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SCHÖNE NEUE WELT – ZUKUNFT FINDET STADT

Shanghai, Tokio, Hongkong, Mumbai, Kairo, Bangkok, Dubai, Singapur ... die Megastädte dieser Welt beeindrucken durch kaum fassbare Dimensionen und ihr scheinbar ungebremstes Wachstum. Sie sind verdichtete, dynamische Bewegungsräume, die Bewohnern und Besuchern immer neue Formen der Wahrnehmung, Orientierung und Anpassung abverlangen. Der Fotograf Jürgen Strasser spürt dieser »Schönen neuen Welt« nach. Er richtet seinen Blick auf einen steingewordenen Fortschrittsglauben, auf die scheinbar immer gleichen Hochhausfassaden und Verkehrsnetze und auf die Visionen menschenwürdigen Massenwohnungsbaus. In konzentrierter Form zeugen seine Stadtlandschaften von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der wachsenden Weltbevölkerung und der stetigen Urbanisierung. Strassers Bilder führen vor, wie austauschbar und wenig ortstypisch Städteplanung in unserer Gegenwart ist und dass der Mensch in seiner Individualität in diesen gigantischen Stadtmaschinen immer weniger eine Rolle zu spielen scheint. Jürgen Strasser lebt als autonomer, visueller Künstler in Wiesbaden und Worpswede. Sein Arbeitsplatz ist die Welt. Seit 2016 verantwortet er die RAW Photo Triennale Worpswede und seit 2022 auch die Wiesbadener Fototage. Mehr Infos zum Bildautor unter www.juergenstrasser.de

Shanghai, Tokio, Hongkong, Mumbai, Kairo, Bangkok, Dubai, Singapur ... die Megastädte dieser Welt beeindrucken durch kaum fassbare Dimensionen und ihr scheinbar ungebremstes Wachstum. Sie sind verdichtete, dynamische Bewegungsräume, die Bewohnern und Besuchern immer neue Formen der Wahrnehmung, Orientierung und Anpassung abverlangen.

Der Fotograf Jürgen Strasser spürt dieser »Schönen neuen Welt« nach. Er richtet seinen Blick auf einen steingewordenen Fortschrittsglauben, auf die scheinbar immer gleichen Hochhausfassaden und Verkehrsnetze und auf die Visionen menschenwürdigen Massenwohnungsbaus. In konzentrierter Form zeugen seine Stadtlandschaften von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der wachsenden Weltbevölkerung und der stetigen Urbanisierung. Strassers Bilder führen vor, wie austauschbar und wenig ortstypisch Städteplanung in unserer Gegenwart ist und dass der Mensch in seiner Individualität in diesen gigantischen Stadtmaschinen immer weniger eine Rolle zu spielen scheint.

Jürgen Strasser lebt als autonomer, visueller Künstler in Wiesbaden und Worpswede. Sein Arbeitsplatz ist die Welt. Seit 2016 verantwortet er die RAW Photo Triennale Worpswede und seit 2022 auch die Wiesbadener Fototage.

Mehr Infos zum Bildautor unter www.juergenstrasser.de

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Jürgen

Strasser

SCHÖNE

NEUE

WELT



Jürgen

Strasser

SCHÖNE

NEUE

WELT

FÜR CHRISTINE








Einführung

Jürgen Strasser ist ein Suchender.

Mit der Kamera streift er intensiv beobachtend

vor allem durch die Megastädte

Asiens, immer auf der Suche

nach Eindrücken und Bildern über die

Besonderheiten des urbanen Lebens

dort. Besonders interessiert ihn dabei

die Wohnsituation, die so ganz von den

uns geläufigen Strukturen im ländlichen

Raum, aber auch im städtischen

Umfeld abweicht. Sein Blick geht dabei

häufig nach oben. Dadurch entdeckt er

z.B. Zugänge zu Nachbargebäuden, die

ihm eine Übersicht und freies Blickfeld

erlauben. Es entstehen einzigartige Perspektiven

auf eine Architektur, die einerseits

eindrücklich für die wirtschaftliche

Entwicklung dieser Megastädte, andererseits

für die beklemmende Wohnsituation

einer breiten Bevölkerungsschicht

steht.

