14.07.2021 Aufrufe

Geschichten aus Fuerteventura

Wahre und einige erfundene Geschichten aus Fuerteventura

Wahre und einige erfundene Geschichten aus Fuerteventura

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Robinson Club – Hochh<strong>aus</strong> und Strandrestaurant<br />

Dritte überarbeitete Auflage


Dritte Auflage<br />

Die dritte Auflage dieses Büchleins beträgt nur 30 Exemplare.<br />

Jedes Buch ist von mir signiert und von Nr. 1 bis 30<br />

durchnummeriert. Es wird nur an Menschen, die mich in<br />

besonderer Weise beeindrucken, mir viel bedeuten und an<br />

sehr gute Freunde verschenkt. Es ist nicht im Buchhandel<br />

erhältlich.<br />

Viele meiner Freunde haben die zweite Auflage dieses<br />

Buches gelesen und fragten sich anschließend:<br />

Was ist wahr und was ist erfunden? Wirklich Erlebtes und<br />

Erfundenes wird vom Leser verständlicherweise unterschiedlich<br />

wahrgenommen und beurteilt.<br />

Ich habe mich bei dieser Auflage dazu entschlossen, dies<br />

besser kenntlich zu machen, bei der komplizierten Geschichte<br />

allerdings nicht immer mit Erfolg, obwohl gerade dieses<br />

Spiel zwischen Wahrheit und Fantasie den Reiz eines Buches<br />

<strong>aus</strong>machen kann.<br />

Siegfried Kuebler<br />

Ll Aa Nn<br />

imitierte uflage r. von 30


Platon:<br />

„Alles fließt und nichts bleibt“<br />

geb. 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina,<br />

gest. 348/347 v. Chr. in Athen<br />

„Que fuerte aventura – welch ein<br />

großes Abenteuer!“ – soll der Eroberer<br />

Jean de Béthencourt beim ersten Betreten der Insel im<br />

Jahr 1404 gerufen haben.<br />

© Copyright 2021<br />

by Siegfried Kuebler<br />

Zur Grundel 18<br />

D 88662 Überlingen


Manches <strong>aus</strong> dem<br />

dem<br />

und über die legendäre<br />

an der menschenleeren Westküste.<br />

Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die noch an Abenteuer<br />

glauben und auch bereit sind, sie einzugehen.


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage im Jahr 2021<br />

Vorwort zur ersten Auflage im Jahr 2010. Ich schreibe über<br />

<strong>Fuerteventura</strong> in unserer damals zweiter Heimat Südafrika<br />

Übernachtung im Freien an der wilden Westküste<br />

Oder: Es gibt keine wilden Tiere auf <strong>Fuerteventura</strong>, eine wahre Begebenheit<br />

im Herbst 1998<br />

Der Einsiedler Heinz Ruhau<br />

Wahre <strong>Geschichten</strong> <strong>aus</strong> den Jahren 1986 bis 1989. Heinz Ruhau<br />

und Tanja oder der Glaube an sich selbst kann heilen - Der Einsiedler<br />

und Monika - Der Einsiedler und Sonja<br />

Fremdgehen ist gefährlich oder die verlorene Partie<br />

Bis auf das erfundene Ende mit Ursula ist das eine wahre Geschichte.<br />

Der Israeli, eine wahre Geschichte<br />

Gold in der Villa Winter<br />

Fantasie, allerdings hätte die Geschichte um Heinz Ruhau, dem<br />

Einsiedler, durch<strong>aus</strong> so stimmen können.<br />

Der Roman „Und Dann?“, der mein Leben verändern sollte,<br />

eine wahre Begebenheit<br />

Blue Dolphin, die Beziehungsgeschichte ist erfunden, alles andere<br />

habe ich so erlebt.<br />

Die Brigantine Rose of Sharon strandet. Die Besatzung der Rose<br />

of Sharon ist eine erfundene Geschichte. Was geschah mit der Brigantine?<br />

Gustav Winter und seine Villa Winter<br />

Das Leben von Gustav Winter. Recherche über sein Leben.<br />

Wissenswertes über die Insel <strong>Fuerteventura</strong>. Das Rui Palace<br />

Tres Islas Hotel im Norden. Der Robinson Club Jandia Playa im<br />

Süden. Willy Brandt und Miguel de Unamuno auf der Insel.<br />

2015 wurde die Insel zum UNESCO-Lichtschutzgebiet erklärt<br />

6


Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage im Jahr 2021<br />

Die erste Auflage dieses Buchs mit 50 Exemplaren war bis<br />

auf wenige schnell vergriffen. Zu unserem erneuten Urlaub<br />

im Robinson Jandia Club im April 2021 hatte ich noch eines<br />

mitgenommen. Es könnte ja sein, dass sich einer der Tischgäste<br />

für die Insel interessierte, auch vielleicht deswegen, weil Interessantes<br />

über die mysteriöse Villa Winter an der Westküste<br />

der Halbinsel Jandia darin enthalten ist.<br />

Auch die Geschichte des deutschen Ingenieurs und „Abenteurers“,<br />

wenn Sie mir dieses Attribut nach Kenntnis seines<br />

Lebenslaufs gestatten, Gustav Winter, ist nach umfangreichen<br />

Recherchen darin dargelegt. In dieser Ausführlichkeit mit<br />

Quellenangaben ist dies meines Wissens nirgendwo anders<br />

beschrieben. Er war (gestorben 1972) Besitzer der ganzen Halbinsel<br />

Jandia, angefangen bei der Landenge La Pared - Costa<br />

Calma bis zur Südspitze von Jandia, wo der Leuchtturm steht.<br />

Ein riesiges Gebiet. Damals, als er es zu einem Spottpreis<br />

kaufte, mehr oder weniger wertloses, trockenes und wegen<br />

Wassermangels unfruchtbaren Landes. Der Besitz ging an seine<br />

Frau (Winter-Alth<strong>aus</strong>) und seine beiden Söhne über, die in<br />

Gran Canaria lebten. Er wurde von der bitterarmen Bevölkerung,<br />

um das Städtchen Morro und das Dorf Cofete herum,<br />

als Don Gustavo verehrt. Er war nämlich einer der wenigen,<br />

wenn nicht der einzige Arbeitgeber in dieser verlassenen Gegend,<br />

der etwas in die Landwirtschaft investierte, aber auch<br />

eine Kapelle in Morro errichten ließ und nicht zuletzt die Villa<br />

Winter baute.<br />

Das Buch hat den Titel <strong>Geschichten</strong> <strong>aus</strong> <strong>Fuerteventura</strong>. Wie<br />

der Titel schon verrät, dreht sich natürlich nicht alles um die<br />

‚Winter‘ Geschichte, sondern auch von Begebenheiten, die sich<br />

am Strand abspielten, wobei dem Einsiedler Heinz Ruhau, der<br />

7


dort fünfzehn Jahre lang in einem stillgelegten Kalkofen gelebt<br />

hatte, eine besondere Rolle zufällt.<br />

Wir lernten beim Abendessen, wie üblich an einem 6er Tisch<br />

in Coronazeiten (sonst 8ter Tische), das Ehepaar Marco und Jutta<br />

Bunte <strong>aus</strong> Bad Oeynh<strong>aus</strong>en kennen, die dort ein Baugeschäft<br />

betreiben. Ich erzählte von meinem Buch. Jutta erklärte mir<br />

am nächsten Tag, dass sie von dem Buch am Strand nicht losgekommen<br />

sei. Und Marco ergänzte, dass er abends die Geschichte<br />

um die Villa Winter verschlungen habe.<br />

Ich hatte schon lange vor, einen Nachdruck in Auftrag zu<br />

geben. Jetzt nach deren Lesespaß, überlegte ich mir, ob ich nicht<br />

für eine zweite Auflage, neue Erkenntnisse und Erlebnisse hinzufügen<br />

sollte. Stoff gab es ja noch genug.<br />

So bin ich den beiden zu Dank verpflichtet, die durch ihr<br />

Lob und ihren Zuspruch den Anstoß dazu gegeben haben.<br />

Jutta und Marco Bunte <strong>aus</strong> Bad Oeynh<strong>aus</strong>en<br />

8


Vorwort zur ersten Auflage im Jahr 2010<br />

Ich schreibe über <strong>Fuerteventura</strong> in unserer damals zweiter Heimat<br />

Südafrika<br />

Am frühen Morgen werde ich von zwitschernden Vögeln<br />

geweckt, die in den hohen italienischen, eigentlich gar nicht in<br />

die südafrikanische Landschaft passenden Pinien sitzen und<br />

sich aufplustern, um die Kühle der Nacht abzuwehren. Es sind<br />

gelbe Webervögel, Laubsänger, Kanarienvögel, Goldbrust-<br />

Nektarvögel, Lerchen, Spechte, Goldpieper, Hottentottengirlitze,<br />

schwarze Krähen und gurrende Tauben.<br />

Vielleicht ist auch das Gekrächze eines ‚Blue Crane‘, des Paradieskranichs<br />

und Nationalvogels Südafrikas, dabei. Das leise<br />

zischende Geräusch der Schwingen der Schleiereule, die in<br />

einer der Pinien ihr Nest hat,<br />

ist nicht mehr zu hören. Es<br />

ist der Nacht vorbehalten,<br />

wenn sie auf Beutezug ist<br />

und die schwarze Nacht in<br />

der Siedlung mit ihren dicht<br />

bewachsenen Gärten unheimlich<br />

machen kann. Sie<br />

hat zwei schneeweiße Junge<br />

aufzuziehen, die noch nicht<br />

flügge sind.<br />

Die bunten Nektarvögel<br />

haben es meinem englischen<br />

Nachbarn angetan. Er hat<br />

ein Vogelhäuschen aufgestellt,<br />

das mit einer Tränke<br />

versehen ist. Das mit einer<br />

Zuckerlösung versehene<br />

9<br />

Blue Crane, Nationalvogel<br />

Südafrikas


und mit einer Lebensmittelfarbe rot gefärbte Wasser in einer<br />

waagrecht aufgehängten Flasche trinken sie gern. Sie springen<br />

auf die hervorstehende Stange, die sich langsam samt der<br />

Flasche nach unten neigt, so dass die Flüssigkeit her<strong>aus</strong>tröpfeln<br />

kann. Eine raffinierte Konstruktion. Der Vogel mit dem<br />

großen roten Schwanzschweif, die ihn viel größer erscheinen<br />

lässt als er eigentlich ist, hat die Funktionsweise noch nicht<br />

gelernt. Er verjagt die anderen und versucht es immer wieder<br />

und scheitert, da er mit seinem langen Schweif das Gleichgewicht<br />

auf der Stange nicht halten kann.<br />

Dann höre ich das leise, unregelmäßige Piepsen einer Perlhuhnfamilie,<br />

die unter meinem Fenster, scheu wie diese Tiere<br />

einmal sind, vorbeihuscht. Sie suchen die herabgefallenen Körner<br />

des Vogelfutters. Mit den weißen Tupfen auf ihren grauen<br />

Federn könnte man vermuten, dass sie von den Aborigines erfunden<br />

worden seien, sozusagen als Ableger ihrer Malerei.<br />

Doch die Aborigines waren ja nie in Südafrika!<br />

Während ich meine Augen reibe, leuchten durch das Hebefenster,<br />

das, wenn man unvorsichtig ist, wie ein Fallbeil herunterfahren<br />

kann, dunkelrot die Blätter eines Bougainvilleabusches<br />

vor einem schon am Morgen tiefblauen Himmel.<br />

Entlang der langen Terrasse folgen noch die Farben Orange,<br />

Pink und Violett. Mein Blick fällt auf Regines Garten. Zunächst<br />

der Rasen. Ein einziges Grün, in dem sich das Sonnenlicht versteckt.<br />

Als ob er seine eigene Leuchtkraft entwickelt hätte.<br />

Berea-Gras! Das ist eine in Südafrika heimische Grassorte,<br />

die Ausläufer bildet und bestens auf das hiesige Klima mit langen<br />

Trockenperioden angepasst ist. Beim Anlegen des Rasens<br />

werden im Gegensatz zu den üblichen Grassorten die einzelnen<br />

Graspflänzchen gepflanzt und nicht als Samen <strong>aus</strong>gesät.<br />

Bleiwurz bildet die drei Meter hohe Hecke, die den Garten<br />

einzäunt mit violetten Doldenblüten. Geranien wachsen vor<br />

10


der Hecke. Sie sind auch<br />

„heimisch“, wofür die Südafrikaner<br />

das nicht jedem<br />

Primaner geläufige englische<br />

Wort „indigenous“<br />

verwenden. Es blühen auch<br />

einige Agapanthen in weißer,<br />

blauer und violetter<br />

Farbe. Kein südafrikanischer<br />

Garten ohne Agapanthen!<br />

Vor dem Gartenmäuerchen,<br />

das die Terrasse einfriedet,<br />

ist ein Beet mit blau<br />

Fynbos<br />

blühendem Lavendel angelegt<br />

und in einer Reihe<br />

davor blühen weiße Eisbergrosen,<br />

die in dieser Gegend<br />

in Weinbergen gerne<br />

gepflanzt werden. Bevor<br />

das Ungeziefer die Rebstöcke<br />

befällt, werden die Rosen<br />

befallen und der Winzer<br />

kann rechtzeitig reagieren.<br />

Der Bottlebrush – auf<br />

Deutsch Lampenputzer –<br />

mit seinen sonst pinkfarbenen,<br />

bürstenähnlichen Blü-<br />

Frangipani<br />

ten ist bereits verblüht, doch<br />

der neugepflanzte im englischen Rosengarten zeigt noch welche.<br />

Es wird noch einige Zeit brauchen, bis alle Rosen blühen.<br />

Der ganze Stolz von Regine ist aber der Frangipani-Baum,<br />

dessen rosa- hellgelbe Blüten die Nase verwöhnen. Kleine, wild<br />

11


gewachsene Olivenbäume, Proteas und Fynbos runden das Bild<br />

des von Sue, der gebürtigen blondhaarigen Südafrikanerin, die<br />

so schnell wie ein Wasserfall redet, entworfenen Gartens ab.<br />

Die Sonne wird heute wieder einmal den Tag bestimmen,<br />

geht es mir durch den Kopf. Wieder einmal ein perfekter Tag<br />

zum Golfen. Wer hätte das gedacht, dass ich einmal fast die<br />

Hälfte des Jahres hier in unserem eigenen Häuschen in Zevenwacht,<br />

zwischen Kapstadt und Stellenbosch gelegen, zusammen<br />

mit Regine verbringen würde?<br />

War ich nicht ein <strong>Fuerteventura</strong>-Fan gewesen? Total auf ‚Fuerte‘<br />

abgefahren? Hatte ich mir nicht vorgenommen, wenn ich<br />

einmal Rentner wäre, auf <strong>Fuerteventura</strong> zu leben? Zumindest<br />

in unserem europäischen Winter? Auch dort ist der Himmel<br />

blau, vielleicht ein Hauch blasser als hier. Der Wind bläst, dort<br />

wie hier, fast ununterbrochen. Dort der Nordostpassat, hier<br />

der Südostpassat. Wie oft war ich doch auf der Insel gewesen?<br />

1984 das erste Mal. Im Aldiana Club, aber auch im Robinson<br />

Club Jandia und im Robinson Esquinzo. 60 Mal in den vergangenen<br />

35 Jahren? Was hatte ich nicht alles erlebt in diesen Urlauben?<br />

Wie viele wilde <strong>Geschichten</strong> hatte ich gehört, wie viele<br />

hatte ich erlebt?<br />

Vielleicht sollte ich einige davon niederschreiben? Aufgemischt<br />

mit etwas Fantasie? Mir macht solches Schreiben Spaß,<br />

und vielleicht unterhält es den einen oder anderen Leser, führt<br />

ihn in eine fremde Welt auf eine Urlaubsinsel, auf der dieselben<br />

Intrigen gesponnen, innermenschliche Spannungen <strong>aus</strong>getragen<br />

werden und Abenteuer stattfinden wie bei uns zuh<strong>aus</strong>e<br />

auch. Vielleicht durch die Urlaubsstimmung und das<br />

helle warme Klima etwas <strong>aus</strong>geprägter und farbiger?<br />

12


Übernachtung im Freien an der wilden Westküste<br />

Oder: Es gibt keine wilden Tiere auf <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

eine wahre Begebenheit im Herbst 1998<br />

Der alte Maierfeld mit seinem kreisrunden Kopf und seiner<br />

stark gewölbten Brille saß uns schon am frühen Morgen im<br />

verschwitzten Hemd am Achtertisch gegenüber. Wie es diesen<br />

ungepflegten Burschen in den Robinson Club Jandia Playa<br />

verschlagen hat, wird er uns eines Tages langatmig offenbaren.<br />

Es ist einer jener Typen, die fremden Menschen alles irgendwann<br />

von sich erzählen müssen. Er ist einer, der Zuhörer<br />

braucht. Zunächst hatte er jedoch nur einige spitze Bemerkungen<br />

bereit, die er besonders lustig fand, und beim Erzählen<br />

allerdings der Einzige blieb, der darüber lachte:<br />

„Müsst ihr denn eure Muskeln trainieren, um besser Tennis<br />

spielen zu können, wenn ihr heute eine so lange Wanderung<br />

machen wollt? Ihr werdet dadurch keinen Deut besser. Lasst<br />

es euch von einem sagen, der Tennis spielen kann.“<br />

Er klopfte sich selbstbewusst an die Brust und fuhr mit dem<br />

Handrücken über seinen Mund, um den herabtropfenden,<br />

weißen Speichel abzuwischen. Unangenehm, ihm beim Essen<br />

zuzusehen. Regine verzog leicht missbilligend ihr Gesicht und<br />

stand bei dieser Gelegenheit auf, um Wurst und Käse vom Frühstücksbuffet<br />

zu holen. Wir waren dabei, uns Brote für unsere<br />

Wanderung zu streichen. Die Rucksäcke waren schon gepackt<br />

und prall voll. Die darin verstauten Wasserflaschen machten<br />

sie auch noch schwer. Die beiden Schlafsäcke nahmen aber den<br />

meisten Platz ein. Zu mir gewandt fuhr er fort:<br />

„Nimm doch einmal einen Marathonläufer als Beispiel.<br />

Glaubst du, dass so einer jemals ein sehr guter Tennisspieler<br />

werden wird? Nein, er wird es nie werden. Er ist im Antritt zu<br />

13


langsam. Seine Reaktionszeit ist zu lang, hat unter seinem harten<br />

Training gelitten.“<br />

Mir reichten seine geistreichen Ratschläge und stand auf, um<br />

Regine bei ihrer Auswahl zu helfen. Wie anmutig sie in ihrer<br />

kurzen Hose, den braunen Beinen und ihren langen, nach oben<br />

gesteckten Haaren <strong>aus</strong>sah! Sie sah mich zum Buffet kommen.<br />

Ihre dunkelbraunen Augen lachten mich an. Wie glücklich ich<br />

war. Ein warmes Gefühl stieg mir zum Herzen hoch und umhüllte<br />

es wohlig. Wie hatte ich es nur geschafft, sie gestern<br />

Nacht zu einer solch abenteuerlichen Tour in den verlassensten<br />

Teil <strong>Fuerteventura</strong>s zu überreden, an die menschenleere<br />

Westküste der Halbinsel Jandia? Sie willigte sogar ein, mit mir<br />

am Strand zu übernachten. An der geheimnisvollen Playa de<br />

Barlovento, von der kaum einer von der Sorte eines Maierfelds<br />

je gehört hatte. Allerdings kostete das viel Überzeugungsarbeit.<br />

„Du musst keine Angst haben. Es gibt keine giftigen Tiere<br />

auf der Insel. Keine Schlangen. Keine giftigen Skorpione. An<br />

der fast vegetationslosen Westküste gibt es auch keine Mücken,<br />

die uns piesacken könnten“, sprudelte es <strong>aus</strong> mir her<strong>aus</strong>. „Wilde<br />

Raubtiere auch nicht. Keine Wölfe, keine wilden Katzen.<br />

Auch verirren sich dorthin keine Menschen. Nicht einmal Hirten.<br />

Die Pflanzen sind so spärlich, zumeist mit spitzen Dornen,<br />

dass nur Ziegen davon leben können, die mit ihren spitzen<br />

Mäulern auch noch die letzten Pflänzchen samt Wurzeln<br />

<strong>aus</strong> der Erde ziehen und dabei den Dornen geschickt <strong>aus</strong>weichen.<br />

Der Strand ist Teil eines riesigen Naturparks, den die<br />

Spanier mit einem jetzt schon verrosteten primitiven Zaun<br />

abgesteckt haben, der eigentlich keine Absperrung darstellt.<br />

Er ist nur zu Fuß nach einer viele Stunden dauernden Wanderung<br />

zu erreichen. Er ist der friedlichste Ort der Welt.<br />

Nirgendwo sonst kann man so gefahrlos und mitten in der<br />

14


Westküste<br />

Alte<br />

Fluglandepiste<br />

Gestrandeter Wal<br />

an der Playa de Cofete<br />

Roque del Moro<br />

Pass nach Cofete<br />

Cofete<br />

El Islote<br />

(Inselchen)<br />

Playa de Barlovento<br />

Unser Wanderweg<br />

Villa Winter Pico de la Zarza<br />

(Brombeerspitze)<br />

Ziegenpfad<br />

im "Gran Valle"<br />

Schlafstätte<br />

Bergkette<br />

Aussichtspunkt<br />

Dünenlandschaft<br />

Alte Straße<br />

vom Sand verweht<br />

Los<br />

Gorrinoes<br />

Punta de Jandia<br />

Leuchtturm<br />

Halbinsel Jandia<br />

Gran Valle<br />

Hafen<br />

Morro Jable<br />

Jandia Playa<br />

Robinson Club<br />

Esquinzo<br />

Aldiana Club<br />

Alter Leuchtturm<br />

Leuchtturm<br />

Überflutung<br />

Robinson Club Jandia<br />

Wanderweg (gestrichelt) vom Robinson Club Jandia Playa<br />

über die Villa Winter, Inselchen El Islote, Playa de Barlovento,<br />

am Hotel Los Gorriones vorbei zum Robinson Club Esquinzo<br />

15


Natur ohne Nachbarn im Umkreis von zehn Kilometern übernachten.<br />

Du wirst die Einsamkeit spüren und sie lieben. Unsere<br />

Gefühle zueinander werden so intensiv sein wie nie zuvor,<br />

da sie durch keine äußeren Einflüsse, vor allen Dingen nicht<br />

durch die Nähe von anderen Menschen, gestört werden können.<br />

Wir werden in eine neue Dimension unserer Liebe unter<br />

dem sternklaren Himmel eintauchen.“<br />

Etwas hochgestochen kamen mir meine Erläuterungen schon<br />

vor, das Wichtigste aber war, dass sie schließlich einwilligte.<br />

Der Wanderweg von Morro de Jable, dem ehemals kleinen<br />

verträumten Fischerdorf, das sich in den vergangenen Jahren<br />

zu einer Touristenhochburg entwickelt hat, nach Cofete soll<br />

direkt über die Berge führen. Doch als wir einen Einheimischen<br />

nach dem Weg fragten, schüttelte er nur den Kopf. Nicht<br />

einmal der spanische Eigentümer einer der führenden Autovermietungen<br />

konnte uns Auskunft geben. Er sagte:<br />

„Wie soll man über die Bergkette am Pico de la Zarza vorbei<br />

zu Fuß nach Cofete gelangen? Das ist der höchste Berg <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

mit etwa 800 m Höhe. Bei dem Geröll und den kantigen<br />

Felsen ist das ein gewagtes Unterfangen. Bergsteiger müsste<br />

man dazu sein. An ihrer Stelle würde ich mir ein Auto mieten<br />

und die geschotterte Straße nehmen, die auch über einen Pass<br />

führt, von wo man einen unvergesslichen Ausblick hat. Von<br />

dort <strong>aus</strong> kann man sogar bis zu der kleinen Insel El Islote sehen.“<br />

Und doch hatte ich in einem Reisebericht gelesen, dass es<br />

einen solchen Weg geben soll. Darin wird er als alter Königsweg<br />

bezeichnet. Wie dieser Name entstanden ist, bleibt im<br />

Dunkel der Geschichte verborgen, denn vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg war dieser Teil der Insel das Ende der Welt und ein<br />

