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Stefan Rühlmann<br />

Der Fluch<br />

des Roten Druiden<br />

Teil 2<br />

Fantasy-Roman<br />

NOEL-Verlag


Originalausgabe<br />

Mai 2021<br />

NOEL-Verlag GmbH<br />

Achstraße 28<br />

D-82386 Oberhausen/Obb<br />

www.noel-verlag.de<br />

info@noel-verlag.de<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie Frankfurt; ebenso in der Bayerischen Staatsbibliothek<br />

in München.<br />

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der<br />

Grenzen des Urheberrechtschutzgesetzes ist ohne Zustimmung des<br />

Verlages und des Autors unzulässig und strafbar.<br />

Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen<br />

Systemen.<br />

Der Autor übernimmt die Verantwortung für den Inhalt seines Werkes.<br />

Sämtliche im Werk verwendete Namen sind frei erfunden.<br />

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.<br />

Covergestaltung:<br />

Autor:<br />

© NOEL-Verlag<br />

Stefan Rühlmann<br />

1. Auflage<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-96753-064-3


Die Sage vom Roten Druiden<br />

In jenen längst vergangenen Zeiten, in denen die Menschen noch in den<br />

endlosen Wäldern Sibiriens lebten, gab es die sagenumwobenen großen<br />

Siedlungen. In der Nähe dieser Siedlungen, jedoch fernab von den Menschen,<br />

lebte der Rote Druide. Er half den Menschen mit seiner weißen<br />

Magie und den uralten Zaubersprüchen, wo immer er ihnen helfen<br />

konnte. Und so gediehen die Siedlungen der verschiedenen Stämme und<br />

die Menschen lebten glücklich und zufrieden im Einklang mit der Natur<br />

und sich selbst.<br />

Doch eines Tages beschworen die vier Weltenriesen, die die Götter über<br />

Erde, Wasser, Feuer und Himmel waren, schwarze Magie und bösen<br />

Zauber herauf. Sie wollten verhindern, dass die Menschen den Roten<br />

Druiden anbeteten und die Weltenriesen in Vergessenheit geraten würden.<br />

Der Rote Druide musste mitansehen, wie die Ernten der Stämme auf den<br />

Feldern verdorrten oder im ewig vom Himmel fallenden Wasser ertranken.<br />

Unter den letzten überlebenden und hungernden Menschen<br />

begann ein erbitterter Kampf um die kärglichen Reste, die die Wälder<br />

und Felder noch hergaben.<br />

Verzweifelt versuchte der Rote Druide, den Menschen zu helfen, doch<br />

er musste erkennen, dass er den vier Weltenriesen nichts entgegensetzen<br />

konnte. Diese waren einfach zu mächtig.<br />

So kam es, dass einige wenige Menschen die Ernte eines Jahres horteten<br />

und nur dann etwas davon abgaben, wenn ihnen die gesamten Reichtümer<br />

der Hungernden vermacht wurden. Schwerter wechselten den<br />

Besitzer gegen eine Handvoll Getreide, die Menschen tauschten Hirse<br />

gegen wertvolle Teppiche und Felle. Aber als der Rote Druide sah, dass<br />

Familien ihre Kinder in die Sklaverei gaben, um etwas Essbares zu bekommen,<br />

entschloss er sich, alle Magie und Zauberei in Tonkrügen<br />

einzufangen und für immer von der Erde zu verbannen.<br />

Trotzdem hatten Neid, Missgunst, Habgier, Heimtücke und vieles andere,<br />

was mit der schwarzen Magie einhergeht, von den Menschen Besitz<br />

ergriffen. Diese bösen Eigenschaften fing der Rote Druide ebenfalls in<br />

den Tonkrügen ein, damit die Menschen fortan in Frieden und Liebe,<br />

aber ohne Magie und Zauberei leben konnten.<br />

Dies erfuhren die vier Weltenriesen, die daraufhin versuchten, den Roten<br />

Druiden zu besiegen und ihm die Tonkrüge zu stehlen. Doch dieser<br />

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konnte mittlerweile die Stämme davon überzeugen, ihr Siedlungsgebiet<br />

aufzugeben und nach Westen zu ziehen, um den Weltenriesen zu<br />

entkommen, was den Menschen aber nicht gelang.<br />

Als der Rote Druide bemerkte, dass er nichts gegen die vier Weltenriesen<br />

ausrichten konnte, übergab er die verschlossenen Tonkrüge seiner großen<br />

Liebe, der Priesterin Anirahtak.<br />

Die vier Weltenriesen nahmen den Roten Druiden gefangen, mussten<br />

aber feststellen, dass die Tonkrüge nicht mehr aufzufinden waren. Aus<br />

Rache sperrten sie ihn in die Gruft ein, die der Rote Druide ausgehoben<br />

hatte, um die Tonkrüge und deren Inhalte für alle Zeiten von den Menschen<br />

fernzuhalten.<br />

Obwohl die Jahre, in denen der Rote Druide mit den vier Weltenriesen<br />

kämpfte und seine geliebte Anirahtak mit den Tonkrügen zum Schneeberggletscher<br />

floh, die glücklichsten Jahre der Menschheit waren, half<br />

ihm, dem Roten Druiden, niemand, seinem Schicksal zu entkommen.<br />

Bevor sich die Platte herabsenkte, die die Gruft des Roten Druiden für<br />

immer verschließen sollte, schwor er, sich an den Menschen zu rächen,<br />

wenn er jemals wieder das Licht der Welt erblicken sollte.<br />

Seine geliebte Anirahtak verschwand mit den Tonkrügen nach Norden<br />

und schwamm über den großen See. Dorthin konnten die vier Weltenriesen<br />

ihr nicht folgen, denn sie waren nicht in der Lage, den großen See<br />

zu überqueren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Anirahtak ziehen<br />

zu lassen.<br />

Kurz bevor Anirahtak den Schneeberggletscher erreichen konnte, stürzte<br />

sie einen Hang hinunter, wobei ihr ein paar der Krüge aus den Händen<br />

glitten und am Boden zersprangen. Die Inhalte dieser Krüge gelangten<br />

alsbald in die Welt und vergifteten die Seelen der Menschen erneut.<br />

Die restlichen Tonkrüge brachte Anirahtak auf den Schneeberggletscher.<br />

Dort versteckte sie sie, sodass sie niemals jemand finden könnte und sie<br />

bis in alle Ewigkeit verschwunden sein würden.<br />

Aber eines Tages, wenn der Rote Druide seine Rache an den Menschen<br />

genommen hat, wird jemand erscheinen, um die bösen Dinge, die aus<br />

den Tonkrügen wieder in die Welt gekommen waren, gegen Magie und<br />

Zauberei auszutauschen. Dieser neue Rote Druide würde mit Anirahtak<br />

auf dem Schneeberggletscher erscheinen, begleitet von drei Jungfrauen<br />

und ihrem Krieger.<br />

5


Was bisher geschah:<br />

Nachdem Jonathan eine alte Gruft gefunden hatte, in der sich ein in<br />

Leder geschlagenes Buch befand, begann das große Sterben der Menschheit.<br />

Dieses Sterben vollzog sich so rasant, dass nicht einmal jemand auf<br />

den Gedanken kam, einen Impfstoff dagegen zu entwickeln. Man hatte<br />

einfach keine Zeit dafür …<br />

Mitten in diesem Chaos erhielt er die Hilfe eines Sprachwissenschaftlers.<br />

Mit dessen Aufzeichnungen hatte Jonathan die Möglichkeit, die Zeichen<br />

aus dem alten Lederbuch zu übersetzen. Da Jonathan aber in kürzester<br />

Zeit der einzige Mensch auf Erden war – zumindest glaubte er das in<br />

diesen Tagen –, versuchte er verzweifelt, sich auf ein Leben allein vorzubereiten.<br />