Mit seinen Fotografien erlaubt er dem

Betrachter, sich als Gegenüber zu den

monumentalen Gebäuden zu fühlen Der

Bildausschnitt ist häufig so gewählt,

dass das Ende des Gebäudes nicht

sichtbar oder die Einbettung der Architektur

in das Stadtumfeld nicht möglich

ist. Dadurch erscheinen die Fassaden

grenzenlos und entwickeln sich außerhalb

des Sichtbaren weiter. Durch

präzise Schärfe, den passenden Einsatz

des vorhandenen Lichts sowie eine

klare Winkelung werden die Fensterfronten

oder architektonischen Elemente

zu Strukturen verdichtet. Sie geben

dadurch Auskunft über die Haltung

des Fotografen, der Titel »Schöne neue

Welt« ist dabei natürlich ironisch zu lesen.

Übergroße Formate wechseln mit

kleinen Bildmaßen, sodass immer wieder

ein Blick auf das Ganze, dann wieder

auf Details evoziert wird.

Wir sehen riesige Bauten mit Hunderten

Wohnungen, jede nur wenige Quadratmeter

groß. Strasser findet ausdrucksvolle

Bilder für diese Wohnmaschinen,

die immer wiederkehrenden Strukturen

und die Anonymität des Wohnens, die

mit diesen Komplexen einhergeht. Auch

dass die Zeitlichkeit eine ganz andere

ist, werden doch viele Bauten schon

nach gut zwanzig Jahren abgebrochen

und durch neue und ähnliche Architektur

ersetzt, findet eine Entsprechung

in seinen Bildern. Nichts scheint auf

Dauer. Wohnen zielt hier nicht auf einen

individuellen Lebensausdruck sondern

ist nüchterne Notwendigkeit, niemand

scheint hier gesteigerten Wert

auf Individualität oder Besonderheit zu

legen. Mit einem durch lange Erfahrung

geschärften analytischen Blick nimmt

der studierte Politologe und Soziologe

Strasser die architektonische Struktur

dieser Metropolen auf und kontrastiert

sie mit Bildern von Menschenmassen

innerhalb dieser Welten.


Jürgen Strasser findet

ausdrucksvolle Bilder

für diese Wohnmaschinen,

die immer wiederkehrenden

Strukturen und die

Anonymität des Wohnens,

die mit diesen Komplexen

einhergeht.

Auch die kühnen Bauten in Dubai, die

metallenen und gläsernen Moloche

und die Lebensadern der Straßen und

Bahnverbindungen erkundet er. Dabei

tauchen Menschen nur vereinzelt oder

als Beiwerk auf. Strasser interessiert

sich auch hier für die neu geplanten

Systeme im Ganzen wie im Detail. Glas

und Metall als vorherrschendes Material,

eine Anpassung an zeitgenössische und

globale Entwürfe, die Ausstrahlung der

Macht dieser expandierenden Städte ist

weltweit feststellbar. Der Wandel in dieser

bis vor Kurzem eher noch traditionell

geprägten Umgebung ist im Kontrast

noch einmal gesteigerter wahrnehmbar.

Die Fotografie Jürgen Strassers ist

besonders geeignet, diese Entwicklung

zu dokumentieren und zur Diskussion

zu stellen. Dabei bezieht er nicht direkt

Position, sondern bietet dem Betrachter

an, seinen Weg zwischen Ästhetik und

Faszination der Größe einerseits sowie

Enge und Lebensfeindlichkeit andererseits

selbst zu finden. Hier tut sich eine

noch fremde Welt auf, deren Zukunft

aber auch uns eventuell droht. Schöne

neue Welt eben.

> Ditmar Schädel

Dozent für Kunst und Gestaltung an

der Universität Duisburg-Essen und

Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft

für Photographie (DGPh)


Schöner x Wohnen

für Alle

xxxxxxxxxx

Wir x geben

Ihrer x Zukunft

ein x Zuhause

xxxxx


Wünsche x werden

Wirklichkeit

xxxx

Auf x diese

Steine x können

Sie x bauen

xxxxxxxxxxxxxxxx

> Werbeslogans deutscher Bausparkassen




















Wer x auch

immer x glaubt,

dass x Gewinnen

nicht x alles x ist,

der x kennt

Dubai x nicht.

x


x

x

xx

xxx

xxxxx

xxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxx

> Muhammad bin Raschid Al Maktum

Herrscher des Emirats Dubai












Der Mensch zwischen

Modul und Masse

Bilder von der Konstruktion

des Urbanen

Formatfüllend setzt Jürgen Strasser

die Fassaden von Wohntürmen ins Bild.