König weit und breit nicht in Sicht.<br />

Wie schulterten unsere Rucksäcke und marschierten los.<br />

16


Gran Valle. Hier beginnt der Ziegenpfad durch das „Gran<br />

Valle“ Tal über einen Pass nach Cofete.<br />

Zunächst nahmen wir die Asphaltstraße nach Süden, die zum<br />

Hafen führt. Dann bogen wir in die Schotterpiste ein und gingen<br />

etwa drei Kilometer weit, bis wir das Tal Gran Valle erreichten.<br />

Dies schien mir der geeignete Einstieg zu sein, und<br />

wir folgten dem steinigen Weg, der immer weiter nach oben<br />

führte. Wir hielten uns an die linke Flanke des Tals, das mit<br />

braunen und schwarzen kantigen Steinen übersät war. Wir<br />

waren in einer Steinwüste gelandet. Fast keine Pflanzen, fast<br />

nichts Grünes. Das trockene Klima und die kargen Böden verhinderten<br />

eine nennenswerte Vegetation. Manche Steine waren<br />

mit orangefarbigen Krustenflechten überzogen. Flechten<br />

gedeihen offenbar unter den widerwärtigsten Bedingungen.<br />

Hin und wieder entdeckten wir einen gelben Ginster mit kleinen<br />

weißen Blüten. Kleine Schnecken fraßen an den wenigen<br />

Blättern. Spärlichstes Wachstum, und schon machen sich<br />

17


Schädlinge breit. Der<br />

Weg hörte plötzlich auf.<br />

Sollten wir jetzt einfach<br />

weitergehen, über die<br />

Steine klettern, bis wir<br />

den Sattel des Bergrückens<br />

erreicht hätten?<br />

Dann sahen wir einen<br />

braun gebrannten alten<br />

Mann am Hang mit seinen<br />

zwei Ziegen stehen.<br />

Ich fragte ihn mit beiden<br />

Händen in Ermangelung<br />

genügender Spanischkenntnisse<br />

gestiku-<br />

Giftige Euphorbien am Pass<br />

lierend, wo es nach Cofete<br />

ginge. Er zeigte mit den Fingern auf die andere Seite des<br />

Tals.<br />

Dort sei ein Ziegenweg. Er türmte einige größere Steine übereinander,<br />

um uns klarzumachen, dass dieser Weg in Abständen<br />

mit solchen Steintürmchen gekennzeichnet sei. Wir fanden<br />

den so beschriebenen Weg. Ohne die Steintürmchen hätten<br />

wir den nicht <strong>aus</strong>getretenen Weg spätestens nach weniger<br />

als hundert Meter verloren.<br />

Mit zunehmender Höhe wurde es etwas grüner. Gänsedisteln,<br />

etwas Klee und Goldstern wuchsen in geschützten Felsritzen,<br />

wo sich etwas Erde angesammelt hatte. Der Morgentau<br />

wird sich an den glatten Felsen niederschlagen, sammeln<br />

und tröpfchenweise zu den Pflanzen rinnen. Nur so können<br />

sie in dem fast regenlosen Gebiet überleben.<br />

Wir entdeckten an einem Abhang am Rande einer abgrundtiefen<br />

Kluft große, kandelaberförmige Pflanzen, die Kakteen<br />

18


Roque del Moro (Fels des Mauren - griech. mauros, dunkel,<br />

dunkelhäutig). Im Hintergrund erhebt sich der Pico de la Zarza, an dessen<br />

Fuß die Villa Winter liegt. Am Strand von Cofete hinter dem Felsen wurde<br />

in den 90er Jahren ein Pottwal angeschwemmt. Der Verwesungsgeruch<br />

war bei entsprechender Windrichtung auf der ganzen Halbinsel Jandia<br />

wahrnehmbar.<br />

ähnelten. Waren dies die Säuleneuphorbien – Cardón de Jandia,<br />

eine botanische Rarität der Insel –, von denen ein Lehrer<br />

am Achtertisch im Club vor einigen Tagen erzählt hatte?<br />

Mittlerweile schien die Sonne unbarmherzig auf uns herab.<br />

Mein Hemd war schon verschwitzt, und wir hatten eine Flasche<br />

Wasser leer getrunken. Wie so oft bei Wanderungen auf<br />

einen Berg glaubt man, der Gipfel müsse gleich nach der nächsten<br />

Wegbiegung kommen. Doch nach dieser gerade hinter uns<br />

gelassenen Biegung kam eine weitere. Doch diesmal müssten<br />

wir es schaffen, denn ein starker Wind hatte eingesetzt, kün-<br />

19


digte den Pass an. Er blies in voller Stärke über den Bergsattel.<br />

Wir konnten uns fast nicht mehr auf den Beinen halten. Nur<br />

hundert Meter weiter unten war es absolut windstill gewesen.<br />

Er kam von Norden. Es war der von der Insel abgelenkte Nordostpassat,<br />

der allgegenwärtig auf <strong>Fuerteventura</strong> weht. Insel der<br />

Winde, Insel der Abenteuer. Regine holte tief Luft, genoss den<br />

kühlen Wind auf ihrem Gesicht, ließ ihn über ihren Körper<br />

streichen. Ich zog mein Hemd <strong>aus</strong>. Die geheimnisvolle Westküste<br />

lag in ihrer ganzen Breite, in ihrer ganzen Schönheit vor<br />

uns.<br />

Unten dehnte sich der helle Sandstrand der Playa de Cofete.<br />

Im Norden erkannten wir das kleine Inselchen El Islote, das<br />

frühere Ziel von manchem Jeep Ausflug. Nachdem die spanische<br />

Regierung die ganze Westküste zum Naturschutzgebiet<br />

erklärt hat, ist El Islote nur noch zu Fuß zu erreichen. Dahinter<br />

wurde der ebenso weitläufige Strand Playa de Barlovento sichtbar.<br />

Von den Stränden schwangen sich die Hänge ohne Unterbrechung<br />

hinauf bis zum Pico de la Zarza. Steil waren die<br />

Bergabhänge, als ob die Berge hier abgebrochen und ins Meer<br />

gestürzt wären.<br />

Unter uns erblickten wir das kleine Dorf Cofete, eine Ansammlung<br />

von einfachen Häusern und Bretterbuden. Nur<br />

wenige Menschen wohnen hier, sie leben vom Tourismus, wenige<br />

vielleicht von gehaltenen Ziegen. Wir entdeckten die Bar<br />

Cofete, von der wir schon gehört hatten. Einige Jeeps standen<br />

davor. Machten dort einen Stopp. Weiter die Küste entlang<br />

durften sie nicht fahren. Die Teilnehmer können in der Bar<br />

Kaffee trinken oder sich ein Fischgericht servieren lassen. Doch<br />

mehr als dieser atemberaubende Ausblick schlug uns das<br />

schlossartige Gebäude in Bann, das vor uns lag.<br />

„Ist das die Villa Winter, von der du mir erzählt hast?“, wollte<br />

Regine wissen.<br />

20


Villa Winter vom Pass <strong>aus</strong> gesehen<br />

„Das ist sie“, erwiderte ich, „die legendenumwobene Villa<br />

Winter mit ihrem markanten runden Turm. Sie ist über Hunderte<br />

von Metern mit einem Steinwall eingefriedet, der die<br />

Umrisse von Jandia nachzeichnet. Eine weitere verrückte Idee<br />

von Herrn Winter. Kein weiteres H<strong>aus</strong>, keine Ansiedlung ist,<br />

so weit das Auge reicht, <strong>aus</strong>zumachen. Was hat den deutschen<br />

Ingenieur und Chemiker Gustav Winter, die Einheimischen<br />

nannten ihn Don Gustavo, dazu bewogen, in dieser unzugänglichen<br />

Einsamkeit ein solch herrschaftliches Gebäude zu errichten?<br />

Hat dieses Gebäude irgendeinen strategischen Zweck<br />

erfüllt? Es war nie von Winter noch dessen Familie bezogen<br />

worden, nie genutzt. Gerüchte gibt es genügend. Es sei im Krieg<br />

von Winter gebaut worden, sozusagen als Fluchtburg und<br />

Zwischenstation für Nazigrößen, falls eine Flucht nach Argentinien<br />

im Fall eines verlorenen Kriegs notwendig werden soll-<br />

21


te. Viele reden auch davon, dass Hitler auf <strong>Fuerteventura</strong> einen<br />

U-Boot-Stützpunkt einrichten wollte. Gepachtet hatte<br />

Winter die Halbinsel Jandia über eine dafür gegründete Gesellschaft<br />

mit anderem Namen von der Frankoregierung, man<br />

sagt schon im Jahr 1937. Das Geld hierzu soll von Berlin gekommen<br />

sein. Doch ein alter Spanier erzählte mir, dass mit<br />

dem Bau der Villa erst nach dem Krieg begonnen worden sei,<br />

er schätze im Jahr 1946. Ein alter amerikanischer Dodge-Lastwagen,<br />

der <strong>aus</strong> alten Militärbeständen der US-Armee, die im<br />

Krieg in Marokko an Land ging, um Rommel in den Rücken zu<br />

fallen, stammen könnte, habe das Baumaterial über den Pass<br />

auf einer üblen, <strong>aus</strong> Schlaglöchern bestehenden Schotterstraße<br />

zur B<strong>aus</strong>telle gefahren. Doch dieses Unterfangen sei von<br />

kurzer Dauer gewesen. Die Straße sei einfach zu schlecht gewesen<br />

und Winter habe dann Kamele für den Transport eingesetzt.<br />

Dann sagte der Spanier noch Merde Winter, ein Ausdruck,<br />

den man aufgeschmiert an den Wänden von vielen<br />

Neubauten in den 80er Jahren lesen konnte. Übersetzen muss<br />

ich dir dieses Wort sicher nicht. Winter war nach dem Krieg<br />

Besitzer des größten Teils der gesamten Halbinsel geworden.<br />

Wie und zu welchen Bedingungen bleibt wahrscheinlich im<br />

Dunkel der Vergangenheit verborgen. Woher war das Geld<br />

gekommen? Welche Motive steckten dahinter?<br />

Im Jahr 1971 wurde der Robinson Club Jandia eingeweiht.<br />

Willy Brandt, der damalige Bundeskanzler, soll dabei gewesen<br />

sein. Das war der Auftakt für einen beispiellosen Bauboom,<br />

der die Halbinsel völlig verändern sollte. Das Bauland stieg<br />

im Preis in astronomische Höhen. Die Familie Winter profitierte<br />

davon, wie man sich leicht vorstellen kann. Winter selbst<br />

hat nur den Anfang des Booms erlebt. In dem einzigen Interview,<br />

das Winter einer deutschen Zeitschrift, dem Stern, im<br />

Jahr 1971, kurz bevor er starb, gegeben hatte, behauptete er,<br />

22


dass er mit dem Bau der Villa erst 1947 begonnen hätte und<br />

erst im Jahr 1958 der jetzige Zustand erreicht worden sei. Gustav<br />

Winter war von Beruf Chemiker, so steht es zumindest in<br />

einer alten Meldekarte im Besitz des Stadtarchivs Titisee-Neustadt.<br />

Dar<strong>aus</strong> geht auch hervor, dass er am 10.5.1893 in Zastler<br />

bei Freiburg geboren wurde.“<br />

Regine hatte sich schon auf den Weg zur Villa gemacht. Ich<br />

hinterher. Von einem Weg konnte aber keine Rede mehr sein.<br />

Den Abhang hinunter mussten wir uns gegenseitig stützen. Das<br />

Geröll ließ keinen festen Tritt zu. An manchen Stellen mussten<br />

wir uns auf allen vieren fortbewegen.<br />

Ich erzählte weiter: „Gewöhnlich wird auch das Flugfeld an<br />

der Westspitze mit Winter in Zusammenhang gebracht. In<br />

Wahrheit wurde es jedoch erst lange nach dem Krieg angelegt,<br />

um den deutschen Urlaubern die mühselige Anfahrt vom<br />

alten Flughafen Los Estancos zu ersparen. Dann baute die Inselverwaltung<br />

aber den neuen Flughafen südlich der Hauptstadt<br />

Puerto del Rosario und von dort die Straße nach Morro,<br />

so dass das Flugfeld auf Jandia nie in Betrieb ging.“<br />

Wir waren jetzt an der Jandia-Einfriedung angelangt, einem<br />

etwa einen Meter hohen aufgetürmten Steinwall, den wir an<br />

einer passierbaren Stelle überquerten. Wir standen jetzt auf<br />

dem Gelände der Villa Winter. Ich hatte ein unbestimmtes<br />

Gefühl im Magen, dass ich auf diesem Gelände etwas finden<br />

würde, das Licht in die Vergangenheit der Villa bringen könnte.<br />

Mein Blick war fest auf den Boden geheftet. Aber da war<br />

natürlich auch nichts anderes als Steingeröll, mit wenigen dornenartigen<br />

Pflanzen, bei denen man ihr Grün mehr erahnen<br />

als erkennen konnte. Vielleicht würde ich alte Werkzeuge finden?<br />

An eine Münze wagte ich gar nicht zu denken.<br />

„Dort liegt ein altes verrostetes Eisengestell“, rief Regine. Wir<br />

untersuchten das alte Stück.<br />

23


Aus schwarzen Steinen aufgetürmter Steinwall um die Villa<br />

Winter mit dem Umriss von der Halbinsel Jandia<br />

Villa Winter vom Bergabhang her gesehen<br />

24


Bewohnerin in der Villa Winter<br />

„Das ist eine Lore“, antwortete ich, „wie man sie im Bergbau<br />

benützt. Ja, ich erinnere mich, von einem Stollen gelesen<br />

zu haben, den Winter in den Berg getrieben haben soll. Manche<br />

vermuten, dass er einen direkten Durchbruch bis nach<br />

Morro schaffen wollte. Andere aber sagen, dass solche leicht<br />

nach oben ansteigende Stollen auf den Kanarischen Inseln dazu<br />

dienen, Wasser zu sammeln. Wasser schlägt sich an den kühlen<br />

Stollenwänden nieder und sickert zu Boden. Manchmal<br />

tröpfelt auch Wasser direkt <strong>aus</strong> Felsspalten. Kostbares Trinkwasser<br />

für die Villa! Der Eingang des Stollens sei schon vor<br />

Jahren zugeschüttet worden. Zu schade, ich hätte gern einen<br />

Blick hineingeworfen. Unterirdische Gänge faszinieren mich<br />

immer.“<br />

Und wir entdeckten im Gelände eine trockene Grube, die<br />

vielleicht dazu gedient hatte, das <strong>aus</strong> dem Stollen her<strong>aus</strong>rin-<br />

25


Inselchen El Islote, dahinter die „Sahara“ <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

Unberührte Westküste<br />

26


nende Wasser aufzufangen. Auf dem gusseisernen Rad der<br />

Lore war der Schriftzug Krupp zu lesen. Ich konnte mir nicht<br />

vorstellen, dass solche Loren nach dem Krieg, sagen wir Anfang<br />

der 50er Jahre, nach <strong>Fuerteventura</strong> geliefert worden waren.<br />

Vielleicht war mit dem Bau der Villa doch schon früher<br />

als vermutet begonnen worden.<br />

Vor dem Rundbogeneingang zur Villa saßen zwei zerlumpte<br />

Gestalten. Ein Mann und eine Frau. Er mit einer schmutzigen<br />

Wollschildkappe, sie mit einem bunten Wollschal um den<br />

Kopf gewickelt. Beide Gesichter vom Wind und der Sonne gegerbt,<br />

gefurcht, fast konnte man sagen, vertrocknet. Ihre kleinen,<br />

listigen Augen mit engen schwarzen Pupillen hatten uns<br />

schon längst bemerkt und eingeschätzt. „Wie viel werden die<br />

uns wohl bezahlen, um einen Blick in die Villa werfen zu können?“,<br />

dachten sie wohl. Dann aber, nach näherem Hinsehen,<br />

flüsterte die Alte wahrscheinlich ihrem Partner zu: „Fußgänger<br />

mit Rucksäcken bezahlen nichts. Sie sehen nicht so <strong>aus</strong>, als<br />

ob sie Geld hätten.“<br />

Sie schlug mit einem Stock auf den kläffenden Hund ein, der<br />

sich nicht beruhigen wollte, als er uns entdeckt hatte. Struppiges,<br />

schmutziges Fell. Promenadenmischling. Wir hatten aber<br />

nicht die Absicht, hier einen Stopp einzulegen, nickten den<br />

Alten freundlich zu, die uns immer noch feindselig anstarrten,<br />

und marschierten weiter in Richtung zum Strand.<br />

Alles ist hier Naturschutzgebiet. Bis zu Villa kommt man von<br />

der anderen Seite noch mit einem Jeep oder auch PKW. Weiter<br />

nicht. Die spanische Polizei verhängt drakonische Strafen,<br />

wenn sie einen Fahrer erwischt, der das Fahrverbot missachtet.<br />

Und der Barbesitzer in Cofete sieht alles. Noch vor wenigen<br />

Jahren hatte man am festen Strand bei Ebbe bis zum Inselchen<br />

El Islote fahren können. Wettfahren auf dem breiten, nas-<br />

27


sen Sandstrand, das waren Fahrerlebnisse, die es nicht mehr<br />

geben wird.<br />

Wir kamen am Strand an. Helles, klares Wasser. Hohe Wellen<br />

brachen herein und überschlugen sich mit wildem Getöse.<br />

Weiße Gischt. Keine Algen, keine Quallen, nur fast weißer<br />

Quarzsand. Ich warf mich ins Wasser. Wie es sich anfühlte!<br />

Das kalte Salzwasser von Sauerstoff getränkt, vom Wind gepeitscht<br />

auf meiner nackten Haut. Keine einfließenden Abwässer<br />

weit und breit. Nur der Geruch des Atlantiks, der Geruch<br />

von Salz, der Geruch von unendlicher Weite!<br />

Hin<strong>aus</strong>schwimmen sollte ich nicht. Eine lebensgefährliche<br />

Unterströmung hatte hier schon manchen Schwimmer erfasst<br />

und aufs offene Meer hin<strong>aus</strong>getragen. Mit fatalem Ausgang.<br />

Regine folgte meinem Beispiel. Wie hübsch sie <strong>aus</strong>sah. Das<br />

Wasser tropfte an ihren langen Haaren ab, rann an ihrem<br />

mädchenhaften Körper herab. Sie lachte. Der Staub der Bergüberquerung<br />

wurde weggespült. Jetzt konnten wir erfrischt<br />

weiterwandern. Schritt um Schritt gingen wir auf das Inselchen<br />

in der Ferne zu. Wir sahen keinen Menschen, so weit das<br />

Auge reichte. „Wir sind allein auf dieser Welt“, dachte ich. Ich<br />

musste mich jedoch wenigstens einmal auf den nassen Sand<br />

legen.<br />

„Leg dich zu mir“, sagte ich zu ihr.<br />

„Wir haben mit der ganzen Länge des Rückens Kontakt mit<br />

dem Sand, der sich uns anschmiegt. Fühlst du dasselbe wie<br />

ich?“<br />

„Meinst du vielleicht, dass du hier mehr mit der Erde verbunden<br />

bist als auf irgendeinem anderen Ort der Erde?“, fragte<br />

sie.<br />

„Genau das ist es. Nirgendwo meine ich die Nähe der Erde,<br />

ihre Schwere und ihre Anziehungskraft so stark zu spüren, wie<br />

gerade hier. Ich fühle mich schwer, so schwer, als ob ich die<br />

28


Schwarze Krabben<br />

klammern sich an<br />

die Felsen von El Islote<br />

ganze Erde in mir aufgenommen hätte, und dann wieder so<br />

leicht, als ob ich in der Lage wäre, zu fliegen. Ich fühle mein<br />

Herz pochen, als ob mein eisenhaltiges Blut, das natürlich nicht<br />

magnetisch sein kann, mit dem Magnetfeld der Erde im Gleichklang<br />

pulsiert. Dieses Gefühl ist einzigartig. Ich muss es in mich<br />

aufsaugen, um es erneut aufzurufen, wenn ich es einmal brauchen<br />

sollte. Körper und Seele verschmelzen hier. Du und ich<br />

sind eins. Ich liebe dich.“<br />

Wir waren am Inselchen angelangt. Es ist mit einer Sandbrücke<br />

mit dem Strand verbunden, also eigentlich eine Minihalbinsel.<br />

Wir erklommen die schroffen, ins Meer hin<strong>aus</strong>ragenden<br />

Felsen. Die Felsen an der äußersten Spitze bildeten tiefe<br />

Spalten. Die heranrollenden Wellen stauten sich und türmten<br />

sich auf. Sie sahen wie ein riesiges, Luft holendes Tier <strong>aus</strong><br />

der Vorzeit <strong>aus</strong>. Sie knallten und klatschten in die Spalten,<br />

wobei sie zu 15 m hohen Wasserfontänen explodierten. Ein<br />

grandioses Sch<strong>aus</strong>piel. Besser als das abendliche Fernsehen. An<br />

29


den mit Algen überzogenen Felsen in Wasserhöhe klammerten<br />

sich Krabben. Handgroß. Schwarz glänzend. Sogar einige<br />

rot gesprenkelte Exemplare waren darunter. Die herabstürzenden<br />

Wassermassen waren nicht stark genug, sie <strong>aus</strong> ihrer Verankerung<br />

am Fels zu lösen. Wenn dies aber geschehen sollte,<br />

würden sie von den Wellenbrechern zurück auf den Fels geschleudert.<br />

Ihr harter Panzer würde platzen. Ihr Ende. Ein gefundenes<br />

Fressen für die Seidenreiher und Seemöwen, die laut<br />

krächzend unermüdlich auf der Suche nach Nahrung umherflogen.<br />

Wir mussten weiter, sonst würden wir unser Ziel nicht rechtzeitig<br />

erreichen. Am Fuß des Inselchens würden wir im Schutz<br />

eines überhängenden Felsen aber zunächst etwas essen. Mir<br />

lief schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an die<br />

Brote dachte, die Regine im Rucksack hatte. Und das Wasser<br />

schmeckte. Besser als jeder Wein, als jedes Bier. Einfach nur<br />

klares, stilles Wasser. Etwas kühler hätte es allerdings sein können.<br />

Wir standen gestärkt auf, und Regine zeigte auf ein roh gezimmertes<br />

kleines Holzkreuz, das in eine Felsspalte eingeschlagen<br />

war. Wir lasen: „Wir danken unserem Lebensretter Andreas.<br />

Ute und Felix“.<br />

Hier also hatte die Tragödie stattgefunden. Mir fiel die Geschichte<br />

ein, die mir ein Animateur bei einem meiner früheren<br />

Urlaube auf Fuerte erzählt hatte. Ich gab sie an Regine weiter.<br />

„Fünf Jeeps mit jeweils vier Personen waren am frühen Morgen<br />

zu einem Ausflug vom Robinson Esquinzo Club zur Westküste<br />

aufgebrochen. Dabei ist ein schreckliches Unglück geschehen.<br />

Zwei Animateure vom Club begleiteten die Gruppe.<br />

Einer davon war Koch und normalerweise in der Küche beschäftigt.<br />

Heute musste er <strong>aus</strong>helfen, einspringen für einen<br />

Kollegen, der wegen Krankheit <strong>aus</strong>gefallen war. Damals, An-<br />

30


fang der 90er Jahre, war es noch erlaubt, mit den Jeeps am<br />

Strand der Westküste entlangzufahren. Das Ziel war das kleine<br />

Inselchen El Islote, wo sie im Schatten der überhängenden<br />

Felsen, so wie wir heute, Rast machten, und die Animateure<br />

einen Grill in Betrieb nahmen.<br />

Ein Ehepaar war mit seinen beiden Kindern Ute und Felix<br />

dabei. Zehn und acht Jahre alt. Die Animateure hatten alle<br />

Tourteilnehmer vor dem Schwimmen im Meer gewarnt. Viele<br />

Unfälle hätten sich schon ereignet. Wenn man einmal den<br />

Kontakt mit den Füßen zum Untergrund verloren hätte, würde<br />

die Strömung die Badenden unweigerlich hin<strong>aus</strong> aufs Meer<br />

treiben. Gegen die Strömung könne selbst ein geübter Schwimmer<br />

nicht ankommen. Doch in der kleinen, südlich gelegenen<br />

flachen Bucht war das sonst so kalte Wasser warm und die<br />

Versuchung groß, das Baden doch zu probieren. So gefährlich<br />

konnte es doch nicht sein! Die beiden Kinder des Ehepaars probierten<br />

es.<br />

Plötzlich gellten helle Schreie durch das Tosen der Wellen.<br />

Der Koch Andreas hörte sie. Um Gotteswillen, die Kinder, zuckte<br />

es durch seinen Kopf. Das waren die panikartigen Schreie<br />

der Mutter! Hilfe, Hilfe, meine Kinder! Sie watete schon ins<br />

seichte Wasser, um ihre Kinder vor dem Ertrinken zu retten.<br />

Doch Andreas schupste sie zur Seite und schwamm mit kräftigen<br />

Schüben auf die Kinder zu. Zuerst packte er Felix und<br />

brachte ihn an Land, wo der Vater schon bis zur Brust im Wasser<br />

stand. Andreas schwamm wieder hin<strong>aus</strong>, bis er Ute erreichte.<br />

Seine Kräfte ließen nach, aber er schaffte es, auch Ute ihrem<br />

Vater zu übergeben, als eine hohe Welle gerade in diesem<br />

Moment über ihn hinwegrollte, ihm die Beine unter dem Körper<br />

wegriss und ihn wieder aufs Meer hin<strong>aus</strong>trug. Jetzt<br />

schwamm er um sein eigenes Leben. Immer wieder schaffte er<br />

ein Stück landeinwärts. Doch die Unterströmung der nächs-<br />

31


ten Welle trug ihn wieder ein Stück weiter hin<strong>aus</strong>. Würde dieser<br />

athletische junge Mann diesen fürchterlichen Kampf um<br />

sein Leben gewinnen? Er begann zu rufen. Hilfe! Wer aber sollte<br />

ihn retten? Schließlich verschwand er <strong>aus</strong> dem Blickfeld der<br />

entsetzten und wie angewurzelt stehenden Zuschauer am<br />

Strand. Seinem Freund rannen die Tränen übers Gesicht.<br />

„Warum musste das geschehen? Warum gerade er?“, murmelte<br />

er wie benommen immer wieder vor sich her. Und plötzlich<br />

schrie er wie von Sinnen die Eltern der Kinder an: „Wir<br />

haben Sie doch gewarnt. Warum haben Sie auf Ihre Kinder<br />

nicht aufgepasst? Sie sind schuld, wenn Andreas ertrinkt! Sie<br />

allein! Sie müssen mit dieser Schuld für den Rest Ihres Lebens<br />

leben.“<br />

Die Kinder weinten, die Mutter mit. Die Leiche von Andreas<br />

wurde nie gefunden. Boote und Hubschrauber waren<br />

unterwegs gewesen. Der kalte Atlantik hatte sein Opfer nicht<br />

wieder hergegeben, hielt es fest umschlungen für ewig für sich.<br />

In einem Sarg, der größer nicht sein konnte.“<br />

„Die Geschichte war so traurig, dass beim Erzählen ungewollt<br />

Tränen <strong>aus</strong> unseren Augen quollen. Der Text brannte sich<br />

in unser Gehirn ein: „Wir danken unserem Lebensretter Andreas.<br />

Ute und Felix“.<br />

Gibt es eine Strafe für dieses leichtsinnige Verhalten der Eltern?<br />

Es war schon Nachmittag geworden, und wir wanderten<br />

nachdenklich und schweigsam am Strand weiter, dessen Sand<br />

nicht mehr so hart war und unsere Füße deshalb einsanken.<br />

Das Wandern war beschwerlich geworden. Weiter vorn türmten<br />

sich schwarze Steine zu einem Wall auf, den wir überqueren<br />

mussten. Hundert Meter nur über dieses Steinmeer, und<br />

ein weiterer langer heller Sandstrand breitete sich vor uns <strong>aus</strong>.<br />

