr lang weitergemacht, bis uns die traurige Nachricht vom<br />

Tod des Beamten erreichte, der schon sehr alt war. Am darauffolgenden Tag wurden<br />

die Rohre installiert, und bis heute sind sie dort, wo wir sie sehen.<br />

109


Das ist die Frau mit dem Schirm, die<br />

Großvater und Richard Prügel angedroht<br />

hat. Wer weiß, ob das jemals einem<br />

anderen passiert ist!


Als er mir die riesigen Stahlträger zeigt, die das Hauptgerüst des Gebäudes<br />

bilden, sozusagen das Skelett, erzählt Großvater noch so eine Geschichte: Diese<br />

Träger sollten in einer Gießerei hergestellt werden, aber als das bekannt wurde,<br />

protestierte die gesamte französische Stahlindustrie und antwortete, dass sie<br />

nicht halten würden und dass das unmöglich sei.<br />

Wir waren uns unserer Sache sicher, und nachdem die Franzosen sich<br />

geweigert hatten, ließen wir sie in Deutschland produzieren. Das durfte sich<br />

nicht besonders herumsprechen, denn die Franzosen waren eifersüchtig und<br />

wären verärgert gewesen. Hast du schon einmal versucht, 120 Tonnen schwere<br />

Stahlträger, so schwer wie 30 Elefanten und 50 Meter lang, zu verstecken?<br />

Was ist das für eine Frage!<br />

Du machst Folgendes: Du lässt sie mit einem Sonderzug nach Paris liefern<br />

und transportierst sie zwischen drei und fünf Uhr morgens, wenn nur sehr<br />

wenig Verkehr ist, durch Paris. Natürlich braucht man einen gigantisch großen<br />

LKW, oder zwei. Bevor sich der Konvoi in Bewegung setzt, wird ein Team von<br />

Arbeitern losgeschickt, um alle Kanalschächte auf der Strecke, die das Gewicht<br />

nicht tragen würden, mit 4 Zentimeter dicken Stahlplatten abzudecken, die erst<br />

verlegt und dann mit riesengroßen Magneten wieder entfernt werden müssen.<br />

Wenn der Stahlträger an seinem Ziel angekommen ist, muss er sofort montiert<br />

werden, damit er die Baustelle nicht blockiert.<br />

Großvater Renzo erinnert sich an jedes Detail jener Jahre, die er mit dem Bau des<br />

Beaubourg verbrachte, denn wie könnte er ein solches Abenteuer vergessen?<br />

Meiner Meinung nach ist der Beruf des Architekten der schönste auf der Welt.<br />

Denn auf einem kleinen Planeten, auf dem Christoph Kolumbus, Ferdinand<br />

Magellan, James Cook und Roald Amundsen schon alles entdeckt haben, ist das<br />

Entwerfen noch immer eines der schönsten Abenteuer, die möglich sind. Erst<br />

als wir Beaubourg bauten, habe ich das wirklich verstanden.<br />

Wir gesagt, viele Pariser Bürger kritisierten das Kulturzentrum, als es gebaut wurde.<br />

Aber mit der Zeit, es sind mehr als 40 Jahre vergangen, haben sie es zu schätzen<br />

gelernt. Heute lieben sie es, ich sehe es in den Blicken der Besucher, die sich darin<br />

drängen. Manche gehen zu einer Ausstellung, leihen ein Buch in der Bibliothek aus,<br />

andere sehen einen Film oder trinken einfach nur etwas und genießen die Aussicht<br />

an der Bar auf der Dachterrasse. Einige machen nur einen Rundgang, um sich<br />

neugierig umzusehen. Auf der Dachterrasse essen wir einen Crêpe à la confiture,<br />

also einen mit Marmelade, und Großvater Renzo erzählt weiter.<br />

Anfangs schieden sich die Geister eindeutig: zwischen denen, die Beaubourg<br />

bewunderten, und denen, die es ablehnten, aber Letztere waren viel zahlreicher.<br />

Andererseits hat jedes neue Gebäude seine Probleme: Es ist neu und noch<br />

112


nicht Teil der städtischen Gewohnheiten. Es braucht Zeit, um akzeptiert zu<br />

werden. Wenn Architektur Zukunft schafft und Wandel interpretiert, wird sie<br />

zwangsläufig zur Zielscheibe der Kritik.<br />

Jeden Tag besuchen 25.000 Menschen dieses Kulturzentrum.<br />

Es ist Zeit, Paris zu verlassen, weil unsere Reise weitergeht. Wir müssen weiter<br />

nach der perfekten, verschwundenen Stadt suchen, der Großvater schon sein<br />

ganzes Leben lang hinterherjagt. Die nächste Station wird Berlin sein, denn<br />

Großvater hat auch in Deutschland gebaut. Wir fahren morgen früh mit dem Zug<br />

am Gare de l’Est, dem Ostbahnhof in Paris, ab; die Fahrt wird etwa acht Stunden<br />

dauern, in Düsseldorf müssen wir umsteigen. Ich werde die Gelegenheit nutzen,<br />

dieses Tagebuch weiterzuschreiben.


EIN SEE IM HERZEN<br />

VON BERLIN<br />

Der Potsdamer Platz nach dem Mauerfall<br />

Wir sind in Berlin angekommen. Vor 30 Jahren war der Potsdamer<br />

Platz noch eine ausgestorbene Fläche, einzig bevölkert von den<br />

Geistern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte. Von 1961 bis<br />

1989 verlief hier die Berliner Mauer. Die Stadt war von einer mehr<br />

als 150 Kilometer langen Mauer in zwei Gebiete geteilt: auf der<br />

einen Seite lag Ostdeutschland, auf der anderen Westdeutschland.<br />

Stahlbeton, Stacheldraht und Kontrolltürme hinderten die Menschen<br />

daran, sich in das andere Stadtgebiet zu bewegen. Es muss<br />

schrecklich gewesen sein … Erst nach dem Fall der Mauer wurde<br />

Deutschland zu der Nation wiedervereint, die wir heute kennen.


