Heimat - Dominik Göhl
Auf die Frage nach der Heimat antworteten die meisten meiner Freunde häufig mit der ähnlich gleichen Phrase: „Da wo ich daheim bin, wo ich mich wohl fühle“. Jedoch ist dies die einfachste Annäherung an den Begriff der Heimat. Durch den Einfluss wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, sozialer Mobilität und weltweiter Migration von Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut muss dieser Begriff ständig neu reflektiert und als eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der persönlichen Identität verstanden werden. Im folgenden Buch möchte ich zum Nachdenken anregen und die Wichtigkeit der Heimat als solches hervorheben. Vor allem soll aber klar werden, dass Heimat nicht durch Eigentum, sondern durch eine offene Gesellschaft geschaffen werden kann. Für jeden.
Auf die Frage nach der Heimat antworteten die meisten meiner Freunde häufig mit der ähnlich gleichen Phrase: „Da wo ich daheim bin, wo ich mich wohl fühle“. Jedoch ist dies die einfachste Annäherung an den Begriff der Heimat. Durch den Einfluss wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, sozialer Mobilität und weltweiter Migration von Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut muss dieser Begriff ständig neu reflektiert und als eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der persönlichen Identität verstanden werden. Im folgenden Buch möchte ich zum Nachdenken anregen und die Wichtigkeit der Heimat als solches hervorheben. Vor allem soll aber klar werden, dass Heimat nicht durch Eigentum, sondern durch eine offene Gesellschaft geschaffen werden kann. Für jeden.
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Heimat
Dominik Göhl
Heimat
Dominik Göhl
vorwort.
heimat.
Auf die Frage nach der Heimat antworteten die meisten meiner
Freunde häufig mit der ähnlich gleichen Phrase: „Da wo ich
daheim bin, wo ich mich wohl fühle“. Jedoch ist dies die einfachste
Annäherung an den Begriff der Heimat. Durch den Einfluss
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, sozialer
Mobilität und weltweiter Migration von Menschen auf der
Flucht vor Krieg und Armut muss dieser Begriff ständig neu reflektiert
und als eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung
der persönlichen Identität verstanden werden. Im folgenden Buch
möchte ich zum Nachdenken anregen und die Wichtigkeit der
Heimat als solches hervorheben. Vor allem soll aber klar werden,
dass Heimat nicht durch Eigentum, sondern durch eine offene
Gesellschaft geschaffen werden kann. Für jeden.
01 Das Wort
Bedeutung und Verwendung des
Begriffs in der deutschen Sprache.
08
02
Wer wir sind
Statistiken liefern einen genauen
Einblick wer wir eigentlich sind.
26
Index
03
Diskussion
Die Gefahr einer polititischen
Definition des Heimatbegriffs.
44
04
Sehnsucht
Der Verlust der Heimat und die
daraus entstehenden Folgen.
68
05
Schluss
Meine persönliche Meinung und
deine persönliche Reflexion.
94
einleitung.
Heimat ist ein spezifisch deutscher Begriff, der eine Vorstellung
eines Zuhauses zu etwas macht, das sinnlich erfahrbar ist.
Heimat kann ein Geschmack, Musik, ein Geruch sein – ebenso
wie ein physischer Ort als Heimat empfunden werden kann
(„Heimat ist da, wo mein Herz ist“). Gegenwärtig beschreibt
Heimat indes kein idealisiertes Zugehörigkeitsgefühl mehr.
Der Begriff hat eine lange Geschichte der Fremdaneignung und
Verzerrung hinter sich und wird immer noch von rechten und
konservativen Ideologien zur Rechtfertigung von Ausgrenzung
missbraucht. Heute bleibt Heimat in gewissem Sinne unheimlich.
Wir wissen instinktiv, dass wir weder diese Idee von Heimat noch
das nebulöse Versprechen des utopischen Globalen bewohnen
können. Heimat wird nicht länger vererbt oder gegeben, sondern
durch Erfahrung erschaffen – ein Ort, der zur Heimat wird,
für den wir Verantwortung übernehmen.
8 9
01
DAS WORT
10 11
DAS WORT
das wort.
heimat
Der Begriff „Heimat“ existiert nur in der deutschen Sprache.
Es gibt keine exakte Übersetzung in andere Sprachen. Allerdings
ist das Phänomen der „Heimatliebe“ auch außerhalb des deutschen
Sprachraums bekannt. Annäherungen gibt es in vielen
Ländern, jedoch gehen von der sehr umfassenden Bedeutung
wichtige Teile verloren. So wird beispielsweise der Song „Sweet
Home Alabama“ von vielen als Verklärung des Lebens in den
Südstaaten der USA verstanden.
Ursprünglich stammt der Begriff aus den germanischen ab.
„Haima“ wurde bis ins 19. Jahrhundert vorallem von Juristen
und Beamten als sachliche Bezeichnung für das „Wohnrecht mit
Schlafstelle im Haus“ verwendet.
12 13
DAS WORT
Heimat
1600 1700 1800
1900 1950
2010
begriff.
„Heimat“, dieses urdeutsche, in andere Sprachen schwer übersetzbare,
politisch oft missbrauchte Wort, wurde in früheren Zeiten,
vor dem 19. Jahrhundert, nur sehr selten gebraucht. Sein Aufstieg
im deutschsprachigen Wortschatz begleitet die Moderne seit der
Sattelzeit um 1800. Vorher war es kaum vorhanden. Das zeigen die
Befunde von Sprach- und Literaturgeschichte.
Diese Fieberkurve des Heimat-Begriffs kann sich jeder auf der
Seite des Digitalen Wörterbuchs (www.dwds.de) vor Augen
führen. Denn eine Fieberkurve ist es. Sie folgt unübersehbar den
Rhythmen der neuzeitlichen deutschen Sozialgeschichte mit der
beginnenden Industrialisierung und den Auswanderungswellen
im frühen 19. Jahrhundert, sie erreicht daher ihren Gipfel kaum
zufällig während des Verstädterungs- und Industrialisierungsschubs
vor 1900, um in der voll entfalteten Industriegesellschaft des
20. Jahrhunderts konstant hoch zu bleiben.
Nach den Auswertungen kam man zu den Entschluss, dass der
Begriff vorallem in Zeiten der Neuordnung boomte.
Quelle: dwds.de
14 15
DAS WORT
1900
traumbild der idylle.
Bis 1800 gibt es keine besondere Ernennungen des Begrifffs. Erst
zu Zeiten der Industriealisierung, als die Menschen vom Land
in die Stadt zogen, erwachte die Sehnsucht der Heimat. Immer
mehr Menschen lebten in den Städten - oft in Elend. Eine Folge
daraus war die Romantisierung des Landlebens und die Verklärung
der ehemaligen Heimat zur heilen Welt. Ein Traumbild als Idylle.
Eine Reaktion gegen Fortschritt und Moderne.
16 17
DAS WORT
1945
ideologischer begriff.
In der NS-Zeit wurde der Begriff für die Ideologie missbraucht.
Er wurde als Propaganda für Nation und Vaterland genutzt.
Heimat als Abgrenzung gegen das Fremde. Ohne den Heimatbegriff
explizit zum Ausdruck zu bringen, setzt Adolf Hitler
mit seinen Reden die wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass dieser
sinnliche und ideologische Raum zu einem immanenten Heimatbild
im Bewusstsein der Deutschen wird.
18 19
DAS WORT
1950
klischeebild.
In der Nachkriegszeit entstand mit den „Heimat-Filmen“ und
„Heimat-Romanen“ ein Klischeebild einer Idylle. Grundmotiv
fast aller Heimatliteratur ist die Schaffung einer Gegenwelt zum
Städtischen, Zivilisatorischen und die Kritik an Verstädterung,
Industrialisierung und Technisierung. Zu Zeiten der Stabilität im
Land nimmt das „Heimatfieber“ wieder ab.
20 21
DAS WORT
2010
grenze gegen andere.
Globalisierung und Migration verunsichern die Menschen und
der Begriff erreicht seinen Höchstwert. „Heimat“ wird wieder als
Abgrenzung gegen das Fremde missbraucht und lässt aus einem
kulturellen wieder ein politisches Thema werden. Viele Menschen
fürchten den Verlust der Heimat. Selbst ernannte Heimat-Parteien
wie die Alternative für Deutschland (AfD) nutzten dies,
um Wählerstimmen zu gewinnen.
22 23
DAS WORT
Interview
simone egger.
Simone Egger, geboren 1979, ist
Kulturwissenschaftlerin am Institut
für Volkskunde und Europäische
Ethnologie der Ludwig-Maximilians-
Universität München.
Sie haben das Buch „Heimat. Wie
wir unseren Sehnsuchtsort immer
wieder neu erfinden“ geschrieben.
Heimat ist in der ursprünglichen
Bedeutung des Wortes auf einen
konkreten Ort bezogen – gewöhnlich
ist damit der Ort der Kindheit gemeint,
an dem ein Mensch die ersten
prägenden Erlebnisse erfährt. Wo
sind Sie geboren und was bedeutet
Ihnen dieser Ort heute?
Ich bin in Donauwörth geboren, einer
kleinen Stadt in Bayerisch Schwaben.
Das ist meine „erste Heimat“, der Ort,
an dem ich auch aufgewachsen bin.
Inzwischen lebe ich aber schon lange in
München und bin dort ebenfalls heimisch
geworden. Trotzdem ist mir auch
meine „erste Heimat“ noch wichtig.
Mit Donauwörth verbinde ich viele Erinnerungen,
die Gegend ist mir vertraut.
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass sich
das, was Menschen unter Heimat
verstehen, gewandelt und erweitert
hat. Wie würden Sie umreißen,
was gegenwärtig unter „Heimat“ zu
fassen ist?
Das ist gar nicht so einfach. Heimat
kann heute vieles sein. Jeder Mensch
weiß für sich wohl am besten, was
Heimat für ihn bedeutet. Allzu starre
Klammern wie etwa die Zugehörigkeit
zu einer Nation greifen aber längst
nicht mehr. Heimat muss keinen konkreten
Ort meinen. Heimat können die
Mitglieder einer Familie oder Freundinnen
und Freunde sein, die an vielen
verschiedenen Orten leben.
Die meisten Menschen wollen, können
und müssen heutzutage flexibel sein
und bereit, mehrmals im Leben ihren
Wohnort zu wechseln. Was entscheidet
darüber, ob es ihnen gelingt, eine
neue Heimat zu finden?
Ein wichtiger Punkt ist natürlich die
Art und Weise, mit der man aufgenommen
wird. Wie reagieren die Menschen
in einem anderen Ort, einer anderen
Stadt auf meine Ankunft? Lässt es der
Job zu, ein soziales Umfeld finden, in
dem man angenommen wird? Heimat
muss nicht schön sein. Aber wer von
vornherein ausgrenzt wird, kann sich
nicht zu Hause fühlen. Heimat hat
immer auch mit einem Bedürfnis nach
Sicherheit zu tun. Wird ein Mensch
irgendwo willkommen geheißen, fällt es
ihm leichter, heimisch zu werden.
Warum kommen einem, wenn das
Wort „Heimat“ fällt, sofort stereotype
ländliche Postkartenidyllen in den
Sinn, obgleich mittlerweile mehr
Menschen in Städten leben als auf
dem Land?