Sicherlich der einsamste und verlassenste Strand Fuerteven-<br />

32


turas, vielleicht sogar aller Kanarischen Inseln: der Barlovento-Beach.<br />

Unnötig zu erwähnen, dass wir an diesem wolkenlosen<br />

Sommertag keinem Menschen nach den Bewohnern der<br />

Villa Winter mehr begegnet waren. An der Barlovento-Beach<br />

verirrt sich niemand. Um so erstaunter waren wir, dass wir an<br />

verschiedenen Felsen die Aufschrift lasen: Fluchtweg, mit einem<br />

Pfeil nach oben. „Was soll denn das bedeuten?“, fragte<br />

ich Regine. Dann wurde mir klar, was damit gemeint war. Auf<br />

der gesamten Länge des Strands verliefen in etwa 150 m Abstand<br />

etwa 20 m hohe Felsen, rahmten den Strand förmlich<br />

ein, umschlossen ihn. Der Tiefpunkt der Ebbe war überschritten,<br />

das Wasser strömte herein. „Wir sitzen in einer Falle“,<br />

durchzuckte es mich. „Bei Flut reicht das Wasser bis zu den<br />

Felsen, bildet einen See, dem man nicht entrinnen kann. Die<br />

glatten Felsabhänge verhindern das. Kein Entkommen.“<br />

Fluchtweg war mit weißer Farbe aufgepinselt. Hier musste<br />

eine Schneise sein. Ein Weg nach oben, wie der Pfeil andeutete.<br />

Es gab aber keine angelegten Stufen. Nichts als ein schräger<br />

Sandabhang. Uns gegenseitig stützend, schiebend, mit Händen<br />

und Füßen im wegfließenden Sand Halt suchend, gelang<br />

uns schließlich der Aufstieg. Ein Geröllfeld, wie wir so etwas<br />

nur auf dem Mond vermuteten, erwartete uns. Aber war da<br />

nicht ein schmaler, kaum erkennbarer Pfad, der von Ziegen<br />

herrühren konnte? „Den werden wir entlanggehen, bis wir eine<br />

geeignete Stelle für unser Nachtlager finden. Unseren Plan, an<br />

der Barlovento-Beach zu übernachten, können wir bei dieser<br />

Sachlage begraben“, sagte ich. Ein tiefer Barranco, eine tiefe<br />

Schlucht, versperrte zunächst unseren weiteren Weg.<br />

„In den müssen wir hinabsteigen und auf der anderen Seite<br />

wieder hoch“, murmelte ich und hoffte, dass Regine nicht protestierte.<br />

Was blieb uns auch anderes übrig?<br />

„Oh, wenn das meine Mutter wüsste. Wenn sie mich jetzt<br />

33


Wilde, menschenleere Westküste<br />

sehen könnte“, jammerte Regine, „würde sie mich glatt für<br />

verrückt erklären und sagen: Warum lässt du dich auf so etwas<br />

Gefährliches ein?“<br />

Regine litt jetzt unter Höhenangst und tat sich mit dem Abstieg<br />

schwer. Ohnehin waren unsere Schritte durch die bisherige<br />

Anstrengung unsicherer geworden. „Müssen wir denn hier<br />

übernachten? Gibt es keine andere Lösung? Ich habe jetzt<br />

Angst, mein ganzer Mut ist verflogen.“<br />

Ich erwiderte selbst etwas unsicher geworden:<br />

„Für eine Umkehr ist es jetzt zu spät. Und der Weg über die<br />

Berge in der Richtung, die wir jetzt eingeschlagen haben, ist<br />

genau so lang, wie der bis hierher zurückgelegte. Aber wir<br />

werden mit einem Abenteuer belohnt, an das wir uns bis in<br />

unser hohes Alter erinnern werden. Nicht irgendetwas Alltägliches,<br />

nein etwas Besonderes werden wir erleben. Und Beson-<br />

34


deres ist meistens mit einem Abenteuer verbunden. Die beiden<br />

Dinge gehören einfach zusammen.“<br />

„Das ist der Barranco des Infernos, der Abgrund zum Höllenfeuer.<br />

So steht es in der Karte. So sieht er auch <strong>aus</strong>, finster und<br />

bedrohlich“, sagte sie leise, ängstlich und fast etwas vorwurfsvoll.<br />

Auf der anderen Seite hochgeklettert, entdeckten wir ein kleines<br />

Steinhäuschen.<br />

„Das Häuschen würde uns etwas Schutz in der Nacht bieten“,<br />

meinte sie. Sie warf einen Blick hinein und schreckte entsetzt<br />

mit einem schrillen Schrei zurück.<br />

„Es liegt eine tote Ziege darin. Sie ist noch voller Blut. Fleischstücke<br />

sind <strong>aus</strong> ihrem Leib her<strong>aus</strong>gerissen.“<br />

„Komisch“, sagte ich und schüttelte dabei ungläubig den<br />

Kopf. „Hier gibt es doch keine Wölfe, die Tiere reißen könnten,<br />

und schon gar keine Hyänen.“<br />

Wir fanden eine besandte Fläche an einem Abhang des hinter<br />

uns steil aufragenden Berges. Wir beschlossen, hier unser<br />

Lager aufzuschlagen. Es war Abend geworden. Wir tranken<br />

Wasser und Regine zog <strong>aus</strong> ihrem Rucksack eine kleine Flasche<br />

Whiskey hervor. Ein Schluck dar<strong>aus</strong> war jetzt genau das<br />

Richtige. Der Alkohol würde unsere angespannten Nerven<br />

beruhigen. Ein Zelt hatten wir nicht dabei. Es wäre zu schwer<br />

gewesen, und wir wollten auch unter dem freien Sternenhimmel<br />

schlafen, einem Sternenhimmel, der unbeeinflusst durch<br />

irgendwelche Lichter von Straßen, Häusern, Siedlungen selbst<br />

leuchten konnte. Alles diffuse Licht, vielleicht vom Meer, das<br />

übrigens in der Nacht auch recht dunkel sein kann, würde noch<br />

zusätzlich von den schwarzen Geröllmassen absorbiert werden.<br />

Ideale Bedingungen für einen klaren Sternenhimmel.<br />

Wir packten die beiden Schlafsäcke <strong>aus</strong>. Es war ein linker<br />

und ein rechter Schlafsack. Ich traute meinen Ohren nicht, als<br />

35


der Sportverkäufer, einer meiner engen Freunde, mir erklärte,<br />

dass er einen Schlafsack, in den zwei Personen passten, nicht<br />

besorgen könne.<br />

„Ich bin doch nicht der Einzige, der einen solchen Wunsch<br />

äußert“, wendete ich ein.<br />

„Eben deshalb gibt es linke und rechte Schlafsäcke“, erläuterte<br />

er mir. „Man zippt sie zusammen. Einer hat den Reißverschluss<br />

links, der andere rechts. Deshalb linke und rechte<br />

Schlafsäcke. So wird ein großer dar<strong>aus</strong>.“<br />

Es war schon dunkel geworden, und ich versuchte mich in<br />

der Technik des Zusammenzippens. Der Sand machte den Bemühungen<br />

bald ein Ende. Er blockierte die Reißverschlüsse. Es<br />

funktionierte nicht. Dann eben nicht. Wir legten einen <strong>aus</strong>gebreiteten<br />

Schlafsack auf die Erde und den zweiten benutzen<br />

wir als Decke.<br />

„Gibt es hier wirklich keine wilden Tiere und keine Schlangen?<br />

Bist du dir da ganz sicher?“, wollte Regine nochmals bestätigt<br />

haben, als sie sich niederlegte und einkuschelte.<br />

In der Dunkelheit sah der Barranco wie ein schwarzes Loch<br />

<strong>aus</strong>, das alles verschlingen könnte, wie ein grässliches großes<br />

Tier, das nur aufs Fressen <strong>aus</strong> ist. Die Felsbrocken, die um uns<br />

herumstanden, bekamen Gesichter, sahen wie versteinerte<br />

Menschen <strong>aus</strong>, die jederzeit zum Leben erwachen konnten. Ein<br />

unheimliches Gefühl rann mir das Rückgrat hinunter. Was<br />

Einbildung bewirken kann!<br />

Kaum hatte ich mich auch hingelegt, schmerzte schon der<br />

Rücken. Der darunterliegende Sand schmiegte sich nicht an,<br />

wie ich mir das vorgestellt hatte, und ein Stein drückte. Doch<br />

ein Blick in den Himmel ließ uns beide gleich das harte Lager<br />

vergessen. Ein mächtiges Sternenmeer breitete sich über uns<br />

<strong>aus</strong>. Wolken von Sternen überall am Himmel. Manche auffallenden<br />

Sterne funkelten, veränderten ihr Licht. Das waren Pla-<br />

36


Beteigeuze<br />

Rigel<br />

Sternbild des Orion<br />

neten. Alle anderen, strahlten ihr Licht ohne zu flimmern <strong>aus</strong>,<br />

manche leuchteten heller als andere und manche sogar mit<br />

einem rötlichen Schimmer. Das waren alles Fixsterne, so wie<br />

unsere Sonne auch einer ist. Wenn man das Auge auf eine Stelle<br />

fokussierte, erschienen plötzlich noch mehr Sterne an diesem<br />

Ort, die man zuvor nicht gesehen hatte. Ein Weltall, das<br />

nirgends aufhört und wo anfängt? Als ich als Junge mir die<br />

Sterne von einem gebildeten Graf, ich glaube er hieß Graf Lüttichau,<br />

in der Internierung erklären ließ und wir dabei in den<br />

Himmel schauten, durch die ein weißer Wolkenstreifen zog,<br />

nämlich die Milchstraße, wie er mir sagte, wurde es mir schwer<br />

ums Herz. Ich konnte und wollte die Unendlichkeit nicht begreifen.<br />

Begreifen kann man sie auch nicht, aber ich wollte sie<br />

37


auch nicht als gegeben akzeptieren. Mein Kopf sträubte sich<br />

dagegen. Ich glaubte, verrückt werden zu müssen. Älter geworden,<br />

weiß ich, dass wir der Unendlichkeit, im weiteren Sinne<br />

den unerklärlichen Wundern, zu denen auch unsere eigenes<br />

Leben gehört, überall begegnen und damit zurechtkommen<br />

müssen.<br />

Alle diese Sterne über uns, die wir sehen konnten, gehören<br />

zum Milchstraßensystem, eingeschlossen unser eigenes Sonnensystem.<br />

Nur ein Stern am Himmel, der nicht dazugehört,<br />

ist mit bloßem Auge sichtbar. Der Andromeda-Nebel. Das ist<br />

aber kein Stern, sondern ein Spiralnebel oder auch Galaxie<br />

genannt mit Milliarden von Sternen, so wie unser Milchstraßensystem<br />

auch, von ähnlicher Größe. Und von diesen Spiralnebeln<br />

soll es im Weltall Milliarden geben? Angesichts dieser<br />

Sternenpracht flüstere ich Regine zu:<br />

„Kommst du dir auch so klein und unbedeutend vor? Wir<br />

sind nicht einmal ein Sandkorn in unserer Welt. Und doch fühlen<br />

wir uns so einzigartig, manchmal auch bedeutend, aber<br />

auf alle Fälle nicht nachahmbar. Und einzigartig ist auch unsere<br />

Liebe. Sie ist etwas ganz Besonderes und so wenig zu beschreiben<br />

wie die Unendlichkeit.“ Bei diesen Worten spürte<br />

ich, wie sie meine Hand drückte.<br />

„Siehst du den Orion dort drüben“, fragte sie. „So klar habe<br />

ich dieses Sternbild noch nie gesehen. Hier ist die Luft so rein,<br />

weil sie von den aufgepeitschten Wellen des Atlantiks gefiltert<br />

worden ist. So rein wie auf Palma, wo die größte und leistungsfähigste<br />

Sternwarte der Welt wegen der besonderen klimatischen<br />

Bedingungen, wie reine Atmosphäre, kein einfallendes<br />

störendes Licht und wolkenfreie Nächte, errichtet worden<br />

ist.“<br />

Ich wusste, dass das Sternbild des Orion aufgrund seiner<br />

Vielzahl heller Sterne und ihrer einprägsamen Anordnung das<br />

38


auffallendste Sternbild des Himmels ist. Er gilt als das schönste<br />

von der Erde <strong>aus</strong> sichtbare Sternbild und beeindruckte die<br />

Menschen schon seit jeher. Laut der griechischen Mythologie<br />

starb der göttliche Orion, als er von einem Skorpion gestochen<br />

worden war. Er wurde so an den Himmel gesetzt, dass er im<br />

Westen untergeht, wenn sein Mörder, das Skorpion-Sternbild,<br />

im Osten aufgeht. Es folgen ihm seine beiden Hunde, das Sternbild<br />

des Großen und des Kleinen Hunds, und kämpfen muss er<br />

gegen den Stier, auch ein benachbartes Sternbild. Eine andere<br />

Variante sagt, dass Artemis, die Göttin der Jagd, Orion mit einem<br />

Pfeil in den Kopf getötet haben soll. Ihr Pfeil, der nicht für<br />

Orion gedacht war, war durch den Gott der Künste Apoll, ihrem<br />

Zwillingsbruder, aber auf Orion gelenkt worden. Sie war<br />

erschrocken, und in ihrer Trauer brachte sie Orions Leichnam<br />

in ihrem silbermondfarbenen Streitwagen hoch in den Himmel<br />

und setzte ihn am dunkelsten Platz ab, so dass seine Sterne<br />

in ihrer Helligkeit alle anderen Sterne in der Nähe überstrahlten.<br />

Einer der acht Sterne des Bilds heißt Rigel am Eckpunkt<br />

des Sechsecks. Er steht an siebter Stelle in seiner Helligkeit<br />

am Nachthimmel. Die drei Sterne in der Mitte des Bilds,<br />

als Hauptmerkmal des Orion den Gürtel bildend, werden auch<br />

die drei Könige genannt.<br />

Der Beteigeuze an einem weiteren Eck des Sternbilds ist<br />

ein roter Riesenstern. Er hat, wie ich gelesen habe, den 600-<br />

fachen Durchmesser unserer Sonne.<br />

Der Beteigeuze wird als Supernova enden. Manche Astronomen<br />

erwarten, dass dies innerhalb der nächsten 1 000 Jahre<br />

geschieht. Es ist am Nachthimmel einer der interessantesten<br />

Sterne überhaupt.<br />

In diesem Fall wäre die Supernova auf der Erde unübersehbar<br />

und strahlte über das gesamte Firmament. „Dieses Ereignis<br />

werden wir wohl nicht mehr erleben“, dachte ich. Bei die-<br />

39


ser Überlegung wurde mir wieder einmal klar, dass das Weltall<br />

lebt, sich laufend verändert und nicht unbeweglich oder gar<br />

starr ist.<br />

Das Meer r<strong>aus</strong>chte. Gleichmäßig überschlugen sich die Wellen<br />

und rollten über die Felsen auf den Strand. Wir konnten<br />

nichts erkennen. Das Meer war nur eine riesige schwarze Masse.<br />

Wir wurden müde, das gleichmäßige beruhigende R<strong>aus</strong>chen<br />

half, und der Schlaf übermannte uns. Doch ich schlief unruhig.<br />

Die Decke des Schlafsacks war dünn. Es war kalt und mir<br />

fehlte ein Kopfkissen. Ich dachte immer noch an die verblutete<br />

Ziege. Ich setzte mich auf. Ich meinte, ein leises Geräusch<br />

gehört zu haben. Wie ein tiefes Schnauben. Plötzlich war ich<br />

hellwach. Ich legte mich wieder hin, als ich nichts mehr trotz<br />

angestrengten L<strong>aus</strong>chens hörte. Sicher hatte ich mich getäuscht.<br />

Meine Nerven lagen aber blank. Ich konnte mich unmöglich<br />

getäuscht haben, oder war alles nur Einbildung nach<br />

dem anstrengenden Tag? Ich schloss die Augen.<br />

Adrenalin schoss durch meinen Körper, als ich über meinem<br />

Kopf ein Ungeheuer sah. Es fletschte die scharfen weißen Zähne<br />

und knurrte gefährlich. Das war kein Traum! Der Rachen<br />

des Ungeheuers war tief und rot. Die grünen, unbarmherzig<br />

erscheinenden Augen waren unberechenbar. Ich fuhr hoch und<br />

schrie. Regine ebenfalls. Stocksteif vor Angst war sie geworden.<br />

Beide waren wir unfähig auch nur einen vernünftigen Satz<br />

her<strong>aus</strong>zubringen. Nicht einmal einen Schrei. Das Ungeheuer<br />

wich knurrend zurück und verschwand hinter einem kahlen<br />

Felsen und lauerte dahinter. Erst jetzt begann, mein Gehirn<br />

wieder richtig zu arbeiten. Das war ein Kampfhund! Einer von<br />

der Sorte, dessen Gesicht wie das eines Schweins <strong>aus</strong>sieht und<br />

dessen Fell mit kurzen Haaren ein schmutziges Hellgrau ist.<br />

Ich glaube, man nennt sie Bullterrier. Sie können ihr Unterkiefer<br />

<strong>aus</strong>haken, so dass die beiden Kiefer mit den scharfen Zäh-<br />

40


nen wie zwei Schraubstockbacken parallel zueinander zuklappen<br />

können. Eine Maulstarre verhindert dann, dass sie wieder<br />

loslassen können.<br />

Das Adrenalin wirkte immer noch in meinem Körper. Eine<br />

Eisenstange sollte ich jetzt zur Verteidigung haben. Stattdessen<br />

nahm ich einen kantigen Stein in meine Hand, Regine folgte<br />

meinem Beispiel und in der anderen hielt ich ein geöffnetes<br />

Schweizer Taschenmesser. Jeder Hundezüchter würde über<br />

meine Maßnahmen lachen. Einen <strong>aus</strong>gebildeten Kampfhund<br />

könnte man so nicht beeindrucken. Jetzt war mir auch klar,<br />

wer die Ziege so zugerichtet hatte. Aber wie kam der Hund in<br />

diese Gegend? Hatte er, von einer Pension oder einem Hotel<br />

an der Ostküste der Insel herkommend, die Ziege gejagt,<br />

schließlich gestellt und mit einem Biss so verwundet, dass die<br />

Ziege in der Hütte Zuflucht suchte und dort ihren Verletzungen<br />

erlag? War er heute auf dem Weg zu seiner Beute in der<br />

Steinhütte? Hatte er uns mit seiner feinen Nase aufgespürt,<br />

unseren Schweiß, unseren Urin gerochen? Sicher gehörte er<br />

einem der Pensionsbesitzer, die Spaß an solchen Hunden haben.<br />

Oder gar einem Gast? Es war im Prinzip belanglos, wie<br />

der Hund hierher gekommen war und wie die Besitzverhältnisse<br />

waren. Wir saßen gewissermaßen in der Falle. Aber vorsichtig<br />

aufzustehen und wegzulaufen in der finsteren Nacht<br />

durch den schwarzen Barranco zurück, wäre lebensgefährlich<br />

gewesen, wenn auch nicht so Angst einflößend, wie von einem<br />

unberechenbaren Tier zerrissen zu werden. Wir warteten<br />

sitzend den Morgen ab. Schon seit einer Stunde hatten wir<br />

den Kopf des Hunds hinter dem Felsen nicht mehr entdecken<br />

können. War er wirklich verschwunden?<br />

Hinter den Bergen wurde es heller. Der Grat des Pico de la<br />

Zarza reflektierte schon das erste Sonnenlicht. Mit zunehmender<br />

Helligkeit verschwand unsere Angst und wir freuten uns<br />

41


auf den Rest unserer Brote und auf das letzte Wasser in den<br />

Flaschen. Und dann noch einen Schluck <strong>aus</strong> der kleinen Whiskeyflasche!<br />

Über das bestandene Abenteuer breitete sich sogar eine Art<br />

Hochgefühl in uns <strong>aus</strong>. Wir hatten unser Vorhaben, trotz widriger<br />

Umstände, durchgeführt. Mit festen Schritten überwanden<br />

wir das nächste Geröllfeld und erreichten den Wüstenabschnitt<br />

mit viel Sand, Dünen, Dornbüschen, versteinerten Ästen,<br />

die den früheren Baumbestand in dieser Gegend belegten.<br />

Auf der gegenüberliegenden Seite konnten wir schon die Umrisse<br />

des Hotels Los Gorriones – was übersetzt die Spatzen heißt<br />

– erkennen. Wir passierten die vielen Windräder und gelangten<br />

schließlich zur Hauptstraße nach Morro.<br />

Wir beide wollten so schnell wie möglich in den Club zurück.<br />

Ein heißes Bad, ein kühles Bier und faul am Swimmingpool<br />

liegen! Ein PKW stoppte, nahm uns mit. Das junge sächsische<br />

Paar wollte uns nicht glauben, dass wir von Morro über<br />

die Westküste bis hierher gewandert waren. Das seien fast 50<br />

km, meinte der Sachse.<br />

Viele glauben uns bis heute die Geschichte nicht und meinen:<br />

„Habt ihr nicht ein bisschen übertrieben?“<br />

Aber so war es geschehen und so wurde es aufgezeichnet.<br />

42


Der Einsiedler Heinz Ruhau<br />

eine wahre Geschichte <strong>aus</strong> den Jahren 1986 bis 1989<br />

Ich möchte dieser Geschichte vor<strong>aus</strong>schicken, dass ich zu<br />

einem <strong>Fuerteventura</strong> Fan geworden bin. Jetzt im Juni 2021 steht<br />

wieder einmal ein <strong>Fuerteventura</strong> Urlaub bevor. Wenn ich richtig<br />

gerechnet habe, ist dies das 62igste Mal, dass ich dort hinfliege.<br />

Im Januar 1984 war es das erste Mal gewesen. Im Aldiana<br />

Club.<br />

Ich hätte damals nicht einmal im Traum daran gedacht, dass<br />

ich so viel Spaß und auch Erholung an einem solchen Cluburlaub<br />

finden würde. Auch im Jandia Robinson Club und dem<br />

im Jahre 1990 eröffneten Esquinzo Robinson Club.<br />

Die erzählte Geschichte fand in den Jahren 1986 bis 1989<br />

statt. Damals lebte der ehemalige Unternehmer, dann Tennistrainer<br />

im Robinson Club und schließlich Aussteiger Heinz<br />

Ruhau, ich glaube, ein gebürtiger Berliner, in einem stillgelegten<br />

kleineren Kalkofen an dem verlassenen Strand von Butihondo,<br />

wo sich jetzt über den Felsen der Esquinzo Club und<br />

das Jandia Princess Hotel erheben, um nur die größeren der<br />

dort jetzt angesiedelten Hotels zu nennen. Der damals menschenleere<br />

Strand ist jetzt mit Urlaubern und Sonnenhungrigen<br />

belebt, fast könnte man sagen, überfüllt. Damals war er<br />

menschenleer, nur wenige Strandgänger und auch Jogger waren<br />

unterwegs und fast schon ungesund wirkende braun gebrannte<br />

Rentner, die in aufgeschichteten Steinburgen nackt den<br />

Tag verbrachten und nicht genug von der starken Sonne bekommen<br />

konnten.<br />

Das waren die letzten Jahre unseres Einsiedlers, der dann,<br />

nachdem die spanischen Behörden kurz vor dem Baubeginn<br />

des Esquinzo Robinson Clubs in einer Nacht- und Nebelaktion<br />

mit Bulldozern seine Unterkunft dem Erdboden gleichge-<br />

43


macht, seinen Wohnwagen abgeschleppt und sein mühsam<br />

zusammengeflicktes altes Segelboot zertrümmert hatten, zurück<br />

nach Deutschland zog. Das Gerümpel hatten sie auf einen<br />

Lastwagen verladen und abtransportiert, so dass am Morgen<br />

der Strand aufgeräumt <strong>aus</strong>sah und nichts mehr an die<br />

Wohnstätte des Einsiedlers erinnerte, mit Ausnahme der herumliegenden<br />

behauenen Steine des ehemaligen Kalkofens.<br />

Nachdem ihn die Behörden zuvor immer wieder aufgefordert<br />

hatten, sein Domizil aufzugeben, hatte sich der Einsiedler<br />

in einem letzten Aufbäumen mit dem primitiven Segelboot<br />

auf die Kapverdischen Inseln absetzen wollen, und zwar auf<br />

die unbewohnte Insel Boa Vista, die in der Zwischenzeit auch<br />

schon vom Tourismus entdeckt worden ist, um dort in der Einsamkeit<br />

sein Einsiedlerleben ungestört weiterführen zu können.<br />

Dass <strong>aus</strong> dieser fixen Idee nichts werden würde, kann man<br />

leicht einsehen. Mit einem seeuntüchtigen kleinen Segelboot<br />

über eint<strong>aus</strong>end Kilometer nach Südwesten segeln! Und er<br />

schon über siebzig Jahre alt. Und die 20-jährige Sonja, seit über<br />

zwei Jahren seine Lebenspartnerin, wollte er auch noch mitnehmen.<br />

Selbst der gleichmäßig blasende Nordostpassat würde<br />

ihm dabei nicht helfen können. Der Atlantik ist und bleibt<br />

ein stürmisches und heimtückisches Meer. Niemals darf man<br />

diesen Ozean unterschätzen, sonst würde man ein solches<br />

Abenteuer mit dem Leben bezahlen müssen. Nur mit der besten<br />

Ausrüstung und Segelerfahrung hätte man eine Chance,<br />

diese Inseln zu erreichen. Beides fehlte ihm.<br />

Nachdem der Einsiedler diese Insel Boa Vista erwähnt hatte,<br />

von deren Existenz ich nicht die geringste Ahnung hatte,<br />

beschloss ich einige Monate später, als ich wieder zuh<strong>aus</strong>e war,<br />

sie selbst zu besuchen. Sal, die größte der Kapverdischen Inseln,<br />

wurde direkt von Frankfurt angeflogen. Wie aber kam<br />

man weiter von dort auf die Insel Boa Vista? Erreicht habe ich<br />

44


sie schließlich auf einem Frachter, der von einem Holländer<br />

und seiner Tochter gefahren wurde. Er hatte den etwa sechzig<br />

Meter langen, total verrosteten Stahlkoloss allein mit seiner<br />

18-jährigen Tochter über den Atlantik in eine Bucht vor Sal<br />

geschippert und das Schiff lag jetzt dort vor Anker. Er hatte<br />

den <strong>aus</strong>rangierten Frachter für nur wenige T<strong>aus</strong>end Dollar in<br />