Doch war er wirklich allein?<br />

Als Jonathan sich in der Stadt, in der er gearbeitet hatte, ein paar lebenswichtige<br />

Dinge besorgen wollte, entkam er gerade noch dem Flammeninferno,<br />

das Naumburg in Schutt und Asche gelegt hatte. Auf der Flucht<br />

in sein Heimatdorf stellte er jedoch fest, dass er nicht der einzige Überlebende<br />

war.<br />

Nach anfänglichen Startschwierigkeiten wussten Jonathan und Katharina<br />

miteinander umzugehen. Doch Jonathan spürte mit der Zeit, dass er<br />

Gefühle für Katharina entwickelte. Aber Katharina war in der Zeit vor<br />

dem Tag null eine Novizin, die in einem Kloster gelebt hatte – und damit<br />

für Jonathan unerreichbar war.<br />

Getrieben von der Furcht, dass es durch die großen Chemiebetriebe in<br />

ihrer Nähe zu einer Katastrophe kommen könnte, beschlossen beide,<br />

nach Norden aufzubrechen. Dieser Entschluss wurde noch durch Jonathans<br />

Schreiben bestärkt. Ein Schreiben, das er nicht kontrollieren konnte,<br />

den beiden aber Hinweise gab, die sie im Zusammenhang mit den<br />

ersten Übersetzungen des alten Buches befolgten. Dadurch brachen sie<br />

schneller nach Norden auf, als sie es zunächst geplant hatten.<br />

Unterwegs fanden Katharina und Jonathan zwei Kinder, die sie mit sich<br />

nahmen. Schnell begegneten sie auch den ersten Erwachsenen. Kurze<br />

Zeit später kristallisierte sich dann endlich auch ihr eigentliches Ziel heraus<br />

– Seedorf.<br />

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Und dorthin waren sie nicht allein unterwegs. Mehr und mehr Menschen<br />

schlossen sich ihnen an. Doch als die fast zweihundert Menschen Seedorf<br />

erreichten, wurden sie angegriffen – von Menschen, die andere<br />

Menschen als Sklaven hielten. Die Leute um Jonathan und Katharina<br />

konnten zwar den Angriff abwehren, doch bezahlten sie einen hohen<br />

Preis dafür. Die Hälfte der Menschen, die mit ihnen nach Seedorf gezogen<br />

waren, war tot. Und Seedorf lag in Schutt und Asche.<br />

Es kam zu Streitigkeiten über das weitere Vorgehen der Gruppe, in deren<br />

Verlauf Jonathan sein Amt als Vorsitzender des von den Menschen<br />

gewählten Rates niederlegte. Im Bewusstsein, dass die Leute, die andere<br />

als Sklaven hielten, weiter agieren konnten, kehrte er mit seiner neuen<br />

Familie in das Haus nach Seedorf zurück, in das sie Tage vorher erst<br />

eingezogen waren. Eines der wenigen Häuser, die nicht zerstört worden<br />

waren.<br />

7


Der Fluch des Roten Druiden<br />

Teil 2<br />

Als ich aus dem Obergeschoss, wo die Kinder schliefen, hinunter zu den<br />

Frauen kam, saßen Helen und Katharina auf der roten Bank hinter dem<br />

Haus. Ich nahm mir einen Klappstuhl aus dem Schuppen und setzte<br />

mich den beiden gegenüber. Anfangs schwiegen sie, doch dann war es<br />

Helen, die als Erste tief Luft holte und zum Sprechen ansetzen wollte.<br />

Wie umständlich, fiel mir auf, wenn man es mit den Kindern vergleicht.<br />

Wahrscheinlich geht uns in unserem Erwachsenenleben eine Menge von<br />

dem verloren, was Kinder als vollkommen selbstverständlich ansehen.<br />

„Jonathan, du hast heute dein Amt als Ratsvorsitzender niedergelegt.<br />

Denkst du, dass das richtig war?“<br />

Irgendwo im Wald hinter uns bellte ein Fuchs und eine leichte Sommerbrise<br />

ließ die Blätter der alten Eichen und Buchen rascheln.<br />

„Ja, wieso fragst du? Ich weiß, dass es aussieht, als wäre ich beleidigt …“<br />

Helen hob ihre Hand, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen, „… und<br />