Die rauschenden Bäche und Alpenpanoramen,
die quasi exemplarisch für das
Thema Heimat stehen, haben mit der
Romantik und der Industrialisierung
zu tun. Im 19. Jahrhundert wurden
viele Bilder beschworen, die wir noch
heute auf Heimat beziehen. In dieser
Zeit haben besonders viele Menschen
ihre Heimat auf dem Land verlassen,
um in die Stadt zu ziehen. Gerade in
unübersichtlichen Situationen, in Krisenzeiten,
gewinnen idyllische Sehnsuchtsorte
an Bedeutung, die den Alltag
auch einmal vergessen lassen. Viele
Menschen sind in der Stadt zu Hause,
doch die romantischen Heimatvorstellungen
haben sich durchgesetzt.
Sie beschäftigen sich als Kulturwissenschaftlerin
intensiv mit Stadtforschung
und untersuchen in Ihrem
Buch „Phänomen Wiesntracht“,
erschienen 2008, eine interessante
Zeiterscheinung: die Renaissance
von Dirndl und Lederhose. Was ist
davon zu halten, wenn in einer globalisierten,
zunehmend urbanen Welt
plötzlich Dirndl en vogue sind, Zeitschriften
über das Landleben Auflagenrekorde
erzielen und Hirschgeweihe
aus Metall Stadtwohnungen
zieren?
Die verstärkte Beschäftigung mit regionalen
Erscheinungsformen hängt mit
der Globalisierung zusammen und ist
nicht nur in Bayern oder München zu
beobachten. In der heutigen Zeit sind
Menschen weltweit über Medien miteinander
verbunden, und gleichzeitig
gewinnen Bilder zusehends an Wert.
Alles steht immer im Vergleich zu etwas
anderem und Besonderheiten werden
sichtbar hervorgehoben. Jede Stadt und
jeder Landstrich auf der Erde zeichnet
24 25
DAS WORT
sich durch Eigenheiten aus. Das hat
einmal wirtschaftliche Gründe, die
Beschäftigung mit dem Wissen um
eine Region hat aber auch viel mit
der Identität von Menschen zu tun.
Eines geht klar aus Ihrem Buch
hervor: Durch die Mobilität und die
Vernetzung der Menschen wird der
Heimatbegriff heute offener und
vielfältiger ausgelegt. Wie wichtig
bleiben vor diesem Hintergrund
Traditionen und Verbindlichkeit?
Juristisch gesehen gibt es dieses Recht
vielleicht nicht. Aber ich finde, dass ist
auf jeden Fall ein Punkt, über den man
nachdenken sollte. Wohnraum ist in den
letzten Jahrzehnten immer mehr zum
Objekt von Spekulationen geworden,
dabei sind gerade die eigenen vier Wände
für viele Menschen Heimat. Wer
nicht zahlen kann, verliert automatisch
den Anspruch auf sein vertrautes Umfeld.
Eine Gesellschaft kann aber nur
funktionieren, wenn Menschen aus allen
Milieus daran teilhaben können.
Die Vorstellung, dass man sich selbst in
einem sozialen, räumlichen oder zeitlichen
Zusammenhang verorten kann,
ist für viele Menschen sehr wichtig. Ob
es diese oder jene Tradition tatsächlich so
gegeben hat, spielt dann gar keine so
große Rolle. Wir erfinden uns auch immer
wieder neue Traditionen. Die Idee, dass
gerade das Statische „authentisch“ bleibt,
stammt ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert,
also aus der Epoche, in der alles in
Bewegung geriet. Verbindlich ist vor
allem die Regelmäßigkeit, mit der sich
Dinge verändern.
Millionen Menschen, die ihre Heimat
wider Willen verlassen müssen,
haben keine Perspektive auf Rückkehr.
Doch es sind nicht nur Kriege,
Naturkatastrophen und Hungersnöte,
die Menschen vertreiben. In
Großstädten sind Menschen immer
häufiger gezwungen, ihr vertrautes
Umfeld zu verlassen, weil sie sich
dort den Wohnraum nicht mehr leisten
können. Gibt es Ihrer Meinung
nach ein Recht auf Heimat?
Was ist Ihnen wichtig, um sich irgendwo
„heimisch“ zu fühlen?
Das kann ich gar nicht so genau sagen.
Es ist so ein Gefühl, das sich einstellt,
wenn ich nach Hause komme.
Heimat muss nicht
schön sein. Aber
wer von vornherein
ausgegrenzt wird,
kann sich nicht zu
hause fühlen.
Simone Egger
26
02
WER WIR SIND
28 29
WER WIR SIND
deutsch
wer wir sind.
Die Reflexionen über Heimat bewegten sich im Spannungsfeld
zwischen den Polen eines eher „offenen” und eines „geschlossenen”
Heimatbegriffs. Offen im Sinne von Wandel, Anpassung, Aufnahme
von Impulsen aus der „Fremde”, geschlossen im Sinne eines
möglichst nicht in seiner Substanz zu verändernden soziokulturellen
Raumes, der seine Entwicklung gleichsam weitgehend autonom
entfalten soll. Gemeinsam ist den Positionen indes immer, dass
Heimat, wenn nicht a priori vorhanden, doch stets einen Bezugspunkt
darstellt. Alon Confino hat dies prägnant an Aussagen von
Wilhelm II., Ernst Jünger und Kurt Tucholsky aus der Zeit nach
1918 illustriert: „The idea of heimat was one thing they shared as
Germans”. Was macht also die Deutschen zu Deutschen und was
bedeutet der Begriff der Heimat für sie.
30 31
WER WIR SIND
Wir
misstrauensvotum.
Für fast 80 Prozent der Menschen in Deutschland ist es persönlich
sehr wichtig, ein „Wir“-Gefühl zu haben, aber nur knapp 25
Prozent glauben, dass dies auch für ihre Mitmenschen wichtig ist.
Sie selbst haben das „Wir“, die anderen Menschen in Deutschland
dagegen nicht, so denken sie. Der Unterschied zwischen der
Bewertung eigener Einstellungen und der Einstellung anderer
ist riesig. Und so groß wie bei kaum einem anderen gesellschaftlichen
Thema. Man sieht eine Distanz zwischen Menschen, die
sich nicht kennen. Es fehlt der Kleber, der sie zusammenhält. Ein
klares Misstrauensvotum.
Quelle: Vermächtnisstudie
32 33
WER WIR SIND
Freizeit
freizeit im wandel.
Forscher beobachten immer mehr einen Rückzug ins Private im
ganzen Land. Laut Freizeit-Monitor sind immer weniger Menschen
in einem Verein aktiv , feiern Partys oder treffen sich zu Hause
mit Freunden. 62% der Stadtmenschen reden nicht einmal pro
Woche mit ihren Nachbarn. So haben sich die meisten Freizeitaktivitäten
im Laufe der letzten 60 Jahren verändert. Während
es 1960 Zeitschriften lesen, Gartenarbeit, Heimwerken, mit den
Kindern spielen oder aus den Fenster schauen waren, sind es im
Jahr 2018 Sachen wie das Internet, fernsehen, Musik hören oder
telefonieren. So belegen zum ersten Mal ausschließlich Medien
die ersten Plätze des Freizeit-Monitors.
Quelle: Freizeit-Monitor
34 35
WER WIR SIND
Landleben
wo zieht es uns hin.
Rund die Hälfte der Erwachsenen lebt in den Landkreis, in den
sie auch geboren wurden. Wenn sie umziehen, dann meistens in
derselben Region. Wo endet die Stadt und wo beginnt das Land?
Das ist im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro
Quadratkilometer nicht so klar abzugrenzen. 77 Prozent der Menschen
leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 % in
Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. Jedoch geben 44 %
an, dass sie am liebsten auf dem Land leben würden. Angesichts
der bisherigen Ergebnisse, nämlich, dass Heimat sich am besten
in kleineren Einheiten wie Kommunen bilden lässt, bestätigen
dies die Studien.
Quelle: Vermächtnisstudie
36 37
WER WIR SIND
Zukunft
offen für neues.
Die Digitalisierung halten die Deutschen für unvermeidlich. 88 %
stimmen der Aussage zu, dass Bildung daher ein lebenslanger
Prozess sei, und glauben, dass es in Zukunft noch wichtiger sein
werde, immer wieder Neues zu beginnen. Angst löst diese Vorstellung
nicht aus. Drei Viertel der Befragten sagen, dass es Gewinner
und Verlierer geben werde. Ein Blick von nüchterner Gelassenheit.
Und das, obwohl die meisten Deutschen ihr Land für technisch
unvorbereitet halten. Die Hälfte glaubt, dass Deutschland bei
der Digitalisierung hinterherhinkt. Nur 14 Prozent denken, dass
Schulen, Universitäten und Ausbildungsbetriebe gut vorbereitet
seien, nur 20 Prozent sagen dies von heimischen Firmen. Anders
ausgedrückt: Die Deutschen haben sich emanzipiert. Von den
Eliten in Politik und Wirtschaft, von deren Versprechungen. Sie
glauben an sich. Aber nicht mehr an ihre Institutionen. Sie pochen
auf Sinn und Solidarität, wünschen sich mehr Zeit für Kinder,
Freunde und Freizeit. Das ist eine Absage an das Prinzip des
„Schneller, höher, weiter“.
Quelle: Vermächtnisstudie
38 39
88 %
80 %
WER WIR SIND
70 %
68 %
64 %
Heimat
57 % 59 % 58 % 56 %
49 %
45 %
41 %
32 %
bedeutung der heimat.
wo ich mich geborgen fühle
wo meine Familie lebt
der Ort, wo ich jetzt wohne
wo ich meine Freunde und Bekannte habe
etwas von früher, als ich Kind war (Elternhaus)
ein Gefühl, zum Beispiel ein bestimmter Geruch
Deutschland, mein Land
draußen, in der Natur
wo meine Sprache gesprochen wird
eine Kultur, die ich mit anderen Menschen teile
Europa
wo ich ein Grundstück oder Haus besitze
wo andere Menschen genauso denken
eine Religion, die ich mit anderen Menschen teile
18 %
Die Vermächtnis-Studie zeigt auf, dass „Heimat“ für 89 Prozent
der 2.070 Befragten „sehr wichtig“ ist. Unterschiede nach Alter,
sozialer Lage, Geschlecht und Lebensumfeld sind nahezu nicht
auszumachen.
Sie ist fast allen Menschen wichtig, 89 Prozent sind es in der
VermächtnisStudie. Nicht erstaunlich. Doch wie die Befragten
„Heimat“ definieren, ist überraschend. Nationale Ideen spielen
kaum eine Rolle. Nur knapp die Hälfte definiert Heimat
über Kultur, nur 59 Prozent denken an Deutschland. Wirkliche
Heimat finden Menschen bei anderen Menschen. Bei jenen, die
ihnen etwas bedeuten. 68 Prozent nennen Freunde und Bekannten,
80 Prozent Familie und Lebenspartner. Die höchste Zustimmung,
88 Prozent, erreicht die Antwort: „Heimat ist, wo
ich mich geborgen fühle“. Heimat ist ein Gefühl. Kein Grenzzaun.