Amsterdam zum Schrottpreis gekauft.<br />

Nach Boa Vista fuhr er, wenn sich mindestens zehn zahlende<br />

Passagiere eingefunden hatten und der Atlantik ruhig war,<br />

denn das nicht ganz ungefährliche Ein- und Ausschiffen geschah<br />

mit einem Gummiboot. Die Überfahrt dauerte fünf Stunden.<br />

Diese Insel, die von den Kapverdischen Inseln Afrika am<br />

nächsten liegt, kann den Sandstürmen <strong>aus</strong> der Sahara kommend<br />

nicht standhalten. Wanderdünen im Inselinnern zeugen<br />

von der Urgewalt der Natur. Sie sind höher und mächtiger<br />

als die größten von <strong>Fuerteventura</strong>. Das Landschaftsbild<br />

wird geprägt von kilometerlangen, einsamen Sandstränden,<br />

von Sicheldünen, die sich in Windrichtung immer wieder verlagern,<br />

bizarren Inselbergen und dem türkisfarbenen Meer.<br />

Hier wächst wenig, außer in einigen angelegten Bewässerungsoasen.<br />

Menschenleer ist diese Insel; damals gab es nicht einmal<br />

ein Hotel. Sie ist ein Paradies, das für die Bewohner wahrscheinlich<br />

nie eines war. Zu karg das Land, zu schwer das Überleben<br />

in einer so unwirtlichen Welt. Viele haben bereits aufgegeben<br />

und die Insel verlassen. Wer geblieben ist, ernährt sich von der<br />

spärlichen Landwirtschaft, der Viehzucht und der Fischerei.<br />

Thunfisch und Langusten gibt es in großer Zahl, doch „reich<br />

ist das Meer und arm das Land.“ Nicht einmal der eigene Bedarf<br />

kann gedeckt werden. Doch jetzt hat sie der Tourismus<br />

entdeckt und es wird sich alles sehr schnell ändern.<br />

Boa Vista ist eine der trockensten Inseln unserer Erde und<br />

45


Reste des damaligen Kalkofens. Das Bild wurde im Jahr 2006<br />

aufgenommen<br />

gleichzeitig eine der am dünnsten besiedelten und sonnenreichsten.<br />

Weit über 300 Sonnentage zählt man im Jahr!<br />

Bei einem späteren Urlaub im Club habe ich von einem Spanier<br />

erfahren, dass Heinz Ruhau nach der Zerstörung seiner<br />

Kalkofenhöhle mit seiner Begleiterin nach Berlin zurückgekehrt<br />

sei. Sie habe dort ihre Alkoholabhängigkeit überwunden. Woher<br />

der Spanier dies wusste, verriet er nicht. Heinz Ruhau aber,<br />

noch mit 70 in Fuerte kerngesund, habe in Berlin an Depressionen<br />

gelitten, sei krank geworden und einige Monate später<br />

gestorben.<br />

Die Umstellung seines bisherigen Lebens, das er jahrelang<br />

ohne Bekleidung in der freien Natur gewöhnt war, ohne wolkenverhangenen<br />

Himmel, ohne Nebel, ohne Kälte, dafür Helligkeit<br />

überall und eine Stille, die nur vom leichten R<strong>aus</strong>chen<br />

des Meers durchdrungen war, auf das Leben in einer Groß-<br />

46


stadt schaffte er nicht. Berlin erdrückte ihn. Ich konnte mir<br />

vorstellen, dass er <strong>aus</strong> Heimweh nach seiner Insel gestorben<br />

war, dass er das Leben in der Stadt, eingezwängt in Hosen,<br />

Hemden, Strümpfen, Schuhen, Straßen und Zimmern, nicht<br />

ertragen hat und auch nicht ertragen wollte. So wird es einem<br />

Tier ergehen, das von der Wildnis, seinem natürlichen Lebensraum,<br />

in einen Zoo gesteckt wird. Manche fressen in der Gefangenschaft<br />

nicht, bis sie sterben. Sie ziehen das Sterben einem<br />

Leben in Gefangenschaft vor. Als der Spanier mir von<br />

seinem Tod berichtete, war ich sehr traurig und Tränen kullerten<br />

ungewollt meine Wangen herab.<br />

Ich hoffe, dass ich mit meiner nachfolgenden Erzählung der<br />

Wahrheit nahekomme. Gewisse Einzelheiten sind mir entfallen,<br />

manche Ereignisse habe ich damals vielleicht auch missverstanden<br />

oder falsch interpretiert. Das möge mir der Leser<br />

nachsehen, besonders diejenigen, die das Glück hatten, Heinz<br />

Ruhau in ihrem Urlaub auf der Halbinsel Jandia kennengelernt<br />

zu haben. Jedenfalls ist alles in guter Absicht und mit<br />

Respekt vor diesem ungewöhnlichen Menschen Heinz Ruhau<br />

geschrieben worden. Die anderen vorkommenden Namen in<br />

der Geschichte sind von mir erfunden worden. Auch konnte<br />

ich mich beim besten Willen an die richtigen nicht mehr erinnern.<br />

Heinz Ruhau und Tanja. Eine wahre Begebenheit<br />

Der Wind bläst vom Atlantik. Das R<strong>aus</strong>chen des Meeres begleitet<br />

ihn. Beim Überschlagen der Wellen wird das R<strong>aus</strong>chen<br />

von einem dumpfen Grollen überlagert, das man mehr fühlt<br />

als hört und das an das Herannahen eines Erdbebens erinnert.<br />

Erst schwächer, dann stärker und sekundenlang ganz <strong>aus</strong>setzend.<br />

Nicht, dass der Wind ihn störte. Er war ihn gewohnt. Wenn<br />

47


er nicht blasen würde, würde er ihn vermissen. Das war der<br />

Nordostpassat, der im Süden der Insel durch die Berge abgelenkt<br />

auch von Norden kommen kann. Ohne den Passatwind<br />

wäre die Insel nicht <strong>Fuerteventura</strong>, nicht die Insel der starken<br />

Winde.<br />

Auch an diesem hellen Sonntagmorgen strich die kühle Meeresluft<br />

über seinen braunen, von der Sonne und der Salzluft<br />

gegerbten Körper, streichelte ihn förmlich. Die Härchen an den<br />

Unterarmen reckten sich dem Wind entgegen, sträubten sich,<br />

schafften eine Gänsehaut. Er schüttelte sich. Ganz abgehärtet<br />

gegen Wind und Wetter war er also doch noch nicht, trotz der<br />

fünfzehn Jahre, die er schon als Einsiedler auf der Insel in diesem<br />

stillgelegten Kalkofen lebte, den er mit verrosteten Wellblechen<br />

abgedeckt hatte. An dem Tag, als er den runden Ofen<br />

bezog, hatte er seine Kleidung abgelegt. Nackt, wie ihn die<br />

Natur geschaffen hatte, wollte er leben. Alle seine bisherigen<br />

Probleme hatte er zurück in Berlin gelassen. Er brauchte hier<br />

nichts. Fisch und Wasser reichten ihm. Zunächst einmal. Wenn<br />

er aber nach Morro musste, um doch etwas zu besorgen, zog<br />

er seine zerschlissene Bluejeans an, ein Poloshirt, das er in den<br />

vielen Jahren nur wenige Male im Meerwasser gewaschen hatte<br />

und <strong>aus</strong>getretene Sandalen. Und dann schnitt er sich noch mit<br />

einer rostigen Schere seinen blonden Bart, der schon mehr <strong>aus</strong><br />

weißen als blonden Haaren bestand. Er war ja schließlich nicht<br />

mehr der Jüngste.<br />

Nackt, wie er war, spürte er heute Morgen den Wind an seinen<br />

Unterarmen und in seinem Gesicht, nicht aber an seinem<br />

Körper.<br />

Das war doch seltsam, weil er immer der Ansicht war, dass<br />

sein Körper an gewissen Stellen besonders empfindlich reagierte.<br />

Er lächelte in sich hinein. Bei seiner Lebensweise litt er of-<br />

48


fensichtlich schon an Überreizung. Und doch, von dieser Art<br />

von Überreizung konnte er nie genug bekommen, obwohl er<br />

bald die 70 erreichen würde. Das Alter sah man ihm nicht an.<br />

Er hatte den Körper eines 50-Jährigen und in seinem Reden<br />

die Weisheit eines 80-Jährigen. Wenn es darauf ankäme, würde<br />

er auf seinen Händen im Handstand zehn Meter auf dem<br />

Sandstrand weit laufen. Er freute sich jetzt auf den Besuch von<br />

Hannelore, die jeden Moment vom Strand um den Felsvorsprung<br />

herum erscheinen musste. Eine schwarzhaarige, wilde<br />

Bayerin. Vielleicht vierzig Jahre alt. Sie verbrachte wieder<br />

einmal ihren vierzehntägigen Urlaub auf der Insel. Jedes Jahr<br />

zur gleichen Zeit. Sie hatte sich zu einem Massagetermin bei<br />

ihm angemeldet. Zu einer Massage auf der rauen Betonplatte<br />

vor dem Kalkofen. Sie war mit Brettern vor den neugierigen<br />

Blicken der wenigen Strandläufer geschützt. Er hatte unten am<br />

Strand ein Holzbrett in den Sand gerammt, auf dem er seine<br />

Massage anpries. Doch die Mundpropaganda brachte ihm<br />

mehr Kunden ein, vor allem aber Kundinnen, die ihren Urlaub<br />

auf der Insel verbrachten, als dieser Hinweis auf dem Brett.<br />

Eine solche Ganzkörpermassage erreichte aber nicht selten<br />

ihren Höhepunkt auf den weichen weißen Schafsfellen am<br />

Boden des Kalkofens, wenn es sich so ergab. Ob diese Fortsetzung<br />

der Massage wohl auch in der Mundpropaganda enthalten<br />

war?<br />

Durch das R<strong>aus</strong>chen des Meeres meinte man ganz schwach<br />

die helle Glocke der Kirche von Morro zu hören, die die Gläubigen<br />

zur heiligen Messe rief, obwohl dies eigentlich bei dieser<br />

Entfernung nach Morro unmöglich war. Aber es war Sonntag,<br />

und die Menschen gingen zur Kirche, um Erbauung zu finden<br />

und um ihre Sünden zu bereuen. Sie läutete auch für Hannelore,<br />

denn sie war gerade dabei, ihren groben und dazu noch<br />

fettleibigen Mann in Düsseldorf zu hintergehen und sich ganz<br />

49


der Lust hinzugeben. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit. Einmal im<br />

Jahr musste sie wissen, musste sie fühlen, dass sie noch lebte.<br />

Weiter unten näher zum Strand hatte der Eremit, so nannten<br />

die Einheimischen den Einsiedler, einen <strong>aus</strong>rangierten<br />

Wohnwagen stehen, dessen Räder schon abmontiert waren.<br />

Vor Kurzem war eine junge Frau, mehr Mädchen als Frau, am<br />

Strand entlang gekommen, hatte ihn neugierig gemustert,<br />

wobei ihre Aufmerksamkeit weniger seiner Nacktheit galt als<br />

vielmehr dem Wohnwagen, der unbewohnt zu sein schien, und<br />

gefragt:<br />

„Vermieten Sie mir den Wohnwagen für drei Monate?“<br />

Heinz antwortete nicht gleich. Er ließ seinen Blick über ihre<br />

Figur gleiten, von unten nach oben, und als er oben angelangt<br />

war, bemerkte er einen Plastikschlauch, der oberhalb ihres<br />

Kehlkopfs her<strong>aus</strong>ragte. Das war es also, warum sich ihre Stimme<br />

so unnatürlich dünn, fast blechern anhörte. Sie atmete<br />

durch den Schlauch. Sie musste eine schwere Operation hinter<br />

sich haben. Sie blickte mit ihren wasserhellen Augen und<br />

ihrem im Wind wehenden blonden Haaren zu ihm auf und<br />

wiederholte sich: „Vermieten Sie ihn mir? Ich habe noch etwas<br />

Geld. Es ist nicht viel, aber vielleicht reicht es ja.“<br />

Er räusperte sich: „Was sagten Sie? Für drei Monate?“<br />

„Ja, danach muss ich zurück nach Hannover, wo ich ein<br />

zweites Mal operiert werden soll, wenn sich meine Krankheit<br />

gebessert hat. Die Ärzte geben mir zwar wenig Hoffnung, aber<br />

ich gebe mir eine Chance. Hier am Strand von <strong>Fuerteventura</strong><br />

will ich meinen kranken Körper Wind und Wetter <strong>aus</strong>setzen,<br />

so wie Sie nackt am Strand leben, in der Sonne liegen, Licht in<br />

mein Herz lassen, schwimmen gehen, soweit ich das mit dem<br />

offenen Atem<strong>aus</strong>gang schaffe, joggen am Meer, mit dem Walkman<br />

Musik hören, die Sterne nachts bewundern, einen Stern<br />

mir <strong>aus</strong>suchen, ihm einen Namen geben und den vom Wind<br />

50


hergewehten geflüsterten Liebesgeschichten l<strong>aus</strong>chen“, antwortete<br />

sie voller Zuversicht und auch Romantik, vielleicht<br />

ein Privileg ihrer Jugend, schwang in ihrer Stimme mit.<br />

Heinz holte tief Luft, gab sich einen Ruck und sagte: „Sie<br />

können den Wohnwagen haben. Ich will auch kein Geld von<br />

Ihnen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in den drei Monaten<br />

erholen könnten. So, wie Sie es sagen, ganz gesund werden<br />

würden.“ Über sein sonst so hartes Gesicht huschte ein<br />

väterliches Lächeln. Er wollte seinen eigenen Worten nicht<br />

glauben, als er sie gesprochen hatte. Den Wohnwagen kostenlos<br />

übergeben? War er verrückt geworden? Er hatte nicht hinzugefügt,<br />

dass damit der überwiegende Teil seines Einkommens<br />

wegfiel. Er müsste den Verlust mit zusätzlichen Massagen<br />

wettmachen.<br />

Sie fiel ihm fast um den Hals, als er ihr das sagte und warf<br />

ihr Bündel, den sie bei sich trug, in den Wohnwagen. Innen<br />

war der Wohnwagen spärlich eingerichtet. Eine Kochnische<br />

war da, die Butangasflasche, vom vorhergegangenen Mieter<br />

noch nicht ganz aufgebraucht, über das einfache Bett war eine<br />

Kamelhaardecke gebreitet und ein Tischchen mit zwei Klappstühlen<br />

war gegenüber der Eingangstür aufgestellt. Kerzen<br />

standen darauf. Auf dem Dach des Wohnwagens war ein kleines<br />

Solarpaneel montiert, das eine Batterie speiste, so dass die<br />

15-Watt Glühbirne über dem Tischchen funktionierte. Am Boden<br />

aufgereiht waren Taschenbücher, die von Vormietern hier<br />

gelassen worden waren. Die Abende werden lang, denn die<br />

Sonne in Fuerte geht früh unter, dachte sie, als sie die Kerzen<br />

sah und die Glühbirne wahrnahm. Sie würde sich daran gewöhnen<br />

müssen, früher als in Deutschland gewohnt ins Bett<br />

zu gehen. Alle diese Bücher lesen! Sie jauchzte vor Freude, zog<br />

ihre engen Jeans <strong>aus</strong>, ihre Bluse, trat, so wie sie Gott geschaffen<br />

hatte, hin<strong>aus</strong> ins Freie und lief zum Strand. Alle Kleidungs-<br />

51


stücke konnte sie vorläufig vergessen. Vorsichtig watete sie in<br />

das flach abfallende, kalte Atlantikwasser und mit kräftigen<br />

Armen schwamm sie aufs Meer hin<strong>aus</strong>. Der her<strong>aus</strong>ragende<br />

Plastikschlauch störte weniger als sie zunächst befürchtet hatte.<br />

Das Meer musste aber ruhig sein. Höhere Wellen könnten<br />

Probleme bereiten. Gen<strong>aus</strong>o hatte sie es sich vorgestellt. Kaltes<br />

Wasser um ihren Körper, blauer Himmel über ihr. Jede Faser<br />

ihres Körpers wollte sie spüren. Der Körper, der an Krebs<br />

erkrankt war, sollte reagieren, sollte wissen, dass sie da war<br />

und ihn brauchte. Sie würde den Krebs besiegen, in der Freiheit,<br />

die ihr diese Insel bescheren würde. Nur noch nach vorne<br />

würde sie schauen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich<br />

lassen, sie vergessen und sie durch das Licht der Insel verschwinden<br />

lassen. In einem Jahr würde sie wieder ganz gesund<br />

sein, die her<strong>aus</strong>ragende Tracheal-Kanüle <strong>aus</strong> ihrem Hals<br />

verschwunden sein. Sie würde wieder durch ihre eigene Nase<br />

atmen können. Sie hatte einen Plan ganz tief in ihrem Innern,<br />

über den sie jedoch jetzt noch nicht reden wollte. Und dieser<br />

Plan würde sicher funktionieren. Der Glaube an sich selbst<br />

kann heilen!<br />

Heinz beobachtete sie von seinem Hochsitz <strong>aus</strong>, der eigentlich<br />

nur ein erhöhter Felsvorsprung vor seiner Hütte war. Wie<br />

graziös sie sich bewegte! Bestimmt hatte sie Ballettunterricht<br />

gehabt. Obwohl sie gut gewachsen war, alles an den richtigen<br />

Stellen hatte, wie ein Mann wie er es sich mit seinem geübten<br />

Auge wünschte, übte sie eigenartigerweise keine sexuelle Anziehung<br />

auf ihn <strong>aus</strong>. Vielleicht hing das mit der Kanüle zusammen,<br />

die <strong>aus</strong> ihrem Hals ragte, oder der Art, wie sie ihn<br />

betrachtet und mit ihm gesprochen hatte. Vatergefühle hatte<br />

er eigentlich noch nie gekannt. Doch bei diesem Mädchen dachte<br />

er darüber nach, dass so seine Tochter hätte <strong>aus</strong>sehen können,<br />

wenn er jemals eine gehabt hätte. Wie hieß das Mädchen<br />

52


noch? Hatte sie nicht gesagt, dass sie Tanja hieße? Gerade in<br />

diesem Moment, als er noch diesen Gedanken nachhing, erschien<br />

Hannelore am Strand. Sie hatte ihn entdeckt und winkte<br />

aufgeregt. Sie kam herauf zum Hochsitz, umarmte ihn zur<br />

Begrüßung und beide verschwanden hinter dem Sichtschutz<br />

vor der Betonplatte.<br />

Heinz Ruhau und Monika. Teilweise wahr mit Erfundenem<br />

In der Nussdorfer Straße in einem der alten, freistehenden<br />

Häuser, die mit dem Giebel der Seeseite zugewandt sind und<br />

die den B<strong>aus</strong>til der 30er Jahre verkörpern, lebte in einer kleinen<br />

Mansardenwohnung die 21-jährige Monika. Sie arbeitete<br />

in einem Kindergarten in Überlingen als Erzieherin. Sie war<br />

von ihren Eltern in Hannover weggezogen, wollte endlich<br />

einmal allein auf eigenen Füßen stehen und ihren Neigungen<br />

nachgehen, ohne die ewig nörgelnden Kommentare ihrer Mutter<br />

sich anhören zu müssen. Wenn sie am Wochenende auf<br />

den Stufen des Landungsstegs unterhalb des Lenkbrunnens,<br />

der Martin Walser mit Schlittschuhen auf einem Pferd zeigt,<br />

einen jungen, gut gewachsenen Burschen entdeckte, prostete<br />

sie ihm mit ihrem Alkopop kurzerhand zu und der Kontakt<br />

war hergestellt. „Geile Nacht. Hast du mal ’ne Zigarette für<br />

mich? Mit etwas Grass?“ Der Bursche schüttelte den Kopf.<br />

„Aber ich kann dir eine besorgen“, und er beugte sich hinüber<br />

zu seinem älteren Freund, der etwas widerwillig eine her<strong>aus</strong>rückte.<br />

Monika war eine Schönheit, die auffiel. Ihre langen<br />

braunen Haare wallten über ihre Schultern herab. Sie hatte sie<br />

schon seit drei Jahren nicht schneiden lassen. Sie hätte in der<br />

Werbung von L’Oréal auftreten können. Ihre dunkelblauen,<br />

fast grauen Augen standen weit <strong>aus</strong>einander. Auch ihr sinnlicher<br />

Mund war breit. Ihr Gesicht wirkte ein bisschen wie eines,<br />

das im falschen Format auf einem der neuen Fernseher in<br />

53


der Breite verzerrt worden ist. Doch dies traf nur auf ihr Gesicht<br />

zu, keinesfalls auf ihre Figur, die kein Gramm Fett erkennen<br />

ließ. Ihre weiblichen Formen waren überwältigend. Der<br />

männliche Blick blieb einfach an ihren vollen Rundungen hängen.<br />

Sie war sich dieser Wirkung auf das männliche Geschlecht<br />

wohl bewusst. Wenn sie einen Mann wollte, musste sie sich<br />

ihn nur <strong>aus</strong>suchen, ihren Augenaufschlag üben und sie konnte<br />

ihn haben. Von dieser Möglichkeit machte sie regen Gebrauch.<br />

Sie hatte keinen festen Freund, wollte auch keinen.<br />

Jetzt noch nicht. Sie war noch zu jung für eine feste Bindung.<br />

Zuerst wollte sie das gewonnene freie Leben genießen. Den jungen<br />

Mann, den sie um eine Zigarette gebeten hatte, hatte sie<br />

bereits im Visier. Das Flackern in seinen Augen verriet ihr, dass<br />

er ihr bereits ins Netz gegangen war und die Nacht mit ihr<br />

verbringen würde.<br />

Trotz ihrer Abenteuer, besonders an den Wochenenden, war<br />

sie mit ihrem Leben nicht ganz zufrieden. Irgendetwas sollte<br />

noch passieren. Irgendetwas Neues, das nichts mit Überlingen<br />

zu tun hatte, mit den Kindern im Kindergarten, mit deren<br />

Eltern, mit den oft gleichen Gesichtern am Landungsplatz oder<br />

im Galgenhölzle, wo man sich sonst zu einem Alt traf, wenn<br />

es regnete oder wenn am Landungsplatz nichts los war, weil<br />

ein kalter Wind von Bodman über den See herüberfegte. Sie<br />

hatte einen Brief von ihrer Schwester Tanja erhalten, der sie<br />

beschäftigte. Ihre Schwester war offenbar in einem alten Wohnwagen<br />

ohne jeglichen Komfort an einem weiten Sandstrand<br />

gelandet. Das war ein Abenteuer so richtig nach ihrem Geschmack.<br />

„Liebe Monika, ich fühle mich hier wohl“, so hatte<br />

der Brief begonnen. „Mein Nachbar, Heinz mit Vornamen, ist<br />

ein Aussteiger, lebt schon viele Jahre in einem verlassenen<br />

Kalkofen nicht weit von meinem Wohnwagen entfernt und<br />

versorgt mich mit den notwendigsten Lebensmitteln. Er hat<br />

54


mir den Wohnwagen kostenlos überlassen. Ich glaube, dass ich<br />

hier in <strong>Fuerteventura</strong> gesund werden kann.“<br />

Ein Gedanke hatte sich ihrer bemächtigt, der sie überall hin<br />

verfolgte und nicht mehr loslassen wollte. Ich könnte einen<br />

Flug buchen und meine Schwester besuchen! Niemand werde<br />

ich etwas sagen, ich werde einfach verschwinden. Im Kindergarten<br />

sind gerade die großen Ferien. Da würde sie niemand<br />

vermissen. Ihren Eltern würde sie ganz sicher nichts von ihrem<br />

Vorhaben erzählen. Die waren weit weg in Hannover.<br />

Gedacht, getan. Monika riss die Wohnwagentür auf. Tanja,<br />

die gerade ein Buch las, sprang auf, erkannte ihre Schwester<br />

und schon lagen sich die beiden in den Armen. „Wie hast du<br />

mich so schnell gefunden?“, fragte Tanja. „Die Leute am Flughafen<br />

wissen doch sicher nicht, wo die Esquinzo-Beach ist.“<br />

„Ein Taxifahrer <strong>aus</strong> Morro hat mich hergebracht“, antwortete<br />