Nicht alle Gebäude in diesem Berliner Viertel, die 1945 durch Bomben englischer,<br />

amerikanischer und russischer Flugzeuge zerstört wurden, sind wieder aufgebaut<br />

worden. Nur eines überstand die Katastrophe, das Weinhaus Huth, in dem Großvater<br />

Renzo während der Bauarbeiten am Potsdamer Platz sein Büro eröffnete.<br />

Man hat mir so erzählt, wie das Weinhaus gerettet wurde, und ich glaube, die<br />

Geschichte ist wahr. Allerdings ist sie wirklich seltsam: Das Restaurant hatte<br />

Bier- und Weintanks zusammen mit Wassertanks auf dem Dach, und, als das<br />

Haus bombardiert wurde, barsten die Fässer und löschten den Brand. Während<br />

der Bauarbeiten wurde es auf Stelzen gestellt, damit an den darunterliegenden<br />

Anlagen und Straßen weitergearbeitet werden konnte. Ein ganzes Stück<br />

dieser Stadt wurde in nur sechs Jahren wiederaufgebaut werden, denn es<br />

gab praktisch nichts außer dem Niemandsland, das Ost- und Westberlin<br />

voneinander trennte. Aber das Weinhaus Huth ist nicht das einzige Zeugnis, das<br />

den Zweiten Weltkrieg und den Wahnsinn des Kalten Krieges überlebt hat.<br />

Großvater zeigt mir eine Doppelreihe Linden, beladen mit gelben Blütentrauben,<br />

die einen süßen Duft verströmen. Derselbe Geruch, den man im Frühling<br />

entlang der Allee auf dem Weg zur Schule wahrnimmt und der den Sommer<br />

und die Ferien ankündigt. Während der Bauarbeiten wurden die Bäume, um<br />

sie zu schützen, in ein Metallgerüst gepackt, das nur die Äste freiließ. Ich habe<br />

Fotos von damals gesehen, und es sah aus, als würden sie in einer Rüstung<br />

stecken, wie mittelalterliche Reiter. Heute wimmelt es im Zentrum von Berlin von<br />

flanierenden Menschen, aber als Großvater die Baustelle eröffnete, gab es da nur<br />

ein paar verrußte Ruinen und ungepflegte Bäume, aber keine weiteren Spuren<br />

der Vergangenheit. Hier verlief die Mauer, die Grenze, die rund um die Uhr von<br />

Soldaten mit Schäferhunden bewacht wurde. Der Befehl lautete, jeden, der sie<br />

zu überqueren versuchte, sofort zu erschießen. Aber die Berliner, die im Osten<br />

lebten, versuchten alles, um zu fliehen: sie quetschten sich in die Kofferräume<br />

ihrer Autos, sprangen aus Fenstern, schwammen durch Kanäle. Die einen<br />

bauten Heißluftballons aus Decken, die anderen gruben unterirdische Tunnel …<br />

Am spektakulärsten war vielleicht Horst Klein, ein Zirkusartist, der auf einer<br />

Hochspannungsleitung balancierend die Grenze überquerte.<br />

Nach dem Fall der Mauer galt es ein schwarzes Loch zu füllen und wieder Leben<br />

an den Potsdamer Platz zu bringen, so wie es vor dem Krieg war. In den 1920er<br />

Jahren war hier das pulsierende Herz der Stadt: Cafés, Galerien, Theater, Hotels,<br />

elegante Damen, Modegeschäfte, Autos, man vergnügte sich bei Musik und<br />

Unterhaltung. Die erste öffentliche Beleuchtungsanlage Europas erhellte die<br />

Nacht, und an dieser Kreuzung hier wurde 1924 der Urahn der Ampel installiert,<br />

um den Verkehr zu lenken. Rot, Orange und Grün waren in einer Reihe nebeneinander<br />

angeordnet, nicht vertikal wie heute. Die Berliner nannten ihn liebevoll<br />

»Oberkieker«, Aufpasser.<br />

116


Großvater und die anderen Architekten, die am Projekt beteiligt waren, wollten<br />

den Potsdamer Platz wieder zum Herzen Berlins machen und zu jeder Tageszeit<br />

beleben, durch den Bau von Geschäften, Häusern, Büros, Restaurants, Kinos,<br />

Theater. Die zu heilende Wunde war riesig: eine Fläche von 600.000 Quadratmeter,<br />

auf der 40.000 Menschen wohnen und leben sollten. So groß wie 100 Fußballfelder.<br />

Schau, Elsa, die Städte sind so schön, weil sie langsam entstehen, mit der Zeit.<br />

Eine Stadt erwächst aus einem Gewirr von Monumenten, Straßen, Kultur und<br />

Handel, Nationalgeschichte und Alltagsgeschichte der Menschen, die dort leben.<br />

Eine Stadt entsteht in 500 Jahren, ein Viertel in vielleicht 50. Wir hingegen<br />

waren aufgefordert, ein Stück Berlin in nur fünf Jahren neu zu gestalten.


