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Wirtschafts-News II 2021 Mainz

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Vorwort<br />

3<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

kurz vor der Bundestagswahl ist der Ausgang erstmals<br />

seit knapp zwei Jahrzehnten kaum absehbar. Überall dort,<br />

wo es keine Mehrheitswahlsysteme gibt, wie etwa im<br />

Vereinten Königreich, zerfasern Parlamente und Parteisysteme.<br />

In den meisten Fällen, so auch in Deutschland,<br />

begann es mit dem Druck von links auf die sozialdemokratischen<br />

Parteien. In Frankreich etwa holten die Sozialdemokraten,<br />

jene Partei, die Mitterand und Hollande<br />

stellte, bei den Präsidentschaftswahlen gerade noch knapp<br />

6,4 %. In den Niederlanden zeichnet sich für die Sozialdemokratie<br />

ein ähnliches Bild. Einstmals Volkspartei, errungen<br />

sie in diesem Jahr gar weniger als 6 % der Stimmen. Doch<br />

betroffen von dieser Entwicklung sind längst nicht mehr<br />

nur Sozialdemokraten. Auch die Konservativen müssen<br />

nunmehr um Mehrheiten bangen, da der Druck von rechts<br />

allerorten zunimmt. Während die Erosion der Volksparteien<br />

in vielen Ländern Europas seit langer Zeit in vollem Gang<br />

ist, verblieb in Deutschland ein Gravitationsfeld in der<br />

konservativen Mitte. Doch wird es Bestand haben? Und<br />

was sind die Ursachen für die Zerfaserung von Parteien<br />

und Parlamenten?<br />

Fragt man Ökonomen und Soziologen, machen sie als<br />

Ursache hierfür die Individualisierung der Gesellschaft,<br />

die Fragmentierung der Öffentlichkeit und Diversifizierung<br />

von Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnissen aus. In der<br />

Folge entstand die Strukturreformbedürftigkeit ganzer<br />

Lebens- und Arbeitsbereiche. Es mag eine Ironie der Geschichte<br />

sein, dass sich hierbei zwei Kurven übereinanderlegen,<br />

die antizyklisch agieren. So fiel es ausgerechnet<br />

einer SPD geführten Regierung zu, der vorerst letzten<br />

mit einem Wahlergebnis jenseits der 35 %, eine Sozialreform<br />

durchzuführen, die sich im Kern mit Angebotspolitik<br />

befasste und mithin an die Lobby der Arbeitgeber<br />

richtete. Die Korrekturen von Gerhard Schröders Agenda<br />

2010 erfolgten zwar auch durch die SPD als mitregierende<br />

Partei, ja setzte sie sie gar durch, wie den Mindestlohn,<br />

werden aber allgemein der CDU zugeschrieben.<br />

Milieuentkopplung ist seither das Schlagwort bei der<br />

politisch-soziologischen Ursachenforschung. Und ja, die<br />

einstmaligen gesellschaftlichen Gruppen glaubten ihre<br />

politischen Vertretungen verloren zu haben. Die polarisierende<br />

wie gleichermaßen beruhigende Unterteilung<br />

zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden begann<br />

zunächst in Nordrhein-Westfalen zu erodieren.<br />

Vorausgegangen waren der dortige Strukturwandel und<br />

die entsprechende Sozialreform von Johannes Rau als<br />

dienstlängstem Ministerpräsidenten der Bundesrepublik,<br />

der in seinem Bundesland eine absolute Mehrheit noch<br />

erlebte. Diffuse Themenfindung, unklare Ansprache, mangelnde<br />

Empathie und zunehmend verwässerte Parteikonturen<br />

schon in den Neunzigerjahren ebneten den Weg<br />

für noch tiefere Milieuentkopplung und erste Flügelbildungen<br />

zu Anfang der Nullerjahre, zunächst auf der linken<br />

Seite.<br />

„Zukunft der Arbeit“ ist mit Sicherheit ein solch diffuser<br />

Begriff. Auch Bezeichnungen wie „New Work“ oder „Arbeit<br />

4.0“ machen es nicht besser. Doch vor allen Dingen letzterer,<br />

Arbeit 4.0, gibt Aufschluss über die historische<br />

Einordnung. Dabei wiederholt sich ein Prozess so zuverlässig,<br />

wie ein Uhrwerk. Vor Milieuabwanderungen steht<br />

die Veränderung der Lebensumstände und Bedingungen,<br />

auch in ihrer Grundsätzlichkeit. Strukturreformen sind<br />

– aus welchen Beweggründen auch immer – die politische<br />

Reaktion darauf. Und zwischen vermeintlichem Bewusstseinswandel<br />

und wahrhafter Strukturreform wabert für<br />

gewöhnlich eine Blase voller Buzzwords, Schlagwörter<br />

und – je nach Aggregatzustand der jeweiligen Akteure<br />

– irrlichternder Gedanken. Doch auch das gehört dazu,<br />

denn sie erwecken Emotionen. Angst, Hoffnung, Zweifel,<br />

Enthusiasmus – all dies mag Nährboden für Populismus<br />

sein, doch es kann auch der Beginn einer Idee, ja einer<br />

veritablen Reform sein. Klarheit über die politischen Interessen<br />

der Akteure gibt nicht nur Aufschluss darüber,<br />

wes Geistes Kind ein jeder ist, sondern verhilft Parteien<br />

zu Konturschärfe.<br />

Es gab wohl kaum eine Wahl in den vergangenen Jahrzehnten,<br />

die so spannungsgeladen war. Arbeit 4.0, New<br />

Work, Zukunft der Arbeit oder wie man es auch nennen<br />

will, ist das zentrale Thema, denn untrennbar verbunden<br />

damit sind Umwelt- und Klimafragen.<br />

Ob eine eingeengte Rose, die sich wehrt, wie auf dem<br />

Wiesbadener Titel zu sehen, weil ihr die Lebensgrundlage<br />

entzogen wird, ein Umweltthema oder ein sozio-ökonomisches<br />

ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Doch<br />

am Ende des Tages ist es einerlei, denn beide Wege führen<br />

zum selben Ergebnis: Reformbedarf.<br />

Haben Sie einen schönen Spätsommer.<br />

Herzlichst,<br />

Ihr Bernd Wildemann

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