Monika. „Als ich von dem Eremiten erzählte, wusste er sofort,<br />

wohin ich wollte. Jetzt bin ich hier und leiste dir Gesellschaft.“<br />

Tanja zog die Augenbrauen unmerklich hoch. Sie wollte eigentlich<br />

hier allein sein, sich ganz ihrem Plan der Heilung hingeben.<br />

„Du hast mich neugierig gemacht“, fuhr Monika fort. „Wo<br />

ist denn der Eremit, von dem du geschrieben hast?“ Tanja öffnete<br />

die Tür und zeigte nach oben. „Dort sitzt er auf seinem<br />

Felsen und denkt über sich und die Welt nach.“ Monika begutachtete<br />

den Mann. Wie ein Objekt, das es zu kaufen gibt. „Er<br />

sieht gar nicht so übel <strong>aus</strong>“, sagte sie, „obwohl er schon älter<br />

ist.“ Kurz entschlossen ging sie zu ihm hinauf und streckte ihm<br />

die Hand entgegen. „Ich bin Monika, die Schwester von Tanja.“<br />

Die Aufmerksamkeit von Heinz war geweckt. Er verschlang<br />

das Mädchen förmlich mit seinen Augen, was Monika<br />

natürlich nicht entging. Zwischen den beiden geschah etwas.<br />

Ein Funke sprang über. Wie man es auch immer beschreiben<br />

will, die Chemie stimmte. Sie zog mit ihren wenigen Hab-<br />

55


seligkeiten zu Heinz in seinen Kalkofen ein. Sie entledigte sich<br />

ihrer Jeans und ihrer Bluse. Sie brauchte hier keine Kleidungsstücke.<br />

Hier konnte sie sich bewegen, wie sie wollte. Hier gab<br />

es keine Konventionen. Und ihrer Figur musste sie sich bei Gott<br />

nicht schämen.<br />

Heinz holte eine Flasche von seinem schweren, spanischen<br />

Rotwein <strong>aus</strong> einer Felsnische hervor, öffnete sie und reichte<br />

sie dem Mädchen. Die beiden leerten die Flasche und bald hörte<br />

Tanja fröhliche Stimmen, die im Kalkofen widerhallten und<br />

leise bis zu dem Wohnwagen drangen. Tanja konnte ihre<br />

Schwester nicht verstehen, dass sie sich <strong>aus</strong>gerechnet diesen<br />

alten Mann <strong>aus</strong>gesucht hatte und sich ihm nach weniger als<br />

einer Stunde schon hingab. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.<br />

Aber das war Monikas Leben und nicht ihres. Von Heinz war<br />

sie enttäuscht. Sie hatte geglaubt, dass er wenigstens<br />

ihretwegen vor ihrer Schwester etwas mehr Zurückhaltung<br />

üben würde.<br />

Monika war jetzt schon zwei Wochen bei Heinz, verbrachte<br />

den Tag mit Schwimmen und Joggen wie auch Tanja. Es wurde<br />

ihr schon etwas langweilig. Das Abenteuerliche an ihrem<br />

Ausflug auf diese Insel war schon von Routine abgelöst worden.<br />

Heinz fühlte sich aber wohl in seiner Rolle und beschloss<br />

eines Abends, sich ein Bier an der Bar des etwa sechs Kilometer<br />

entfernten Strand- und Surferhotels Los Gorriones zu genehmigen.<br />

Er zog sein bestes Kleidungsstück an. Das war ein<br />

alter Fred-Perry-Trainingsanzug, wie man ihn in den 70er Jahren<br />

getragen hatte. Gewaschen worden war er wohl noch nie.<br />

Das letzte Mal, als er die Bar in einer knappen Badehose betrat,<br />

wurde ihm der Zugang verweigert.<br />

„Ziehen Sie sich etwas an, wenn Sie hier etwas trinken wollen“,<br />

verkündete ihm der Barkeeper. Manche andere Hotels<br />

56


Hotel Los Gorriones (übersetzt die Spatzen)<br />

verweigerten ihm sogar den Zutritt auf ihr Gelände unabhängig<br />

davon, wie er gekleidet war. Er hatte seinen Namen weg.<br />

Heinz zog los mit schnellen Schritten am Strand entlang,<br />

kam bei der alten Strandkneipe Toni vorbei, an den Wanderdünen,<br />

die den südlichen Punkt der Sotovento-Beach bildeten,<br />

bis sich dann der kilometerbreite Strand vor dem Hotel auftat.<br />

Das war das Zentrum der Surfer. Hier hatten die Weltmeisterschaften<br />

im Surfen schon einige Male stattgefunden. Der Wind<br />

blies unablässig mit Windstärken um die 7. Ideale Bedingungen<br />

für geübte Surfer. Er setzte sich an die Bar, wo bereits vier<br />

junge, gut<strong>aus</strong>sehende Männer ein Bier tranken und sich lautstark<br />

unterhielten. Wahrscheinlich waren es Surfer, denn sie<br />

waren braun gebrannt von der südlichen Sonne, ihre Gesichter<br />

von Wind und Wetter gezeichnet. „Woher kommst denn<br />

du“, sagte der mit dem gelben Poloshirt. „Hat man dich vor<br />

57


einem Jahrhundert am Strand <strong>aus</strong>gesetzt und vergessen?“<br />

Heinz bemerkte sehr wohl die Provokation in des Jungen Stimme<br />

und ging nicht darauf ein. Er trank sein Bier in hastigen<br />

Schlucken. Eigentlich mochte er den spanischen Rotwein lieber,<br />

doch ein kühles Bier war nicht zu verachten, zumal er ja<br />

in seinem Kalkofen keinen Kühlschrank besaß und, selbst wenn<br />

er einen gehabt hätte, ihn mangels eines elektrischen Anschlusses<br />

nicht hätte betreiben können.<br />

„Wo habt ihr denn eure Mädchen“, fragte Heinz, um das<br />

Gespräch auf das Thema zu lenken, bei dem er mitreden konnte<br />

oder wenigstens glaubte, mitreden zu können. „Die wenigen<br />

Mädchen, die allein hier waren, sind vorgestern abgereist“,<br />

erklärte ein anderer der vier. „Aber du hast ja sicher keine Frau.<br />

Wer würde einen wie dich schon nehmen? Wer könnte es mit<br />

dir schon <strong>aus</strong>halten?“ Das war das Stichwort, auf das Heinz<br />

wartete. Irgendjemanden musste er doch von Monika erzählen,<br />

von dem Mädchen, wie es schöner nicht sein konnte. Und<br />

sie hatte ihn <strong>aus</strong>gewählt. Nicht einen jungen Mann. Nein ihn!<br />

Die Jungs hatten doch keine Ahnung! Und er begann von ihr<br />

zu erzählen, von ihrer Jugend ihrer Leidenschaft, ihren festen<br />

Brüsten und ihren sinnlichen Lippen. Die Jungen lachten ihn<br />

<strong>aus</strong>. „Du alter Mann willst eine 19-Jährige zur Freundin haben?<br />

Die mit dir in einem alten Kalkofen auf verschlissenen<br />

Schaffellen schläft? Willst du uns auf den Arm nehmen, uns<br />

verarschen? Da musst du schon früher aufstehen“, sagte der<br />

mit dem gelben Poloshirt. „Nein, nein“, rief Heinz, „es stimmt<br />

alles, was ich gesagt habe. Kommt doch mit und schaut selbst.<br />

Sie wartet auf mich. Sie heißt Monika. Und ihre Schwester lebt<br />

auch bei mir. In dem abgestellten Wohnwagen, den ihr sicher<br />

schon am Strand entdeckt habt.“<br />

Der mit dem gelben Poloshirt sah seine Kumpels lächelnd<br />

an: „Wie wär’s? Wir nehmen den Jeep und fahren hin. Wir<br />

58


Wanderdüne an der Sotovento Beach<br />

Sandberge an der Sotovento Beach<br />

59


nehmen den alten Penner gleich mit. Mal sehen, ob es wahr<br />

ist, was er uns hier aufgetischt hat.“<br />

Sie fuhren die Straße oberhalb des Strands entlang und bogen<br />

in den Schotterweg ein, der hinab zur Esquinzo-Beach<br />

führt. Sie hielten nicht weit vom Kalkofen. Monika kam her<strong>aus</strong>,<br />

ein Tuch um ihre Hüften gewickelt. Die Jungs schauten sich<br />

verblüfft an. So ein tolles Mädchen bei solch einem Penner!<br />

Einer der vier zauberte eine Flasche Whiskey hervor. Sie saßen<br />

rings um den Hochsitz, während die Flasche die Runde<br />

machte und das Mädchen einige Kerzen anzündete, denn es<br />

war Nacht geworden. Die Jungs erzählten Witze, das Mädchen<br />

kicherte und hing ihnen an den Lippen. Wenn Heinz etwas<br />

sagen wollte, hörte ihm niemand zu. „Wir bleiben nicht<br />

zu lange“, erklärten die Jungs. „Wir nehmen Monika mit“, sagte<br />

der im gelben Poloshirt. „Pack deine Sachen zusammen und<br />

komm! Du hast bestimmt nicht viel mitzunehmen.“ In weniger<br />

als zwei Minuten war sie bereit. Heinz wollte protestieren.<br />

Doch Monika schnitt ihm das Wort ab. „Hast du dir schon<br />

einmal überlegt, was ich bei einem alten Mann wie dir soll?<br />

Was hast du mir schon zu bieten?“, schob sie fast etwas böswillig<br />

nach.<br />

Heinz hörte, wie der Jeep mit mahlendem Geräusch die<br />

Schotterstraße hinauf rollte. War diese Episode vorbei? Würde<br />

sie vielleicht doch wiederkommen? Kaum anzunehmen.<br />

Solche Abschiede sind für immer.<br />

Er hätte das mit seiner Lebenserfahrung besser wissen müssen.<br />

Warum hatte er mit dem Mädchen angeben wollen? Um<br />

sich in ein besseres Licht zu setzen, um den anderen kundzutun,<br />

welch ein toller Hecht er ist?<br />

Dabei ist es eben so: Wenn du einen großen Diamanten besitzt,<br />

verstecke ihn an einem sicheren Ort, wo niemand hinkommt,<br />

wo ihn niemand finden oder sehen kann. Wenn du<br />

60


von ihm erzählst, um dem Zuhörer zu offenbaren, welchen<br />

Schatz du hast, ist er vielleicht schon verloren, denn der Zuhörer<br />

will auch einen solchen Diamanten besitzen. Und solche<br />

gibt es wenige. Er denkt nur noch an deinen. Er will ihn<br />

haben.<br />

Wenn dein Nachbar ihn zufällig zu Gesicht bekommt, behaupte,<br />

er sei nur ein wertloser Bergkristall. Wenn du sagst,<br />

dass es ein Diamant sei, würde er dar<strong>aus</strong> schließen, dass du<br />

reich bist. Viel reicher, als er angenommen hatte. Er wird dir<br />

das Leben schwer machen. Er gönnt dir diesen Reichtum nicht.<br />

Heinz war wieder einmal allein. Er war wieder einmal um<br />

eine Erfahrung reicher geworden, eine Erfahrung, die er aber<br />

in seinem Alter hätte haben müssen. Aber sein Alleinsein sollte<br />

nicht lange andauern.<br />

Der Einsiedler und Sonja. Wahre Geschichte<br />

Eines Abends, kurz bevor es dunkel wurde, hatte sich offenbar<br />

ein junges Mädchen an die Esquinzo-Beach verirrt. Sie ging<br />

singend am Strand in einem dünnen schwarzen Kleidchen<br />

entlang, mehr schwebend als gehend. Sie war in Trance. Heinz<br />

hatte sie sofort entdeckt, ihm entging nichts, was sich am Strand<br />

bewegte, glaubte, dass ihr etwas fehlte und lief zu ihr hinunter,<br />

fragte, ob er helfen könne. Sie schaute mit ihren glasigen<br />

Augen durch ihn hindurch. „Ich brauche die Nadel“, stotterte<br />

sie. „Ich brauche Geld. Ich muss mir etwas besorgen, egal wie.“<br />

Sie war drogenabhängig. Blau umrandete Einstiche in den<br />

Armbeugen zeugten davon. „Ich kann dir nicht helfen“, sagte<br />

Heinz, „und ich weiß nicht, ob ich dir helfen würde, wenn ich<br />

es könnte. Du musst versuchen, von der Droge wegzukommen.“<br />

Sie spuckte verächtlich in seine Richtung auf den Boden,<br />

zu oft hatte sie solche Sprüche gehört, begann zu laufen<br />

und war so schnell weg, wie sie gekommen war.<br />

61


Surferpradies an der Sotovento Beach<br />

Am nächsten Abend war sie wieder da. Sie war aber am<br />

Strand zusammengebrochen und wurde von Krämpfen geschüttelt,<br />

die von bitterlichem Weinen unterbrochen wurden.<br />

Was sollte er tun? Die spanische Polizei rufen? Das würde dem<br />

Mädchen nicht helfen. Sie würden sie in eine Zelle sperren und<br />

vielleicht erst nach Tagen in ein Hospital einliefern. Weder in<br />

der Zelle noch im Hospital würde sie ihre Drogen bekommen.<br />

Das würde für das Mädchen die fürchterlichste Hölle, die man<br />

sich vorstellen vermag, bedeuten. Da war der spanische Staat<br />

hart, besonders hart aber auf <strong>Fuerteventura</strong>, wo man sagt, dass<br />

der Handel mit Drogen blühen soll. Der Handel sei in den Händen<br />

von Banden, die <strong>aus</strong> Marokko stammen und die mit Booten<br />

vom Festland die Ware bekommen. So entschloss er sich,<br />

die junge, braunhaarige Frau in seinen Kalkofen zu tragen. Sie<br />

war nicht schwer, sie hatte einen zierlichen Körper, schwarze<br />

62


Augen und helle Haut. Sie konnte noch nicht lange auf der<br />

Insel sein, denn die Bräune auf ihrer Haut fehlte. Er flößte ihr<br />

etwas von dem schweren Rotwein ein, den er in der Felsnische<br />

hatte. Sie schluckte und leckte sich die Lippen. Noch etwas<br />

mehr, und die Wirkung des Alkohols ließ nicht lange auf sich<br />

warten. Sie schlief ein. Er verfuhr so, wenn die nächsten<br />

Krämpfe in den folgenden Tagen einsetzten. Manchmal schrie<br />

sie <strong>aus</strong> Verzweiflung, bis Schaum <strong>aus</strong> ihrem Mund quoll. Sie<br />

schrie nach ihrem Stoff, doch in Ermangelung von etwas Besserem<br />

griff sie immer häufiger zur Flasche. Könnte es sein, dass<br />

er es fertigbrächte, diese junge Frau von den Drogen wegzubekommen?<br />

Auf Alkohol umzupolen? War der Preis dafür, dass<br />

sie zur Alkoholikerin würde?<br />

Das war jedenfalls besser als heroinabhängig. Manche Tage<br />

war sie den ganzen Tag über nicht zu sehen. Wahrscheinlich<br />

war sie nach Morro getrampt, um sich Stoff zu besorgen, was<br />

ihr aber offensichtlich nicht gelang. Doch sie kam mit Geld<br />

zurück. Woher hatte sie es? Hatte sie zahlende Freier gefunden?<br />

Das war die einzige pl<strong>aus</strong>ible Erklärung. Sie gab Heinz<br />

das Geld, damit er ihr den Rotwein kaufen konnte.<br />

Ein Jahr war vergangen, als ich wieder einmal einen Urlaub<br />

im Aldiana Club verbrachte. Beim ersten morgendlichen Joggen<br />

vom Club zur Esquinzo-Beach machte ich auch diesmal<br />

eine P<strong>aus</strong>e bei Heinz, der sich immer freute, wenn er mich sah.<br />

Das Mädchen Sonja saß wie immer nackt im Kalkofen und lass<br />

eine völlig zerfledderte Illustrierte, ich glaube es war der Stern.<br />

Wie oft sie diese Ausgabe schon gelesen hatte? Sie musste die<br />

Seiten <strong>aus</strong>wendig kennen. Sie blickte kurz auf, als sie mich sah,<br />

blickte durch mich hindurch, als ob sie mich nicht kenne, und<br />

kehrte zur Lektüre des Sterns zurück. Sie war wohl betrunken.<br />

Ich konnte es kaum glauben, dass sich innerhalb von einem<br />

Jahr nichts geändert hatte. Sie sah wie immer sehr hübsch <strong>aus</strong>.<br />

63


Doch, wenn sie den Mund öffnete, zeigten sich schwarze Zähne,<br />

die dieses Bild schlagartig veränderten. Sie müsste dringend<br />

zum Zahnarzt.<br />

Als wir außer Hörweite des Mädchens waren, erzählte mir<br />

Heinz die ganze Geschichte des Mädchens. Er wollte meine<br />

Meinung dazu wissen, ob er richtig gehandelt habe. Sie sei jetzt<br />

zur Alkoholikerin geworden. Doch, was sollte ich dazu sagen?<br />

Mir kam alles so unwirklich vor. So weit weg von meinem eigenen,<br />

in festen Bahnen verlaufenden Leben. Ich konnte mich<br />

nicht in die Lage des Mädchens versetzen und auch nicht in<br />

die von Heinz.<br />

„Was ist denn mit Tanja geschehen?“, wollte ich wissen.<br />

„Schau doch bei ihr vorbei. Sie ist immer noch im Wohnwagen.<br />

Du wirst sie nicht mehr wiedererkennen. Sie hat sich total<br />

verändert. Lass dich überraschen.“<br />

Meine Neugier ließ nicht zu, länger zu warten. Ich lief zum<br />

Wohnwagen hinunter und klopfte. Sie hatte mich schon durch<br />

ein Fenster bemerkt, streifte ein durchgehendes Kleid über und<br />

ließ mich herein. Mir fehlten die Worte. Eine blühende junge<br />

Frau bot mir ihre Wange zur Begrüßung. Der her<strong>aus</strong>ragende<br />

Schlauch war verschwunden. Nicht einmal eine Narbe konnte<br />

ich an der Stelle entdecken, wo die Kanüle war. Ihr Gesicht<br />

strahlte eine Freude <strong>aus</strong>, die von innen kam. „Ich kann es nicht<br />

fassen! Du bist wieder ganz gesund. Wie hast du das nur geschafft?“,<br />

rief ich. Zuerst schenkte sie mir ein Glas von dem<br />

Rotwein ein, den auch Heinz trank, und sagte dann: „Ich habe<br />

daran geglaubt, dass ich den Krebs besiegen kann, und ich habe<br />

gewonnen. Der Arzt in der deutschen Klinik in Morro hat vor<br />

wenigen Tagen Proben entnommen und zur Untersuchung eingeschickt.<br />

Es ist keine einzige Krebszelle mehr zu finden. Ich<br />

bin geheilt! Das Klima, die Luft und die Ernährung auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

haben geholfen. Der frische Fisch jeden Tag, den ich<br />

64


mir zubereitete. Ein einheimischer Guanche brachte mir täglich<br />

seinen fangfrischen Fisch vorbei. Wenn er nicht kam, gab<br />

mir Heinz von seinem Fang etwas ab. Papageienfisch, Zackenbarsch,<br />

Thunfisch, Barrakuda, blauer Merlin, Schwertfisch,<br />

Brasse und Morrofisch zum Grillen. Jeder schmeckt anders.<br />

Besonders schmackhaft sind seine Sardinen, die er gleich nach<br />

dem Fang nach eigenem Rezept sauer einlegt. Dann die <strong>Fuerteventura</strong>-Tomaten,<br />

das Olivenöl, die kanarischen, in Salzwasser<br />

gegarten Runzelkartoffeln – patatas arrugadas –, die mit<br />

der Schale mit grüner Mojo-Kräutersoße darüber gegessen<br />

werden, nicht zu vergessen das Weißbrot und ein Gläschen<br />

Rotwein zur Abrundung. Weißt du noch, als ich letztes Jahr<br />

von einem Plan gesprochen habe, den ich niemanden verraten<br />

wollte? Ich habe ihn durchgeführt. Schau doch mal in die<br />

Vertiefung unterhalb des großen Rückfensters des Wohnwagens,<br />

das direkt zum Meer hin liegt. Dort wirst du etwas sehen.<br />

Etwas Wunderbares, das Wunderbarste, was es auf dieser<br />

Welt gibt. Es hat mich und mein Herz verändert.“<br />

In der Vertiefung, die mit Tüchern und Deckchen <strong>aus</strong>staffiert<br />

war, lag ein vielleicht drei Monate altes süßes Baby. Das<br />

war also ihr Plan gewesen. Sie wollte ein Baby! Das hatte ich<br />

schon gehört, dass sich während einer Schwangerschaft der<br />

Körper einer Frau verändern kann. Alles im Körper wird mobilisiert,<br />

um dem neuen Leben Kraft zu schenken. Krankheiten<br />

können in dieser Phase überwunden werden. Die Psyche<br />

stimmt, denn die Vorfreude auf das Kind bestimmt den Ablauf<br />

des Tages. Und Freude am Leben ist auch eine der Vor<strong>aus</strong>setzungen,<br />

um gesund werden zu können. Sie hatte das<br />

Richtige getan, die richtige Entscheidung getroffen. Das Baby<br />

hatte mitgeholfen, ihre Krankheit zu überwinden.<br />

Sie nahm das Baby in den Arm und sagte: „Das war mein<br />

Plan. Ich wollte ein Kind. Schon lange. Und hier verwirklichte<br />

65


ich ihn. Ich habe kein Problem, darüber zu reden. Ich hatte<br />

schon in den ersten Tagen einen jungen Surfer im Visier, der<br />

sich hin und wieder an diesen Strand, von der Sotovento-Beach<br />

herkommend, verirrt hatte. Er zog dann sein Surfbrett an<br />

Land, wenn er sah, wie ich dastand und ihn beobachtete. Wir<br />

redeten einige Sätze. Er war gut gebaut, hatte starke Arme und<br />

kräftige Beine und hatte ein fein geschnittenes Gesicht, das<br />

Feinfühligkeit und Intelligenz verriet. Er sagte, dass er Literaturwissenschaften<br />