Gebäude am<br />

Pots damer Platz<br />

mit Großvaters<br />

Zeichnungen


Und auch dieses Projekt war ein Abenteuer, mit allen Gefahren, die es mit<br />

sich bringt. Übrigens sagt mein Großvater immer wieder, dass der Beruf des<br />

Architekten ein sehr abenteuerlicher sei … Zu einem Problem wurden bei den<br />

Ausgrabungen die Blindgänger, die seit dem Krieg unter der Erde lagen. Das<br />

erzählte er mir, während wir durch den Tiergarten spazierten.<br />

Zu Beginn der Grabungen einer Baustelle findet man einfach alles, wie gesagt.<br />

Dieses Mal riefen sie mich im Büro in Paris an: Der Bauleiter informierte uns,<br />

dass eine nicht gezündete Bombe zwischen die Backen eines Steinbrechers<br />

geraten war, jener Maschinen, die Steine zerkleinern, um Beton herzustellen.<br />

Die Bombe hätte explodieren können. Im Laufe der Arbeiten fanden wir weitere<br />

fünf, alle wurden entschärft. Wir richteten in einer Baracke ein kleines Museum<br />

mit Bomben, Granaten, Waffen und Stahlhelmen ein … unglaublich. Wir<br />

arbeiteten auch mit Tauchern zusammen, das wird mir unvergesslich bleiben.<br />

»Aber was machten Taucher auf dem Festland in Berlin?«, fragte ich. Großvater<br />

Renzo erklärte mir, dass der Boden, wo sie bauen mussten, mitten in der Spree<br />

und dicht an einem breiten Kanal lag. Sobald man wenige Meter in die Erde grub,<br />

stieß man auf Wasser, das abgepumpt werden musste, damit die Bauarbeiter im<br />

Trockenen arbeiten konnten. Das ist auf Baustellen so üblich. Doch hier ergab<br />

sich ein weiteres Problem: Es musste ein Wald gerettet werden.<br />

Abpumpen war nicht möglich, weil wir damit im Tiergarten, genau hier, wo wir<br />

gerade sind, den Grundwasserspiegel um mindestens einen halben Meter abgesenkt<br />

und damit das Überleben der Bäume gefährdet hätten. Und dann hätten<br />

wir eineinhalb Jahre lang Wasser abtransportieren und weit weg, drei Kilometer in<br />

die Tempelhofer Flughafenebene schütten müssen. Das war unmöglich.<br />

Der Tiergarten ist ein riesiger Park, eine grüne Lunge mitten in der Stadt, es<br />

wäre verheerend gewesen, den Bäumen das Wasser zu entziehen. Wir treffen<br />

auf Wiesen, Flächen mit Rhododendron, Linden, Buchen, Bäche, Wege und einen<br />

weißen Schwan, der uns stolz aus der Mitte des Teiches ansieht.<br />

Wir suchten gleichzeitig nach einer einfachen und zugleich komplexen<br />

Lösung. Wenn man das Wasser nicht einfach entfernen konnte, musste man<br />

zwangsläufig darin arbeiten, das heißt, die Fundamente mussten gebaut<br />

werden, indem man auf den Grund ging. Es entstand ein großer See, auf dem<br />

sogar Schlepper fuhren. Ich habe fast alles auf Baustellen gesehen, aber dass<br />

Taucher notwendig waren, das hatte ich bis dahin nicht erlebt. Hundert von<br />

ihnen kamen aus Holland und viele weitere aus Odessa in der Ukraine. Sie<br />

waren groß und stark und tauchten etwa 20 Meter tief in die totale Dunkelheit:<br />

Das Wasser war derart trübe, dass man absolut nichts sah. Sie arbeiteten vier<br />

Stunden am Tag in Schichten von zwei Stunden. Bevor sie wieder auftauchten,<br />

mussten sie eine Stunde wegen des Druckausgleichs warten.<br />

120


Im Winter friert die Wasseroberfläche des Sees zu, denn Berlin liegt weit im<br />

Norden, bei den Koordinaten 52°31’07" Nord und 13°24’29" Ost. Aber statt sich<br />

über den Frost zu ärgern, waren die Taucher zufrieden. Für sie war es einfacher,<br />

so zu arbeiten – natürlich waren die Taucheranzüge, die sie schützten, isoliert.<br />

Ich erinnere mich, dass die Ukrainer vor dem Tauchen Löcher ins Eis bohrten,<br />

um sich dann in die Tiefe fallen zu lassen. Ich dachte, das Eis sei das Problem,<br />

aber einer von ihnen erklärte mir, dass es von Vorteil war: Sie fanden sofort<br />

den genauen Punkt, wo der Kollege der vorherigen Schicht seine Arbeit<br />

unterbrochen hatte. Es genügte, die Stelle auf der Eisfläche mit einem roten<br />

Spray zu markieren und an derselben Position abzutauchen.


Der Taucher, der mit Großvater Renzo sprach, war ein imposanter Mann, der es<br />

gewöhnt war, unter Wasser zu arbeiten. Er kam aus Odessa und hieß Timur.<br />

Er sprach Deutsch mit russischem Akzent, und unser Architekt vor Ort<br />

versuchte, seine Worte ins Englische zu übersetzen. Glücklicherweise behalf<br />

sich der Taucher mit Gesten. Auf Baustellen zählt Körpersprache sehr, zu<br />

viele Worte nützen nichts, die Zusammenhänge versteht man zumindest<br />

teilweise. Timur war stolz auf seine Arbeit, die er gerade erledigt hatte. Was<br />

auf Baustellen alle vereint, ist diese Solidarität. Zusammen mit dem Stolz<br />

des Bauens. Es gilt für den japanischen Schreiner auf der Insel Kansai, für<br />

den österreichischen Bergsteiger, der täglich den Shard hochklettert, für<br />

den ukrainischen Taucher, der im Packeis von Berlin abtaucht. Bauen heißt<br />

zusammenzuarbeiten, deshalb werde ich nicht müde zu wiederholen, dass es<br />

eine Geste des Friedens und des Miteinanders ist.<br />

Auf der Baustelle arbeiteten 5.000 Arbeiter, von denen nur 500 Deutsche<br />

waren. Es war eine internationale Truppe: Usbeken, Engländer, Türken, Italiener,<br />