Und zwar bei allen. Denn auch die Deutschen mit Migrationshintergrund
sehen es so. Ebenfalls interessant: Eine gemeinsame
Religion spielt die geringste Rolle.
Quelle: Vermächtnisstudie
41
WER WIR SIND
Interview
stefan dettel.
Stefan Dettl, geboren 1981, ist Frontmann
der Musikgruppe LaBrassBanda.
Die Musik zählt zum Genre der Neuen
Volksmusik. Sie nutzen die Blasmusik,
um daraus etwas Neues zu kreieren.
Was bedeutet für Sie als bayerische
Band Heimat?
Das ist eine Frage, die wir oft gestellt
bekommen – vor allem in Bayern. Auch
dort scheint Heimat nicht immer natürlich,
sondern auch schon mal etwas
skrurril zu sein. Heimat ist etwas, das
man eigentlich nicht beschreiben kann,
weil sonst die Magie zum Teufel geht.
Es ist der Zauber, wenn man von einer
großen Reise zurückkommt – ein gewisser
Geruch oder der schattige Platz unter
einem Baum. Heimat ist ein Gefühl.
Sie spielen auch gerne als Band mit
dem Klischee Heimat.
Wenn ich bayerisch rede und so aussehe,
wie ich aussehe, ist das ein schönes Gefühl,
bei dem ich mich auch wohlfühle. Das
gibt mir auf der Bühne Selbstsicherheit.
Wenn ich dort mit Anzug stehen müsste
und nur hochdeutsch reden dürfte, wäre
das deutlich schwieriger für mich. Daraus
ergeben sich natürlich gewisse Klischees,
mit denen wir als Band gerne spielen.
Die Region rund um den Chiemsee
hat durchaus eine Beziehung zum
Reggae, der für LaBrassBanda auch
eine Rolle spielt.
Das Festival im Sommer hat die Region
schon geprägt und weltoffener gemacht.
Als Jugendliche sind wir auf dort hingefahren
und haben am Zaun dann
Reggae gehört. Bayern hat oft den Ruf,
sehr konservativ und traditionsgebunden
zu sein. Das trifft auf eine Region wie
rund um den Chiemsee nicht zu. Da ist
man sehr offen für andere Musikstile und
Kulturen. Die Erfahrungen haben auch
unsere Kölner Musikerkollegen von Bukahara
gemacht, die bei uns sehr beliebt sind.
Was macht den Sound der Band aus,
die weltweit erfolgreich ist?
Die Leute haben bei unseren Konzerten
Spaß, mit uns zu tanzen, zu singen
und zu schwitzen. Das ist ein schönes
gemeinsames Gefühl. Blasmusik ist ein
Sound, der direkt zu den Menschen ins
Publikum geht und der Spaß, den die
Leute da unten haben, kommt wieder
zu uns auf der Bühne zurück. Blasmusik
steht hier für miteinander zu tanzen.
Wie hat Sie die Welttour inspiriert?
Tourneen sind sehr getaktet und ganz
anders als ein Urlaub im Ausland.
Man ist meist nur ein oder zwei Tage
vor Ort. Daher hat das, was wir bei
der Tour erfahren haben, erst so ein
oder zwei Jahre danach seine Wirkung
entfaltet. Man sitzt im Garten und
denkt an die Stimmung, die Rhythmen
und die Gerüche. Und das wirkt sich
dann auch auf unsere Musik aus.
Es gibt aber wie bei „Disco Bauer“
auch heimische Klänge, wie den
Sound von Traktoren und Kettensägen.
Bei uns ist das immer eine Kombination
von heimischen und internationalen
Einflüssen. Ich bin gerne ein Klischeebayer
und liebe es, wie jetzt gerade, vor
dem Biergarten zu sehen und mir gleich
ein Radler und einen Wurstsalat zu
gönnen. Aber ich brauche es auch, nach
draußen zu gehen und mir die Welt anzuschauen.
Es ist mir wichtig, andere
Kulturen kennenzulernen.
Es finden sich auf dem Album auch
ernste Themen wie den Umweltschutz.
Natürlich fließt auch das ein, was uns
momentan beschäftigt. Das passt zum
„Disco Bauern“. Bauern müssen sich
um die Natur kümmern und ihren
Horizont dafür erweitern. Wir haben
einen sehr guten Kontakt zu den Bauern
in unserer Heimat und freuen uns, wenn
diese ihre Produkte nachhaltig herstellen
Es geht ja um unser Essen.
Beim Song „Bach“ hat die Natur
ihren besonderen Platz.
Das Lied ist im vergangenen Jahr
entstanden. Da waren es vor allem, die
lauten Leute, die sich bei den Nachrichten
durchgesetzt haben. Mir haben da
die leisen, differenzierten Töne gefehlt.
Und wenn es mir zu laut wird, ziehe ich
mich in die Natur zurück. So ist die Idee
entstanden, Töne aus der Natur in ein
Stück mit einfließen zu lassen.
42 43
Heimat ist etwas,
das man eigentlich
nicht beschreiben
kann, weil sonst
die Magie zum
Teufel geht.
Stefan Dettl
Das aktuelle ist das fünfte Album.
Wie hat sich die Musik verändert?
Wir haben nie Vorgaben für unsere Musik
gehabt, auch weil wir auf Instrumente
wie Gitarren und Keyboards verzichten.
Die Blasinstrumente stehen im Vordergrund
und daraus entstehen immer wieder
neue Rhythmen, die wir ausprobieren.
Es geht darum, was mit unseren Instrumenten
möglich ist. Deshalb gehen
wir oft in die Produktion eines Albums
rein und wissen nicht, was dabei herauskommt.
Insofern unterscheidet sich unser
Produktionsprozess von dem anderer
Bands.
Hatten Sie früher Vorurteile?
Ich bin als eher konservativer, etwas
zurückhaltender Typ aufgewachsen. In
der Schule war ich ziemlich ängstlich.
Durch meine Erlebnisse und Abenteuer
als Musiker und durch die vielen Begegnungen
mit Menschen aus allen erdenklichen
Kulturkreisen habe ich eine ganz
andere Weltoffenheit gekriegt. Ich denke,
viele Leute, die Ängste haben oder gar
Ängste schüren, die hatten einfach noch
nicht die Möglichkeit, sich mit Menschen
aus anderen Kulturen auszutauschen.
Ihr habt auf der ganzen Welt gespielt.
Wie wichtig ist den Zuhörern im
Ausland eure bayrische Herkunft?
Außerhalb von Bayern interessiert es
tatsächlich keinen Menschen, wo wir
herkommen und warum wir in Lederhosen
spielten. Ich finde es schön, sich
nicht erklären zu müssen, sondern so zu
sein, wie man möchte. Amerikanische
Country-Musiker werden ja auch nicht
gefragt, warum sie Cowboyhüte aufhaben.
Vor einiger Zeit spielten wir auf
einem Festival in Australien, dort haben
die Leute natürlich auch nichts von unseren
Texten verstanden, und einer hat dann
gefragt, aus welcher Region Australiens
wir denn eigentlich kämen, der Dialekt
sei voll krass.
Ich will damit sagen: Sprache ist
nebensächlich. Das Miteinander beim
Konzert und beim Musikhören ist das
Entscheidende.
WER WIR SIND
Deshalb ist mir sehr wichtig zu sagen:
Leute, schaut euch die Welt an, erweitert
euren Horizont. Aufgeschlossenheit und
Neugier sind die besten Mittel gegen
Engstirnigkeit.
45
03
DISKUSSION
46 47
DISKUSSION
diskussion.
politik
Der Bundespräsident tut es, die Grünen-Chefin tut es, die CSU
ohnehin und die AfD ohne Unterlass. Alle reden jetzt von
Heimat. Ganz so, als sei der Begriff ein neues Zauberwort, das
alles gut werden lässt, wenn es nur im richtigen Sinne ausgesprochen
wird. Aber was ist der richtige Sinn.
Ganz selbstverständlich ist Heimat dem, der sie hat. Deshalb schweigt
er. Wer von ihr redet, gibt eine Verlustanzeige auf. Etwas ist verloren
gegangen, und das schmerzt. Vielleicht sind es Phantomschmerzen,
denn bei Lichte besehen hat das, wonach all das
Sehnen zielt, vielleicht nie bestanden. Wer einmal nach Jahren in
die Orte der Kindheit zurückkehrt und nichts sieht als Veränderung
und Bruch, der erkennt, dass viel von der behaglichen
Heimeligkeit retrospektiver Tagträume nur reparierender Nachbau
einer nie da gewesenen Wirklichkeit war. Aber auch falsche
Träume können schön sein und Kraft entwickeln. Politische
Sprengkraft unter anderem.
48 49
DISKUSSION
Politik
wer über die heimat bestimmt.
Kaum im neuen Amt des Bundesinnenministers,
fügt Horst Seehofer
dem Bundesministerium des Inneren,
seit seiner Gründung (1949) zum ersten
Mal, den Zusatz Bau und Heimat
hinzu: „Ich habe das Heimatmuseum,
äh, nein, das Heimatministerium gegründet.“
Seehofers Versprecher schmälerte
die Kritik am Heimatministerium
nicht gerade, sondern sorgte für Spott
anstatt Anerkennung. Der bayrische
Ministerpräsident scheint trotzdem
überzeugt von seinem Konzept zu sein
und erklärt, was Heimat für ihn bedeutet:
„Das sind die Bräuche, das
ist die Kultur, die religiöse Einstellung,
das Ehrenamt, das die Menschen
ausüben. Wo der Zusammenhalt stattfindet
der Bevölkerung. Das ist Heimat.“
Der Begriff „Heimatministerium“
bleibt aber weiterhin schwammig.
Das Bundesinnenministerium sieht
sich nach eigenen Angaben als „Hüter
der Verfassung und Förderer des gesellschaftlichen
Zusammenhalt und der
Integration“. Es kümmert sich zudem
um die Sportförderung, Informationstechnik,
Cybersicherheit und die
Modernisierung des Staats und der
Verwaltung. Konkret heißt das, dass
es sich beispielsweise mit Themen wie
Wahlrecht, Ehrenamt, politische
Bildung, Prävention von Gewalt und
Extremismus, Demografiepolitik und
gleichwertige Lebensverhältnisse im
Land auseinandersetzt.
Vorbild des Konzepts ist das Ministerium
für Finanzen, Landesentwicklung
und Heimat in Bayern, das bereits 2014
vom damaligen bayrischen Staatsminister
Markus Söder (CSU) installiert
wurde. Auf Grund der Anbindung an
das Finanzministerium, stehen diesem
viele Kompetenzen und so auch viel
Geld zu. Beides bleibt für Seehofer
überschaubar, Projekte werden nur von
Finanzminister Olaf Scholz genehmigt.
Die Augen bleiben wohl auf Seehofers
Heimatministerium gerichtet. Welche
Erfolge das Bundesministerium des Inneren
für Bau und Heimat in Zukunft
vorweisen kann, bleibt abzuwarten.
Vielmehr scheint es so als wolle das
Bundesinnenministerium mit dem
Heimatministerium seine Beziehung
zu seinen Bürgern stärken. Es soll den
Staat als Beschützer symbolisieren und
das Vertrauen wiederherstellen. Vertrauen
in den Staat, welches durch den
Aufschwung der AfD und durch die
Flüchtlingskrise für viele Bürger verloren
ging. Sinnnvolle Aufgaben wie die
infrastrukturelle Aufwertung ländlicher
Räume oder der Breitbandausbau
werden bekanntlich weiterhin anderen
Ministerien unterstehen.