studiere und vielleicht Journalist werden<br />

wolle. Eines Tages nahm ich ihn mit in meinen Wohnwagen.<br />

Ich hatte es so eingerichtet, dass das genau in meinen Empfängnistagen<br />

lag. Mit ihm war es anders als mit den anderen<br />

Männern, die ich schon hatte. Es war ein warmes Gefühl in<br />

mir, das nichts mit Sex zu tun hatte. Ich musste immer nur<br />

daran denken, dass ich bei diesem Akt ein Kind empfange. Ich<br />

war einfach nur glücklich. Und dann begann das Kind, zu<br />

wachsen. Ein Wunder geschah in meinem Körper. Es war<br />

höchste Zeit, die Kanüle an meinem Hals entfernen zu lassen,<br />

denn, Wunder über Wunder, ich konnte wieder ganz normal<br />

durch die Nase atmen. Ich fühlte das Herz des Kindes schlagen.<br />

Ich war ganz nur noch auf den Tag <strong>aus</strong>gerichtet, an dem<br />

das Kind geboren werden sollte. Es war ein Mädchen. Sie sollte<br />

Iris heißen, ein Name mit nur hellen Vokalen, um meine<br />

Freude auch in dem Namen <strong>aus</strong>drücken zu können. Der junge<br />

Surfer aber war am nächsten Tag zurück nach Hannover geflogen.<br />

Er ist seither hier nicht wieder aufgetaucht. Ich weiß<br />

nur seinen Vornamen. Jens. Er wird wahrscheinlich seine Tochter<br />

nie sehen oder kennenlernen. Schließlich weiß er auch nichts<br />

davon, dass er ein Kind gezeugt hat.“<br />

Ich hörte zu, während sie das Baby an einer ihrer prall gefüllten<br />

Brüste stillte. „Sie isst schon ein wenig von reifen zer-<br />

66


drückten Avocados. Vielleicht kannst du mir morgen eine von<br />

deinem Frühstücksbuffet im Aldiana Club mitbringen?“<br />

Nach dem Besuch bei Tanja ging ich zurück zu Heinz. Sonja<br />

richtete zum ersten Mal, seitdem ich sie kennengelernt hatte,<br />

eine Frage in ihrem Berliner Dialekt direkt an mich: „Hast du<br />

einen schwarzen Kater im Aldiana Club gesehen? Wir vermissen<br />

ihn schon seit Tagen. Hoffentlich ist er nicht überfahren<br />

worden.“ Ich versprach mich umzusehen, hatte aber wenig<br />

Hoffnung, denn in dem Club gab es sehr viele Katzen, eine<br />

Menge von denen mit schwarzem Fell. Fast konnte man meinen,<br />

dass im Club eine Katzenplage <strong>aus</strong>gebrochen war. Sie<br />

flüsterte mir dann noch ins Ohr, dass Heinz morgen 70 Jahre<br />

alt werden würde. „Das müssen wir feiern“, rief ich, und lud<br />

die beiden kurzerhand zu Kaffee und Kuchen für den morgigen<br />

Nachmittag in den Aldiana Club ein. Mir fiel ein, dass die<br />

beiden vor Kurzem von Süßigkeiten und im Speziellen von<br />

Kuchen geredet hatten. „Immer nur Fisch und salzige Morrokartoffeln<br />

in der Schale. Ich träume nachts schon von einem<br />

Schokoladenkuchen mit Schlagsahne darüber“, so hatte Heinz<br />

gesprochen. „Ich auch, ich auch“, stimmte die Kleine bei.<br />

„Ihr müsst euch nur etwas Nettes für den morgigen Nachmittag<br />

anziehen“, fügte ich hinzu. „Also bis morgen um 3.“<br />

Ich stand an der Mauer, die den Aldiana Club umgibt. Zum<br />

Strand hinunter geht es mit vielen Stufen steil abwärts. Von<br />

hier oben hatte man einen weiten Blick den Strand entlang bei<br />

guter Sicht bis zum Esquinzo-Strand, wo Heinz sein Domizil<br />

hatte. Der damalige Clubchef war von dem Besuch nicht gerade<br />

begeistert, hatte er doch dem in seinen Augen verwahrlosten<br />

Einsiedler das Betreten des Clubgeländes verboten. Doch<br />

mir, als regelmäßigem Cluburlauber, wollte er meine Bitte auch<br />

nicht abschlagen. Etwas abseits der Poolbar, wo nachmittags<br />

reger Betrieb herrschte, hatte ein Kellner einen Tisch gedeckt.<br />

67


In der Mitte türmte sich ein frisch gebackener Schokoladenkuchen,<br />

eine Schüssel mit frisch geschlagener Sahne stand<br />

daneben und eine Kanne mit dampfendem Kaffee. Der Geruch<br />

des Kaffees war mir schon in die Nase gestiegen. Hinter der<br />

Mauer kam ich mir wie Helena in Homers Ilias vor, die, vor<br />

der trojanischen Stadtmauer stehend, die in der Ebene vorbeireitenden<br />

Athener beschrieb. In der Ferne entdeckte ich dann<br />

auch die zwei Gestalten, wie sie auf den Club zukamen. Das<br />

waren sie. Er hatte seinen verspeckten, braunen Fred-Perry-<br />

Anzug an, sie das schwarze lange Kleid, das sie schon am ersten<br />

Tag trug, als sie von Heinz am Strand entdeckt worden<br />

war. Ich öffnete das verschlossene Gittertor in der Mauer und<br />

ließ sie ein. „Seid herzlich willkommen! Zu deinem 70sten<br />

Geburtstag wünsche ich dir Gesundheit und ein langes Leben<br />

hier am Strand“, sagte ich. „Nach unserem Kaffee habe ich<br />

noch ein Geschenk für dich in meinem Bungalow.“ Alle Blicke<br />

folgten uns am Pool. Manche lachten, andere schüttelten den<br />

Kopf und dachten, wie der Clubchef dies nur zulassen konnte.<br />

Der Kellner servierte und gab jedem von uns ein großes Stück<br />

Kuchen. Sahne kam darüber. Kaffee wurde eingegossen. Sie<br />

aßen, legten die Gabel weg und benutzten die Finger.<br />

Schwamm drüber! Damit hatte ich gerechnet. Aber da geschah<br />

etwas Unerwartetes. Eine schwarze Katze lief vorbei. Sonja<br />

schrie: „Das ist unser Kater. Sie haben unseren Kater gestohlen!“<br />

Beide stürzten sich auf das Tier, brachten es zum Tisch<br />

und setzten es auf der Tischplatte ab. „Wir haben endlich unseren<br />

Konrad wieder!“ Sonja schob ihren Teller mit dem Kuchenstück<br />

dem Kater hin, der zunächst die Sahne abschleckte<br />

und dann von dem Kuchen fraß. Ich hätte im Boden versinken<br />

können, denn jetzt hatten wir durch das Geschrei die Aufmerksamkeit<br />

aller an der Bar versammelten Gäste und der Sonnenhungrigen<br />

auf den Liegestühlen auf uns gezogen.<br />

68


Es war dann doch nicht solch eine glänzende Idee gewesen,<br />

sie hierher einzuladen. Ich hätte den beiden den Kuchen auch<br />

bringen können. Aber sicher wäre das nicht dasselbe gewesen.<br />

Das Ambiente hätte gefehlt.<br />

Wir kamen zu meinem Bungalow. Sonja immer noch mit dem<br />

schwarzen Kater im Arm, den sie ununterbrochen kraulte. Wie<br />

eingangs schon erwähnt, war Heinz vor vielen Jahren als Tennislehrer<br />

im Robinson Club tätig gewesen. Er hatte mich, ohne<br />

dass dies mir bewusst war, im letzten Jahr auf dem Tennisplatz<br />

beobachtet, wie ich spielte. Er bescheinigte mir, dass ich<br />

einen fürchterlichen Stil hätte, mich viel zu langsam und ineffektiv<br />

bewegen würde und den Ball überhaupt nicht schneiden<br />

könnte. Weder Slice noch Topspin. Und dabei seien dies<br />

doch die wichtigsten Schläge, mit denen man ein Match gewinnen<br />

würde. In seiner besten Zeit hätte ihn auf der Insel niemand<br />

schlagen können wegen des Schnitts, den er den Bällen<br />

verpassen konnte. Er habe einen Dunlop Maxply gespielt. Einen<br />

besseren Schläger gäbe es nicht. Ich dachte an die Überraschung,<br />

die ich für ihn zu seinem Geburtstag bereithielt. Ich<br />

zog <strong>aus</strong> meinem Koffer im Bungalow einen nagelneuen Graphitrahmen<br />

hervor, der sogar mit einer dünnen Darmsaite<br />

bespannt war und ein hohes Singen von sich gab, wenn man<br />

die Bespannung anzupfte oder mit der Hand zum Klingen<br />

brachte. Das war der allerletzte Schrei im Schlägerbau, gerade<br />

vor einer Woche auf den Markt gekommen.<br />

„Das ist mein Geschenk zu deinem 70sten Geburtstag. Ich<br />

hoffe, dass du irgendwann damit spielen kannst. Vielleicht lassen<br />

sie dich im Los Gorriones auf den Platz. Wie du weißt, lässt<br />

der Clubchef dich hier nicht spielen.“<br />

Heinz’ Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, in der die Falten<br />

seines Alters auf einmal zu erkennen waren, und dann flossen<br />

die Freudentränen in Strömen. Selbst die Augen des jun-<br />

69


gen Mädchens mit der Katze auf dem Arm wurden feucht.<br />

Heinz sprang auf dem Rasen vor dem Bungalow mit dem<br />

Schläger hin und her, ging in die Knie, zeigte, wie er den Ball<br />

schnitt, sprang wieder auf, als wolle er einen anderen ankommenden<br />

Ball zurückschlagen.<br />

„Er liegt einfach fantastisch in der Hand. So einen Schläger<br />

hätte ich früher haben sollen. Ich hätte auch in Deutschland<br />

damit kein einziges Match verloren!“<br />

Ich hätte dem alten Mann keine größere Freude zu seinem<br />

Geburtstag machen können, obwohl ich daran zweifelte, dass<br />

er ihn je <strong>aus</strong>probieren könnte. Aus Übermut und Freude machte<br />

er dann einen Handstand und lief auf seinen Händen in einem<br />

Kreis. Wer konnte das von den Gästen mit 70 im Club<br />

oder <strong>aus</strong> einem der anderen Hotels auf der Insel ihm gleichtun?<br />

Ich beobachtete noch von der Mauer <strong>aus</strong>, wie das ungewöhnliche<br />

Paar in seinem Aufzug mit dem Konrad im Geleit hinter<br />

einem Felsvorsprung auf dem Weg zu seinem Kalkofen verschwand.<br />

Im Jahr darauf, wieder beim Joggen, war nichts mehr von<br />

dem Kalkofen zu sehen. Der Wohnwagen mit der jungen Frau<br />

und mit dem Baby war verschwunden. Von dem Segelboot<br />

keine Spur. Der Rohbau des Esquinzo Robinson Clubs nestelte<br />

sich schon in die Abhänge der hohen Felsen. Kaum einer konnte<br />

von Heinz berichten. Kaum jemand erinnerte sich an ihn. Diese<br />

außergewöhnliche Einsiedlerrobinsonade war beendet, die<br />

Geschichte schon fast vergessen. Heinz Ruhau, wer war denn<br />

der? Manche späteren Urlauber im Club meinten, wenn man<br />

von dem Einsiedler redete: War seine Mutter nicht auch eine<br />

berühmte Fliegerin, die mit Hanna Reitsch befreundet war, die<br />

über 40 Flugrekorde in den 30er Jahren innehielt? Mag sein,<br />

ist aber nicht wichtig.<br />

70


Niemand konnte sich jedoch an Tanja erinnern. Was war <strong>aus</strong><br />

dieser mutigen Frau geworden, die durch ihren unbeirrbaren<br />

Glauben an sich selbst und ihre Heilung ihre Krankheit besiegt<br />

hatte, obwohl ihre Ärzte ihr nur geringe Heilungschancen eingeräumt<br />

hatten?<br />

71


Fremdgehen ist gefährlich oder die verlorene Partie<br />

Bis auf das erfundene Ende mit Ursula ist das eine wahre Geschichte.<br />

Da hat beim Schreiben die Fantasie das Ruder übernommen.<br />

Mein Freund Anton ist gerade fünfundvierzig Jahre alt geworden.<br />

In seinem scharf geschnittenen Gesicht mit einer großen<br />

Nase in der Mitte leuchten lebendige Augen, die überall<br />

sind und kein Risiko zu scheuen scheinen. Seine Hände sind so<br />

groß, dass sie eine mittlere Wassermelone fast ganz umfassen<br />

könnten. Als ich ihn vor Jahren beim Tennisspielen kennenlernte,<br />

damals war es noch üblich, beim Spielen ein breites Frotteestirnband,<br />

meistens in den Farben Rot-Weiß-Rot zu tragen,<br />

um die Augen vor dem von der Stirn tropfenden Schweiß zu<br />

schützen, hatte ich ihm meinen Schläger geliehen, weil bei seinem<br />

eine Saite gerissen war. Dabei war mir klar, dass ich ihn<br />

gegebenenfalls mit einer gerissenen Saite zurückbekommen<br />

würde. Der Griff verschwand in seiner Hand, er war viel zu<br />

klein. Bei diesem Match, in dem es um den Aufstieg seiner Tennis-Mannschaft<br />

ging, lag er schon 0 : 6 im Ersten Satz und im<br />

Zweiten 0 : 3 zurück. Ich beschloss, schon einmal ins Clubh<strong>aus</strong><br />

zu gehen, um die Schachfiguren aufzustellen und einen Kaffee<br />

zu trinken. Er würde bald kommen. In wenigen Minuten.<br />

Sein Spiel auf dem Platz war ein einziges Fiasko. Würde er jetzt<br />

bei der bevorstehenden Schachpartie weniger hektisch spielen?<br />

Kaum anzunehmen. Er liebte Schach mindestens so sehr<br />

wie sein Tennis. Seine Art zu spielen kann man wahrscheinlich<br />

von dem einem Spiel auf das andere übertragen. Günter,<br />

einer seiner Clubkameraden, der wie ich das Tennismatch verfolgte,<br />

rief mir zu:<br />

„Du kennst unseren Anton nicht. Er wird das Spiel noch herumreißen<br />

und gewinnen. Das wäre nicht das erste Mal.“<br />

72


Der H<strong>aus</strong>berg oder „Camelback“ hinter dem Aldiana Club<br />

Dann hörte ich einen lauten Schrei quer über den Platz. Das<br />

Wort, das mit Sch… beginnt und das von vielen Tennisspielern<br />

öfter gebraucht wird als irgendein anderes. Manche versuchen<br />

noch schnell ein Shit oder ein Scheibenkleister dar<strong>aus</strong><br />

zu machen, oft zu spät, denn das Wort ist schon über ihre Lippen<br />

gekommen. Aus dem Fenster sah ich, wie Anton, als er<br />

das Wort ein zweites Mal <strong>aus</strong>stieß, seinen Schläger – also meinen<br />

– quer über den Platz schleuderte, so dass er die Betonmauer<br />

am Rande des Platzes nur knapp verfehlte. Mein schöner<br />

neuer Schläger! Sein nächster Aufschlag saß. Noch ein Ass.<br />

Hopp oder Topp, so spielte er. Risiko pur. Der Schrei und das<br />

Schleudern hatten den Gegner genervt und das Spiel gedreht.<br />

So wie seinerzeit McEnroe, der sich mit dem Schiedsrichter<br />

anlegte und damit seinen Gegner <strong>aus</strong> dem Schlag brachte. Und<br />

er gewann den Satz und den Dritten auch. Günter wandte sich<br />

mir zu:<br />

73


„Das ist eben unser Anton. Unsere Mannschaft ist mit seinem<br />

Matchgewinn aufgestiegen. Auf ihn können wir uns eben<br />

verlassen.“<br />

Anton ist der Mann, der mit seinem Zwölfzylinder-BMW,<br />

wenn es sein muss, mit 260 Sachen über die Autobahn jagt.<br />

Am liebsten würde er dabei noch die Lichthupe verwenden,<br />

wenn das noch erlaubt wäre, um zu signalisieren, dass er der<br />

Schnellste ist und Raum benötigt. Er wäre sicher ein guter Rennfahrer<br />

geworden. An einem Sonntagmorgen war er in Singen,<br />

wo sein Firmensitz ist, nach München abgefahren und dort<br />

nach sage und schreibe zweieinhalb Stunden im Parkh<strong>aus</strong> am<br />

Flughafen angekommen. 320 Kilometer!<br />

So wie in seiner Freizeit verhält er sich auch in seiner Firma.<br />

Seine Hand zittert nervös, wenn er den Telefonhörer hält.<br />

Wenn andere noch schlafen, sitzt er frühmorgens schon hinter<br />

dem Schreibtisch, wenn er nicht irgendwo in Norddeutschland,<br />

Holland, Österreich oder in der Schweiz auf Kundenbesuch<br />

ist, und das auch manchen Samstag- oder Sonntagmorgen.<br />

Über hundertt<strong>aus</strong>end Kilometer ist er im Jahr mit seinem<br />

Wagen unterwegs, und er hat noch keinen nennenswerten<br />

Unfall gehabt. Einfach ein sicherer, wenn auch schneller Fahrer.<br />

Seine Firma geht ihm über alles. Er ist ihr mit Leib und<br />

Seele verschrieben und nichts ist ihm zu viel. Auch hat er schon<br />

manche kleinere, schlecht gehende Firma aufgekauft, umgekrempelt<br />

und zurück in die Gewinnzone geführt. Er hat die<br />

Überzeugungskraft, die Klarheit, den Mut zur Veränderung<br />

und die Ausstrahlung, die Mitarbeiter schätzen. Und seine<br />

Begeisterungsfähigkeit zieht alle mit. Sie als Leser können sich<br />

leicht vorstellen, dass ein solcher Mann eigentlich nie Zeit für<br />

Urlaub hat, wenn man einmal von den zwei Wochen absieht,<br />

die er jeden Sommer mit seiner langjährigen Freundin Ursula<br />

in irgendeinem Hotel in Deutschland verbringt. Heiraten will<br />

74


er sie nicht. Dafür hat er kein Geld und keine Zeit. Eine Familie<br />

muss später kommen, wenn er Zeit hat, sagt er.<br />

Mit ihm Schach zu spielen, macht Spaß. Bei seinem Temperament<br />

brütet er nicht lange über einen Zug nach, wie manch<br />

andere Gegner, die einen zur Verzweiflung bringen können,<br />

indem sie einfach nicht ziehen. Zum Schachspielen am Sonntagnachmittag<br />

hat er immer Zeit. An einem solchen Nachmittag,<br />

wir saßen über einer Partie im Clubh<strong>aus</strong>, erwähnte ich,<br />

dass ich mit einigen Tenniskameraden zur Vorbereitung auf<br />

die Medenrunde in den Club Aldiana nach <strong>Fuerteventura</strong> fahren<br />

würde. Schon in den Jahren zuvor hatte ich ihn gefragt, ob<br />

er nicht mitkommen wolle. Zehn Tage seien zu lang, sagte er.<br />

Er könne es sich nicht erlauben, so lange vom Geschäft fernzubleiben.<br />

Vielleicht einmal, wenn er etwas älter sei. Diesmal<br />

stellte ich die gleiche Frage, ohne zu erwarten, dass er zusagen<br />

würde.<br />

„Du bist jetzt älter geworden. Wie lange willst du noch warten?<br />

Bis du 75 oder 80 bist? Alle Türen sind dann schon verschlossen.<br />

Das Leben geht an dir vorbei, und du kannst das<br />

Rad nicht mehr zurückdrehen. Die Abwechslung wird dir guttun.<br />

Die Meeresluft, das Joggen am Strand, die Männergespräche<br />

um Tennis und Frauen. Du wirst mit neuen Ideen zurückkommen.<br />

Das in deiner Firma Versäumte wirst du, erholt,<br />

schnell aufholen. Der frische Sauerstoff in deinen Gehirnzellen,<br />

die außerdem durch das Schachspiel gestählt werden, wird<br />

dafür sorgen. Die Zeit ist wie eine Hure. Den einen verwöhnt<br />

sie mit süßem Honig, den anderen bestraft sie mit Bittermandeln.<br />

Lass dich mal mit süßem Honig verwöhnen.“<br />

Auf die letzten drei Sätze war ich richtig stolz. Sie trafen<br />

den Nagel auf den Kopf.<br />

Ich traute meinen Ohren kaum, als er seinen nächsten Zug<br />

machte und dazu mit fester Stimme sagte: „Schachmatt.“ Ein<br />

75


Bungalow im Aldiana Club<br />

breites Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht <strong>aus</strong> und<br />

er fügte hinzu: „Ich gehe mit und nehme auch Ursula mit.“<br />

Er hatte bei dem Spiel meine Unaufmerksamkeit <strong>aus</strong>genützt.<br />

Unfair. Das wird er mir büßen müssen. Die Gelegenheit dazu<br />

würde sich im Club ergeben. Ich hatte eine Idee. Die Revanche<br />

sollte er nie vergessen. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht wissen, welch fürchterliche und zerstörerische Wendung<br />

dies einmal nehmen sollte.<br />

Der Aldiana Club liegt im Süden von <strong>Fuerteventura</strong>, der<br />

zweitgrößten Kanareninsel. Dieser Teil wird auch als Halbinsel<br />

Jandia bezeichnet, der nächstgelegene kleinere Ort ist Morro.<br />

Hinter dem großen, im spanischen Stil gehaltenen Rezeptionsgebäude,<br />

den vielen kleinen, weiß getünchten Bungalows<br />

mit roten Dächern in einer parkähnlichen Gartenanlage, erhebt<br />

sich ein dunkler Bergrücken, kahl, ohne erkennbare Ve-<br />

76


getation, in den blauen Himmel. Er besteht <strong>aus</strong> kantigen Gesteinsbrocken<br />

vulkanischen Ursprungs. Vielleicht ist er 400<br />

Meter hoch an seiner höchsten Stelle. Bei früheren Aufenthalten<br />

hatte ich den Berg, der eine ebenmäßige, aber auch düstere<br />

Schönheit besitzt, Camelback genannt, in Anlehnung an den<br />

ähnlich <strong>aus</strong>sehenden Bergrücken mitten in der Stadt Phoenix<br />

in Arizona, aber dessen Begehung nicht gerade zu empfehlen<br />

ist wegen der dort wimmelnden Klapperschlangen, die in jeder<br />

Felsspalte lauern können. Hier in <strong>Fuerteventura</strong> gibt es aber<br />

keine Schlangen, auch keine Skorpione oder anderes giftiges<br />

Getier. Auch keine Raubtiere wie wilde Hunde oder Schakale.<br />

Eine Wanderung durch die zerklüfteten Berge mit ihren<br />

Schluchten, Schründen, Felsvorsprüngen und Simsen ist deshalb<br />

<strong>aus</strong> dieser Sicht gesehen ganz unbedenklich. Das Einzige,<br />

was dem Wanderer wirklich gefährlich werden kann, ist ein<br />

Sturz, bei dem er sich den Fuß bricht. So schnell würde er nicht<br />

gefunden werden, denn in den verlassenen Bergen sind keine<br />

Menschen unterwegs, nicht einmal Hirten. Nur wenige Ziegen<br />

würden vielleicht an ihm herumschnuppern. Die wenigen<br />

Wassertropfen, die sich vielleicht an einem Felsüberhang<br />

vom dünnen Tau am Morgen niederschlagen würden, könnten<br />

seinen Durst nicht löschen. Das ist auch ein Aspekt, den er<br />

zu bedenken hätte.<br />

Wir hatten eingecheckt. Jeder von uns Tennisspielern hatte<br />

seinen Bungalow bezogen. Anton zusammen mit Ursula. Ich<br />

allein. Heute Nachmittag noch würden wir ein Doppel spielen.<br />

Morgen ist frei. Nach einem <strong>aus</strong>giebigen Frühstück ergriff<br />

ich die Initiative.<br />

„Anton, was hältst du von einer kleinen, etwa dreistündigen<br />

Wanderung? Über den Berg da drüben? Den Camelback?<br />

Erster Höcker, zweiter Höcker mit anschließendem Kopf? Keiner<br />

der Einheimischen hier weiß, wie er richtig heißt. Vielleicht<br />

77


hat er gar keinen Namen, denn diese Gegend war gottverlassen,<br />

bevor der Tourismus in den 70er Jahren einsetzte. Die Spanier<br />

haben hier früher ihre Gefangenen <strong>aus</strong>gesetzt, politische<br />

Gegner hierher verbannt. Der für die Regierung unbequeme<br />

spanische Philosoph und Schriftsteller Miguel de Unamuno war<br />

in den 20er Jahren hierher in die Einsamkeit ohne kulturelles<br />

Ambiente, in die totale Isolierung gebracht worden. Hier konnte<br />

er kein Unheil mehr anrichten.<br />

Doch im Baedeker Reiseführer habe ich einen Namen für den<br />

Berg entdeckt: Aguda. Auf Deutsch übersetzt heißt das Wort<br />

so viel wie hoch oder spitz. Einmal war ich schon oben. Vor<br />

Jahren. Du wirst mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt,<br />

wie man sie nicht noch einmal auf der Insel hat. Gehst du mit?“<br />

Begeistert wirkte er gerade nicht, aber er nickte. „Lass uns<br />

den Ausflug erst in einigen Tagen machen“, gab er zur Antwort,<br />

„wenn wir uns etwas eingelebt haben.“<br />

Wahrscheinlich wäre ihm ein scharfes Tennismatch lieber<br />

gewesen. Die Tage vergingen wie im Flug. Es war so weit.<br />

Ich wachte in meinem Bungalow auf und öffnete die grünen<br />

Läden. Der blaue Atlantik lag vor mir. Ich hatte ein ungutes<br />

Gefühl. Eine innere Unruhe, die ich nicht erklären konnte. Es<br />

ist doch nur ein ungefährlicher Ausflug, sagte ich mir immer<br />

wieder. Anton ist ein netter Kerl, und wir werden Spaß haben.<br />

Ich schnallte meinen kleinen Rucksack auf den Rücken. Wir<br />

überquerten die Straße und nach wenigen hundert Metern ging<br />

es schon bergauf. Steine und Felsbrocken lagen wahllos auf<br />

Schotter, der <strong>aus</strong> rundgeschliffenen Steinchen bestand. Sie rollten<br />

unter unseren Tennisschuhen weg. Wir bewegten uns dementsprechend<br />

ungeschickt wie auf Kugellagern. Sie hatten eine<br />

rostbraune Farbe, als ob sie mit Eisenoxid überzogen wären.<br />

Die Felsbrocken wurden größer und zahlreicher als es noch<br />

steiler wurde, und bald schwangen wir uns von einem Felsen<br />

78


zum anderen, immer den einfachsten und gangbarsten Weg<br />

nach oben suchend. Längst schon benutzten wir unsere Hände,<br />

um uns an hervorstehenden Vorsprüngen zu stützen und<br />

zu halten. Nach einer halben Stunde hatten wir den ersten<br />

Höcker des Bergs erreicht. Wir legten eine kurze P<strong>aus</strong>e ein.<br />