Ägypter, Holländer und die Taucher aus Odessa. Großvater zählte 25 verschiedene<br />

Nationalitäten. Und sie verstanden einander trotz allem. Vielleicht weil es sich<br />

lohnte: Sie arbeiteten mit Begeisterung am Wiederaufbau eines zerstörten<br />

Stadtviertels! Der Potsdamer Platz wurde von Menschen von überallher gebaut.<br />

Am 4. Oktober 1998 war Richtfest. Aber was Großvater Renzo am meisten gefiel,<br />

waren nicht die offiziellen Reden, sondern eine Vorstellung: das Ballett der<br />

Kraniche. Nicht der Vögel, sondern der mechanischen Kräne, die die Lasten der<br />

Ziegel und Metallträger anhoben.<br />

Daniel Barenboim, der Leiter der Staatsoper Unter den Linden, dirigierte, auf<br />

einem Baugerüst stehend, Beethovens Ode an die Freude. So konnten zwanzig<br />

Kranführer, die mindestens vier verschiedene Sprachen sprachen, ihn sehen und<br />

seinen Bewegungen folgen, die er mit zwei Fahnen machte. Ich erinnere mich,<br />

dass sie außerhalb der Arbeitszeiten probten: Die Kranführer mussten die Gesten<br />

des Orchesterdirigenten wie Musiker verstehen lernen. Sie waren skeptisch und<br />

stellten Fragen in den ausgefallensten Sprachen. Es war ein wunderschönes Fest.<br />

Zwanzig Kraniche tanzten zur Partitur perfekt im Takt.<br />

Nun fahren wir zurück nach Rouen, wo uns die Magnaghi und ihre Mannschaft<br />

erwarten. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit unserem Bootsmann Giobatta,<br />

der ein Brummbär ist, aber freundlich, und die Seemannsgeschichten des<br />

Kommandanten Pasculli. Wir verlassen das Festland und steuern das Mittelmeer<br />

und Griechenland mit seinen feinen, hellen Sandstränden an.<br />

122


EIN FLIEGENDER TEPPICH<br />

AUF DEM MEER<br />

Das Kulturzentrum der<br />

Niarchos-Stiftung in Athen<br />

Wir fahren in Faliro ein, dem antiken Hafen von Athen. Hier, oben auf dem Hügel<br />

mit Blick auf den Golf, hat Großvater das Kulturzentrum der Niarchos-Stiftung<br />

gebaut. Man sagt, dass vor Tausenden von Jahren von hier aus die achäischen<br />

Soldaten auf ihren Triremen in See stachen, um Troja, die Stadt des Priamos, zu<br />

erobern. Wie die lange Belagerung endete, hat Homer in der Ilias erzählt, auch<br />

die habe ich gelesen: die List mit dem Holzpferd und den darin versteckten<br />

Soldaten und den ganzen Rest …<br />

Kommandant Pasculli sagt, dass diese Triremen eine Besatzung von 200 Mann<br />

hatten, doppelt so viele wie die Magnaghi. Weil damals die Schiffe nicht von<br />

einem Motor angetrieben wurden, sondern mit der Muskelkraft der Ruderer<br />

und mithilfe der Segel, wenn der Wind günstig stand. Heute ist Faliro nur noch<br />

ein touristischer Hafen, der eigentliche Hafen von Athen, in dem die großen<br />

Schiffe anlegen, heißt Piräus.


Es gibt eine Geschichte über Großvater Renzo und dieses sonnenverwöhnte<br />

Land, sie ist ein kurios und geheimnisvoll …<br />

Mich verbindet ein unglaublicher Zufall mit diesem Ort. Ein<br />

paar Jahre bevor sie mich wegen des Kulturzentrums anriefen,<br />

war ich von einem lieben Freund auf sein Boot in Griechenland<br />

eingeladen. Ich nahm ein Taxi zum Hafen, aber es fuhr zu<br />

schnell, und die Polizei stoppte uns genau an der Stelle, an der<br />

heute das Gebäude der Stiftung Niarchos steht. Wir saßen dort<br />

mindestens eine halbe Stunde fest. Es dauerte so lange, bis die<br />

Beamten einen Bericht geschrieben und einen Strafzettel wegen<br />

Geschwindigkeitsüberschreitung ausgestellt hatten. Ich sah mich<br />

in der Zwischenzeit um. Ohne es zu wissen, hatte ich eine erste<br />

Ortsbesichtigung gemacht. Es gab nicht viel zu sehen, es war ein<br />

großes verlassenes Gelände, das einmal das Hippodrom von Athen<br />

gewesen war.<br />

War es ein Zeichen des Schicksals? Ich glaube ein bisschen an diese<br />

Dinge, auch an Horoskope, ich bin ein Widder. Jedenfalls beschlossen<br />

sie, einige Jahre nach der Strafzettelgeschichte, meinem Großvater<br />

ein Projekt in Athen anzuvertrauen, das das Opernhaus, einen großen<br />

öffentlichen Park und die Nationalbibliothek zusammenbringen<br />

sollte. Übrigens vertrauten schon die alten Griechen auf Zeichen.<br />

Sie konsultierten Orakel, das berühmteste war das von Delphi. Jeder<br />

konnte die Priesterinnen befragen und um Vorhersagen über die<br />

Zukunft bitten. Ob sie sich bewahrheitet haben, interessiert mich<br />

ehrlich gesagt nicht.