50 51
DISKUSSION
Gefahr
die gefahr der politik.
Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch erklärt in einem
Gastbeitrag für die taz sehr prägnant: „Wird Heimat zu einem
politischen Begriff, wird es gefährlich, denn dann wird Heimat etwas,
das durch die bedroht ist, die ein Zuhause suchen. Wenn der
politische Heimatbegriff von einem konkreten Ort auf ein ganzes
Land ausgedehnt wird, entsteht eine Nation, deren Mitgliedschaft
durch Abstammung bestimmt ist.“ Für viele mag Heimat
ein wohliges Gefühl sein, mit dem sie ihre Kindheit verbinden,
ein Ort, an dem Eltern und Familie noch wohnen und an den
sie immer zurückkehren können. Doch andere haben diesen Ort
vielleicht nie gehabt, mussten ihn zurücklassen oder er wurde ihnen
genommen. Denn wer Heimat will, will nichts verändern, sondern
allenfalls Bestehendes versöhnen. In dieser fälschlich imaginierten
Idylle ist es nur logisch, dass es die vermeintlich Fremden sind,
die diese Idylle stören und für Probleme zu Unrecht verantwortlich
gemacht werden.
52 53
DISKUSSION
Wurzeln
entwurzelung.
Die französische Philosophin Simone Weil schrieb einmal, dass
es sich bei der „Verwurzelung“ wohl um „das wichtigste und am
meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele“ handelt.
Wir alle haben ein intuitives Bedürfnis nach Sicherheit und
Zugehörigkeit. Man kann dieses Bedürfnis ernst nehmen, ohne
in rechten Gewässern zu fischen. Die Antwort auf kollektive
Entwurzelungsgefühle kann nie die Verordnung kollektiver Heimatgefühle
sein. Viele Menschen, die heute über „Heimat“
sprechen, verwechseln den Begriff mit der Idee eines „Zuhause“.
Im Allgemeinen schreibt man der Idee der „Heimat“ so etwas
wie Beständigkeit zu, nicht dem Zuhause. Doch in Wahrheit ist
es genau umgekehrt. Landschaften, regionale Lebensarten,
Grenzen und nationale Identitäten ändern sich schneller, als uns
lieb sein kann. Politische Systeme können über Nacht verschwinden.
Ein Zuhause allerdings können wir immer haben. Das Einzige,
das wir kollektiven Entwurzelungsgefühlen entgegenstellen
können, sind unsere individuellen Versuche der Verwurzelung.
54 55
DISKUSSION
Angst
rechte gefahr.
Die Welt befindet sich im stetigen Wandel und die Globalisierung
brachte in den letzten hundert Jahren starke Veränderung mit
sich. Der technische Fortschritt und die Beschleunigung vieler
Prozesse – nicht nur technischer, sondern auch sozialer – haben
die Gesellschaft verändert. Eine Folge davon ist die globale Migration(skrise).
Migranten umfassen dabei alle Menschen, die ihren
Lebensmittelpunkt verlagern und dadurch ihre Heimat verlieren.
Also sowohl den Flüchtenden, als auch den Wirtschaftsmanager,
der zweihundert Tage im Jahr die Welt bereist. Ein Migrant ist
immer der Fremde, der einer Gruppe bisher Unbekannte. Dadurch,
dass man so wenig über ihn, seine Herkunft, seinen Stand
oder seine soziale Rolle weiß, werden keine normalen sozialen
Kontakte mit ihm aufgenommen.
Dabei ist zu beobachten, dass nicht nur die Migranten selber mit
Problemen der Identität und des Heimatverlustes zu kämpfen
haben, sondern auch diejenigen, die an Ort und Stelle bleiben –
deren Heimat sich durch Zuzug verändert. Eine Folge davon ist
vielerorts das Erstarken des Nationalgedanken.
56 57
DISKUSSION
Xenophobie
andersartig.
Xenophobie beschreibt eine ablehnende Haltung gegenüber
Personen, die als fremd und andersartig wahrgenommen werden.
Im politischen Bereich wird Xenophobie heute häufig als „Fremdenfeindlichkeit“
übersetzt, wobei damit vor allem ablehnende
Einstellungen gegenüber Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund
gemeint sind.
Im engen psychologischen Sinn bezeichnet Xenophobie eine
Angststörung. Für die gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschengruppen
wäre dieser psychologische Terminus aber eine Verharmlosung.
Hinter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit steckt
nämlich keine Phobie als übersteigerte Angst, sondern Hass,
und zwar Hass gegen Menschen. Ein Rassist hat somit keine
Angst, sondern will durch Herkunft, Abstammung, Hautfarbe,
Sprache oder Religion besondere Rechte für sich in Anspruch
nehmen und sie Anderen aberkennen. Er verneint die allgemeinen
und unveräußerlichen Menschenrechte.
58 59
DISKUSSION
Werte
verteidigen des anspruchs.
Heimat ist ein Geflecht von Normen und Wertüberzeugungen,
von Tugenden und Verhaltensweisen, von Regeln und Gewohnheiten
durchaus vielfältiger, aber doch fassbarer Art. Diese sind
gewiss in Bewegung, aber doch nicht beliebig. Deren Kern ist
formuliert in unserer Verfassung. Die grundgesetzliche Werteordnung
ist das Fundament unserer Heimat und darf niemals
zur Disposition stehen. Mit dem Blick auf das Grundgesetz und
auf unsere rechts- und sozialstaatliche Ordnung lässt sich durchaus
pathetisch sagen: Unser Land ist und soll sein: Heimat der
Menschenrechte, der Grundfreiheiten, des Rechts und der Toleranz,
der Erinnerungskultur, der Weltoffenheit. Heimat ist also
auch ein hoher Anspruch. Diesen Anspruch haben wir zu verteidigen
gegen jede völkische, ethnische, soziale Verengung und
Verfälschung. Diesem Anspruch zu genügen, auch das ist Ziel
und Verantwortung von Beheimatungspolitik. Heimat ist ein
Begriff der Selbstachtung und nicht der Ausschließung.
60 61
DISKUSSION
Charta
der zeit voraus.
Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen” vom 5. August
1950 gilt als das Grundgesetz der deutschen Heimatvertriebenen
in der jungen Bundesrepublik. In ihrem Kern enthält sie einen
Aufruf zum Verzicht auf Rache und Gewalt trotz des eigenen gerade
erlittenen Unrechts und ein klares Bekenntnis zur Schaffung
eines einigen Europas, zur Verständigung zwischen den Staaten,
den Völkern und Volksgruppen. Aber die Charta spricht auch vom
Recht auf die Heimat, als einem von Gott geschenkten Grundrecht
der Menschheit, das in Bezug auf die Heimatvertriebenen bis
heute nicht verwirklicht ist. Dazu heißt es: „Die Völker müssen
erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen
wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste
sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung
fordert.“ Dergleichen Versuche, ein Grundrecht auf Heimat sowohl
in bundesdeutschen als auch in internationalen Rechtsdokumenten
zu verankern, haben bis heute keine Erfolge gezeitigt, wenngleich
diese Forderung von wissenschaftlicher Seite gelegentlich erhoben
worden ist.
62 63
DISKUSSION
Interview
susanne scharnowski.
Die Literaturwissenschaftlerin
unterrichtet am Institut für Deutsche
und Niederländische Philologie an
der FU Berlin. Ihr Buch: „Heimat.
Geschichte eines Missverständnisses.“
erschien im wbg Verlag.
Frau Scharnowski, Ihr Buch heißt
„Heimat. Die Geschichte eines Missverständnisses“.
Braucht der Begriff
Rehabilitierung?
Seit wir eine Heimatdebatte haben,
werden ständig drei Thesen wiederholt.
Erstens: Die Romantiker haben dafür
gesorgt, dass Heimat so stark emotionalisiert,
aber auch politisiert wurde:
als Synonym für Volk und Nation.
Zweitens: Heimat ist ein Wort, aber
auch ein Konzept, das es in anderen
Sprachen, in anderen Kulturen nicht
gibt. Und aus dieser Annahme folgt
dann sehr schnell das Dritte: Heimat
hat viel mit Nation zu tun, aber
auch mit Nationalismus, und dann
wiederum mit Nationalsozialismus.
Diese drei Missverständnisse habe
ich untersucht. Ich bin an die Quellen
zurückgegangen – und stellte fest, es ist
anders, komplizierter.
Selbst wenn Heimat ursprünglich
wenig mit Nation und Volk zu tun
hatte, ist der Begriff oft mit Nationalismus
verbunden. Wie wollen Sie
das trennen?
Der Begriff ist immer wieder von der
politischen Rechten besetzt worden,
aber soll die das letzte Wort behalten?
Umfragen zufolge verbinden 85 bis 90
Prozent der Bevölkerung ausschließlich
Positives mit dem Begriff, an die
Nation denken dabei nur 7 Prozent.
Trotzdem gibt es Reaktionen, die man
schon als etwas hysterisch bezeichnen
kann: Im Sommer 2018 sagte Klaus
Theweleit bei einem Kongress in
Hamburg sinngemäß: „Eine Gesellschaft,
die sich auf Heimat beruft, ist
potenziell mörderisch.“ Das finde ich
fast so problematisch, als wenn sich der
Thüringer Heimatschutz auf Heimat
beruft. Insofern glaube ich tatsächlich,
Heimat sollte rehabilitiert werden, und
sei’s nur, um eine politische Debatte zu
haben, die nicht auf Spaltung aus ist.
Die Debatte ist hoch emotional.
Literatur- oder Diskursanalysen
dringen da kaum durch.
Ich setze etwas altmodisch auf Kontext.
Ein Beispiel: Während dieser Heimat-Debatten
wurde immer wieder
der Wanderer über dem Nebelmeer
von Caspar David Friedrich als Bild
herangezogen. Was hat der mit Heimat
zu tun? Er stellt eigentlich das Gegenteil
von Heimat dar, einen einsamen
Gipfelstürmer, weit weg vom Tal, von
Dorf und Gemeinschaft, er schaut in
die Wolken, in die Ferne. Insofern passt
er sehr gut als Ikone der Romantik,
aber überhaupt nicht als Illustration
für Heimat.
Heimat gilt oft als regressiv, rückwärtsgewandt,
als anti emanzipatorisch.
Ist das ein 68er-Erbe?
Das geht noch weiter zurück. Die
Fünfziger waren die Jahre der
Heimatvertriebenen, wie man sie im
Westen nannte, in der DDR hießen sie
Umsiedler. Sowohl DDR als auch BRD
bezogen sich auf Heimat – nur betonte
man im Westen die „alte Heimat“, im
Osten die „neue“, den Sozialismus.
Aber auch in Österreich gab es schon
seit 1960 eine Antiheimatliteratur, die
sehr böse auf das Dorfleben blickt. In
dieser Zeit wurde der Zusammenhang
konstruiert, dass ein positives Heimatbild
untrennbar mit Faschismus oder
Nationalsozialismus verbunden ist und
dass das Bedürfnis nach Heimat regressiv
ist, Kitsch oder eine falsche Idylle.