„So anstrengend hatte ich mir das nicht vorgestellt“, meinte<br />

Anton, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.<br />

Mein Hemd war auch schon durchnässt. Die Sonne schien erbarmungslos<br />

<strong>aus</strong> dem wolkenlosen Himmel auf uns herab.<br />

„Aber ich dachte immer, dass wir doch durchtrainierte und<br />

konditionsstarke Tennisspieler sind“, bemerkte ich etwas spöttisch.<br />

Über den Bergkamm gingen wir, manchmal über mannshohe<br />

Felsen steigend, zum zweiten Höcker weiter.<br />

Ich entdeckte in einer schattigen Felsspalte eine gelbe Blume,<br />

deren Blätter <strong>aus</strong> Dornen bestanden. Eine blühende Pflanze<br />

in dieser lebensfeindlichen Umgebung! In einer Gegend, in<br />

der manchmal in einem ganzen Jahr nicht einmal ein Tropfen<br />

Regen fällt. Erstaunlich, wie stark der Willen zum Leben in<br />

solchen Pflanzen entwickelt ist. Sie blühen unter den widrigsten<br />

Bedingungen, die letzte Kraft wird mobilisiert, nur um Samen<br />

zu bilden, nur um sich fortzupflanzen. Und weit hinten<br />

im Tal vor dem höchsten Berg <strong>Fuerteventura</strong>s, dem 800 Meter<br />

hohen Pico de la Zarza, bewegten sich schwarze Punkte, Ziegen,<br />

die auch noch das letzte keimende Pflänzchen zwischen<br />

den Steinen finden und fressen werden. Ziegen, die von der<br />

EU subventioniert sind und die jede noch so spärliche Vegetation<br />

vereiteln. Kontraproduktiv. Diese gelbe Blume ist ihnen<br />

entgangen. Sie hat es bis zum Blühen geschafft.<br />

Die Wolken zogen von Westen auf, kletterten an der Westküste<br />

die steilen Abhänge hinauf und quollen über den Pico de<br />

la Zarza herein. Wie ein weißes Tischtuch, das über den Berg<br />

gezogen wird. Sie fielen in das Tal der Ziegen. Noch während<br />

79


des Falls verdampften sie, ohne jemals den Talboden erreicht<br />

zu haben. Sie können nicht abregnen. Der Berg ist zu nieder.<br />

Anton und ich beobachteten das Sch<strong>aus</strong>piel. Immer wieder<br />

andere Wolkenformationen. Diese eine müsste das Tal erreichen,<br />

sie ist so groß, so mächtig, sie kann doch nicht einfach<br />

nur verschwinden? Doch plötzlich hatte auch sie sich aufgelöst.<br />

Das Kommen und Gehen der Wolken kann tagelang so<br />

weitergehen und der Beobachter wird nicht müde, zuzuschauen.<br />

Vögel kreisten über uns. Spielten sie mit dem Wind, der konstant<br />

<strong>aus</strong> Nordosten blies? Dem Nordostpassat? Sie nützten<br />

die Thermik <strong>aus</strong>. Es ist dieser Wind, mit dem manche Segler<br />

mit einem einmal gesetzten Segel auf einer Kufe, ohne Wende<br />

oder Halse, über den Atlantik segeln können und in Südamerika<br />

nach zehn Tagen ankommen. Waren es Bussarde auf der<br />

Suche nach den wenigen mageren Feldmäusen? Oder nach den<br />

putzigen Streifenhörnchen, die mehr <strong>aus</strong> Fell als Körper bestehen?<br />

Während Anton sich vor mir mit seinen feschen Waden von<br />

Fels zu Fels schwang und auf dem Geröll gelegentlich rutschte,<br />

erinnerte ich mich an eine frühere Schlitterpartie mit meinem<br />

Sohn, und ich verlor mich in Gedanken. Vor vielen Jahren,<br />

es war in den langen Sommerferien, wollte ich mit meinem<br />

Sohn schon einmal einen ähnlichen Berg besteigen. Wir<br />

verbrachten unsere Ferien an der Costa del Sol, genauer gesagt<br />

in Fuengirola nicht weit von Marbella. Als das erste richtige<br />

Geld <strong>aus</strong> meiner Firma floss und ich in eine hohe Steuerprogression<br />

geriet, wollte ich besonders gescheit sein und beteiligte<br />

mich an einer sogenannten Verlustgesellschaft. Verlustzuweisung,<br />

das war das Zauberwort der 70er Jahre. So konnte<br />

ich einen Teil meiner Steuern sparen, hatte dafür aber eine<br />

Beteiligung an einer dubiosen Firma am Hals. In diesem Fall<br />

80


an der Pan-International. Das war eine neue Airline. Die neuen<br />

britischen BAC One Eleven-Maschinen wurden geflogen.<br />

Charterflüge für den Reiseveranstalter Pan Europa, eine<br />

Schwesterfirma von Pan-International und auch für andere<br />

P<strong>aus</strong>chalreiseanbieter. Das Geschäft florierte angeblich glänzend,<br />

so dass die Gesellschaft nach kürzester Zeit zwei weitere<br />

große Maschinen, die damalige, häufig geflogene Boeing 707,<br />

für den Ferntourismus hinzukaufte. Die Firma hatte einen<br />

zwanzig Seiten starken Prospekt in den Reisebüros <strong>aus</strong>liegen,<br />

der grafisch auf kaschiertem Kunstdruckpapier mit seinen<br />

Aufnahmen von fernen Ländern und von der Ausstattung der<br />

Flugzeuge dem Betrachter fast den Atem raubte. Als ich ihn<br />

durchblätterte, schwoll mir die Brust: „Das ist auch meine Firma!<br />

Die verstehen ihr Geschäft.“ Und eines Tages boten sie<br />

mir als Miteigentümer einen stark verbilligten Flug nach Malaga<br />

an. Mir und meiner großen Familie.<br />

„Wir fliegen im eigenen Flugzeug“, rief ich den Kindern zu.<br />

Natürlich stimmte das nicht, denn ich hatte nur eine kleine<br />

Beteiligung und die Firma stand kurz vor der Pleite, was ich<br />

natürlich nicht wusste. Die Finanzierungskosten für die Flugzeuge<br />

waren zu hoch, die Flugzeuge gehörten schon längst der<br />

Bank. Als dann ein Jahr später eine One Eleven kurz nach dem<br />

Start in Fuhlsbüttel in Brand geriet, danach auf der Autobahn<br />

notzulanden versuchte und an einem Brückenpfeiler zerschellte,<br />

wobei von den 115 Insassen 21 den Tod fanden, sperrten<br />

die Banken alle Kredite und die Firma ging in Konkurs. Totalverlust.<br />

Zwei bei der Firma beschäftigte Mechaniker hatten<br />

einen Fehler bei der Betankung des Flugzeugs gemacht. Anstatt<br />

destillierten Wassers hatten sie Benzin in die dafür vorgesehenen<br />

Behälter eingefüllt. Beim Starten einer voll beladenen<br />

Maschine dieses Flugzeugtyps wird nämlich Wasser in die<br />

Triebwerke zusätzlich eingespritzt, um die Schubkraft durch<br />

81


die Dampfentwicklung des eingespritzten Wassers zu erhöhen<br />

und nicht Benzin, das zur Explosion der Triebwerke führt.<br />

Die Mechaniker schüttelten nur den Kopf. „Wasser, das kann<br />

nicht sein. Ein Flugzeug fliegt niemals mit Wasser.“ Und sie<br />

füllten Benzin ein, das die Triebwerke explodieren ließ.<br />

Unter Berücksichtigung der teilweise vom Finanzamt anerkannten<br />

Verluste hatte ich 50 000 DM verloren. Viel Geld für<br />

damalige Verhältnisse.<br />

So waren wir in Fuengirola gelandet. Mein Sohn war 13 Jahre<br />

alt und voller Tatendrang. Die drei Mädchen 11, 9 und 6<br />

Jahre alt. Ich hatte den Eindruck, dass er darunter litt, sich<br />

gleich mit drei Schwestern <strong>aus</strong>einandersetzen zu müssen.<br />

Vielleicht fühlte er sich auch manchmal zurückgesetzt. Mädchen<br />

weinen bei dem geringsten Anlass und setzen sich so mit<br />

ihren Wünschen eher durch. Ich dachte: „Er sollte seinen Vater<br />

einmal ganz für sich alleine haben. Einen ganzen Tag lang.<br />

Wie wäre es, wenn wir zusammen eine Wanderung in die Berge<br />

machten? Einen Tag lang nur wir beide?“<br />

Aus einem Fenster unseres Appartments konnten wir einen<br />

Berg in der Ferne erkennen. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Camelback,<br />

den wir gerade bestiegen. „Das ist unser Ziel“, rief ich<br />

<strong>aus</strong>. „Diesen Berg werden wir erklimmen.“<br />

Wir packten für jeden ein Vesperbrot ein und nahmen einige<br />

Flaschen Wasser mit. Nach dem Frühstück machten wir uns<br />

auf den Weg. Der Weg zog sich hin und wir redeten<br />

miteinander. Ich wollte alles von ihm wissen, was ihm Freude<br />

machte, was er sich wünschte, von der Schule, seinen Lehrern<br />

und alles über seine Freunde. Was ihn bewegte. Wir hatten am<br />

Tag zuvor jeder ein Jo-Jo gekauft. Wir übten während des Gehens.<br />

Es rollte sich ab und wieder auf. Er war darin so gut,<br />

dass er bald richtige Kunststückchen damit <strong>aus</strong>führen konnte.<br />

Ich gab mich geschlagen, ich war keine Konkurrenz für ihn. Er<br />

82


freute sich darüber, dass er in dem Spiel besser war als ich.<br />

Aber nicht nur in diesem Spiel war er besser. Ich spielte hin<br />

und wieder mit ihm das chinesische Spiel „Go“. Das ist ein<br />

strategisches Brettspiel mit beliebig vielen Steinchen. Die Chinesen<br />

verwenden gelegentlich dazu auch Bohnen. Das Ziel des<br />

Spiels ist es, die Steine so zu setzen, dass die gegnerischen Steine<br />

eingezingelt werden, nicht mehr fahren können und daher<br />

weggenommen werden können. Erst kürzlich habe ich gelesen,<br />

dass es bis heute noch nicht gelungen sei, ein einigermaßen<br />

brauchbares Computerprogramm dafür zu schreiben, ähnlich<br />

einem Schachprogramm. Zu kompliziert. Der Möglichkeiten<br />

zu viele. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses Problem in der<br />

Zukunft auch gelöst werden wird. Meistens verlor ich. Der<br />

Junge konnte denken. Er war einfach gut.<br />

Er fragte mich: „Daddy, warum müssen wir eigentlich den<br />

Berg besteigen? Was gibt es Besonderes da oben? Wir sind doch<br />

jetzt schon so weit gelaufen.“<br />

Ich antwortete: „Weißt du, es ist immer gut, wenn man sich<br />

ein Ziel setzt. Ein besonderes Ziel ist eben der Gipfel eines Bergs.<br />

Von da geht es nicht mehr weiter. Von da kannst du nach allen<br />

Richtungen blicken. Die Aussicht ist unvergleichlich schön.<br />

Die Welt liegt dir zu Füßen. Nach dem anstrengenden Aufstieg<br />

wirst du mit einem Glücksgefühl belohnt. Du hast das<br />

dir gesteckte Ziel erreicht, das dir selbst Vorgenommene geschafft.<br />

Manche Menschen suchen sich dafür sogar sehr hohe<br />

Berge <strong>aus</strong>, wie den Kilimandscharo, den höchsten Berg Afrikas,<br />

oder den Mount Everest, den höchsten der Welt. Manchmal<br />

setzen sie dabei sogar ihr Leben aufs Spiel.“<br />

Als wir mit dem Aufstieg begannen, rutschte ich auf dem<br />

Geröll fünf Meter ab. Vergeblich versuchte er, mich zu stützen.<br />

Ich hatte mich nicht verletzt, aber er baute sich vor mir<br />

auf und sagte:<br />

83


„Auch von hier <strong>aus</strong> haben wir einen weiten Blick ins Land.<br />

Warum sollen wir denn auf die Spitze klettern? Wir werden<br />

dort nichts Anderes sehen als von hier. Es wird sehr lange dauern,<br />

bis wir oben sind. Wir werden erst in der Nacht zurückkehren.<br />

Lass uns doch lieber jetzt umkehren.“<br />

Ich überlegte. Er hatte recht. Manchmal sollte man sein sich<br />

gestecktes Ziel, wenn noch Zeit dazu ist, aufgeben. Auch in<br />

dieser schattigen Felsnische können wir die mitgebrachten<br />

Brote essen und unsere Flaschen leeren. Wir müssen dazu nicht<br />

auf dem Gipfel sein.<br />

Und gestärkt wanderten wir, immer noch Jo-Jo spielend,<br />

zurück zu unserem Appartment, kamen viel zu früh an und<br />

luden die anderen ein, mit uns Monopoly zu spielen.<br />

Meine Gedanken kehrten zurück, als Anton vor mir stolperte.<br />

Den zweiten Höcker hatten wir erreicht. Anton atmete tief.<br />

Er schaute auf meinen Rucksack. Sagte aber nichts. Ich lächelte<br />

innerlich. Er glaubte wohl, dass im Rucksack etwas zu trinken<br />

war. Kühles Wasser in Flaschen zum Beispiel, eingewickelt<br />

in nasse Tücher. Wenn er sich nur nicht täuschte. Der steilste<br />

und schwerste Aufstieg zur Bergspitze stand bevor. Klettern<br />

über hohe, kantige Felsbrocken war angesagt. Auf allen Vieren.<br />

Wir halfen uns gegenseitig. Zogen uns gegenseitig hoch.<br />

Von Felsplattform zu Felsvorsprung. Zerklüftete braune Felsen,<br />

die mit ihren bizarren Formen jede gestalterische Fantasie<br />

übertrafen. Nur jetzt nicht abrutschen. Die Tennisschuhe<br />

bewährten sich besser als ich erwartet hatte. Jetzt nur noch<br />

wenige Meter. Wir standen oben! Auf der Bergspitze! Nach<br />

dem Erklimmen eines Berggipfels breitet sich bei den meisten<br />

Menschen ein euphorisches Gefühl <strong>aus</strong>. So auch bei uns. In<br />

diesem Überschwang der Gefühle schweifte unser Blick von<br />

Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Es war<br />

schaurig schön. Braune Wüste mit zerklüfteten, braunen Ber-<br />

84


gen. Kahl, vegetationslos. Dahinter, wie in einer plötzlich einsetzenden<br />

Farbexplosion, das blaue Meer mit einem darüber<br />

gespannten, hellblauen Himmel, über den weiße Kumuluswolken<br />

jagten. Am fernen Horizont entdeckten wir Wanderdünen.<br />

Das musste die Sotavento-Beach sein. Bunte Flecken auf<br />

dem Meer. Surfer mit ihren farbigen Segeln. Hier werden hin<br />

und wieder die Weltmeisterschaften im Surfen <strong>aus</strong>getragen.<br />

Wie die jungen Leute das Brett beherrschten. Schlugen Saltos<br />

mit ihrem Brett. Landeten auf einer Welle und sprangen wieder<br />

durch die Luft. Und dort waren größere Farbtupfer, weiß und<br />

rot. Katamarane, die das Wasser wie Butter schnitten und mit<br />

ihren Segeln fast das Wasser berührten. Unwirklich, nicht in<br />

die Landschaft passend, breitete sich vor uns ein großer, grüner<br />

Fleck <strong>aus</strong>. Wie eine Oase. Der Aldiana Club. Den leichten<br />

Wind spürten wir auf unserem Gesicht, auf unserer Haut. Wir<br />

atmeten die gefilterte pollenfreie Luft des Atlantiks ein und<br />

den Staub des Schotters <strong>aus</strong>. Reinigten so die Lungen. Der Puls<br />

ging wieder auf normal zurück. Und wieder sah ich, wie Antons<br />

Blick auf meinen Rucksack geheftet war. Zwei Meter unter<br />

uns war eine Ausbuchtung unter einem Felsvorsprung. Wie<br />

eine kleine Höhle. Davor lagen in einer Reihe drei große Steine<br />

aufgetürmt, eine Sitzgelegenheit für Anton, eine für mich und<br />

zwischen uns ein natürlicher Tisch. Meine Erinnerung von<br />

meiner ersten Besteigung hatte mich nicht im Stich gelassen.<br />

Damals hatte ich mich auf einen der Steine gesetzt und mit<br />

meinen Walkman Musik gehört. Damals jedoch hatte ich diese<br />

unerklärliche Unruhe in mir nicht gespürt.<br />

„Lass uns hier Rast machen“, schlug ich Anton vor. Ich setzte<br />

mich und nahm umständlich den Rucksack ab. Öffnete ihn<br />

langsam. Ließ die Schnur gemächlich durch die Hand gleiten.<br />

Gespannt folgte Anton dem Vorgang. Gibt es Wasser?<br />

85


Zum Vorschein kam aber ein Schachbrett! Ich griff in den Rucksack<br />

und kramte auch noch die Schachtel mit den Figuren her<strong>aus</strong>.<br />

Helle Freude breitete sich auf Antons Gesicht <strong>aus</strong>. Seine<br />

Mundwinkel strebten nach oben seinen Augen zu.<br />

„Ein Schachspiel“, rief er entzückt. „Du bist doch ein verrückter<br />

Kerl!“ Und schon hatte er das Brett auf den natürlichen<br />

Tisch zwischen uns gelegt und die Figuren aufgestellt.<br />

„Willst du Schwarz oder Weiß?“, fragte er, „und ich dachte<br />

die ganze Zeit, dass du zwei Flaschen Wasser in deinem Rucksack<br />

hättest. Aber ehrlich, lieber spiele ich mit dir eine Partie<br />

Schach und bleibe eben ein bisschen länger durstig.“<br />

„Ich spiele mit Schwarz“, und zog, während ich das sagte,<br />

zwei gekühlte Flaschen mit Wasser <strong>aus</strong> dem Rucksack her<strong>aus</strong>.<br />

„Wie du siehst, habe ich auch an den Durst gedacht.“<br />

Jetzt war das Glück perfekt. Die Seeluft des Atlantiks in den<br />

Bronchien, ein Schluck kalten Wassers in der Kehle, ein Ausblick<br />

auf die Sotavento-Beach und ein Schachspiel vor den<br />

Augen. Das alles ließ das Herz bis zum Anschlag schlagen.<br />

Anton aber wusste nicht, dass das die geplante Inszenierung<br />

für meine Revanche war. Der Ort war dazu wie geschaffen,<br />

und die Zeit gekommen. Ich wollte bei dieser Partie auch nicht<br />

den geringsten Vorteil haben, nicht einmal den Anzugsvorteil<br />

von Weiß. Deshalb hatte ich Schwarz gewählt. Er zog mit dem<br />

Königsbauern, seiner Standarderöffnung. Er liebte es, sofort<br />

anzugreifen. Mit dem größtmöglichen Risiko. Koste es, was es<br />

wolle. Wie beim Tennisspiel, Hopp oder Topp. Ich wählte die<br />

passive Caro-Kann-Verteidigung, genannt nach zwei Österreichern,<br />

die sie in den 20er Jahren erforscht hatten. Allerdings<br />

dauerte es dann sehr lange, bis sie zum ersten Mal 1958 bei<br />

einer Weltmeisterschaft angewandt wurde, und zwar von dem<br />

damals amtierenden Weltmeister Botwinnik, Meister der strategischen<br />

Planung, Meister der Verteidigung, um im Endspiel<br />

86


Der Wanderweg über den H<strong>aus</strong>berg – „Camelback“<br />

mit einem Bauernvorteil das Spiel zu gewinnen. Zermürbende<br />

und nervenaufreibende Geduldspartien.<br />

Sollte Anton sich doch bei seinem überstürzten Angriff die<br />

Zähne <strong>aus</strong>beißen. Steckenbleiben. Ich hatte Zeit. Wie war das<br />

doch? Die Zeit ist wie eine Hure. Den einen verwöhnt sie mit<br />

süßem Honig, den anderen bestraft sie mit Bittermandeln. Eines<br />

Tages wird sie dich verführen, wird sie ihn verführen, den<br />

falschen Zug zu machen.<br />

Nicht, dass es zu wichtig wäre, wer gewinnt, versichert man<br />

sich gegenseitig, aber denken tut man anders. Den anderen<br />

schachmatt zu setzen ist ein geiles Gefühl. Und außerdem winkt<br />

der Wetteinsatz von zehn Euro. Die will ich wieder haben, die<br />

ich beim letzten Mal verloren hatte.<br />

Die Caro-Kann-Verteidigung glitt in die französische Verteidigung<br />

ab, die Schachvariante, die ich von allen am besten<br />

87


kannte. Jetzt hatte er verloren! Und nach einigen weiteren<br />

Zügen gab er auf, nachdem er mit einer Figur im Rückstand<br />

lag. Er zog seinen Geldbeutel <strong>aus</strong> der Tasche und legte die zehn<br />

Euro auf das Brett.<br />

Wir begannen mit dem Abstieg auf der anderen Seite des<br />

Bergs. Geröll unter den Schuhen. Gefährlich. Er stürzte. Verletzte<br />

sich am Knie. Blutete. Wir mussten noch langsamer gehen.<br />

Schließlich kamen wir am Meer an, an einem breiten Sandstrand.<br />

Das Schwimmen im kalten Meerwasser wusch den<br />

Schweiß und den braunroten Staub von unserer Haut, verjagte<br />

unsere Gedanken von dem gerade zu Ende gegangenen Spiel.<br />

Und das Salzwasser desinfizierte die Wunde an Antons Knie.<br />

Dann drohte Anton: „Warte nur den heutigen Nachmittag<br />

ab. Du bist heute mein Gegner und nicht mein Partner im Doppel.<br />

Ich spiele mit Kurt. Du musst mit Frank vorlieb nehmen.<br />

Und meine Revanche im Schach kommt morgen.“<br />

Ich weiß: Nur durch Zufälle von reinster Vollkommenheit<br />

wird die Welt zur Spielerbühne. Der eine wird belohnt mit süßem<br />

Honig, der andere bestraft mit Bittermandeln.<br />

Wir waren an dem breiten Sandstrand angelangt, an dem<br />

sich Heinz‘stillgelegter Kalkofen an einer kleinen Felserhöhung<br />

anschmiegte. Heinz war der Eremit, der schon vor vielen Jahren<br />

den verlassenen Ofen bezogen hatte und von dem viele<br />

<strong>Geschichten</strong> im Umlauf waren. Ein nicht endendes Thema bei<br />

den Mahlzeiten im Aldiana Club.<br />

In einer Hinsicht waren alle einer Meinung, dass er ein hervorragender<br />

Masseur war und manch einer vom Club war<br />

schon auf der Betonplatte gelandet, die er in Arbeitshöhe vor<br />

dem Kalkofen aufgestellt hatte. Sie war mit geflochtenen Schilfmatten<br />

umgeben, um neugierige Blicke vom Strand herauf<br />

abzuhalten. Ich hatte Anton schon von diesem exzentrischen<br />

Mann erzählt, der eine sichere Existenz in Berlin aufgegeben<br />

88


und gegen dieses Leben als Einsiedler einget<strong>aus</strong>cht hatte. Er<br />

brauchte keine Kleidung in diesem Klima. Er lief nackt umher,<br />

wie viele der Urlauber, die sich Steinburgen am Strand aufschütteten,<br />

um darin den Tag zu verbringen. Sie waren oft von<br />

der Sonne so gebräunt, dass man sie ohne Weiteres für Mulatten<br />

hätte halten können. Auch er war so braun, hatte strähnige<br />

blonde Haare, einen schlanken Körper und <strong>aus</strong>geprägte<br />

Gesichtszüge, denen, wenn man wollte, eine gewisse Verruchtheit<br />

andichten konnte. Denn es hatte sich natürlich herumgesprochen,<br />

dass er beileibe nicht nur massierte. Er soll eine<br />

Strichliste in seiner Beh<strong>aus</strong>ung an der Wand befestigt haben,<br />

in der er seine Eroberungen eintrug. Es sollen in den zehn Jahren<br />

über 500 Striche sein. Ehrbare Damen, die sich unbeobachtet<br />

fühlten und frei in ihrem Urlaub, waren nach einer<br />

gründlichen Massage eine leichte Beute für ihn. Der Sex war<br />

für die Damen unkompliziert, und es war einfach schön, mit<br />

einem Mann zu schlafen, der zärtlich war und potent. Ein kleines,<br />

verschwiegenes Abenteuer im Urlaub konnte nicht schaden.<br />

In dem verlassenen Kalkofen, der am Boden über und über<br />

mit weichen Schaffellen bedeckt war, roch es nach Parfüm,<br />

Liebe und auch ein bisschen nach Schaf.<br />

„Vielleicht kann er uns eine Binde für dein Knie geben“, sagte<br />

ich zu Anton. „Lass uns ihn aufsuchen. Meistens sitzt er<br />

draußen auf einem der großen Felsbrocken vor seiner Hütte<br />

und beobachtet die Menschen, die am Strand entlanggehen,<br />

wenn er gerade nichts zu tun hat.“<br />

„Das muss der Mann sein, von dem mir Ursula erzählt hat“,<br />

rief Anton. „Sie muss bei ihm gewesen sein. Ich sagte ihr, dass<br />

ich das nicht gut fände, aber sie erwiderte, es sei alles ganz<br />

harmlos und die Massage würde ihrem Rücken helfen.“<br />

Als wir uns dem Ofen näherten, hörten wir das Kichern ei-<br />

89


ner Frauenstimme. Der Zugang zum Ofen war mit einer Decke<br />

verhängt, damit man nicht hineinschauen konnte.<br />

„Heinz, hast du einen Moment Zeit?“, rief ich, wohlwissend,<br />

dass er beschäftigt war. Heinz antwortete: „Wir kommen<br />

gleich.“ Die beiden traten her<strong>aus</strong>. Er, wie immer, nackt. Sie mit<br />

einem Tuch um ihren Körper gewickelt, die blonden Haare<br />

hochgesteckt. Ich bemerkte, wie Anton kreidebleich wurde.<br />

Seine großen Hände ballten sich zu Fäusten, spreizten sich und<br />

ballten sich wieder. Alles Blut war <strong>aus</strong> seinem Kopf gewichen,<br />

als er vortrat und Heinz mit einer geraden Rechten niederstreckte.<br />

Dann fasste er die junge Frau mit beiden Händen. Sie<br />

schlossen sich um ihren Hals. Panik war in ihren Augen zu<br />

lesen. Sie wollte schreien, es gelang ihr nicht. Nur ein unterdrücktes<br />

Krächzen kam <strong>aus</strong> ihrer Kehle.<br />

„Das ist nicht so, wie du denkst, alles ist ganz anders, alles<br />

ist ganz harmlos, du musst dir keine Sorgen machen.“ Und<br />

wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Die junge Frau musste<br />