könnte nicht damit umgehen …“<br />

„Schon gut, Jonathan. Wir hatten uns die Frage gestellt, ob es nur eine<br />

Art Trotzreaktion gewesen sein könnte.“<br />

„Nein. War es nicht.“<br />

„Damit du es weißt, Katharina und ich stehen hinter dir.“<br />

Jetzt freute ich mich und war den beiden Frauen regelrecht dankbar. „Du<br />

musst uns deine Beweggründe auch nicht erklären, wenn du nicht möchtest.“<br />

„Doch, ich will sie euch erklären. Es ist auch ziemlich kurz und einfach<br />

zu sagen. Der Grund ist nicht, dass ich eine Abstimmung verloren habe<br />

oder meinen Willen nicht durchsetzen konnte. Das kann man sowieso<br />

nicht immer. Der Grund ist der, dass wir in den letzten Tagen die Hälfte<br />

unserer Leute verloren haben. Menschen, die mit uns nach Seedorf gezogen<br />

waren und uns vertrauten, dass wir alles richtig machen. Die auf<br />

eine bessere Zukunft hofften.“<br />

Ich machte eine kurze Pause und verlagerte mein Gewicht auf die andere<br />

Seite.<br />

„Verloren haben wir die Menschen deshalb, weil eine kleine Gruppe<br />

Frauen und Männer der Meinung ist, andere Menschen versklaven und<br />

8


für sich arbeiten lassen zu müssen.“ Ich atmete tief aus, stand auf und<br />

wusste doch nicht so recht, was ich wollte.<br />

„Im Schuppen stehen zwei Flaschen Bier, wenn du magst.“<br />

„Nein, danke.“ Ich setzte mich wieder auf den Klappstuhl.<br />

„Es ist nur so, dass ich kaum in Worte fassen kann, weshalb mich vorhin<br />

die Abstimmung so schwer getroffen hat. Als die beiden ersten Gefangenen<br />

erschossen wurden, da hat mir Simone jedes Mal kurz zuvor gesagt,<br />

dass Kinder ihren Verbrennungen erlegen seien. Ich wurde allein bei der<br />

Befragung immer wütender. Dann sind Jörg und ich los, haben im<br />

gewissen Sinne unser Leben aufs Spiel gesetzt, um herauszufinden, wie<br />

stark unser Gegner wirklich ist. Ein Gegner, der scheinbar mehr als<br />

zweihundert Menschen als Sklaven hält, um sie für sich … das sagte ich<br />

schon, oder?“<br />

„Sprich weiter.“<br />

„Jedenfalls war ich der Meinung, mir würden alle zustimmen, die Reste<br />

der Gruppe anzugreifen, um die Menschen zu befreien. Vielleicht auch,<br />

um unsere Toten zu rächen, was weiß ich. Gestern waren noch alle dafür,<br />

das Lager auf der anderen Seite des Sees anzugreifen. Und vorhin?<br />

Deshalb verstehe ich nicht, weshalb wir hier sitzen, einen Hügel zur<br />

Festung ausbauen, wenn wir ziemlich leicht die Ursache unserer Angst<br />

bekämpfen und gleichzeitig so viele Menschen befreien könnten. Das<br />

will einfach nicht in meinen Kopf hinein. Sind wir wirklich so verbohrt,<br />

dass wir nur an uns denken?“<br />

„Wir?“ Katharina erhob sich. „Vielleicht sind es auch ausgerechnet nur<br />

die vier, die in den Rat gewählt … Da ist jemand vor unserem Haus.“<br />

„Ich sehe nach.“ Am liebsten hätte ich eines der Gewehre mitgenommen,<br />

aber die lagen im Haus. Abgesehen davon ging ich felsenfest davon<br />

aus, dass uns keine unmittelbare Gefahr drohen würde. Kurz entschlossen<br />

fragte ich in die Dunkelheit, wer da sei.<br />

„Keine Angst. Ich bin es nur.“<br />

„Simone?“<br />

„Ja.“<br />

Mittlerweile wurde es dunkel und auch kühler. Aber glücklicherweise<br />

schien der Mond, sodass sie den Weg um das Haus erkennen konnte.<br />

„Was willst du denn hier?“<br />

„Mit dir reden.“<br />

„Aha.“ Ich versuchte, so kurz angebunden wie möglich zu klingen.<br />

„Dann komm mit.“ Ich wollte nicht ganz so unhöflich erscheinen und<br />

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ergänzte mich selber: „Hinter das Haus, dort sitzen wir gerade und genießen<br />

den Abend.“<br />

Anstandshalber holte ich Simone ebenfalls einen Stuhl aus dem Schuppen,<br />

auf dem sie sich niederließ, während Helen ein paar Kerzen<br />

anzündete. Katharina fragte sie, ob sie auch ein Glas Wein trinken wolle,<br />

was Simone bejahte.<br />

Die Frauen stießen miteinander an. Dann schwiegen wir, bis sich Simone<br />

räusperte. Ich war gespannt, was sie sagen würde.<br />

„Ich …“ Leicht wollte ich es ihr nicht machen, deshalb schwieg ich, auch<br />

wenn das nicht professionell wirkte.<br />

„Ich wollte dir nur sagen, dass mir dein Entschluss, den Vorsitz des Rates<br />

niederzulegen … Das habe ich mit meiner Entscheidung bei der<br />

Abstimmung nicht gewollt.“ Simone holte tief Luft und strich sich eine<br />

Strähne aus dem Gesicht. „Aber ich konnte mich in diesem Fall nicht<br />

anders entscheiden. Wie du weißt, wie ihr alle wisst, bin ich Ärztin. Und<br />

in meiner Eigenschaft als Ärztin musste ich eine Aktion ablehnen, die zu<br />

noch mehr Blutvergießen geführt hätte. Das verlangt mein Gewissen.“<br />

Katharina stellte mir leise eine der beiden Flaschen auf den Tisch, die im<br />

Schuppen standen, und öffnete sie mir. Ich dankte ihr mit einem<br />

Kopfnicken. Simone trank einen Schluck, ich tat es ebenfalls, ohne etwas<br />

zu erwidern. Ich ahnte, dass ich sie damit nur unterbrochen hätte.<br />

„Was die Angelegenheit insgesamt angeht, so finde ich es absolut richtig,<br />

die Menschen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Auch ist es<br />

vernünftig, eine Bedrohung auszuschalten. Nur … versteht mich richtig<br />

… Als Ärztin habe ich einen Eid geschworen, den ich in meinen Augen<br />

breche, wenn ich zustimmen würde, weitere Menschenleben in Gefahr<br />

zu bringen. Aus diesem Grund habe ich mich gegen den Angriff entschieden.<br />

Ich hoffe, Jonathan, du verstehst das.“<br />

Da sie mich direkt angesprochen hatte, blieb mir gar nichts anderes übrig,<br />

als ihr zu antworten. Wobei ich Simone auch antworten wollte. Immerhin<br />

rechnete ich ihr hoch an, dass sie zu mir gekommen war, um sich zu<br />

erklären.<br />

„Ich danke dir für deine Offenheit. Soweit hatte ich heute Nachmittag in<br />

meinem Frust überhaupt nicht gedacht.“<br />

„Jonathan, ich verstehe vollkommen, dass du sauer über das Abstimmungsergebnis<br />

bist.“<br />

„Ich bin nicht nur sauer. Dich einmal ausgenommen, da ich jetzt deine<br />

Beweggründe kenne und akzeptiere. Ich finde trotzdem, die Entschei-<br />

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dung des Rates ist egoistisch, dekadent und kurzsichtig. Von Feigheit<br />

möchte ich gar nicht erst reden.“<br />

„Ja.“ Simone schaute zu Boden. „Das verstehe ich, wenn ich mich in<br />

dich hineinversetze.“<br />

„Das Schlimme an der Sache ist, dass wir früher oder später wieder einen<br />

Angriff erleben werden. Die werden nicht so schwach bleiben, wie sie<br />

jetzt sind.“<br />

„Wirst du, also ich meine, werdet ihr dann noch hier sein?“<br />

Ich war von der Frage vollkommen überrumpelt. Helen antwortete für<br />

uns alle: „Ehrlich gesagt, haben wir dazu noch keine Entscheidung getroffen,<br />

werden sie auch in den nächsten Tagen nicht treffen. Eigentlich<br />

ist es besser, dass wir alle als Gruppe vereint bleiben, ganz egal, ob es<br />

zwischen einzelnen Leuten Differenzen gibt. Das darf nicht der Maßstab<br />

sein. Allerdings darf es auch nicht so sein, dass Jonathan plötzlich für<br />

alles, und ich meine dabei besonders die unschönen Dinge der letzten<br />

Tage, verantwortlich gemacht wird.“<br />

„Das tut niemand“, warf Simone ein.<br />

„Trotzdem, Simone …“, fuhr Helen fort, „… hätte ich an Jonathans<br />

Stelle heute ebenfalls das Handtuch geworfen, auch wenn es so aussieht,<br />

als wäre das Kindergartenniveau. Der Anschein, den die Abstimmung<br />

für Jörg und Jonathan hatte, da bin ich mir sicher, ist eher so, als würden<br />

die Menschen feige und nur auf sich bedacht sein.“<br />

„Ja, das verstehe ich …“<br />

„Lass mich bitte zu Ende reden, ich bin gleich fertig.“ Helen legte<br />

Simone gedankenverloren ihre Hand auf den Unterarm. „Was ich noch<br />

erwähnen wollte: Wer wird denn für einen neuen Angriff, egal wann der<br />

stattfinden sollte, verantwortlich gemacht, wenn Jonathan noch im Rat<br />

sein würde?“<br />

„Jonathan.“<br />

„Ja. Jonathan und Jörg als neuer Verteidigungsminister, um diesen Begriff<br />

zu benutzen.“<br />

„Aber …“ Simone trank ihr Glas leer. Sie hatte sich den Abend sicherlich<br />

leichter vorgestellt.<br />

„Simone, warte.“ Schnell setzte ich mein Bier an und trank einen<br />

Schluck. „Es geht nicht um Recht oder Unrecht. Ich bin sauer, weil die<br />

Entscheidung einfach nur Nonsens ist. Auch bin ich überzeugt, dass die<br />

Mehrheit der Menschen in unserer Gruppe lieber jetzt eine Entscheidung<br />

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herbeiführen will, als wieder angegriffen zu werden. Oder siehst du das<br />