Dieses Gebäude ist nicht nur wichtig, weil sein Bau in einer Zeit der Krise<br />

1.500 Menschen Arbeit verschafft hat, sondern noch aus anderen Gründen:<br />

EinLand braucht Hoffnung, Orte der Begegnung und Schönheit. Ja, Elsa, ich<br />

spreche tatsächlich von Schönheit.<br />

Eine Schönheit, die für die alten Griechen nicht auf oberflächliche Weise zu verstehen<br />

war. Der Ausdruck kalòs kai agathòs bedeutet im Griechischen »schön<br />

und gut«, er verbindet das Ideal der Schönheit mit moralischen Werten. Sie schufen<br />

dafür sogar ein einziges Wort, kalokagathòs, um den engen Zusammenhang<br />

auszudrücken. Es bezieht Ethik und Ästhetik mit ein. Wenn ich also Schönheit<br />

sage, meine ich auch Erforschung, Neugier, Solidarität. Schönheit und Güte sind<br />

ein und dasselbe. Das ist die Schönheit, die Menschen in bessere Menschen verwandeln<br />

kann und ein besonderes Licht in ihren Augen funkeln lässt.<br />

146


Großvaters Worte lassen mich einmal mehr an den Mythos <strong>Atlantis</strong> denken. Es war<br />

eine wunderschöne Stadt, reich an herrlicher Architektur, mit Gärten, Tempeln,<br />

Palästen und sprudelnden Brunnen. Sie war auch deshalb so gut, weil sie von<br />

gerechten und ehrlichen Männern regiert wurde. Tatsächlich wurde die Stadt in<br />

dem Moment von den Göttern bestraft und im Meer versenkt, als sich unter den<br />

Einwohnern Korruption und Habgier ausbreiteten. Waren die Bürger keine guten<br />

Menschen, konnte in der Sichtweise der Griechen auch ihre Stadt nicht schön sein.<br />

Ich finde, wir müssen uns die wahre Schönheit zurückerobern. Man hat sie uns<br />

weggenommen. Wenn man heute von Schönheit spricht, denkt man an eine<br />

äußere, nicht aber eine innere Schönheit. Man spricht von einer »schönen Tat«,<br />

um zu sagen, dass sie gut, großzügig, mutig ist. Übrigens auch in anderen<br />

Sprachen. Die Engländer sagen, um eine intelligente Person zu bezeichnen,<br />

beautiful mind.<br />

Es ist eine Idee, die ich auf meinen Reisen in Istanbul, in Afrika und auch im<br />

Libanon wiedergefunden habe, und es ist auch diese Definition von »schön«,<br />

die ich für erreichbar halte, die noch nicht verloren ist. Weil sie mit den<br />

Bedürfnissen und Wünschen der Menschen verbunden ist. Schön und gut:<br />

Bedürfnisse und Träume gehen Hand in Hand.<br />

147


Auf dem Weg zum Gebäude durchqueren wir den neuen Park. Das Zwitschern der<br />

Vögel begleitet uns auf dem ganzen Spaziergang. Auf diesem Hügel, der gleichzeitig<br />

mit dem Kulturzentrum entstand, kann man das Mittelmeer riechen. Es duftet<br />

nach Zitrone, Lavendel, Rosmarin, Myrte, Feige, Tamariske und Olivenhain.<br />

Das Viertel hier heißt Kallithéa, was im Griechischen »schöne Aussicht« bedeutet.<br />

Aber die Aussicht ist nicht mehr so schön. Eine Autobahn entlang des alten Hafens<br />

und dicht bebaute Viertel haben Stadt und Meer voneinander getrennt. Heute gibt<br />

es jedoch den künstlichen Hügel, der sich sanft erhebt und den Blick auf das Blau<br />

des Ägäischen Meeres freigibt.<br />

Wir wollten einen Platz schaffen, von dem aus man sowohl Athen als auch das<br />

Meer sieht. Beim ersten Besuch des Ortes, Jahre nach dem Zwischenstopp im<br />

Taxi, kletterten wir auf die Terrasse eines nahegelegenen Krankenhauses. Wir<br />

stiegen die Treppe hoch, Stockwerk um Stockwerk, um die richtige Höhe für den<br />

Hügel herauszufinden. Wir machten weder Studien noch Berechnungen, wir<br />

haben einfach nur beobachtet: Die Terrasse im zehnten Stock war perfekt. Uns<br />

wurde bewusst, dass man auf 30 Meter Höhe freie Sicht sowohl auf die Stadt als<br />

auch auf das Meer hat. So entstand dieser abfallende Park, der nach Süden hin<br />

sanft ansteigt. Damit die gesamte Fläche begrünt werden konnte, fanden wir<br />

eine einfache Lösung. Wir hoben den Boden an und platzierten die Oper und die<br />

Bibliothek unter dem künstlichen Hügel.<br />

Außer dem Park, der nach mediterraner Macchia duftet, gibt es neben dem<br />

Gebäude einen 400 Meter langen und 30 Meter breiten Meerwasserkanal. Die<br />

Menschen kommen her, um Kanu zu fahren und mit kleinen Segelbooten an<br />

Regatten teilzunehmen. Als wäre es ein See, in dem man ein paar Schritte vom<br />

Meer entfernt spielen kann.<br />

Neben der Idee des Hügels und dem Wasser, das einen Vorgeschmack auf das<br />

Meer darstellt, gibt es ein drittes Element: eine Piazza, die das Herzstück der<br />

Anlage ist. Wir haben sie Agora genannt, wie im alten Griechenland, als die agorà<br />

das Zentrum des Lebens der polis, der Stadt, war. Die Leute kommen hierher, um<br />

auf dem Hügel spazieren zu gehen, sich am Kanal zu vergnügen, um Musik zu<br />

hören und in der Bibliothek zu lernen, und hinterher treffen sie sich in der Agora.<br />

So war es schon in der Antike.