Es gab auch linke Heimatbewegungen.
Von den Lebensreformern bis
zur Anti-AKW-Bewegung der 70er
Jahre. Weisen sie ähnliche ideologische
Muster auf ?
Ich sehe alle Heimatbewegungen eher
als Pendelbewegung, als Reaktion auf
vorhergegangene Entwicklungen: Auf
Heimat beruft sich meist, wer sich einseitig
gegen technologischen Fortschritt
und dessen schädliche Auswirkungen
wendet. In den 60er Jahren versuchte
man ja durch Rationalität in die Moderne
zu kommen, da man den Nationalsozialismus
als Rückfall in Barbarei
oder Irrationalismus verstand. Danach
entwickelte sich eine Gegenbewegung, die
sich nach Wärme sehnte – Ernst Bloch
sprach vom Kälte- und Wärmestrom.
Dieser Wärmestrom sollte menschlichen
Bedürfnissen nach Glück und Harmonie
zur Geltung verhelfen. Die linke Heimatbewegung
entstand daraus.
64 65
Wann wurde Heimat erstmals politisch
instrumentalisiert?
Ich würde sagen: mit dem Ersten Weltkrieg.
Da wurden zum Beispiel alte
Lieder des 19. Jahrhunderts auf Postkarten
gedruckt, auf denen die Soldaten
ihre Liebsten umarmten. Das war echte
Staatspropaganda. Die Heimatbewegung
am Ende des 19. Jahrhunderts war
dagegen eine Bürgerbewegung, eine
Reaktion auf die Umbrüche durch die
Industrialisierung; allerdings war das
eine klassenspezifische Wahrnehmung.
Es waren vor allem die Bildungsbürger,
die sich um die Heimat sorgten. Sie sahen
die malerischen vertrauten Landschaften
verschwinden, also das, was wir heute
kitschig finden, was es im 19. Jahrhundert
aber noch gab: die alte Mühle am
Bach, Hecken, Wäldchen und so weiter.
War Heimat ein rein bürgerlicher
Topos?
Eher bildungsbürgerlich. Die Arbeiter
hatten ganz andere Probleme, vor allem
fürchterliche Arbeits- und Lebensbedingungen.
Auch die Industriellen
standen dieser Heimatbewegung äußerst
skeptisch gegenüber. Denn Deutschland
entwickelte sich sehr schnell zu einem
Exportland, aus dieser Zeit stammt ja
das letzte unserer positiven nationalen
Selbstbilder. Es wollte Absatzmärkte
erschließen, endlich auch Kolonialmacht
werden. Das war, politisch gesehen, eine
Antiheimatpolitik und passte überhaupt
nicht zu der Rede von Scholle, Verwurzelung
und Bauerntum. Da wird es
dann Ideologie, wenn einerseits Heimat
in politischen Statements aufgerufen
wird, andererseits aber eine Politik betrieben
wird, die das Gegenteil ist.
Kann man das auch auf die NS-Ideologie
beziehen? Dort war man auf
Expansion, Vernichtung und nicht
auf Bewahrung aus.
Absolut. Die Nazis haben Heimat
propagandistisch genutzt, ebenso wie
auch das Schwarzbrot und die Autobahn,
das größte Propagandaprojekt
überhaupt; eine Synthese von deutscher
Landschaft und deutscher Ingenieurskunst.
Man liest oft, Blut-und-Boden-Ideologie
und Heimat gehörten
zusammen. Das trifft aber nicht zu. In
der Heimatbewegung um 1900 geht es
um ganz konkrete Orte, Landschaften,
Bauten. Die Blut-und-Boden-Ideologie
sieht den Boden in erster Linie als eine
ökonomische Ressource und geht gerade
nicht von einer Verbindung von Land
und Leuten aus, sondern von der vermeintlichen
Überlegenheit der „arischen“
Rasse, der dann das Recht zugesprochen
wird, Land zu erobern, das offensichtlich
von anderen bewohnt ist.
Im Moment läuft im Kino Thomas
Heises Film „Heimat ist ein Raum
aus Zeit“. Ist Heimat mehr Raum
oder mehr Zeit? Oder ein Zeitraum,
der nur in der Vergangenheit liegt?
Ich ziehe das Wort „Ort“ vor. Raum
ist etwas, das man erobern kann. Das
passt ganz gut zu „Blut und Boden“.
Raum ist Ressource; Geopolitik hat
immer etwas mit Räumen zu tun. Der
Ort dagegen ist spezifisch, markiert,
er hat Grenzen, eine Geschichte. Und
so wie ich Heimat verstehe in einem
zeitgemäßen Sinn, ist Heimat tatsächlich
ein Ort, der wenig zu tun hat mit
Herkunft: Heimat muss nicht unbedingt
der Ort sein, an dem ich geboren
bin. Heimat ist der Ort, mit dem ich
mich identifiziere und wo Zugehörigkeit
entsteht. Das braucht aber in der
Tat Zeit.
Wie unterscheidet sich Herkunft
von Heimat, kann man das trennen?
Unbedingt! Die Heimat als Herkunft
kann man sich nicht aussuchen, aber sie
prägt einen natürlich, und dem kann
man sich nur begrenzt entziehen, auch
wenn man sich eine neue Heimat sucht.
Heimat ist aber mehr als nur diese
passive Prägung; Heimat ist aktive
Aneignung. Selbst in der Nachkriegszeit,
als man von „alter“ und „neuer“
Heimat sprach, galt: Man kann
mehrere Heimaten haben. Ich würde
aber sagen: nicht unbegrenzt viele. Der
Begriff der Identität fällt oft im selben
Kontext. Ich spreche lieber von Identifikation;
das hat mit dem Jetzt-Zustand
zu tun, nicht nur mit der Herkunft.
Heimat bildet für mich eine Brücke
zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft.
Migration wird global immer stärker.
Im Berliner Maxim-Gorki-Theater
läuft eine Reihe unter dem Titel
„De-heimatize it“. Ist das nicht das
angemessenere Motto?
Ich glaube das nicht. Gerade in Zeiten,
wo die Menschen unterwegs sind,
denken sie umso mehr über ihre Heimat
nach. Man muss auch differenzieren:
Es gibt die erzwungene Migration und
die freiwillige oder halb erzwungene,
weil man vielleicht hofft, woanders ist
es besser. Nur weil ich an einem anderen
Ort lebe, heißt das noch lange nicht,
dass ich mit meiner alten Heimat fertig
bin. Was bedeutet das für eine Gesellschaft,
wenn viele nicht wissen, wohin
sie gehören? Ich glaube nicht, dass „Deheimatize“
die Lösung ist. Das hieße ja,
die Individualisierung noch erhöhen.
Und wir haben eh eine Gesellschaft, die
wahnsinnig individualisiert ist.
Heimat ist ein Gefühl – das ist ein
Satz, den die meisten Menschen
unterschreiben würden.
Ich nicht. Das ist für mich eine Art
Neoidealismus oder Neoromantik, eine
Verinnerlichung, die mit der materiellen
Welt wenig zu tun hat. Das suggeriert:
Jeder kann im Prinzip überall
Heimat „fühlen“, ganz unabhängig von
seiner Umwelt. Als wären wir frei und
unabhängig von der materiellen Welt.
Das ist fast schon zynisch, wenn man
auf Umweltzerstörung, Klimawandel,
Plastik im Meer blickt.
Der Klimawandel ist doch ein Beispiel
dafür, dass es um ein großes
komplexes Ganzes geht und nicht
mehr um „meinen Garten, mein
Dorf, mein Land“.
Ja, aber ich würde eher die andere Sicht
stark machen. Ich finde es gut, für das
Klima auf die Straße zu gehen. Aber es
gibt eben nicht nur die große, komplexe
Welt, es gibt auch den überschaubaren
DISKUSSION
66 67
DISKUSSION
Ort, an dem das Leben stattfindet.
Gibt es ein Menschenrecht auf
Heimat?
Die Vertriebenen wollten 1950, dass
dies im internationalen Recht anerkannt
wird. Dazu ist es nie gekommen.
Ich bekam nach einem Interview
die Zuschrift einer Wissenschaftlerin,
die in Neuseeland über den Heimatbegriff
der Maori forscht. Doch: Auch die
neuseeländischen „Ureinwohner“ haben
nicht „immer schon“ dort gelebt. Kaum
jemand hat immer schon an einem Ort
gelebt. Die meisten ethnischen Gruppen
oder Stämme sind irgendwann von
woanders gekommen. Wenn man ein
Menschenrecht auf Heimat festschreiben
würde, würden sicher Ansprüche auf
Territorien formuliert, und so würde
man eine ganze Kette weiterer Kriege
anzetteln.
Wie definieren Sie Heimat für sich
persönlich?
Meine Herkunftsheimat ist das alte
West-Berlin, eine intellektuelle Heimat,
die Welt der Sprache und der Literatur,
auch der englischen. Und jetzt lebe ich
in einem ganz anderen Berlin, auch das
ist Heimat. Das Verhältnis zur Herkunftsheimat
und das zur Wahlheimat
ist Veränderung und Schwankungen
ausgesetzt. Man kommt, glaube ich, nie
hundertprozentig an. Die Vorstellung,
es könnte eine Gesellschaft oder einen
Ort geben, an dem man hundertprozentig
aufgehoben ist, ist auch eine
Form von Utopiekitsch.
Heimat bildet
für mich eine
Brücke zwischen
Vergangenheit,
Gegenwart und
Zukunft.
Susanne Scharnowski
68
04
SEHNSUCHT
70 71
SEHNSUCHT
verlust
sehnsucht.
Der Verlust von Heimat, die Trennung von Familie, Freunden und
der gewohnten Umgebung wird umso schlimmer empfunden, je
unwahrscheinlicher eine Rückkehr in die Heimat erscheint. Für
einen zeitgemäßen Heimatbegriff plädiert der Kulturwissenschaftler
Hermann Bausinger: Heimat könne nicht die idealisierte Vorstellung
einer längst vergangenen Welt sein, wie sie die Heimatbewegung
des 19. Jahrhunderts beschwor. Sie dürfe nicht eng definiert und
rückwärtsgewandt sein. Damit wird deutlich, dass Heimat ein
Projekt für die Zukunft ist, das von der Gesellschaft gestaltet wird.
Heimat ist ein Ort des Verstehens und des Miteinanders. Der Reiz
daran: Diese Heimat ist offen für Neuankommende. Unsere Geschichte
zeigt, dass dies immer für Disskusionen und Aufstände
geführt hatte. Vorallem wenn der teritoriale Anspruch gefährdet
ist. Auch wenn Deutsche nach Deutschland flüchten.
72 73
SEHNSUCHT
Verlust
heimatverlust.
der Menschheit erzählen. Der Gegensatz
von Heimat und Heimatverlust
zieht sich wie ein roter Faden etwa
durch das biblische Buch Genesis: sei
es die Vertreibung des Menschen aus
dem Paradies, die Verbannung Adams
und Evas auf den Acker, von dem
der Mensch in der Person des Kain
später erneut vertrieben wird; sei es
die Bedrohung der angestammten
Heimat durch die Sintflut; oder sei es
der Mythos vom Turmbau zu Babel,
der in die kulturelle und sprachliche
Zerstreuung und damit in die Zerstörung
von Heimat in Form einer
empfundenen Sicherheit und Geborgenheit
mündet. Überall ist die
Entwurzelung des Menschen präsent.