anders?“<br />

„Nein. Die Leute oben auf dem Hügel reden bereits darüber.“<br />

„Siehst du. Wenn ich mich jetzt aber über die Abstimmung im Rat<br />

hinweggesetzt hätte, dann bräuchten wir keinen Rat mehr. Dann wäre<br />

ich so etwas wie ein Diktator. Deshalb habe ich eben auch meinen Vorsitz<br />

aufgegeben, um die Leute zu ermutigen, Mehrheitsentscheidungen<br />

zu treffen, die sie am Ende auch vertreten können. Abgesehen davon<br />

werden sie einen neuen Rat wählen müssen und wer weiß, vielleicht stelle<br />

ich mich dann wieder zur Wahl.“<br />

„Ich dachte …“, Helen schenkte Simone ein weiteres Glas ein, was diese<br />

überhaupt nicht bemerkte, „… dass der restliche Rat einfach weitermachen<br />

wird.“<br />

Ich zuckte mit den Schultern, doch außerhalb des Kerzenlichtes konnte<br />

das natürlich niemand erkennen.<br />

„Wie auch immer, wir werden es sehen.“<br />

Dieser Satz beendete das Thema. Die Frauen unterhielten sich noch eine<br />

Weile, doch irgendwann stand Simone auf und wollte sich verabschieden.<br />

Gerade in diesem Moment kam Jörg in den Garten. Er hatte ein<br />

paar Leute mitgebracht, nur konnte ich ohne Licht nicht erkennen, um<br />

wen es sich handelte.<br />

Jörg grüßte kurz in die Runde, ich nahm an, auch er erkannte nicht, wen<br />

er vor sich hatte. Doch ich irrte mich.<br />

„Simone, du bleibst bitte hier, wir haben etwas zu sagen, was am Ende<br />

auch dich betreffen wird.“<br />

Simone setzte sich tatsächlich wieder auf ihren Stuhl. Ich hörte, wie<br />

Helen und Katharina im Haus verschwanden, kurze Zeit später wieder<br />

draußen erschienen und noch mehr Kerzen entzündeten. Das zusätzliche<br />

Licht blendete im ersten Moment, doch ein paar Augenblicke später<br />

erkannte ich wenigstens, wer sich bei uns eingefunden hatte. Ich bat<br />

einen der Umstehenden, in den Schuppen zu gehen und ein paar Stühle<br />

zu holen, was dieser auch tat. Kurze Zeit später saßen um die zwanzig<br />

Leute vor uns. Fast alles Männer. Zum Glück hatten sie Getränke<br />

mitgebracht. Wir hätten kaum für jeden etwas im Haus gehabt.<br />

„Um es kurz zu machen“, begann einer der Männer, der sich kurz zuvor<br />

als ‚Ewald‘ vorgestellt hatte. „Wir haben uns entschlossen, das Lager auf<br />

der anderen Seite des Sees anzugreifen, egal, was irgendwer von diesem<br />

abenteuerlichen Rat dazu sagt. Es tut mir leid, wenn ich den Rat aben-<br />

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teuerlich nenne, nur sind wir alle geschlossen der Meinung, dass viele<br />

von uns einfach noch in ihrer schönen heilen Welt leben, die sie vor dem<br />

Tag null gehabt haben.“<br />

Ewald räusperte sich und griff nach der Flasche Bier, die vor ihm stand.<br />

„Deshalb sind wir entschlossen, die Abstimmung von heute Nachmittag<br />

zu ignorieren. Wir sind alle Männer, die zumindest ihren Wehrdienst<br />

seinerzeit bei der Bundeswehr abgeleistet haben.“ Jörg beugte sich vor,<br />

sodass er die Aufmerksamkeit auf sich zog.<br />

„Abgesehen davon sollten wir die Gefahr, die von den anderen ausgeht,<br />

ein für alle Mal ausschalten. Deshalb, Simone, hatte ich dich eben gebeten,<br />

hierzubleiben. Wir gehen davon aus, dass es Verletzte und Tote<br />

geben wird, und bitten dich, ein Team zusammenzustellen, das mit uns<br />

in die Nähe des Gefechtsfeldes ziehen wird. Es geht nicht nur darum,<br />

eigene Verwundete zu versorgen, sondern auch die Gefangenen, wenn<br />

das notwendig sein sollte.“<br />

„Und die verwundeten Gegner“, warf Simone ein.<br />

„Genau, darum geht es auch. Wir können nicht alle überlebenden Gegner<br />

mal eben so erschießen. Wir müssen diesen Menschen genauso<br />

helfen und sie irgendwie in unsere Gemeinschaft integrieren. Das wird<br />

deine Aufgabe, Katharina.“<br />

„Meine? Warum das denn?“<br />

„Wir glauben“, fuhr Jörg unbeirrt fort, „dass du dafür am besten geeignet<br />

bist. Helen, für dich haben wir die Aufgabe vorgesehen, dich um die<br />

Kinder zu kümmern, die wir befreien werden. Es ist nicht so, dass ihr<br />

alles allein machen sollt. Oben auf dem Hügel befinden sich eine Menge<br />

Frauen und Männer, die euch alle unterstützen werden.“<br />

„Hmm … und was soll ich tun?“ Irgendwie kam ich mir ausgeschlossen<br />

vor.<br />

„Wir brauchen jemanden, der alles koordiniert. Einen, der alle eingehenden<br />

Meldungen registriert und den Gesamtüberblick nicht verliert. Das<br />

ist so ziemlich der schwierigste Job, aber wir denken, dass du das kannst.<br />

Immerhin hast du das in den letzten Wochen mehrmals bewiesen.“<br />

Ich überlegte einen Augenblick lang, was ich dazu sagen sollte. Mir fiel<br />

nichts ein. Stattdessen fragte ich, wie die restlichen Menschen oben auf<br />

dem Hügel über die Sache denken würden.<br />

Jörg war es, der mir antwortete: „Ich schätze, rund die Hälfte der Menschen<br />

sind ziemlich desinteressiert, ähnlich wie die vom Rat. Oder<br />

überfordert, ich weiß es nicht. Vielleicht ist auch eine Portion Ignoranz<br />

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gegenüber unserer Situation dabei, ich kann es beim besten Willen nicht<br />

sagen. Aber ich glaube, am Ende werden alle am gleichen Strang ziehen.<br />

Und ganz ehrlich, Anja, Michelle und Christian sind doch auch nicht<br />

wirklich bösartig, zumindest würde ich ihnen das nicht unterstellen<br />

wollen.“<br />

„Nein, das sind sie auf keinen Fall.“<br />

„Ich denke oft“, warf Simone ein, „dass die Menschen teilweise nicht<br />

verkraftet haben, was uns allen passiert ist. Oder wollt ihr sagen, dass das<br />