Prägnant schärft er deren grafische

Strukturen, arbeitet im malerisch überbordenden

All-over die farbliche Staffelung

heraus und nimmt die leichten

Vibrationen der Außenflächen durch die

Versetzung der Linienführung auf. Die

sachliche bildliche Inszenierung hält die

Wirkung der wabenartigen Wohnformationen

offen. Die Muster der Architektur

markiert eine Monotonie, die auf die

Vermassung der Behausung verweist,

in der eine anonymisierende Vervielfältigung

das einzelne Element und damit

Individualität überlagert. Zugleich

kündet die klare Gliederung der fotografischen

Komposition aber auch von

Klarheit, konstruktiver Stringenz und

futuristischem Ehrgeiz des modernistischen

Städtebaus: Modulartige Wohnraumbeschaffung

gibt sich als bauliche

Antwort auf die temporeichen Zentralisierungsbewegungen

der modernen Gesellschaft

zu erkennen. Strasser pendelt

den Ausdruck des Bildes zwischen Konfektionierung

des Wohnens und ästhetischer

Ordnung aus. Mit einem pinkfarbenen

Tuch vor einer Fensterreihe fängt

er in einem Bild eine markante Pointe als

geradezu narrativen Kontrapunkt ein:

Kann sich in dieser bildsprengenden

Uniformität doch noch die einzelne personale

Identität wenigstens punktuell

durchsetzen?

Strasser verstärkt in der seriellen Anordnung

seiner Fassadenfotografien die

sachlich nüchterne Wiedergabe und

arbeitet zugleich die ornamentalen

Bänderformationen heraus. Aus dem

Rapport entwickelt er in seinen Fotoarbeiten

einen hohen formalen Reiz, der

den Betrachter bindet. In die geometrische

Grundordnung lässt er in einigen

der Fassadenfotografien als erzählerischen

Subtext und wuchernde Binnenformulierung

die spezifischen Ausstattungen

der Wohneinheiten zur Sprache

kommen: Attribute eines Lebensalltags

in und hinter dem steinernen Gerüst.

Uniforme und individuelle Wohnwelt

geraten so in eine spannungsvolle Korrespondenz

zueinander. Der subjektive

Faktor meldet sich zu Wort, partisanengleich

scheint er die architektonische

Vereinheitlichung durchkreuzen

zu wollen.


In der geometrischen

Grundordnung lässt er in einigen

der Fassadenfotografien als

erzählerischen Subtext und

wuchernde Binnenformulierung

die spezifischen Ausstattungen

der Wohneinheiten zur Sprache

kommen – uniforme und

individuelle Wohnwelt geraten

so in eine spannungsvolle

Korrespondenz zueinander.


Jürgen Strasser rückt in seiner Städtefotografie

vorzugsweise die in rasantem

Tempo angewachsenen Metropolen des

asiatischen Raums in den Fokus. Dort

scheinen am augenfälligsten die kühnsten

Entwürfe architektonischer Utopien

Wirklichkeit zu werden, dort scheint sich

am deutlichsten die globale Wachstumsdynamik

von Wirtschaft und Bevölkerung

niederzuschlagen. Dort scheint

auch am stärksten die Tendenz einer global

vereinheitlichten Architektur ablesbar

zu werden, die vergangene allmählich

gewachsene Siedlungsformen und Kulturen

ablöst und überblendet. Der Fotograf

lenkt unseren Blick durch klaffende

Häuserschluchten und auf türmereiche

Skylines. Wir heften unsere Augen auf

die Fluchten von Fahrbahntrassen oder

auf freie Plätze gigantischen Ausmaßes,

in denen einzelne Menschen wie verlorene

Kulissenphänomene auftreten. In vielen

Aufnahmen wirken die Straßen wie

ausgestorben, dem Flaneur geben die

Megacities als Spiegelbild höchster Effizienz

und Funktionalität keinen Raum.

Dafür sind die U-Bahnen und Vorortzüge

prall gefüllt. Wie glühende, rasant

durchpulste Adern inmitten kalter Wohnund

Geschäftsblocks lässt der Fotograf

in einem Bild die Straßenzüge in einem

Stadtzentrum erscheinen. Tempo und

Statik treten als Pole und Anker des urbanen

Alltags auf.