Früher noch verarbeiteten die Homer’schen
Epen Ilias und Odyssee
vielfach Flucht- und Vertreibungserfahrungen.
Eine umfassende Völkerwanderung
markiert wiederum
den Übergang von der Antike zum
Mittelalter. Manfred Groten zufolge
taucht die Bezeichnung „Heimweh”
– übrigens parallel zum Begriff
„Nostalgie” – als Beschreibung für die
schmerzhafte Entfernung von Heimat
mit dem Erstbeleg von 1651 nur
unwesentlich nach der Verbreitung
des Heimatbegriffs auf. All dies sind
Indizien dafür, dass das charakteristische
Gegensatzpaar von Heimat
und Heimatverlust, von Vertriebensein
und Sehnsucht nach Heimat
gleichsam eine anthropologische
Grundkonstante menschlichen Denkens
und Tuns darstellt.verstehen,
gewandelt und erweitert hat.
Ein Mensch, der seine Heimat verlässt,
hat in der Regel keine Zukunftsperspektiven
oder befindet sich in einer
lebensbedrohlichen Lage. Letzteres
hat dafür gesorgt, dass laut aktuellem
UN-Flüchtlingslingsbericht weltweit
etwa 79,5 Millionen Menschen auf
der Flucht sind. Die meisten davon, ca.
45,7 Millionen sind Binnenvertriebene
und finden Zuflucht in einem anderen
Teil ihres Heimatlandes. 29,6 Millionen
dieser Menschen verließen bei ihrer
Flucht ihr Heimatland. Man spricht
hier auch von Heimatverlust.
Ein möglicher Versuch, einen nur
schwer greifbaren Begriff besser zu erfassen,
stellt der gedankliche Umweg
dar, sich ihm über sein Gegenteil zu
nähern. Heimat, diese Vermutung
liegt nahe, wird insbesondere dann
sehr stark empfunden, wenn man sie
verloren hat, etwa durch Flucht oder
Vertreibung. Jene Menschen, die von
der Journalistin und Autorin Renate
Zöller in ihrem Buch zu den Annäherungen
an „Heimat” als ein Gefühl
portraitiert werden, eint ebenfalls die
Erfahrung des Heimatverlustes als einem
Bruch, „der ihr Leben bereichert,
erschwert und fundamental verändert
hat.” Die beschriebenen Schicksale
von Menschen aus unserer Zeit reihen
sich in eine lange Tradition ein. Das
Gefühl des Heimatverlusts gehört
gewissermaßen zu den frühesten
anthropologischen Erfahrungen, von
denen uns die ältesten Kulturzeugnisse
74 75
SEHNSUCHT
Ursachen
reaktion auf gefahr.
Es gibt viele verschiedene Gründe, warum Menschen ihr Zuhause
verlassen und versuchen, an einem anderen Ort besser und
sicherer leben zu können. Die meisten Menschen fliehen aktuell,
weil in ihrer Heimat Krieg und Gewalt herrschen. Oft gibt es
eine andere Vorstellung davon, wie alle Menschen leben sollten.
In Ländern, wie zum Beispiel Gambia oder Eritrea, ist ein Alleinherrscher
an der Macht, der seinen Bürgerinnen und Bürgern
nicht erlaubt, ihre eigene Meinung zu sagen oder sonstige eigene
Entscheidungen zu treffen. So kann auch Diskriminierung ein
Fluchtgrund sein. Diskriminierung bedeutet, dass manche
Menschen oder bestimmte Gruppen in einem Land benachteiligt
werden und in der Politik und der Gesellschaft nicht so behandelt
werden wie alle anderen. Wieder andere Menschen müssen
ihr Zuhause verlassen, weil das Klima in ihrer Heimat ein Leben
dort sehr schwer macht. Flüsse trocknen aus, die nicht nur wichtig
für Menschen, sondern auch für Tiere und die Bewässerung von
Feldern sind. Schnell wird hier die Nahrung knapp und Hunger
zu einem großen Problem. Aber auch Überschwemmungen
können Gründe für Flucht sein.
76 77
SEHNSUCHT
Offenheit
sehnsucht.
Gerade Migranten sehnen sich nach ihrer Heimat. Diese ersehnte
Heimat hat oft nichts mehr zu tun mit der Heimat, die sie einmal
verlassen haben. Nicht selten macht dieses Heimweh besonders
ältere Migranten, die in ihrer Sehnsucht nach ihrer alten Heimat
verharren, psychisch und physisch krank.
Für die zweite und dritte Generation der Einwanderer hierzulande
ist meist Deutschland die Heimat. Das Gefühl der Zugehörigkeit
hängt jedoch davon ab, wie offen die Gesellschaft für ihre
Einwanderer ist.
Gleich geblieben ist jedoch die Sehnsucht nach Heimat, der Wunsch
nach Geborgenheit, Zugehörigkeit und Orientierung. Heimatgefühl
kann beim Geruch von Omas Hefezopf entstehen, aber auch
beim Geruch von Revani, dem türkischen Grießkuchen. Heimat
solle Platz haben für einheimische Traditionen, aber auch offen
sein für Fremde und Fremdes.
78 79
SEHNSUCHT
Bräuche
identität durch tradition.
Bräuche sind immer aus der Begegnung mit Kulturen entstanden.
Jedoch gibt es bestehende Bräuche von Kulturen, die sich entweder
annähern oder verhältnismäßig schwer oder überhaupt gar
nicht vermischen.
Aber ganz sicher schichtet sich die Brauchlandschaft um. Wichtig
ist vor allem eines: Bräuche schaffen Identität und sie stiften
Gemeinschaft. Was aber die einen einbezieht, grenzt andere aus.
So muss sich durch Integration eine gewisse Verantwortung für
die Heimat entwickelt werden. Eine die Neuankömmlinge in das
Bestehende einbindet, jedoch auch Freiraum für das Neue bietet.
Das Projekt müsste also darin bestehen, die Art und Weise wie
wir feiern, wie wir unsere Heimat gestalten – auch durch Feste,
Bräuche, Traditionen – nach Möglichkeit so integrativ und offen
zu gestalten, dass andere sich darin auch beheimaten können.
Dies funktioniert nicht in allen Fällen, aber man muss es versuchen.
80 81
SEHNSUCHT
Meinung
hussein ahmad.
Oft werde ich hier in Deutschland
gefragt, was Heimat für mich bedeutet.
Eine schwierige Frage für einen geflüchteten
Syrer.
Als Kind habe ich in der Schule gelernt,
Syrien sei die wichtigste Sache der Welt
und immer gleichzusetzen mit einer
Person, dem Staatspräsidenten. Bashar
Al-Assad sei die Heimat, der Führer,
der Schlaueste, der Beste. Niemand durfte
dem widersprechen. In den offiziellen
syrischen Medien werden die Worte Syrien
und Al-Assad immer so kombiniert, als
wäre das Land eine Immobilie, die der
Herrscherfamilie gehört.
Seit der syrischen Revolution 2011 gibt
es jetzt eine neue Interpretation des
Wortes Heimat: „Syrien gehört uns,
nicht den Assads!“, war ein häufig gehörter
Ausruf auf den Demonstrationen.
Was aber bedeutet der viel diskutierte
Begriff für einen Geflüchteten? Für mich
ist Heimat nicht nur da, wo ich geboren
wurde, sondern, wo ich mich sicher und
wohl fühlen kann, wo ich mich weiterentwickeln
kann, wo es viele Möglichkeiten
gibt. Damit ist notwendigerweise verbunden,
die Sprache des neuen Landes
zu beherrschen, soziale Beziehungen mit
Menschen aufzubauen, eine Arbeit zu
finden und natürlich eine Familie zu
gründen. Jeder Geflüchtete hat irgendwie
ein Stück seiner Heimat mitgebracht,
das können Kleidungsstücke, Bilder oder
Erinnerungen sein. Es ist sehr wichtig,
das Recht auf Familiennachzug nicht
mehr zu bürokratisieren oder zu verhindern.
Nur manche haben es geschafft,
die Familie mitzubringen. Die Familie
aber liegt im Kern des Gefühls einer
Heimatzugehörigkeit.
Wie können wir uns also eine neue
Heimat in der Fremde schaffen? Wie
können wir das Gefühl der Heimat
wiedergewinnen? Das kommt nicht
automatisch. Die syrischen Communities,
die sich in Syriens Nachbarländern und
in Europa gebildet haben, können den
Prozess erleichtern und die Hoffnung
vermitteln, dass man in der Fremde
eine neue Heimat gewinnen kann.
Allerdings treffen wir hier auch auf
Migranten , die schon seit langem hier
leben oder sogar hier geboren sind und
trotzdem für Deutschland keine Heimatgefühle
haben. Dann fragt man sich,
wo liegt der Fehler? Mangelnde Integration,
Parallelgesellschaften, Diskriminierung,
Rassismus oder woanders?
Deutschland könnte stolz darauf sein,
wenn seine Bürger zwei Sprachen beherrschen
und zwei Kulturen haben.
Es gibt natürlich Syrer und andere Geflüchtete,
die hier in einer Parallelgesellschaft
leben, weil sie keinen Kontakt
mit Deutschen suchen. Sie fühlen sich
besser in einer syrischen Community.
Oder sie wollen nach Syrien zurückkehren
– weil sie ihre Familien nicht
mit nach Deutschland bringen durften.
Trotzdem finde ich die syrischen Communities
in Deutschland sehr wichtig.
Sie verbinden Syrer mit Syrern, und
natürlich Syrer mit Deutschland, der
neuen Heimat. Es ist sehr schade, wenn
manche Syrer in Deutschland leben und
keine Verbindung mit dem Land und der
deutschen Gesellschaft haben. Man sollte
nicht in einer Parallelgesellschaft leben,
sondern parallel in beiden Gesellschaften:
in der syrischen Community und in der
neuen deutschen Gesellschaft. Deshalb
ist es wichtig, die Muttersprache und
die deutsche Sprache parallel zu lernen.
Deutschland könnte stolz darauf sein,
wenn seine Bürger zwei Sprachen beherrschen
und zwei Kulturen haben.
In den vergangenen Jahren wurde
über das Thema Heimat viel diskutiert,
besonders in Europa, wo viele Parteien,
Bewegungen und Gruppen ihre eigene
Heimatdefinition haben. Sie sehen
nicht Europa als ihre Heimat, sondern
nur ihr eigenes Land. Der Begriff wird
manipuliert, um rechte und radikale
Ziele zu erreichen. Jeder darf auf seine
Heimat stolz sein, aber bitte nicht
übertreiben! Wegen solcher Theorien
und Gedanken haben die Menschen
Kriege erlebt und durchlitten. Aber es
sieht so aus, als ob sich die Geschichte in
den nächsten Jahren in anderer Form
wiederholen könnte: als ein Krieg um
die Definition der Heimat.
82 83
SEHNSUCHT
Fremde
fremd im eigenen land.