Wir sind auf das Dach des Gebäudes gestiegen, und es fühlte sich an, als ob wir<br />

auf einem fliegenden Teppich wären. Um dorthin zu gelangen, muss man unter das<br />

hohle Dach gehen und Leitern hochklettern. Im Inneren verbirgt sich eine eigene<br />

Welt: Die Stützen, die es tragen, verteilen die Kräfte mit einem Gitter aus Balken<br />

und Stäben, das wie ein Dschungel aussieht, auf die gesamte Struktur. Dieses<br />

System ermöglicht es im Falle eines Erdbebens, dass sich das Dach bewegen kann,<br />

ohne zu brechen. Oben steht man dann mitten auf einem sonnigen Platz, der mit<br />

Photovoltaikzellen gepflastert ist. Wir befinden uns im Zentrum einer großen Linse,<br />

die das glühend heiße Sonnenlicht einfängt und in Energie umwandelt.<br />

Du hast es gesagt, Elsa, wir befinden uns auf einem fliegenden Teppich. Das<br />

Erste, worüber man beim Entwerfen eines Gebäudes in Athen nachdenken<br />

muss, ist, wie man sich vor der Sonne schützen kann. Nicht nur vor der Hitze<br />

und der Temperatur, sondern auch vor dem grellen, blendenden Licht. Wenn<br />

wir von der Spitze des Hügels aus in die Ferne schauen wollen, schützen<br />

wir instinktiv unsere Augen mit einer Hand. Es gibt also zwei Gründe,<br />

warum wir dieses Dach gebaut haben: um Schatten zu schaffen und um die<br />

150


Sonneneinstrahlung einzufangen. Das Dach misst 100 x 100 Meter und schwebt<br />

17 Meter über dem Hügel. Mit einem Hektar Solarzellen werden 2,5 Megawatt<br />

Strom erzeugt, genug für den Grundbedarf des Kulturzentrums.<br />

Wenn wir auf das Meer hinausschauen, sehen wir in der Ferne Umrisse von Inseln, die<br />

immer kleiner werden, bis sie ganz am Horizont verschwinden: die Kykladen, deren<br />

Inseln kreisförmig in der Ägäis verstreut sind. Ich habe eine schauderhafte Geschichte<br />

gelesen, die in diesem Meer begraben liegt und mit <strong>Atlantis</strong> zu tun hat.<br />

1.600 Jahre vor Christus gab es einen schrecklichen Vulkanausbruch auf der Insel Santorini,<br />

und die Caldera, die heute von Touristen überfüllt ist, ist nichts anderes als der Krater.<br />

Was wir sehen, ist der Überrest einer viel größeren Insel, die Thera hieß. Sie wurde<br />

auseinandergerissen, ein Strahl aus Asche und überhitzten Gasen erreichte die zweite<br />

Schicht der Atmosphäre, das Getöse war von Ägypten bis Skandinavien zu hören. Der<br />

zentrale Teil der Insel wurde gesprengt, während eine gigantische Wassermasse das<br />

gesamte Gebiet überflutete und es in eine Lagune verwandelte, aus der im Laufe der<br />

Jahrhunderte zwei kleine Inseln wieder auftauchten. Damals entstand vermutlich der<br />

Mythos <strong>Atlantis</strong>, der mündlich weitergetragen wurde, bis Platon ihn schriftlich festhielt.<br />

151


Bevor wir unsere Reise nach Ithaka, der Insel des Odysseus, fortsetzen, werden wir<br />

den Parthenon besuchen, den vielleicht weltweit berühmtesten Tempel des antiken<br />

Griechenlands, der die weißen Häuser von Athen majestätisch überragt. Einige<br />

Architekturkritiker schrieben, dass das von Großvater erbaute Kulturzentrum eine<br />

Art zeitgenössischer Parthenon sei, aber Großvater ist anderer Meinung.<br />

Besser, wir lassen es mit der Herausforderung der klassischen Welt bleiben. Sie<br />

ist unmöglich und sinnlos. Der hier zu dir spricht, ist schon 80 Jahre alt, und in<br />

meinem Alter hat man zu sehen gelernt. Auch die eigene Unzulänglichkeit. Mit<br />

80 Jahren hat man viele Dinge gemacht, aber immer noch nicht die richtigen. An<br />

einem bestimmten Punkt im Leben akzeptiert man seine eigene Ohnmacht und<br />

sogar einige Niederlagen, das ist ein ehrenvoller Ausweg. Solange man es mit<br />

Leichtigkeit macht, im Tanzschritt. Es dauert ein ganzes Leben, wenn möglich<br />

sogar ein langes, um alles zu lernen, zu verstehen und zusammenzufügen.<br />

Vielleicht um ein Gebäude zu schaffen, in dem Platz für die Wünsche der<br />

Menschen, die Erfindungen der Erbauer und die Poesie der Räume ist. Um das<br />

zu können, muss man eine neugierige Kindheit, eine rastlose Jugend und eine<br />

geschäftige Reife erlebt haben. Man muss viele Menschen kennengelernt haben,<br />

an vielen Orten still gewandelt sein. Es ist wichtig, viel gereist zu sein, gelitten<br />

und Bücher gelesen zu haben, viele Freunde gehabt und vielleicht sogar ihre Ideen<br />

gestohlen zu haben. Von Schönheit berührt, von Ungerechtigkeit empört und von<br />