Wenn Menschen im Straßenbild auftreten,

tun sie es Schwärmen und Trauben

gleich: eine bewegt im Gleichmaß eilende

Masse, die von parallelen Zwecken

und Zielen zusammengehalten wird,

nicht von lebendiger Kommunikation.

Freiflächen neben den futuristischen

Architekturen vermitteln den Eindruck

einer synthetischen Genese der Gebäude

inmitten einer gesichts- und charakterlosen

Landschaft. Hier ist nichts orga-

Diese Städteaufnahmen

sind nicht vordergründige

Zivilsationskritik oder

Forschrittsanklage.

> Dr. Rainer Beßling

Kunstkritiker und Kulturjournalist.

Mitarbeiter der Zeitschriften

artist und artline nord.


nisch gewachsen, sondern konstruktiv

gesetzt. Eine Aufnahme von Dubai

zeigt die Türmestadt inmitten der Wüste,

eine der Unwirtlichkeit der Natur abgerungene

Ansiedlung von hoher Künstlichkeit,

eine imperiale Geste der Wirtschaftskraft,

des Überflusses und der

extensiven Ausbeutung nicht nachwachsender

Ressourcen.

Die Aufnahmen zeigen die Metropolen

aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Mal

schaut der Betrachter frontal auf die

Bauwerke, die weniger harmonieren als

vielmehr vereinzelt ein Zeichen setzen,

die einen Pflock einschlagen, ein Terrain

markieren und eine himmelsstürmende

Dynamik ausflaggen. Mal sind es Luftaufnahmen,

in denen die Ansiedlungen

in der Gesamtsicht umso eindrücklicher

den Charakter fiktionaler Exotik einnehmen.

Hier findet eine post-industrielle

Gesellschaft ihren Ausdruck, in der alle

Lebensvollzüge auf digitaler Basis und

in effizientester Struktur rationalisiert

sind. Strasser überhöht diese Anmutung

mit surreal wirkender Farbigkeit

oder einem kalten metallischen Licht,

das dem Ganzen ebenso wertigen Glanz

wie auch spiegelnden Scheincharakter

verleiht. Wenn inmitten der Welten aus

Glas und Stein Naturelemente auftreten,

dann als bloßes Dekor wie in einem

Gehege oder Freiluftmuseum, Bäume

wirken wie Artefakte aus einer historisch

gewordenen Epoche.

Auch wenn die jüngsten Riesenstädte

global uniforme Konturen zeigen, gelingt

es Strasser sie porträthaft ins

Bild zu setzen. Mit Zuspitzung der graffischen

metropolen Eigenarten schafft

er städtebauliche Bildnisse, die Entwicklungsdynamik

dokumentieren, die

aber zugleich in einem hohen Maß an

strukturell gebändigter Überwältigung

die Faszination des Fotografen selbst

ins Spiel bringen. Das lässt sie weit entfernt

von einem bloßen Menetekel wirken.

Diese Städteaufnahmen sind nicht

vordergründige Zivilisationskritik oder

Fortschrittsanklage. Der Betrachter darf

sich von der Wucht der abgebildeten

städteplanerischen und architektonischen

Statements mitgenommen fühlen

und aus seiner Wahrnehmung heraus

eine Haltung entwickeln. Symbolische

Bildanlagerungen, die lediglich eine gesellschaftskritische

Position illustrieren,

liegen Strasser fern. Zentrale Fragen

aber, die sich aus seinen Arbeiten ableiten

lassen, sind die nach der Reichweite

der Planung städtischer Öffentlichkeit

und nach dem Einfluss wachsenden

privaten Vermögens in den Händen immer

weniger. Strassers eindrucksvolle

Fotografien fangen die markantesten

Zeichen der Wachstumsrationalität ein,

welche die globalisierte Gesellschaft

den künftigen Generationen vererbt.

Sie lassen uns nicht zuletzt darüber

nachdenken, welches Schicksal die

künstlerische Sprache der Architektur-

Moderne in den neuen Ballungsgebieten

der Welt erlitten hat.


Wer x eine x kennt,

kennt x die

anderen x alle,

so x ähnlich

sind x sie

untereinander,

sofern x nicht

der x Charakter


der x Örtlichkeit

eine x Änderung

bedingt.

xxxxxx

xxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxx

> Thomas Morus

Utopia, 1516






















Neue Moderne der Stadt?