Bis zu 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge strömten
nach dem Zweiten Weltkrieg in das verbliebene und zerstörte
Deutschland, ohne Rückfahrkarte im Gepäck. Sie stammten
aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, aus Czernowitz,
aus Siebenbürgen, aus der Gottschee. Mitnichten kamen jedoch
Deutsche zu Deutschen, denn zu unterschiedlich waren kulturelle
und mentale Prägungen. Bauern aus Galizien trafen auf urbane
Württemberger, Prager Großbürger auf Oberfranken auf dem
Land. Dialekte, Mentalitäten, Konfessionen und Sozialisationen –
die Unterschiede konnten kaum größer sein.
Die fremden Deutschen aus dem Osten wurden in den vier
Besatzungszonen, vielfach als „Polacken“, als „Zigeuner“, als „Rucksackdeutsche“
diffamiert. Willkommen waren sie nicht, vielmehr
bestimmte Fremdheit ihren Alltag. „Die drei großen Übel, das
waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“,
sagte man nach dem Krieg im Emsland. So gefährdeten Zwangseinquartierungen
von Vertriebenen in die Häuser der Einheimischen
mancherorts die soziale Ordnung.
84 85
SEHNSUCHT
Wandel
vom überleben zum leben.
Für viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene war die erste Zeit in
der neuen Heimat ein beschwerlicher Kampf ums Überleben,
gekennzeichnet von Hunger, beengten Wohnverhältnissen, der
Suche nach Familienmitgliedern, der Verrichtung von Hilfsarbeiten
und Arbeitslosigkeit. Hinzu kamen kulturelle Unterschiede
und oft Anfeindungen von Seiten der einheimischen Bevölkerung,
nicht zu vergessen die Erlebnisse der Flucht, dem Verlust
der Heimat und dem Zurücklassen des gesamten Besitzes.
Doch dennoch: Auf revolutionäre Weise hat sich Deutschland
nach 1945 durch die Ankunft der Flüchtlinge verändert; alles
schien aus den Fugen geraten. Die bloße Anwesenheit der Flüchtlinge
stellte gewachsene Hierarchien und Traditionen in Frage.
Kurzum: Flüchtlinge waren Motoren einer ungeahnten Modernisierung,
sie brachen verkrustete Strukturen auf und trugen
maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Heimatlosigkeit
und Obdachlosigkeit war für Millionen Deutsche eine Grunderfahrung,
was nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaft bleiben
konnte. Für viele Deutsche war dies eine persönliche Erfahrung.
86 87
SEHNSUCHT
Erfahrung
schärfen des bewusstseins.
Flüchtlinge, die heute vor Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen
fliehen, rufen bei vielen Deutschen historische Bilder wach.
Dieses Land hat trotz der beschriebenen Schwierigkeiten mit der
Integration von Millionen Vertriebener eine ungeheure kulturelle
und soziale Herausforderung gestemmt, als manche ein Scheitern
oder gar ein schwelendes revolutionäres Pulverfass voraussagten.
Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem
Flüchtlingsschicksal geprägt. Vertreibung, Heimatlust und unerwünschte
Ankunft haben als millionenfache Erfahrung in der
deutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen und das Flüchtlingsschicksal
damit in der mentalen Verfassung der deutschen
Gesellschaft eingeschrieben. Die beschriebenen Schwierigkeiten
auf der emotionalen Ebene aber sollten gleichzeitig das Bewusstsein
für die enormen Herausforderungen einer wirklichen und
gelungenen Integration schärfen.
88 89
SEHNSUCHT
Interview
andreas kossert.
Es gibt eine Weltgeschichte der
Heimatlosigkeit und erzwungenen
Wanderschaft. Bascha Mika im Gespräch
mit dem Sachbuchpreisträger
Andreas Kossert über das Menschheitsdrama
Flucht und Vertreibung.
Es gibt eine Weltgeschichte der
Heimatlosigkeit. Wie weit reicht
diese zurück?
In den Überlieferungen der Menschheit
spielt dieses Thema stets eine Rolle. Viele
Fluchterfahrungen sind jedoch in der
Geschichte versunken, die kennen wir
nicht mehr. Aber erzwungene Wanderschaft
hat es immer gegeben. In der
Vormoderne betraf es vor allem religiöse
Minderheiten, in der Moderne taucht
dann die Idee der ethnischen Homogenität
auf. Wer dazu gehören soll
und wer ausgeschlossen wird, folgt bis
heute ethno-religiösen Mustern, die
auf erschreckende Art zeitlos geblieben
sind. Denken Sie nur an die Kurden
und Jesiden. Oder an Berg-Karabach;
dort sehen wir unter den Augen der
Weltöffentlichkeit, wie eine ethnisch
motivierte Vertreibung im 21. Jahrhundert
stattfindet.
Gab es je eine Zeit, in der Menschen
nicht auf der Flucht waren oder vertrieben
wurden?
Das hat nie aufgehört. Auslöser sind
in der Regel Ausgrenzung, Hass, Gewalt
und natürlich Krieg. Menschen
werden vertrieben, weil sie im Weg sind,
stören und dabei um ihr Leben fürchten
müssen. Die Frage ist, ob die Flucht
dauerhaft ist, oder ob es eine Hoffnung
auf Rückkehr gibt. In den meisten Fällen
ist das unmöglich.
„Der Geflüchtete ist eine eigene
Kategorie Mensch“, sagt der Schriftsteller
Ilija Trojanow. Was für eine
Kategorie ist das?
Der Flüchtling hat eine existentielle Zäsur
erfahren – den erzwungenen Heimatverlust.
Diese Zäsur ist für sesshafte
Gesellschaften überhaupt nicht nachvollziehbar,
Sesshafte und Geflüchtete
leben in Paralleluniversen. Im Augenblick
der Flucht hat alles aufgehört
bedeutsam zu sein, was gestern noch
galt. Der soziale Status, die Sprache,
Familie, Besitz, Beruf... alles wird
vollständig irrelevant. Dazu kommt
die Ungewissheit. Sie begleitet Flüchtlinge
auf ihrem Weg und verschwindet
nicht, wenn sie angekommen sind.
Gibt es dennoch etwas wie kollektive
Flüchtlingserfahrungen?
Trotz unterschiedlicher Epochen,
Ursachen, Kontexte gibt es tatsächlich
Erfahrungen, die Flüchtlinge und
Vertriebene über alle Zeiten hinweg
verbindet. Sie alle kennen den erzwungenen
Abschied von der Heimat,
meistens für immer, inmitten von
Gewalt und Krieg. Die Ungewissheit
des Weges, die Unsicherheit über das
Ziel der Flucht und was danach kommt.
Ausgrenzung und Feindschaft?
Integration, Assimilierung oder das
permanente Exil? Diese Fragen beschäftigen
alle... und natürlich auch die
Erinnerung an das Verlorene.
Wie wirksam sind diese Erinnerungen?
Es gibt in Familien mit Fluchterfahrung
häufig eine Verluststelle, die sie erinnern
und betrauern. Für Armenier zum Beispiel
hat Vertreibung und Völkermord bis
heute eine ganz existentielle Bedeutung –
obwohl es längst keine Zeitzeugen des
Genozids von 1915 mehr gibt. Doch
der radikale Bruch, der das Leben in
ein davor und danach einteilt, ist noch
nach Generationen lebendig.
Auch die Angst?
Am Anfang steht meist Todesangst, die
Menschen überhaupt fliehen lässt.
Dann folgen Hunger, Gewalt, Erschöpfung.
Mit der Angst einher geht immer auch
die quälende Ungewissheit. Flüchtlinge
werden in eine transitorische Existenz
gezwungen. Sie gehen ja nicht hinaus
in die Welt, um ein besseres Leben zu
suchen, das ist etwas völlig anderes. Sie
werden hinausgestoßen und schließlich
auf die Rolle von Bittstellern und Abhängigen
reduziert.
Wecken Flüchtlinge auch Ängste,
dass man selbst einmal entwurzelt
werden könnte?
Ganz sicher. Deshalb müssen wir die
Perspektive wechseln. Die meisten
Flüchtlinge haben es nur eine Woche
zuvor auch nicht für möglich gehalten,
dass sie nie wieder ihren Rasen mähen
oder ihren Hund ausführen können.
90 91
Heimat ist nur
ein Unwort für
Menschen, die
nie die Heimat
verloren haben.
Andreas Kossert
Es sprengt jedes Vorstellungsvermögen,
binnen Stunden oder Tagen die Heimat
für immer verlassen zu müssen und
nicht mehr zurückkehren zu können.
Nach Ende des Krieges hätten viele
Alteingesessene die Ostflüchtlinge
am liebsten zum Teufel geschickt.
Welchen Makel haben Flüchtlinge
in den Augen der anderen?
Kaum einer flüchtet mit einem 1.-Klasse-
Ticket und Designerkoffern. Diese
Menschen kommen erschöpft und manchmal
halb verhungert an. Sie sind in
einer prekären Situation und treten oft
in größerer Zahl auf. Die Fremdheit,
die sie ausstrahlen, löst sofort Urängste
bei den Sesshaften aus. Wir kennen sie
nicht! Was wollen sie? Die Flüchtlinge
aus dem Osten wurden als „Polacken“,
„Rucksackdeutsche“, „Zigeuner“ beschimpft.
Sie waren die „Habenichtse“,
die um Einlass bitten mussten in einer
ihnen fremden Welt.
Rupert Neudeck, Mitgründer von
Cap Anamur, sagte: In jedem
Mensch steckt ein Flüchtling. Das
trifft gerade hier in Deutschland
zu, wo es kaum eine Familie ohne
Fluchterfahrung gibt...
Ich habe mir immer wieder die Frage
gestellt, wie es dann zu solcher Feindschaft
gegenüber Flüchtlingen kommen
kann. In unserer vermeintlich homogenen
Gesellschaft stecken Millionen
von Fluchtbiografien, daran muss man
immer wieder erinnern. Denn die Sesshaften
wollen gerne vergessen, woher
vielleicht die eigene Großmutter kommt.
Sie sprechen immer wieder von
Heimat. Ist dieser Begriff nicht ganz
schön verbrannt?
Klar, es ist ein schwieriges, häufig missbrauchtes
Wort. Doch offenbar gibt es in
dieser globalisierten Welt die Sehnsucht
nach einem Ort, der uns das Gefühl gibt,
zur Ruhe zu kommen. Wenn über Heimat
in Talkshows gestritten wird, sind
das jedoch Luxusdebatten. Für Vertriebene
hingegen, die ihre Heimat verloren haben,
ist dieser Erinnerungstopos existentiell.
Es gibt diese Leerstelle in ihrer Biografie,
nämlich die verlorene Heimat. Wie oft
haben Menschen Erde von zu Hause
mitgenommen oder die Schlüssel zu ihrem
Haus. Heimat ist nur ein Unwort für
Menschen, die nie die Heimat verloren
haben.
Kann das Menschheitsdrama Flucht
und Vertreibung irgendwann ein
Ende finden?
Es muss wenigstens verurteilt werden.
Nach dem Zivilisationsbruch des
Nationalsozialismus hat sich die Weltgemeinschaft
etwa mit den Vereinten
Nationen auf multilaterale Strukturen
geeinigt, um internationale Konflikte
wenigstens im Ansatz zu befrieden. Schon
deshalb dürfen wir uns nicht damit
abfinden, dass Flucht und Vertreibung
als brutale Begleiterscheinungen solcher
Konflikte hingenommen werden.
