Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
MUT&LIEBE / THEMA /<br />
Generationswechsel<br />
„Die kleine Kneipe in unserer Straße“ sang Peter<br />
Alexander 1976 und beschrieb ein seit dem 18. Jhd.<br />
erwähntes, ortsgebundenes, sozial-psychologisches<br />
Phänomen, das leider, wie so vieles, vom aussterben<br />
bedroht ist. Umso erfreulicher ist es, dass ein<br />
fast nahtloser, nimmt man die Pandemie-Pause aus,<br />
Generationswechsel in der Gaststätte "Am Lokal -<br />
bahnhof" vollzogen wurde.<br />
„Am Lokalbahnhof“ in der Bahnhofstraße – der Bahnhof<br />
ist fast einen Kilometer weiter weg – das irritiert schon<br />
den einen oder anderen. Mehr als 100 Jahre, von 1848<br />
bis zur Stilllegung am 1. Oktober 1955, gab es einen regen<br />
Eisenbahnverkehr zwischen Offenbach und Frankfurt<br />
über Oberrad – das alte Bahnhofsgebäude steht<br />
noch in den Feldern. In den 1920ern fuhren die Züge<br />
im 40-Minuten-Takt mit Güterabfertigung, Kofferservice,<br />
Fahrkartenschalter, Kursbuch, Bahnwärter und Bahnhofsrestauration<br />
(schon fast alles ausgestorben) dort, wo<br />
sich heute die Berliner Straße befindet. In der heutigen<br />
Kneipe befand sich eine Bäckerei, bis heute ist das Haus<br />
in Familienbesitz. Das Bahnhofsgebäude wurde 1960<br />
abgerissen und durch ein ausgesprochen hässliches<br />
Parkdeck ersetzt. Heute steht dort ein Wohnblock.<br />
Text/Fotos von Thomas Lemnitzer<br />
Hans-Joachim „Achim“ Kraft, Jahrgang 1940, in<br />
Berlin groß geworden und nach etlichen Schleifen<br />
durch die Republik in Offenbach angekommen,<br />
eröffnete, nachdem er den Hintergrund des<br />
Straßennamens eruiert hatte, seinen Lokalbahnhof.<br />
Mit Liebe zum Detail, alten Bahnschildern<br />
und historischen Fotos des alten Offenbachs,<br />
setzte er sein Lokal für Reisende, Ankommende<br />
und Bleibende in Szene. Immer bedacht, ein intellektuelles<br />
Niveau nicht zu unterschreiten und<br />
auch zivilisatorische Regeln durchzusetzen.<br />
Wer mit „onduliertem Blick“ (verdreht, ursprünglich<br />
Welle) das Lokal betrat oder einen Schoppen zu<br />
viel genommen hatte, bekam dann schon zu hören:<br />
„Jetzt haste aber jenuch, lass mal jut sein.“ Das<br />
sicherte ihm ein reges Stammpublikum in drei<br />
Schichten. Am frühen Abend die Honoratioren<br />
des Kunstadels und des gediegenen Bürgertums<br />
nebst dem Autoschrauber und anderen Handwerkern<br />
zum Feierabendschoppen. Am späteren<br />
Abend kommen Studenten der HfG, Lehrlinge, all<br />
jene, die die moderaten Preise zu schätzen wissen<br />
und einem geselligen Beisammensein nicht<br />
abgeneigt sind. Legendär und nur donnerstags zu<br />
bekommen, waren die „Berliner Buletten“, immer<br />
36 SEPTEMBER / OKTOBER / NOVEMBER 2021