alles an euch spurlos vorbeigegangen ist? Viele von uns bräuchten eine<br />

psychologische Betreuung, glaubt mir.“<br />

„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Katharina.<br />

Bevor eine unendliche Diskussion einsetzen konnte, stellte ich die für<br />

mich in diesem Moment entscheidende Frage: „Wann wollt ihr losschlagen?“<br />

„Jonathan, ganz ehrlich?“ Jetzt war es Ewald, der mir direkt antwortete.<br />

„So schnell es geht, also morgen Nachmittag wollen wir losziehen, um<br />

in der Dunkelheit das Lager zu erreichen und beobachten zu können.“<br />

Jörg stellte seine Flasche versehentlich ziemlich laut auf dem Tisch ab,<br />

sodass ich erschrocken zusammenzuckte.<br />

„Wir haben die Variante mit den zwei schweren Maschinengewehren<br />

und Scharfschützen als vielversprechendste Möglichkeit ausgemacht.<br />

Wir versuchen einfach, einen Turm nach dem anderen, so schnell es geht,<br />

auszuschalten. Anschließend stürmen wir das Lager.“<br />

„Sollten wir nicht versuchen, alle Türme gleichzeitig unter Beschuss zu<br />

nehmen? Was nützt es uns, wenn wir …“<br />

So ging das bis in die Morgenstunden. Zwischenzeitlich verabschiedete<br />

sich Simone, die von vier Leuten auf den Hügel hinaufbegleitet wurde.<br />

Auch Helen und Katharina gingen schlafen, nachdem Simone verschwunden<br />

war.<br />

Als die Sonne aufging und ihre ersten Strahlen den Tau auf der Wiese<br />

trocknen wollten, ging ich endlich ins Bett und schlief bis zum Mittag.<br />

Katharina weckte mich. „Komm, Jonathan, steh auf. Vor unserem Haus<br />

sammeln sich bereits die Ersten. Es wird bald losgehen.“<br />

Wie immer brauchte ich eine Weile, um klar denken zu können.<br />

Katharina stand neben meinem Bett und schaute auf mich herunter.<br />

„Was meinst du, wird es gutgehen?“<br />

„Was meinst du, wie lange es dauert, bis wir wieder beschossen werden?“<br />

Katharinas Gegenfrage ließ keinen Zweifel darüber, wie sie dachte. „Ich<br />

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habe dir noch etwas mitgebracht.“ Sie setzte sich zu mir auf die Bettkante<br />

und schob mir einen Zettel mit Stift zu.<br />

„Wenn ich jetzt etwas schreibe, was wir beide nicht lesen wollen, was<br />

dann?“<br />

„Dann ist es eben so. Mach es einfach.“ Verstohlen wischte sie sich eine<br />

Träne aus dem Gesicht. Ich sollte es nicht merken, doch es entging mir<br />

nicht.<br />

Zögernd nahm ich den Zettel und den Stift, setzte mich in eine bequeme<br />

Position und hielt den Stift auf das Blatt Papier. Kurze Zeit, eigentlich<br />

nur Sekunden später, schaute ich auf das Blatt. Dort stand schlichtweg<br />

gar nichts. Dass ich nichts auf das Papier brachte, hatten wir schon<br />

einmal. Insgeheim war ich froh darüber, legte den Stift zur Seite und<br />

reichte Katharina das Blatt Papier, damit ich aufstehen konnte.<br />

Katharina schaute enttäuscht auf den Zettel.<br />

Ich erhob mich und zog mich an, ohne auf Katharina zu achten. Nach<br />

einer Mahlzeit packte ich meine Sachen zusammen, überprüfte eines der<br />

Gewehre, nahm noch eine Pistole und verabschiedete mich von den<br />

Kindern und Helen. Katharina wollte mich begleiten, was ich gut fand.<br />

Immerhin hatte sie eine wichtige Aufgabe, wenn wir erfolgreich sein<br />

sollten.<br />

Helen wusste auch, was auf sie zukam. Bevor ich auf den Platz zu den<br />

anderen gehen konnte, klopfte es an der Tür. Drei junge Frauen standen<br />

vor mir und erklärten, sie wären abgestellt worden, um Helen zu<br />

unterstützen. Ich ließ sie herein, verließ aber das Haus mit Katharina, die<br />

sich der Gruppe der Frauen um Simone anschloss. Es konnte losgehen.<br />

Unsere Gruppe umfasste nur dreißig Männer und acht Frauen. Trotzdem<br />

waren wir uns sicher, den Frauen, die das Lager der Gefangenen bewachten,<br />

militärisch überlegen zu sein. Langsam setzte sich unser Zug in<br />

Bewegung, ich lief an der Spitze. Neben mir Jörg, Frank und Ewald. Wie<br />

sich herausstellte, war Ewald ein bis zum letzten Tag aktiver Soldat gewesen.<br />

Wir zogen gerade die Straße durch den kühlenden Wald hinauf, als Jörg<br />

uns einen Wink gab, Stille zu bewahren. Er machte ein paar Handzeichen<br />

und die Männer und Frauen verteilten sich links und rechts der Straße in<br />

den Wäldern.<br />

Ich war bei Jörg und fragte ihn leise, was los sei.<br />

„So ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, dass uns eine Gruppe<br />

Menschen auf der Straße entgegenkommt.“<br />

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„Ich habe nichts gehört“, bemerkte ich flüsternd.<br />

„Komm mit.“<br />

Ohne zu zögern folgte ich Jörg, auf den ich mich im Ernstfall blind<br />

verlassen konnte. Wir liefen gebückt ein paar Meter im Wald neben der<br />

Straße entlang. Dann konnte ich die Geräusche der auf der Straße laufenden<br />

Menschen ebenfalls hören. Sie gaben sich keine besondere Mühe,<br />

vorsichtig und leise zu sein. Als wir die Menschen sehen konnten, stellten<br />

wir fest, dass dort schätzungsweise um die zweihundert Frauen, Kinder<br />

und Männer liefen.<br />

Ein Teil der Männer war bewaffnet.<br />

Was mich aber erstaunte, war eine Gruppe von Frauen sowie ein paar<br />

vereinzelte Männer, die gefesselt in der Mitte liefen. Sie wurden von<br />

mehreren Bewaffneten eskortiert, die einen ziemlich lustlosen und desinteressierten<br />