SEHNSUCHT
93
„
heimat schützen
Facism doesn‘t
come as a result
of a revolution,
frankly. It comes
slowly. And so
Mussolini best
image was: If you
pluck a chicken
one feather at a
time, nobody
notices.
Madeleine Albright
94 95
SCHLUSS
Heimat
ein bedachtes gefühl.
Der Begriff „Heimat“ bleibt diffus.
Seien es Erinnerungen an die Kindheit
oder Jugend, Hinweise auf den
eigenen Dialekt oder regionale kulturelle
Eigenschaften: Heimat bietet
vor allem eine Projektionsfläche für
häufig melancholische Gefühle, ohne
konkret werden zu müssen. „Heimat
ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!“,
sang Herbert Grönemeyer. Das trifft
es wohl ganz gut.
Aber Gefühle sind nicht automatisch
positiv, vor allem die Politik sollte
sich nicht von ihnen leiten lassen.
Heimat ist eher rückwärtsbezogen.
Der Status des Heimatvertriebenen
wird sogar über die Generationen
weitergereicht. Den Begriff der „Neuen
Heimat“ nutzten die Nazis für die
Wohnungsbaugesellschaften, um den
Mythos der Heimat auch in neue
Siedlungen zu verpflanzen. Dem
rechten Heimatbegriff zufolge haben
Menschen Wurzeln, die sie an einem
Ort halten – und keine Beine, mit
denen sie im Leben und in der Welt
weiterkommen und sich verändern
können.
Heimat steht für Überschaubarkeit
und Verstehbarkeit, einen Platz, wo
man sich nicht erst zurechtfinden
muss. Heimat ist auch ein Schrei nach
Ruhe. Die Gegenwart sieht anders
aus. Umwelten ändern sich. Im Osten
ist ein ganzes Land weggebrochen
und damit Arbeitsweisen, Familienstrukturen,
Verhaltensnormen. Die
digitale Dampfwalze macht die
Welt unverständlich für den, der sich
nicht rasch anpasst. Investitionsentscheidungen
in Peking beeinflussen
Arbeitsprozesse im Vogtland. In der
Stadt planen Hipster mit Laptops ihre
Start-ups – im Dorf schließt die
letzte Arztpraxis.
Für wieder andere vermittelt der Heimatbegriff
in unserer immer komplexer
werdenden Welt auch eine Reduktion
auf das Einfache, Ursprüngliche und
Vertraute. Während „da draußen” die
Probleme abstrakter und bedrohlicher
werden – angefangen vom Klimawandel
über die Finanzkrise oder dem
internationalen Terrorismus –, vermittelt
Heimat den Rückzug ins Private,
in Sicherheit und in den Kreis der
Familie.
Steinmeier sieht den Heimatbegriff,
durchaus in einer langen Tradition
linken Denkens verhaftet, etwas, das
in die Zukunft weist. „Heimat“, sagt
er, „ist der Ort, den wir als Gesellschaft
erst schaffen.“ Ein Ort des Verstehens
und des Miteinanders. Der Reiz daran:
Diese Heimat ist offen für Neuankommende.
Sie will errungen werden.
Sie ist kein fester Ort, sondern ein
künftiger Zustand.
Heimat ist stets gefährdet. Kriege,
politische Verfolgung, wirtschaftliche
und ökologische Krisen vertreiben
Menschen aus ihrer Heimat. Modernisierung,
Digitalisierung, Globalisierung,
Ideologisierung, Ökonomisierung
und Migration entfremden
Menschen ihrer Heimat. Landschaften
erscheinen als zu bewirtschaftende
Gelände und Orte verkümmern zu
Standorten, die beliebig abgewickelt
werden können. Heimat wird musealisiert
oder als Marketingsignal des
Tourismus zu Markte getragen. Der
„flexible Mensch“ in den Zeiten der
globalisierten Wirtschaft und Kultur,
von dem etwa der Soziologe Richard
Sennett spricht, ist entwurzelt. Er ist
ein nihilistischer Nomade, seine Mobilität
kommt an keinem Ort mehr
zur Ruhe. Doch auch der Sesshafte ist
von der Heimatlosigkeit betroffen,
wenn Gesellschaften transformiert und
Traditionen brüchig werden, wenn
sozialer Zusammenhalt zerfällt.
Nicht Heimatlichkeit, sondern deren
Zerstörung ist die Quelle von Radikalismus,
Extremismus und Gewalt.
Eigentlich ist sie also Utopie. Ernst
Bloch wirkt da heimlich, aber mächtig
nach. Am Ende seines Werks „Prinzip
Hoffnung“ bringt er es auf folgende
berühmte Formel: „Die Wurzel der
Geschichte aber ist der arbeitende,
schaffende, die Gegebenheiten umbildende
und überholende Mensch.
Hat er sich erfasst und das Seine
ohne Entäußerung und Entfremdung
in realer Demokratie begründet, so
entsteht in der Welt etwas, das allen
in die Kindheit scheint und worin
noch niemand war: Heimat.“
In allen Verwendungen bedeutete
„Heimat haben“ etwas Positives.
98 99
SCHLUSS
heimat bedeuetet für mich ...
Reflexion
deine heimat.
Heimat ist kein statischer Begriff, sondern entwickelt sich ständig
weiter. Wie eine Wurzel wächst und verändert sich auch die
Bedeutung der Heimat, deiner Heimat.
Schreibe hier deine aktuelle Ansicht der Heimat nieder. Schließe
nun dieses Buch und komme in ein paar Jahren wieder zurück.
Lese einzelne Passagen wieder und vergleiche sie mit der aktuellen
Situation. Versuche auch selbstkritisch zu sein. Hat sich deine
Sicht auf die Heimat verändert? Auf den nachfolgenden Seiten
bieten wir dir Platz dies niederzuschreiben.
jahr:
100 101
SCHLUSS
heimat bedeuetet für mich ...
heimat bedeuetet für mich ...
jahr:
jahr:
102 103
Nachwort
mehr sinn als man denkt.
Als ich mich anfangs mit dem Thema beschäftigte und meine
Familie und Freunde dazu befragte war mir noch nicht bewusst
wie tiefgründig ich mich damit befassen werde. „Da wo ich
daheim bin, wo ich mich wohl fühle“, war die häufigste Antwort.
Diese einfache Spruch scheint für viele so einfach und nicht
bedroht. Doch das Heimatgefühl steht unter ständiger Spannung
und der Gefahr des rechten Gedankenguts. Solange es keine
Veränderung gibt, bleibt die aktuelle Heimat auch nicht bedroht.
Doch wir selbst und die gesamte Welt stehen in einem ständigen
Wandel und so muss auch der Begriff und all seine dazugehörigen
Facetten betrachtet werden. Heimat ähnelt einer Wurzel und
entwickelt sich ständig weiter. Die Erfahrungen, die wir bereits
erlebt haben, bilden die Basis. Das Neue sollte und muss immer
wieder erfahren werden um den Begriff und die eigene Bedeutung
zu erweitern. Heimat ist nicht nur ein Ort, sondern ein Gefühl.
Die Definition dieses Gefühl muss aber ständig neu überdacht
werden. Heimat ist ein Mix aus Erinnerung und Erfahrung.
Heimat ist nicht
da oder dort.
Heimat ist in dir
drinnen, oder
nirgends.
Hermann Hesse
104
quellen
https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.umstrittener-hei-
mat-begriff-heimat-ist-eine-utopie.6a6c39d3-bf6f-48e8-970b-
53d2d3035db6.html
https://taz.de/Forscherin-ueber-umstrittenen-Begriff/!5642441/
https://www.grin.com/document/510254
https://www.phoenix.de/themen/rubriken/heimat-politischa-252733.html
https://www.tagesspiegel.de/politik/flucht-und-heimat-wo-binich-zuhause/22688404.html
https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/238108/fluechtlinge-und-vertriebene-im-nachkriegsdeutschland
https://www.frieden-fragen.de/entdecken/auf-der-flucht/warumfliehen-menschen-aus-ihrer-heimat.html
https://www.wz.de/nrw/burscheid-und-region/koeln_lever-
kusen/heimat-ist-etwas-das-man-nicht-beschreiben-kann_aid-
52175469#:~:text=Heimat%20ist%20etwas%2C%20das%20
man%20eigentlich%20nicht%20beschreiben%20kann%2C%20
weil,schattige%20Platz%20unter%20einem%20Baum
https://de.cleanpng.com/free/xx.html
https://www.pngkey.com/
https://www.planet-wissen.de/kultur/brauchtum/heimat/index.
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https://www.jetzt.de/politik/alena-dausacker-ueber-das-heimatministerium
https://www.sueddeutsche.de/kultur/was-ist-heimat-die-kraftdes-erzaehlens-1.3810201
https://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-serie-was-ist-heimat-dergute-geist-vom-haspelmoor-1.3804714
https://www.ardmediathek.de/video/respekt/heimat-was-
ist-das/ard-alpha/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvLzIz-
MTQxODgxLTQ1N2UtNGVmZi1iNmM1LTFlZWZiMjk5N-
DRlYQ/
https://www.youtube.com/watch?v=EUfxcS_PVbc&t=1515s
https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/
migrationsland_deutschland/pwieheimatundmigration100.html
https://www.infas.de/fileadmin/user_upload/PDF/2019_ZEIT_
VermaechtnisStudie_Broschuere.pdf
http://www.freizeitmonitor.de/
https://www.deutschlandfunk.de/heimat-begriff-in-der-pandemie-die-sehnsucht-nach-einem.1148.de.html?dram:article_id=489025
https://www.tagesspiegel.de/politik/flucht-und-heimat-wo-binich-zuhause/22688404.html
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/
Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene
impressum
GESTALTUNG Dominik Göhl
SCHRIFTEN Adobe Caslon Pro / Old English Text
AUFLAGE 5 Stück (2021)
DRUCK —
BINDUNG —
PAPIER — g/m² Innenteil / — g/m² Umschlag
© FHWS Fakultät Gestaltung / Kurs: Typographie / Dozentin Christina Hackenschuh / Sommersemester 2020/21 / 2. Semester
Heimat ist ein spezifisch deutscher Begriff, der eine Vorstellung
eines Zuhauses zu etwas macht, das sinnlich erfahrbar ist.
Heimat kann ein Geschmack, Musik, ein Geruch sein – ebenso
wie ein physischer Ort als Heimat empfunden werden kann
(„Heimat ist da, wo mein Herz ist“). Gegenwärtig beschreibt
Heimat indes kein idealisiertes Zugehörigkeitsgefühl mehr.
Der Begriff hat eine lange Geschichte der Fremdaneignung und
Verzerrung hinter sich und wird immer noch von rechten und
konservativen Ideologien zur Rechtfertigung von Ausgrenzung
missbraucht. Heute bleibt Heimat in gewissem Sinne unheimlich.
Dieses Buch beschäftigt sich mit der Heimat und einige Faktoren,
welche diese sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Dieses
Buch kann auch nicht die Antwort auf die Frage „Was ist Heimat“
liefern, denn die Antwort kann nur jeder für sich selbst beantworten.
Mit diesen Buch liefern wir dir einige Denkanstöße.