Vom kühlen Konzept zum smarten,

lebenden Systen

Die Stadt, zumal die moderne Metropole, ruft

ein Spektrum von Reaktionen hervor. Künstler

und Intellektuelle haben verschiedenen

Standpunkten Ausdruck verliehen, nicht zuletzt,

weil sie an der Stadt als Lebensform

partizipierten, profitierten, an ihr litten oder

sie verfluchten. Ein Sokrates ist auf das

Stadtleben mit seinen kulturellen Erscheinungen

und dem intellektuellen Austausch

angewiesen. Epikur und Montaigne ziehen

sich nach einer städtischen Inkubationsphase

aufs Ländliche zurück. Künstler und

Schriftsteller der Neuzeit arbeiten sich immer

wieder an der Polarität von Naturhingabe einerseits,

urbaner Weltläufigkeit und Inspiration

andererseits ab – Gegensätze, deren

Bevorzugung vielleicht weniger auf unumstößlichen

Wahrheiten, sondern eher auf zufälligen

Launen beruht, wie der schottische

Aufklärungsphilosoph David Hume anmerkt.

Adorno schließlich kritisiert die Rückständigkeit

der Provinz, die anderen Theoretikern

und Künstlern wiederum als unverfälschtes,

nicht entfremdetes Residuum einer menschlicheren

Lebensweise erscheint.

Nachdem das Ansehen der Stadt im späten

20. Jahrhundert massiv gelitten hat, haben

sich – teilweise vom intellektuellen Diskurs

unbemerkt – urbane Entwicklungen auf globaler

Ebene ergeben, die neue faszinierende

Aspekte zur Geltung bringen, aber auch

manche Befürchtung wiederbeleben. Eines

der markantesten Phänomene ist die Entstehung

neuer Millionenstädte und das Anwachsen

der Megacities. Die vermeintlich

abgemeldete Lebens- und Kulturform Stadt

prosperiert nicht nur, sie erscheint auch immer

mehr in einem Licht, das dem düsteren

Bild des lebensfeindlichen Molochs vergangener

Jahrzehnte nicht mehr entspricht.

Was freilich nicht bedeutet, dass alte Sorgen

nicht wiederkehren könnten.

Es scheint viel für die neue, die erneuerte

Stadt zu sprechen, neben den in der Vergangenheit

schon zelebrierten Vorzügen

des urbanen Lebens. Schon die bloßen Daten

rücken alte Perspektiven zurecht. Seit

den 1990er Jahren überwiegt die urbane

Bevölkerung die ländliche – mittlerweile

sogar ganz beträchtlich. Ökologisch, energiepolitisch,

infrastrukturell scheint dies

vorteilhafter, nachhaltiger, zu sein, als wenn

die wachsende Weltbevölkerung in ländlichen

Regionen siedeln würde: Die Stadt als

Lösung zahlreicher drängender Probleme.

Vorausgesetzt, die komplizierte Infrastruktur

wird tatsächlich zuverlässig bereitgehalten,

und Wohnraum für die vielen Millionen

wird geschaffen. Doch die Herausforderungen

gehen über diese grundlegenden Funktionen

hinaus. Das ist die Lehre der Moderne

des 20. Jahrhunderts, in der – nicht nur,

aber auch – trostlose funktionale Quartiere

entstanden, in denen sich kein Gemeinsinn,

keine gelebte Kultur entwickeln kann. Und

selbst Vorzeigeprojekte und Landmark-

Buildings sind häufig nach wenigen Jahrzehnten

dysfunktional und ein Klotz am Bein.


Die Postmoderne, angetreten um der starren

Ordnung Leben einzuhauchen, hat auch keine

Lösungen geliefert, sondern allzu oft – wie

Noam Chomsky konstatiert – sinnlose Diskurse

in obskure Details übersetzt, mit denen

die Menschen sich nicht anfreunden können.

Architekten und Stadtplaner stehen vor der

Aufgabe, aus diesen Fehlern zu lernen. Die

Diskussion von Konzepten und Entwürfen,

die architektonische, technische und soziokulturelle

Aspekte in Einklang bringen, findet

ihren Weg hinaus über das Feuilleton bis in

die interessierte Öffentlichkeit.