Krieg erschreckt worden zu sein. All dies muss man gemacht haben, um es dann<br />

zu vergessen, sodass die Erinnerung zu dem wird, was du bist. Und nur dann,<br />

vielleicht wie durch ein Wunder, schaffst du es, das richtige Gebäude zu bauen.<br />

Skizzen, die Großvater Renzo für das Kulturzentrum von<br />

Athen angefertigt hat: Hier sind die Pfeiler zu sehen, die<br />

das Ganze tragen. Wie viel Gewicht sie tragen müssen!<br />

152


DAS ENDE DER REISE?<br />

Ithaka, die Insel des Odysseus<br />

Großvater und ich haben immer noch nicht die perfekte Stadt gefunden, weder im<br />

Japanischen Meer noch an der Mündung der Themse, noch in Neukaledonien. Keine<br />

Spur davon an der Seine, am Ufer des Hudson, in dem sich die Wolkenkratzer<br />

von Manhattan spiegeln, oder im See am Potsdamer Platz in Berlin. Wir sind nach<br />

Griechenland gekommen, um weiterzusuchen, hier, wo der Mythos entstanden ist.<br />

Großvater gibt nicht auf, er ist sich sicher, dass <strong>Atlantis</strong> existiert.<br />

Ich bin froh, an diesem wunderbaren Abenteuer teilgenommen zu haben. Ich habe<br />

so viele Dinge gelernt, dass ich sie mir kaum merken kann, <strong>Atlantis</strong> hat uns diese<br />

Reise geschenkt und uns angeregt, an Orte zu fahren, die ich nicht kannte. Und<br />

die ich jetzt kenne. Es hat uns gelehrt, was uns ihre Entdeckung vielleicht nie geschenkt<br />

hätte. Wir haben gelernt, dass man hoffen muss, einen langen Weg gehen<br />

zu können, einen Weg reich an Erfahrungen, Zweifeln und Fehlern. Großvater behauptet,<br />

es nütze nichts, seinen Gang zu beschleunigen. Seiner Meinung nach<br />

zählt nicht so sehr das Ziel, sondern der Weg, um es zu erreichen. Wie Odysseus,<br />

der seine Heimat Ithaka erst im Alter wiedersah. Bereichert um den Wissensschatz,<br />

den er auf seinen Irrwegen über das Mittelmeer, das damals die ganze Welt war,<br />

angesammelt hatte. Er traf die Sirenen, den Zyklopen Polyphem, die Zauberin Circe,<br />

Calypso ... Auf meine eigene kleine Art und Weise fühle auch ich mich ein wenig<br />

reicher und reifer als zuvor. Ich bin gewachsen. Von einer Reise kommt man immer<br />

verändert zurück, und ich glaube, im positiven Sinn.<br />

Wir nehmen Kurs auf die Insel des Odysseus, die sich auf dem nördlichen Breitengrad<br />

38°21’57 und dem östlichen Längengrad 20°43‘7 befindet. Wir werden zwischen<br />

den weißen Felsen der Landenge von Korinth vorbeifahren und die Echinaden<br />

vor der Mündung des Flusses Acheloos umrunden. Bis sich vor uns der Hafen<br />

Vathi und die zerklüftete Küste Ithakas eröffnet. Wie schön, ich kann es kaum erwarten,<br />

von Bord zu gehen!<br />

Ich frage mich und auch meinen Großvater, ob die Suche nach <strong>Atlantis</strong> nicht mit der<br />

Suche nach der Schönheit, wie sie die Griechen verstanden, zusammenfällt. Ob die<br />

wahre Schönheit am Ende auch in all den wunderbaren Dingen liegt, die wir auf<br />

dieser langen Reise gesehen haben. So schön wie der Polarstern, der unseren Bootsmann<br />

Giobatta und den Kommandanten Pasculli bei ihrer Fahrt leitet. Ist Schönheit<br />

nicht das, was wir in den Tänzen der Delfine um den Schiffsrumpf der Magnaghi beobachtet<br />

haben, in den Sonnenuntergängen auf dem Meer und in der Morgendämmerung,<br />

die die Farben der Dinge wieder aufleuchten lässt? Schön sind die Werften,<br />

in denen Arbeiter aus allen Ländern gemeinsam und in Frieden bauen, schön sind die<br />

Albatrosse, die bei den Überfahrten aufs Wasser hinabgleiten, um sich auszuruhen,<br />

154


schön aber ist auch der Wind, der den Schaum des Meeres hebt und ihn regenbogenfarben<br />

färbt. Schön sind die Plätze, wo man sich trifft und unterhält. Schön sind die<br />

Gebäude, die den Erdbeben trotzen und die »musikalischen« Hütten der Kanaken.<br />

Alles ist schön, was aus Intelligenz oder aus Liebe entsteht: ein Motor, der nicht verschmutzt,<br />

ein Impfstoff, der ein Virus stoppt, ein Kompass, der die richtige Richtung anzeigt,<br />

eine Konferenz gegen den Krieg und die Ärzte, die in Uganda Kinder heilen. Wenn<br />

es so ist, dann können wir <strong>Atlantis</strong> zu allen Zeiten und an allen Orten finden, auch in<br />

einem schönen Buch, in einer schönen Musik, in der Zuneigung zu einem Tier, in einem<br />

Gedicht oder einem Kunstwerk. Man kann auf Wissen nicht verzichten, man kann das<br />

Streben nach Schönheit nicht aufgeben. Davon erzählt mir Großvater Renzo heute.<br />