Eindruck auf mich machten.<br />

„Los, zurück.“<br />

Schnell und lautlos erreichten Jörg und ich unsere Gruppe. Jörg teilte den<br />

anderen kurz und knapp mit, was wir gesehen hatten. Da mich nach Jörgs<br />

Worten alle ansahen, entschloss ich mich dazu, unsere Leute im Eilmarsch<br />

wieder zurück nach Seedorf zu führen.<br />

So konnten wir uns vorbereiten und, da wir als kleine Gruppe schneller<br />

waren, noch Zeit gewinnen, um uns zu beraten. Allerdings taten wir das<br />

schon auf dem Rückweg.<br />

„Was denkt ihr“, sprach ich Jörg und Ewald an. Dieses Mal bildeten wir<br />

die Nachhut und schauten uns dementsprechend häufig um.<br />

Ewald räusperte sich, sah aber zu Jörg auf, woraufhin dieser nickte.<br />

Militärische Strukturen, ging es mir durch den Kopf. Die kannte ich auch<br />

und wusste, dass Jörg in Ewalds Augen ein Vorgesetzter war.<br />

„Ihr habt erwähnt, dass es eine Gruppe Gefangener gibt und dass es sich<br />

bei der Gruppe um die Leute handeln könnte, die als Sklaven gehalten<br />

wurden.“<br />

„Ja“, erwiderte Jörg knapp.<br />

„Dann gehe ich davon aus, dass es sich um die Bewacherinnen handeln<br />

könnte, vielleicht waren noch ein paar Männer unter ihnen.“<br />

Ich nickte, was Ewald dazu ermunterte, fortzufahren.<br />

„Wenn ich die Lage richtig einschätze, wird es für uns ziemlich schwierig<br />

werden, denn diese Gruppe wird nicht einfach in unserer aufgehen.“<br />

„Was schlägst du vor?“, fragte Jörg.<br />

„Zuerst sollten wir uns absichern.“<br />

16


„Genau das denke ich auch.“<br />

Jörg und Ewald sprachen aus, was ich in diesem Moment ebenfalls<br />

dachte.<br />

„Abgesehen davon“, schob ich nach, „habe ich ein komisches Gefühl,<br />

wenn ihr wisst, was ich meine.“<br />

Die beiden schauten einander an und verstanden.<br />

Kurz darauf erreichten wir Seedorf. Ich bat darum, alles so vorzubereiten,<br />

als würden wir einen Angriff erwarten.<br />

Die Männer nickten und ich wandte mich ab, um zur Gruppe der Frauen<br />

zu gelangen, die mit uns losgezogen waren. Ich erklärte den Frauen die<br />

Lage und unsere Einschätzung, denn bisher hatten sie noch nicht<br />

mitbekommen, warum wir plötzlich wieder den Rückweg angetreten<br />

hatten. Wobei das nicht ganz richtig war, denn ansatzweise waren alle im<br />

Bilde. Nur wollte ich nicht, dass sich irgendjemand übergangen fühlte,<br />

denn in unserer Situation war jede und jeder wichtig und hatte ein Recht<br />

darauf, informiert zu werden.<br />

„Simone, ich möchte dich bitten, dass du dich mit ein paar Frauen im<br />

Hintergrund bereithältst, falls wir aus irgendeinem Grund ärztliche Hilfe<br />

benötigen.“<br />

Damit drehte ich mich zu einer der anderen Frauen um und bat diese,<br />

dafür zu sorgen, dass sich in den Häusern um den Dorfplatz herum keine<br />

Menschen mehr aufhalten würden. Eine weitere Frau sandte ich aus, die<br />

Menschen oben im Wald über die Lage zu informieren, sofern noch<br />

jemand dort oben wäre.<br />

Katharina blieb bei mir, worüber ich sehr dankbar war. Keine Minute<br />

später gesellte sich Jörg zu uns, ebenso Simone, die uns auf meinen<br />

fragenden Blick hin mitteilte, dass zwei Krankenschwestern und eine<br />

Altenpflegerin hinter dem Haus, in dem Katharina, Helen und ich mit<br />

den Kindern wohnten, in Bereitschaft stünden.<br />

Die Sonne brannte im Moment noch unbarmherzig auf uns herab,<br />

schattenspendende Bäume gab es keine. Und dann kamen sie.<br />

Geschätzt über zweihundert Menschen zogen auf ‚unseren‘ Dorfplatz in<br />

Seedorf. Wir hingegen waren lediglich noch 106 Personen, davon 30<br />

Kinder. Von den zu uns gekommenen Menschen waren viele bewaffnet,<br />

wie ich feststellen musste. Hoffentlich würde Ewald nicht recht behalten<br />

…<br />

17


Ein paar von unseren Leuten gesellten sich zu uns, ob aus reiner Neugierde,<br />

kann ich nicht mehr sagen. Katharina stand ganz nah bei mir,<br />

unsere Hände berührten sich flüchtig, als sich 8 Männer und drei Frauen<br />

aus der Masse lösten und auf uns zukamen. Diese 11 Leute sahen ziemlich<br />

ausgemergelt und heruntergekommen aus. Genauso wie alle anderen,<br />

kam mir in den Sinn.<br />

Eigenartigerweise stand ich in der Mitte unseres ‚Empfangskomitees‘,<br />

woraufhin sich einer der Männer der anderen Gruppe direkt an mich<br />

wandte. Er hatte schwarze Haare und war etwa 35 Jahre alt. Er streckte<br />

mir die Hand entgegen, die ich reflexartig ergriff. Der Kerl war mir auf<br />

den ersten Blick unsympathisch, aber ich wollte mich nicht von Vorurteilen<br />

leiten lassen.<br />

„Guten Tag, mein Name ist André.“<br />

Ich schüttelte seine feuchte Hand und stellte mich und die neben mir<br />

stehenden Leute kurz vor, anschließend tat er das Gleiche mit seinen<br />

Begleitern.<br />

„Wir sind …“ Damit erzählte er die Geschichte, die wir bereits kannten,<br />

zumindest grob. Vor uns befand sich tatsächlich die Gruppe Menschen,<br />

die von anderen Menschen als Sklaven gehalten wurden und die wir vor<br />

ein paar Minuten noch befreien wollten. Jedenfalls waren wir dafür<br />

losgezogen.<br />

André berichtete, dass das Lager um Schloss Schorsow, in dem sie gefangen<br />

gehalten wurden, vor kurzem angegriffen worden war. Jörg und<br />

ich schauten einander ohne eine weitere Regung kurz an. André meinte<br />

weiter, dass sie daraufhin festgestellt hätten, dass bei den Bewachern<br />

irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Aus diesem Grunde hätten<br />

sie Mut geschöpft, ihre Peiniger kurzerhand überrumpelt und sich somit<br />

selber befreien können.<br />

Im Gegenzug erzählte ich, wie wir angegriffen wurden, erwähnte unsere<br />

großen Verluste, ohne genaue Zahlen zu nennen. Und was uns unsere<br />

Gefangenen über das Schloss erzählt hätten.<br />

Daraufhin meinte Jörg, dass er und ich diejenigen gewesen wären, die in<br />

einer der Nächte das Lager, in dem sich André und seine Leute aufhielten,<br />

angegriffen hätten. Mit einem kurzen, für mich ziemlich arroganten<br />

Blick auf Jörg meinte André, dass das wohl nicht den Tatsachen entsprechen<br />

könnte. So wie es André schilderte, musste eine ganze Armee das<br />

18


Lager angegriffen haben und nicht nur zwei einzelne Leute. Das Wort<br />

‚Leute‘ zog er verächtlich in die Länge.<br />

Ich mochte André immer weniger. Trotzdem wandte ich mich ihm zu,<br />

nachdem ich noch einmal einen Blickwechsel mit Jörg und Katharina<br />

hatte. Beide sahen ziemlich entgeistert aus. Und genau so fühlte ich mich<br />

in diesem Moment.<br />

„Nun, wie dem auch sei. Was hat euch zu uns verschlagen?“<br />

So ganz nett konnte ich nicht sein, doch André schien es zu überspielen.<br />

„Aus irgendeinem Grund wollte jeder von uns schon immer hierher. Wir<br />

sind eine ziemlich bunt zusammengewürfelte Truppe, aber alle hatten<br />

immer das gleiche Ziel: Seedorf.“<br />

Ein Schauer lief mir über den Rücken. So viele verstreute Überlebende<br />

und alle wollten nach Seedorf. Warum? Ich äußerte mich jedoch nicht<br />

dazu und sagte stattdessen: „Das ist doch prima“, auch wenn es gelogen<br />

war.<br />

Ich redete mir gedanklich ein, dass nicht alle Menschen in dieser Gruppe<br />

so sein konnten wie dieser André. Also sollte ich mich freuen, dass eine<br />

gemeinsame und vereinte Gruppe wieder stärker werden würde.<br />

„Dann schlage ich vor“, fuhr ich fort, „dass wir unsere Leute gegenseitig<br />

darüber in Kenntnis setzen und befragen, ob wir uns nicht zusammenschließen<br />

sollten.“<br />

„Quatsch. So einen Scheiß brauchen wir nicht. Ihr werdet euch uns<br />

einfach anschließen und gut ist es.“<br />

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Jörg kurz auf einen unserer<br />