Die Architektur des Modernismus war von

den Umbrüchen in den Künsten und Wissenschaften

inspiriert – neuartige, mitunter elitäre

Auffassungen schufen neue Freiräume

für Ausdrucksmöglichkeiten. Wie sich gezeigt

hat, ist die Stadt als Quasi-Organismus jedoch

verschärften, zumindest anderen Bedingungen

als die Kunst unterworfen. Kühnheit von

Ideen ist kein hinreichendes Kriterium für ein

komplexes System, in dem Menschen leben

müssen. Wie die neuen Antworten aussehen,

kann man in neuen Städten und Stadtprojekten

besichtigen. Darunter sind auch Beispiele

für die immer wiederkehrenden Fehler,

wenn Planung abstrakten Konzepten folgt.

Gesucht sind die Lösungen, die sich unter der

Anforderung, den verschiedenen Lebensbereichen

in der irdischen Realität der Stadt gerecht

zu werden, bewähren.

Die Digitalisierung verheißt dabei ganz neue

Möglichkeiten. Im Internet der Dinge liefern

Gegenstände und Personen fortwährend Daten

über ihre Zustände und Aktivitäten, durch

die – so der Anspruch – viel optimaler auf die

Bedürfnisse und die verfügbaren Ressourcen

reagiert werden kann. Das Optimierungspotenzial

ist beträchtlich. Die unterschiedlichsten

Gesellschaftssysteme weltweit wollen

diesen Zug nicht verpassen. Das macht

die Fehlerquelle, die schon die Probleme der

Vergangenheit verursacht hat, noch kritischer:

Abstrakte Planung und unrealistische

Konzeption können sich verhängnisvoll auswirken.

Die Algorithmen und die dahinterstehenden

Datenkonzepte sollten besser der

Realität von Menschen in sozialer Interaktion

entsprechen als unrealistische Visionen oder

naive, eindimensionale Mechanismen zu implementieren.

Das Szenario einer IT-Diktatur

scheint darüber hinaus ebenfalls in greifbare

Nähe zu rücken, dem nur durch eine Wertediskussion

und zuverlässigen Rechtssystemen

begegnet werden kann.

Die »Philosophie der Stadt« fordert heute

smarte, nachhaltige und resilienzfördernde

Konzepte – Schlagworte, die auf alte Fehler

und neue Entwicklungen mit einer Werthaltung

reagieren. Ob sie sich bewähren, wird der

Diskurs in ein, zwei Jahrzehnten zeigen. Das

so oft kritisierte technokratische Denken ist

jedenfalls einer umsichtigeren Perspektive

gewichen, die aus der sträflichen Vernachlässigung

der »sanften«, im weitesten Sinne

»ethischen« Aspekte gelernt hat, denn diese

tragen ganz erheblich zum Funktionieren

einer Stadt bei. Die Stadtentwickler müssen

den schmalen Pfad zwischen Technokratie

und einengender ethischer Bevormundung

finden, und zwar an einem lebenden, wachsenden

System wie es die Stadt nun einmal

ist – on the fly also, oder, mit einem treffenden

Bild von Otto Neurath für Fehlerkorrekturen

in Echtzeit: wie auf hoher See ohne die

Sicherheit des Trockendocks.

Björn Haferkamp

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut

für Philosophie der Universität Bremen


Wir x müssen x die

futuristische

Stadt x erfinden

und x erbauen x –

sie x muss

einer x großen,

lärmenden x Werft

gleichen x und


in x allen x ihren

Teilen x flink,

beweglich,

dynamisch x sein.

xxx

xxxxxx

xxxxxxxxxxxx

> Antonio Sant‘Elia

Manifest der futuristischen Architektur, 1914
















Wir x bauen

die Ruinen

der x Zukunft.

x

x

x


xx

xxxx

xxxxxxxx

xxxxxxxxxxxx

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xxxxxxxxxxxxxxxxx

> Walter Ludin

Wo sind die Freundbilder? 1994














AN

HAN

G














IMPRESSUM

HERAUSGEBER

JÜRGEN STRASSER

Niederwaldstraße 18

D-65187 Wiesbaden

+49 (0) 177 - 5 61 33 65

mail@juergenstrasser.de

www.juergenstrasser.de

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwendung bedarf der Zustimmung

des Rechteinhabers. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen, Mikroverfilmungen

und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch

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© 2021 Jürgen Strasser und VG Bild-Kunst, Bonn

Limitierte Auflage.

Hergestellt in Deutschland.


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