Wahre Schönheit ist, wenn das Unsichtbare sichtbar wird. Wenn das Wesen der<br />

Dinge sich an der Oberfläche zeigt. Eine Idee, die sich nicht nur auf Kunst und<br />

Natur, sondern auch auf Wissenschaft und Gesellschaft übertragen lässt.<br />

Man kann die Schönheit nicht fassen. Wenn man die Hand ausstreckt, entweicht<br />

sie, aber wenn man sie definiert, wie es die Griechen machten, dann wird alles<br />

möglich. So wie <strong>Atlantis</strong> war, bevor es korrupt wurde, eine Stadt, die jetzt<br />

unerreichbar ist, ein Traum von Perfektion, den du wahrscheinlich nie erreichen<br />

können wirst. Aber es ist einen Versuch wert, es liegt in der Natur des Menschen,<br />

nach <strong>Atlantis</strong> zu suchen. Deshalb werde ich, auch wenn wir es noch nicht<br />

155


gefunden haben und auch wenn es nicht existiert, weiter nach <strong>Atlantis</strong> suchen.<br />

Wir haben es überall gesucht, aber was zählt, ist vor allem die Reise. Die Schönheit<br />

ist nützlich, sie hilft, die Menschen besser zu machen und die Welt zu verändern. Es<br />

geschieht nicht alles gleichzeitig, aber nach und nach. Die Schönheit verändert die<br />

Welt und die Welt verändert den Menschen, einen nach dem anderen.<br />

Ich verstehe, dass Großvater sich nicht geschlagen geben will, und ich merke, wie<br />

unnachgiebig er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Im Grunde stimme<br />

ich ihm zu, aber nach so vielen Wochen und Monaten auf dem Wasser möchte ich<br />

nach Hause zurückkehren: zu meinen Freunden, zu Mama und Papa, zu meinem<br />

Hund Sigfrid, der sicher auf mich wartet wie Argus auf Odysseus. Ich möchte in einem<br />

richtigen Bett schlafen und im Trockenen aufwachen. Es war schön ... aber was sollen<br />

wir noch tun in Ithaka? Wir wissen nicht, wo <strong>Atlantis</strong> liegt, es gibt Hunderte von<br />

Hypothesen, aber keine davon ist bewiesen: einige sagen vor Feuerland, andere in der<br />

Sargassosee, wieder andere in Sibirien, in Sizilien, Spanien, Sardinien, Griechenland,<br />

in der Sahara ... <strong>Atlantis</strong> könnte auch im Golf von Genua gefunden werden, nur einen<br />

Steinwurf von Großvaters Atelier entfernt. Aber vielleicht ist es gut, dass <strong>Atlantis</strong> ein<br />

Geheimnis bleibt. Ich versuche, Großvater, der, wie ihr inzwischen wißt, sturer ist als ein<br />

Maultier, zu überzeugen: »Lass uns nach Hause gehen. Vermisst du Punta Nave nicht?«<br />

Ja, meine Liebe, das tue ich. Aber ich bin auf der Suche nach <strong>Atlantis</strong>.


RENZO PIANO (geb. 1937 in Genua) gilt international als einer der einflussreichsten,<br />

produktivsten und aktivsten Architekten. Er hat Gebäude auf der<br />

ganzen Welt gebaut und Menschen, die ihn gut kennen, nennen ihn Geometra<br />

(wegen seiner Manie, alles zu vermessen, sogar seine Kinder). Er ist Präsident<br />

der Renzo Piano Foundation, die sich der Architektur und der Ausbildung junger<br />

Menschen widmet. Er liebt das Meer und hat es seinem Sohn Carlo und seiner<br />

Enkelin Elsa beigebracht, es zu lieben.<br />

CARLO PIANO ist Journalist und ein neugieriger Erforscher der Stadt und des<br />

Meeres. Er arbeitet seit Jahren für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen<br />

und widmet sich auch dem Schreiben von Büchern. Elsa, die Protagonistin des<br />

Buches, ist seine Tochter.<br />

TOMMASO VIDUS ROSIN ist Illustrator und Grafikdesigner in Udine. Er illustrierte<br />

für Midas den »Atlas des Weltalls« von Lara Albanese und »The Game« von<br />

Alessandro Baricco. Auch er ist immer auf der Suche nach der perfekten<br />

Illustration.


NEW YORK<br />

SAN FRANCISCO<br />

ATLANTISCHER OZEAN<br />

PAZIFISCHER OZEAN


LONDON<br />

PARIS<br />

BERLIN<br />

ATHEN<br />

GENUA<br />

OSAKA<br />

ITHAKA<br />

ENTEBBE<br />

NOUMÉA<br />

INDISCHER<br />

OZEAN


Eine faszinierende Reise durch die<br />

Welt der Architektur<br />

Die spannende Reise von Renzo Piano und seiner Enkelin Elsa beginnt an einem<br />

Spätsommertag im Hafen von Genua. Sie werden von einem uralten Wunsch geleitet:<br />

in See zu stechen und sich auf die Suche nach <strong>Atlantis</strong> zu machen, der perfekten<br />

Stadt, von der jeder Architekt träumt. Sie machen Halt an Stationen, an denen der<br />

Stararchitekt Renzo Piano sein Leben lang nach Perfektion strebte. Sie besuchen das<br />

Centre George Pompidou in Paris, sie entdecken den Kansai-Flughafen von Osaka,<br />

sie besteigen die Shard in London, den höchsten Wolkenkratzer Europas. Diese Reise<br />

ist ein echtes Abenteuer, ebenso wie der Beruf des Architekten.<br />

ISBN 978-3-03876-205-8<br />

www.midas.ch

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