Männer einredete, woraufhin dieser sofort verschwand.<br />

André trat einen Schritt auf mich zu, ziemlich nah sogar. Er hatte starken<br />

Mundgeruch und spuckte beim Reden, was ihn noch unsympathischer<br />

werden ließ. Doch was dann kam, hätte ich mir in meinen schlimmsten<br />

Träumen nicht ausmalen können …<br />

„Und da das geklärt wäre, würde ich mir jetzt gern eine Bleibe für die<br />

Nacht suchen. Viel ist hier ja nicht mehr übrig.“<br />

Daraufhin wollte er an mir vorbeigehen, doch ich trat ihm in den Weg.<br />

„Ich denke, du kannst dir eine Bleibe in der Bungalowsiedlung nehmen,<br />

die Häuser sind alle belegt.“<br />

„Ach ja? Gleich nicht mehr. Geh mir aus dem Weg“, fauchte er mich an.<br />

Das tat ich nicht. Warum auch.<br />

19


„Das funktioniert so nicht, wir haben die Häuser …“, verlost, wollte ich<br />

sagen, doch stattdessen schubste mich André so heftig, dass ich<br />

hingefallen wäre, wenn mich Katharina nicht aufgefangen hätte.<br />

Plötzlich standen mehrere Männer neben mir. Männer unserer Gruppe.<br />

Sie bildeten eine Wand, an der auch André nicht vorbeikam, wie er<br />

einsehen musste. Immer mehr Menschen drängten sich neben und hinter<br />

mich, drückten uns nach vorn, auf André und seine Leute zu, die zurückwichen.<br />

Bevor die ganze Situation weiter eskalieren konnte, hob ich meinen rechten<br />

Arm zum Zeichen, dass es genug wäre. Unsere Leute hörten daraufhin<br />

auf, André weiter zu bedrängen, doch der verstand das als Zeichen<br />

von Schwäche, was ich persönlich nicht vermutet hätte.<br />

„Ob euch das gefällt oder nicht“, schrie er mich, uns alle, die ihm<br />

gegenüberstanden, an. Sabber lief ihm aus den Mundwinkeln, was mich<br />

anwiderte. „Wo sind meine Maschinengewehre? Bringt euch in Stellung<br />

und schießt diesen Haufen Verbrecher zusammen! Erschießt sie alle, alle,<br />

wirklich jeden Mann, jede Frau und jedes Kind! Das sind unsere Feinde!“<br />

Er drehte sich um, sodass seine feuchte Aussprache mich und die Umstehenden<br />

nicht mehr treffen konnte. Er erinnerte mich in diesem<br />

Moment an Filmausschnitte, die ich damals von Adolf Hitler im Fernsehen<br />

gesehen hatte. Und André klang so ähnlich …<br />

Ein bisschen bekam ich es mit der Angst zu tun. Würden die so wahnsinnig<br />

sein und ein Gemetzel anfangen? Immerhin waren auch unsere<br />

Leute bewaffnet, lagen sogar um den Dorfplatz herum in ihren Stellungen.<br />

Doch zu meiner Erleichterung passierte nicht viel und unsere<br />

Männer drängten André einfach ab, bildeten einen Kreis um uns, in den<br />

er nicht eindringen konnte.<br />

Jörg stand plötzlich neben mir und flüsterte, dass wir es geschafft hätten,<br />

fast jeden aus der anderen Gruppe, der eine Waffe trug, zu entwaffnen.<br />

Ich musste ihn ziemlich entgeistert angesehen haben.<br />

„Du hattest doch vorhin gesagt, ein komisches Gefühl zu haben. Aus<br />

dem Grund habe ich unseren Männern den Befehl gegeben, jede Waffe,<br />

derer sie habhaft werden können, einzusammeln. Unsere Männer haben<br />

einfach jedem, oder fast jedem, die Waffe abgenommen. Auf alle Fälle<br />

haben wir alle schweren Maschinengewehre und die Sturmgewehre gesichert.“<br />

„Wie das denn?“ Ich war erstaunt.<br />

20


„Wir sind hingegangen und haben sie einfach weggenommen. Ging ohne<br />

Zwischenfälle, die meisten der Leute sind noch ziemlich mitgenommen<br />

von ihrer Gefangenschaft, denke ich. Da hatten wir ein leichtes Spiel.<br />

Manch einer hat sie uns freiwillig in die Hand gedrückt.“<br />

„Klasse“, gab ich ehrlich erfreut zurück.<br />

„Ja, schon. Aber eigenartigerweise waren fast alle Waffen ohne Munition<br />

und nicht geladen. Wundert mich schon ein bisschen.“<br />

Katharina legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter, nachdem Jörg<br />

mir noch einmal grinsend zugenickt hatte.<br />

„Ich denke, du solltest jetzt zu den Menschen reden. Erklär ihnen die<br />

Situation.“<br />

Ruckartig drehte ich mich zu Katharina um und schaute ihr in ihre fast<br />

schwarzen Augen, die mich jeden Tag aufs Neue faszinierten.<br />

„Ich? Warum? Ich habe alle meine Ämter zur Verfügung gestellt, warum<br />

sollte …“<br />

„Komm, Jonathan, tu es einfach. Tu es für die Menschen.“<br />

„Was soll ich denn sagen?“<br />

„Dir fällt schon etwas ein.“<br />

Mit einem Mal lagen viele Hände auf meinen Schultern und schoben<br />

mich durch unsere Leute hindurch zu einer Bank, auf die ich mich stellen<br />

konnte.<br />

Entgegen anderer Reden, die ich bisher gehalten hatte, wurde es vor mir<br />

nicht augenblicklich still, denn André geiferte immer noch herum.<br />

Allerdings umgeben von seinen Leuten, die ihn aber nicht beachteten,<br />

sondern zu mir aufsahen. Vereinzelt hörte ich ein Zischen in seine Richtung,<br />

bis ihm irgendwer schlichtweg zu verstehen gab, dass ich etwas<br />

sagen wollte. Da hielt er inne, was ganz sicher nicht von Dauer sein<br />

würde.<br />

„Also“, begann ich meine Rede und einige der Menschen, die mich<br />

bereits länger kannten, grinsten mich an. Wieder dieses ‚Also‘.<br />

„Wir begrüßen euch, die ihr heute in Seedorf angekommen seid, ganz<br />

herzlich.“ Meine obligatorische Pause. „Da es gerade zu … sagen wir der<br />

Einfachheit halber, Missverständnissen, gekommen ist, bitte ich vorerst<br />

alle, die neu in Seedorf sind, sich in der Bungalowsiedlung eine Bleibe für<br />

die nächsten Tage zu suchen. Die Bungalows sind keine Abwertung euch<br />

gegenüber, sondern schlicht und einfach der Tatsache geschuldet, dass<br />

die Häuser, die im Dorf noch intakt und bewohnbar sind, bereits<br />

vergeben wurden. In ihnen wohnen mehrere Leute gemeinsam, die sich<br />

21


zu Familien zusammengeschlossen haben. Einige der Bungalows sind<br />

bereits belegt, ich bitte euch daher alle, miteinander zu reden und Streit<br />

zu vermeiden.“<br />

„Die Bootshäuser“, flüsterte mir Katharina von unten zu. Ich verstand.<br />

„Sollte dennoch nicht genügend Platz sein, so stehen unten am See auch<br />

noch ein paar Bootshäuser zur Verfügung.“<br />

Die Menschen, die neu zu uns gestoßen waren, sahen sich mehrheitlich<br />

an und ich konnte in ihren Augen einen Glanz entdecken, der mir vorher<br />

gar nicht aufgefallen war.<br />

„Aber einen kleinen Moment noch, bevor ihr euch alle eine Bleibe für<br />

die nächsten Tage sucht. Ich bitte euch, gegen Abend ein paar Leute zu<br />

mir zu schicken, mit denen wir sprechen können. Wir sollten uns darüber<br />

einig werden, wie es weitergehen soll. Wen ich von vornherein nicht als<br />

Gesprächspartner akzeptiere, ist André. Mit so einem Typen werde ich<br />

nicht sprechen.“<br />

Ohne noch irgendeine Reaktion abzuwarten, stieg ich von der Bank und<br />

fiel beinahe in Katharinas Arme. Ganz kurz sahen wir einander in die<br />

Augen. Das Gezeter von André nahm ich überhaupt nicht mehr wahr.<br />

Jörg kam zu uns und ich bat Katharina, Simone zu suchen und sie mit in<br />

unseren Garten zu bringen.<br />

Kurze Zeit später saßen wir vier zusammen, Helen und die Kinder waren<br />

ebenfalls da. Jörg eröffnete unser Treffen, indem er meinte, dass er<br />

Ewald und Werner damit beauftragt habe, die Verteilung des Wohnraumes<br />

zu überwachen, damit es nicht zu Zwischenfällen kommt.<br />

„Gleichzeitig werden unsere Leute alle Waffen einsammeln, derer sie<br />

noch habhaft werden können, ohne dass es zum Streit kommt. Wobei es<br />

mich immer noch verwundert, wie leicht sich die Frauen und Männer<br />

haben entwaffnen lassen.“<br />

„Was ist mit Anja, Christian und Michelle?“, warf Helen ein, die sich zu<br />

uns setzte. Die Kinder spielten mit ein paar weiteren Kindern auf der<br />

großen Wiese im Garten, die an den Wald grenzte.<br />

„Die brauchen wir erst mal nicht.“ Simone lehnte sich in ihrem Liegestuhl<br />

zurück. „Immerhin können wir sagen, dass sich nicht der Rat trifft,<br />

sondern dass es sich um ein privates Treffen handelt. Also, was denkt<br />

ihr, wie soll es weitergehen?“<br />

Alle schauten mich an und ich zuckte mit den Schultern.<br />

22


„Warten wir ab, wer nachher zu uns kommt, um mit uns zu sprechen.<br />

Ich denke, davon sollten wir unsere weiteren Entscheidungen abhängig<br />

machen.“<br />

Und das taten wir. Wir warteten ab. Am frühen Abend, dem Stand der<br />

Sonne nach, standen wir vier auf dem Dorfplatz. Glücklicherweise<br />

brannte die Sonne nicht mehr so erbarmungslos auf uns herab. Die<br />

Bäume der Wälder, die das Dorf umgaben, spendeten kühlen Schatten.<br />

Werner, der Hüne, fand sich ebenfalls bei uns ein. Die anderen drei<br />

Ratsmitglieder kamen nicht. Wir warteten eine Zeit lang, bis endlich eine<br />

Gruppe von acht Leuten bei uns eintraf, angeführt von André. Ich wäre<br />

am liebsten wieder gegangen und verwarf in dem Moment den Gedanken,<br />

dass wir es uns im Garten unseres Hauses gemütlich machen könnten.<br />

Ohne dass ich es bewusst wollte, verschränkte ich meine Arme vor<br />

der Brust und war gespannt, was geschehen würde.<br />

„Morgen werden wir die Häuser neu vergeben“, begann André, den ich<br />

mittlerweile abgrundtief hasste. „Ihr seid weniger als wir und …“<br />

Ich hob kurz meine Hand, woraufhin er tatsächlich verstummte.<br />

„Und wenn nicht?“ Es war nicht richtig, ihn mit dieser Frage zu provozieren,<br />

doch ich konnte nicht anders. Allerdings ging André gar nicht<br />

auf mich ein.<br />

„Wir waren so lange in Gefangenschaft und ihr habt zugesehen, ohne<br />

uns zu helfen, deshalb …“<br />

Jörg trat einen Schritt auf die anderen zu und baute sich zu seiner vollen<br />

Größe auf: „Wir haben einen Angriff auf unser Dorf erleben müssen, bei<br />

dem die Hälfte unserer Leute zugrunde gegangen ist. Wir haben es mit<br />

einem Panzer aufgenommen, den Angriff eurer Peiniger abgewehrt,<br />

diese eliminiert und sind auf dem Weg zu euch gewesen, um euch zu<br />

befreien. Was, bitte schön, ist daran unter ‚zusehen‘ zu verstehen? Wir,<br />

unsere Leute, haben den Blutzoll entrichtet, den ihr im Vorfeld zu feige<br />

wart, in Kauf zu nehmen. Komm mir also nicht mit so einem Scheiß.<br />

Ich, wir alle haben Freunde verloren und jetzt stehst du Arschloch vor<br />

uns und willst uns etwas von ‚nicht geholfen‘ erzählen? Schämt ihr euch<br />

denn gar nicht?“<br />

Jörg schaute in die Runde der anderen, die seine Blicke zwar erwiderten,<br />

jedoch nichts dazu sagten.<br />

„Wie dem auch sei …“, wischte André Jörgs Worte arrogant zur Seite,<br />

„… wir werden morgen die Häuser neu vergeben. Und eine Wahl oder<br />

so etwas brauchen wir nicht. Ihr seid weniger und werdet euch …“<br />

23


„Wir gehen.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um. Ohne zu zögern,<br />

folgten mir die anderen zu unserem Haus. Im Garten ließen wir uns auf<br />

die gleichen Plätze nieder wie vor einer Stunde.<br />

„Was nun?“, fragte Werner in die Runde, ohne eine Antwort zu erwarten.<br />

In dem Augenblick gesellte sich auch Ewald zu uns, dem wir kurz<br />

schilderten, was vorgefallen war.<br />

„Ja, ich habe so etwas Ähnliches schon gedacht.“<br />

„Wo sind unsere Leute im Moment? Ist ein Teil von ihnen noch auf dem<br />

Hügel?“<br />

„Wie kommst du jetzt darauf, Jonathan?“<br />

Katharina schaute mich fragend an, schien aber meine Antwort bereits<br />

zu ahnen.<br />

„Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir als Gruppe zusammenbleiben.“<br />

„Keine Sorge, unsere Leute sind alle in den Häusern verteilt. In den<br />

Bungalows ist niemand von uns untergebracht.“ Ewald schaute zu Boden<br />

und ergänzte sich selber: „Wir sind ja auch nur noch die Hälfte der<br />

Leute, die in Seedorf eingezogen sind.“<br />

Betretenes Schweigen folgte. Wir hingen unseren Gedanken nach, hatten<br />

wir doch alle, wie wir hier saßen, Freunde und Bekannte verloren. Menschen,<br />

die mit uns den weiten Weg nach Seedorf gegangen waren.<br />

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