Antons Freundin Ursula sein. Sie hatte sich mit dem Eremiten<br />

eingelassen.<br />

Welch Katastrophe! Ich schrie: „Lass los, Anton, lass um<br />

Himmelswillen los“ und versuchte der jungen Frau zur Hilfe<br />

zu kommen, seine Hände <strong>aus</strong>einander zu wuchten, als mich<br />

ebenfalls ein Schlag im Gesicht traf und ich benommen zu<br />

Boden sank. Als ich wieder zu mir kam, lag Anton neben der<br />

jungen Frau im feuchten Sand weiter unten am Strand und<br />

weinte. Mit einer seiner großen Hände streichelte er zärtlich<br />

ihr Haar. Er war so verletzt, dass er sie mit seinen großen Händen<br />

in einem R<strong>aus</strong>ch von Wut und unendlicher Enttäuschung<br />

bewußtlos gewürgt hatte. Er war nicht er selbst gewesen.<br />

Neben mir lag ein kleines Handtäschchen. Ich öffnete es wie<br />

mechanisch, ohne nachzudenken, um nachzusehen, wem es<br />

wohl gehören könnte. Eine Ersatzhandlung. Ein kleines,<br />

90


schwarzes Bikinihöschen kam zum Vorschein. Darunter lag<br />

ein grün-rot gestreiftes, angebrochenes Schächtelchen mit der<br />

Aufschrift Fromms Präservative. Ein Foto von Anton war auf<br />

der Klappenrückseite des Täschchens einrahmt mit der Aufschrift:<br />

„Für meine ganz große Liebe, für Ursula.“<br />

91


Der Israeli<br />

eine wahre Geschichte<br />

Ich fuhr die B 31 entlang. Die Geschwindigkeit war zu hoch.<br />

Die kümmerlichen Reste der ehemaligen Heidenhöhlen waren<br />

in den rechts aufragenden Molasse-Felsen zu erkennen.<br />

Sipplingen tauchte auf. Mit dem charakteristischen schlanken<br />

Kirchturm, der zum Himmel ragte. Nicht ganz, denn die Spitze<br />

verschwand in den niedrig hängenden grauen Wolken, die<br />

langsam wie Nebelschwaden von dem noch graueren See aufzogen.<br />

Weit weg war das sich sonst im Frühjahr bietende Bild,<br />

das das Dorf und seine Umgebung in einem Farbenmeer zeigte,<br />

mit weißen Kirschblüten, hellgrünen Buchenblättern, kleinen<br />

Sanddornblüten und rosaroten Apfelblütenknospen. Farbenfrohes<br />

Sipplingen!<br />

Doch heute war ein grauer Novembertag, typisch für die<br />

Bodenseeregion. Die vorgeschriebene Geschwindigkeit durch<br />

Sipplingen war nur 30 km/h. Von der fast schwarzen Asphaltdecke<br />

spritzte schmutziges Wasser auf die Windschutzscheibe.<br />

Der Behälter für die Waschanlage war leer. Die kaputten<br />

Scheibenblätter schmierten. Ich rückte näher an die Scheibe<br />

heran, um besser sehen zu können. Eine Möwe flog tief über<br />

den Wagen. Krächzte und ließ fallen. Weißes. Die Wischer verarbeiteten<br />

auch diesen Dreck. Ein weißer Film auf der Scheibe<br />

blieb zurück. Trocknete. Es blitzte. Ich war in die Radarfalle<br />

getappt. Die Straße durch Sipplingen war für die Verkehrspolizei<br />

sicher ein einträgliches Geschäft. Hoffentlich wird das<br />

keine Punkte in Flensburg geben. Der frühe Novembermorgen<br />

fing ja heiter an. Was wird mich nur in meinem Büro in Singen<br />

erwarten, wenn der Tag schon so angefangen hat?<br />

„Sie sollen sofort zu Dr. Huber kommen“, sagte mir die Dame<br />

am Empfang lapidar, wobei sie ihr Gesicht verzog. Sie mochte<br />

92


den Doktor nicht. Ihre Vorgeherin hatte er kurzerhand r<strong>aus</strong>geschmissen.<br />

Sie hatte Angst vor ihm. Sie erwiderte meinen<br />

Gruß, allerdings ohne mich dabei anzusehen. Sie widmete sich<br />

ganz ihren Fingernägeln, die sie gerade mit einem grellen Rot<br />

lackierte. Auch gut. Sie passten zu ihrer hellen Haut, zu ihrer<br />

schlanken Figur und den viel zu hohen Stöckelschuhen, die<br />

ihre Füße schmücken sollten. Sofort zu dem Doktor kommen,<br />

verhieß nichts Gutes. Irgendetwas war wieder einmal schiefgelaufen.<br />

Ich sah ihn schon im Geiste hinter seinem protzigen<br />

Schreibtisch sitzen. Seine kleine Äuglein stachen schwarz. Er<br />

rückte auf seinem Sessel hin und her, fuhr mit seinen manikürten<br />

Fingern durch seine wild abstehenden grauen Haare,<br />

wie um sie zu bändigen, so, als ob er sich jetzt schon zusammenreißen<br />

müsste, um nicht einen cholerischen Anfall zu bekommen.<br />

Einmal jedoch, als er die Stimme viel zu laut erhob, war ich<br />

einfach <strong>aus</strong> dem Zimmer gelaufen und habe im Hin<strong>aus</strong>gehen<br />

gesagt:<br />

„Ich bin in diesem Betrieb nicht angestellt. Auf diese Weise<br />

reden Sie bitte nicht mit mir.“ Offenbar hatte er sich das gemerkt.<br />

Wenn er etwas von mir wollte, musste er höflich sein,<br />

wie es sich unter gebildeten Menschen gehörte. Auch keine<br />

lateinischen Sprüche wollte ich hören und schon gar keine<br />

Altgriechischen, die nur den Sinn haben konnten, mich daran<br />

zu erinnern, dass er im Gegensatz zu mir eine humanistische<br />

Ausbildung genossen hatte.<br />

„Endlich sind Sie da“, blaffte er.<br />

„Ich warte schon sehr lange auf Sie. Ich habe gestern Abend<br />

noch einen Anruf <strong>aus</strong> Hamburg erhalten. Die von uns nach<br />

Ihren Plänen gebaute und gelieferte Maschine ist nach kurzem<br />

Betrieb <strong>aus</strong>gefallen. Haben Sie eine Erklärung dafür? Der<br />

Kunde ist außer sich. Seine chemischen Reinigungsmaschinen<br />

93


stehen. Er will uns regresspflichtig machen. Sie wissen ja, dass<br />

ich keinem Prozess <strong>aus</strong> dem Weg gehe. Ich genieße Prozesse<br />

sogar, wenn sie am Landgericht Konstanz stattfinden, aber in<br />

diesem Fall müsste ich nach Hamburg reisen, und das ist mir<br />

zu weit. Sie müssen heute noch nach Hamburg fahren und nach<br />

dem Rechten sehen“, schnauzte er im militärischen Ton, den<br />

er einfach nicht ablegen konnte. Strafbataillon 999 ließ grüßen.<br />

Wegen dieser kleinen Anlage sollte ich nach Hamburg fahren?<br />

Fast 2 000 km hin und zurück! Die Fahrt kostete mehr als<br />

die ganze Maschine wert war. Der Kunde hatte die billigste<br />

und kleinste Maschine gekauft. Ich hatte eine Vermutung. Der<br />

Bursche hatte kein Geld. Er reklamierte, damit er die fällige<br />

Rechnung nicht bezahlen musste. Ich kannte diese Masche. Ich<br />

hatte noch keinen Betreiber einer chemischen Reinigungsanlage<br />

kennengelernt, der bei uns eine Maschine gekauft und<br />

pünktlich bezahlt hatte.<br />

„Hat er denn die Rechnung schon bezahlt?“, wagte ich als<br />

Einwand.<br />

„Das spielt keine Rolle“, polterte der Doktor, der Betriebswissenschaft<br />

studiert hatte, aber immer noch Schwierigkeiten<br />

hatte, Kunden und Lieferanten <strong>aus</strong>einanderzuhalten. Irgendetwas<br />

musste in seinem Studium schiefgelaufen sein.<br />

„Und ob“, entgegnete ich. „Der Kunde spielt auf Zeit. Bei<br />

Besitzern von chemischen Reinigungsanlagen ist dies nicht<br />

verwunderlich. Keiner von ihnen hat Geld. Sie operieren am<br />

Existenzminimum. Doch wegen einer solchen Lappalie fahre<br />

ich nicht nach Hamburg. Der Aufwand ist nicht gerechtfertigt“,<br />

fügte ich noch erklärend hinzu.<br />

Der Doktor war mir nicht weisungsbefugt, da ich freier Mitarbeiter<br />

der Firma war. Bei diesem trüben Wetter auf nassen<br />

94


Autobahnen hatte ich nicht die geringste Lust auf eine zehnstündige<br />

Autofahrt nach Hamburg.<br />

Auf seinen überraschten Blick hin zeigte ich meine Bereitschaft,<br />

doch etwas zu unternehmen.<br />

„Ich rufe den Mann an. Ich biete ihm einen kleinen Nachlass<br />

auf die Rechnung an, wenn er innerhalb von 14 Tagen bezahlt.<br />

Sie werden sehen, dass er darauf eingeht und die Reklamation<br />

damit erledigt ist.“<br />

„Einverstanden. Tun Sie das aber gleich und informieren Sie<br />

mich sofort nach Ihrem Gespräch“, stichelte er weiter.<br />

Am Telefon sagte ich dem Mann zu, dass wir ihm einen weiteren<br />

Nachlass von fünf Prozent und ein verlängertes Zahlungsziel<br />

von weiteren vierzehn Tagen eingeräumt hatten. Ich<br />

sagte ihm auch zu, dass ein Monteur von uns in den nächsten<br />

zwei Wochen vorbeikommen würde, der ohnehin in Hamburg<br />

zu tun hatte. Damit war der Mann zufrieden. So falsch war<br />

also meine Einschätzung nicht gewesen. Wenn die Maschine<br />

wirklich nicht gearbeitet hätte, wäre er mit dieser Regelung<br />

sicher nicht einverstanden gewesen.<br />

Zurück in meinem Büro, finde ich meinen Schreibtisch mit<br />

Arbeit überhäuft vor. Die Werkstatt brauchte Zeichnungen.<br />

Ein Vortrag sollte in einem Ingenieurbüro in Frankfurt gehalten<br />

werden. Das Manuskript war noch nicht geschrieben. Technische<br />

Berichte sollten erstellt werden. Die Ausbildung von<br />

Technikern stand auf dem Programm, war immer wieder verschoben<br />

worden. Mein Kopf brummte nur vom Ansehen des<br />

herumliegenden Papiers. Sollte das mein Los in den besten Jahren<br />

meines Lebens sein? Ich war erst 45! Noch voller Unternehmungsgeist<br />

und Abenteuerlust! Sollte das viele Papier mich<br />

aufreiben, mich unter sich begraben? Das konnte ich doch nicht<br />

zulassen. Ich brauchte einen Befreiungsschlag!<br />

Draußen schien die Welt unterzugehen. Starker Wind war<br />

95


aufgekommen und pfiff, weiße Nebel vor sich hertreibend, um<br />

die Ecken des Hochh<strong>aus</strong>es. Ich schüttelte mich unwillkürlich,<br />

als ob der kalte Regen mir den Rücken hinunterlaufen würde.<br />

Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt angekommen. Unserem<br />

Doktor ging es in einer solchen Stimmungslage besser.<br />

Er zog dann den Schreibtisch auf, schenkte sich einen doppelten<br />

Kognak ein, einen, den er eigentlich für Kundenbesuche<br />

bereithielt, schwenkte das Glas, bis das Getränk die richtige<br />

Temperatur erreicht hatte und zu duften anfing, und brachte<br />

es dann genüsslich zu Nase und Mund. Die Nasenflügel zitterten.<br />

Er schmatzte beim Trinken, als ob er essen würde. Französischer<br />

Kognak! Natürlich der Teuerste vom Teueren. Die<br />

Firma bezahlte ja. Kein Problem. Mir widerstrebte so etwas.<br />

Ich trank nur das im Büro, was ich auch selbst bezahlt hatte,<br />

wenn ich allein war und nicht gerade Kunden betreuen musste.<br />

Außerdem konnte ich so früh am Morgen keinen Alkohol<br />

vertragen. Er lähmte meine Initiative, blockierte meinen Verstand.<br />

Die Reisebroschüre in der Ablage starrte mich an. Bunte Segel<br />

auf azurblauem Meer. Kleine weiß getünchte Bungalows<br />

in grünen Gärten mit Palmen und Bougainvillea. Kahle Berge<br />

im Hintergrund. „Urlaub unter Freunden“ war aufgedruckt.<br />

„Gönnen auch Sie sich einen Urlaub im Aldiana Club <strong>Fuerteventura</strong>.“<br />

Verführerische Werbung. Nicht, dass ich den Club<br />

nicht kannte! Doch immer wieder faszinierten mich die Bilder.<br />

Ich sah mich schon im Geiste am Strand entlanggehen.<br />

Ein Sprung ins Wasser, das über mir zusammenschlug. Ich atmete<br />

tief durch. Das Salzwasser spürte ich auf meiner Zunge.<br />

Das könnte ich alles morgen haben!<br />

Die schwarzhaarige Hannelore schwebte vorbei. Erkannte<br />

mich, lag mir in den Armen. Ich fühlte, wie sich ihre empfindliche<br />

Brust an meiner rieb. Ich war im Himmel. Ich musste jetzt<br />

96


nur den Hörer aufnehmen und sie anrufen. Ich wusste, dass<br />

sie kommen würde, wenn sie es irgendwie nur einrichten konnte.<br />

Sie brauchte mich so wie ich sie. Zumindest einmal im Jahr<br />

vierzehn Tage lang.<br />

Doch zuerst war das Reisebüro an der Reihe. Versäumte ich<br />

irgendetwas, wenn ich morgen fliegen würde? Nein, es gab<br />

nichts Wichtiges, was unaufschiebbar wäre. Nur ein undefinierbares<br />

Hemmnis war in meinem Kopf, ein Relikt meiner<br />

Erziehung. „Du kannst das nicht machen. Du hast eine Verpflichtung<br />

deiner Familie gegenüber. Deinem Brötchengeber.<br />

Deinen von dir abhängigen Arbeitnehmern. Deinen Freunden.<br />

Deinen Tennispartnern in dem bevorstehenden Aufstiegsspiel.“<br />

Meine Hand bewegte sich dann doch zum Telefonhörer,<br />

nahm ihn ab, wählte die Nummer des Reisebüros. Ich hörte<br />

mich sagen: „Morgen will ich fliegen.“ Die Reisetante kannte<br />

meine überstürzten Wünsche. Sie fragte nicht einmal nach dem<br />

Reiseziel. Zu oft hatte ich den Club schon gebucht. Sie antwortete<br />

geschäftstüchtig:<br />

„Ein Platz ist noch frei, Flug Morgen um sechs ab Friedrichshafen.“<br />

„Ist auch ein Flug von Düsseldorf noch zu haben. Ja? Buchen<br />

Sie beide!“<br />

Anstatt nach Hamburg zu dem schlitzohrigen Kunden zu<br />

fahren, war ich jetzt gewissermaßen schon unterwegs nach<br />

<strong>Fuerteventura</strong>. Hurra! Abermals griff ich zum Hörer. Wie war<br />

noch die Nummer von Hannelore? Schon vergessen? Vorwahl<br />

von Köln. Jetzt hatte ich sie.<br />

„Du rufst mich doch an, wenn du fliegst?“, hatte sie gesagt.<br />

„Sicher? Oder wirst du mich ganz vergessen?“<br />

Wenn das der Doktor wüsste! Hannelore war seine Frau gewesen.<br />

Sie hatte ihn vor fünf Jahren verlassen und war von<br />

Singen nach Köln gezogen.<br />

97


Wie könnte ich sie je vergessen, sie und die Stunden mit ihr<br />

in der aufgetürmten Steinburg am leeren Fuertestrand? Die<br />

Stunden auf dem zerwühlten Bett bei offenem Fenster auf dem<br />

Rücken liegend mit freiem Blick auf das Meer? Das Necken<br />

beim Schwimmen im Meer, das anschließende Abtrocknen ihres<br />

perfekt geformten Körpers, mit der sonnengebräunten<br />

mediterranen Haut, an der das Salzwasser nur so herunterperlte.<br />

Solche Erlebnisse brauchte ich jetzt, um meine ganz<br />

unten angekommenen Lebensgeister wieder zu wecken. Abschalten,<br />

nur noch fühlen und lieben. Keine nervtötenden Überlegungen<br />

über Produkte, Kunden, Mitarbeiter mehr anstellen,<br />

keine unnützen Gedanken über Verkaufskurven und Statistiken<br />

verlieren, die nur zu weiteren Ideen führten, und in einem,<br />

wie die Amerikaner sagen, „vicious cycle“ enden konnten,<br />

sich in einem immer schneller werdenden Strudel wiederholten,<br />

bis der Kopf zu platzen drohte. Achtung! Das wäre die<br />

Vorstufe zur Migräne oder gar einem Herzinfarkt! Den könnte<br />

ich am wenigsten brauchen.<br />

Hannelore hatte zugesagt. Erlebnisreiche Tage standen mir<br />

bevor, die ich nie vergessen sollte.<br />

Ich hasste Zwischenlandungen. Diesmal war die Zwischenlandung<br />

in Lanzarote. Das Flugzeug schwebte unruhig ein.<br />

Seitenwind. Der Pilot setzte die Maschine hart auf und haute<br />

die Bremsen rein. Landungen mit starkem Seitenwind waren<br />

auch für erfahrende Piloten ein Gräuel. Das harte Aufsetzen<br />

sollte angeblich das Flugzeug besser auf der Landebahn halten.<br />

Dann beim Starten knallte ein Triebwerk, als ob es explodieren<br />

wollte. Strömungsabriss. Kam gelegentlich bei starkem<br />

Seitenwind vor. Der Mann neben mir mit arabischen Gesichtszügen<br />

war kreidebleich. Er beugte sich nach vorn, wie um einem<br />

Absturz vorzubeugen, und murmelte: „Bis mi Allah, bis<br />

mi Allah! – im Namen Gottes, wenn es nun sein muss.“<br />

98


Aldiana Club<br />

Von Lanzarote war es nur ein Katzensprung nach Porto del<br />

Rosario, dem Flughafen von Fuerte. Die Flughöhe war nur 800<br />

Meter. Der Seitenwind blies hier gen<strong>aus</strong>o wie in Lanzarote. Die<br />

Landung war auch beschissen.<br />

Im hohen Foyer des Aldiana Clubs, im spätspanischen Stil<br />

<strong>aus</strong> Holz gebaut, mit Kastenfenstern eingerahmt und einem<br />

Boden <strong>aus</strong> groben, unregelmäßigen rotbraunen Fliesen wurde<br />

ich von der spanischen Empfangsdame hinter dem Desk<br />

freundlich begrüßt. Wie hieß sie noch? Toni? Oder Aixa? Ich<br />

verwechselte die beiden immer noch, aber nicht im Aussehen,<br />

sondern nur in ihrem Namen. Hatte ich ihr nicht das letzte<br />

Mal eine Schachtel Pralinen mitgebracht? Sie revanchierte sich<br />

und teilte mir mit einem Augenaufschlag mit, den sie sich von<br />

früheren Jahren bewahrt hatte, dass sie Bungalow Nr. 757 für<br />

mich reserviert habe. Hannelore habe den Bungalow nebenan.<br />

Ich hatte zwei Bungalows gebucht. Wegen der Etikette, und<br />

99


ein bisschen Abstand konnte auch nicht schaden. Dieser Bungalow<br />

757 war direkt über den steilen Klippen gebaut und ließ<br />

die Farbe des Meeres und die salzige Atlantikluft unmittelbar<br />

durch die offenen, grün gestrichenen Läden in den Raum strömen.<br />

Nichts verdeckte die Aussicht auf das weite Meer, und<br />

die Terrasse war nicht einsehbar. Den in meiner heimlichen<br />

Fantasie vorgestellten Liebesspielen mit Hannelore im Freien<br />

stand nichts mehr im Wege. Ich hielt das Glas mit dem Orangensaft<br />

in der Hand. Ein Animateur sprach mich mit ›Du‹ an.<br />

Jetzt wusste ich, dass ich angekommen war. Die Erholung<br />

konnte jetzt beginnen. Toni sagte mir mit einem komplizenhaften<br />

Augenzwinkern, dass der Flug von Düsseldorf um einen<br />

Tag verschoben worden sei. Hannelore wird also einen Tag<br />

später ankommen.<br />

Immer, wenn ich hier im Aldiana Club ankam, fiel mir das<br />

Fischrestaurant am Strand von Morro ein, in dem ich mit Hannelore<br />

einen köstlichen Fisch gegessen hatte. Der Duft des Fisches<br />

mit dem Knoblauch stieg mir auch diesmal schon bei dem<br />

Gedanken förmlich in die Nase. Es war im Mesón Restaurante<br />

in Morro Jable bei dem guten alten Don Pedro.<br />

Don Pedro hatte mich damals in einen Nebenraum gebeten,<br />

wo auf einem Tisch mehrere Fische <strong>aus</strong>gebreitet lagen.<br />

Darunter war auch ein etwa 40 cm langer Red Snapper. Fangfrisch<br />

<strong>aus</strong> dem klaren Atlantik.<br />

„Wollen Sie diesen haben?“, hatte er mich gefragt.<br />

„Ich bereite Ihnen den Fisch in der Art zu, wie es die Guanchen<br />

auf der Insel machen. Der Fisch wird kurz abgespült, trockengerieben<br />

und die Flossen abgeschnitten. Die Haut wird<br />

mehrmals bis zu den Gräten eingeschnitten. Koriandergrün<br />

wird mit den Stängeln in den Fisch gelegt. Abgeriebene Orangenschale<br />

wird zusammen mit Orangensaft, Chilisoße, Olivenöl,<br />

Limettensaft und Worcestersoße verrührt und mit Salz, Pfef-<br />

100


fer, Kreuzkümmel und Cayennepfeffer gewürzt. Die Hauptsache<br />

aber ist der Knoblauch. Der Fisch wird mit einer einen<br />

Zentimeter dicken Schicht von in kleine Würfel geschnittenem<br />

Knoblauch belegt und mit der Gewürzmischung übergossen.<br />

Das Ganze wird in einem speziellen, mit Holzkohle beheizten<br />

Ofen gegart und gleichzeitig von oben gegrillt, bis der Knoblauch<br />

eine goldgelbe Farbe angenommen hat und die Haut des<br />

Fisches leicht brodelt. So wird der Fisch serviert. Sie werden<br />

keine Beilagen dazu brauchen. Sie werden diese Köstlichkeit<br />

nie vergessen“, womit er recht behalten sollte.<br />

Ich nahm mir vor, noch heute Abend Don Pedro einen Besuch<br />

abzustatten, um zu fragen, wann er wieder einen Red<br />

Snapper habe, damit ich Hannelore dazu einladen konnte.<br />

Als ich bei ihm aufkreuzte, jammerte er:<br />

„Madre mia! Sind Sie schon wieder da! So viele Red Snapper<br />

gibt es in unseren Gewässern nicht. Es ist schon ein Glücksfall,<br />

wenn man einen fängt.“<br />

Ich schrieb ihm meine Handynummer auf, wohl wissend,<br />

dass dies vergeblich war, weil er mich nie anrufen würde. Zu<br />

aufwendig. Man musste einfach nur vorbeikommen und Glück<br />

haben. Nachdem ich bei ihm etwas anderes gegessen hatte,<br />

kehrte ich in einer Bar in der Nähe des Restaurants ein. Ich<br />

brauchte jetzt ein deutsches Bier auf das salzige Essen. Es gab<br />

sogar Löwenbräu. Innen empfing mich gedämpftes Licht, viel<br />

roter Plüsch, dunkle Sessel mit Glastischchen davor. Ein Barkeeper<br />

mixte die Drinks hinter der langen Theke und zwei bedienten,<br />

allesamt typische Spanier, schlank, blasse Haut,<br />

schwarze Haare, schwarze Augen und einer gewissen Verächtlichkeit,<br />

die sie fremden Gästen gegenüber durch das leichte<br />

Verziehen ihres Gesichtes zeigten, besonders, wenn die Gäste<br />

keine teueren Getränke bestellten, so wie ich jetzt mit nur einem<br />

Bier. Missinterpretierter spanischer Stolz? Der Barkeeper<br />

101


Red Snapper<br />

stellte mir die Flasche hin und überließ mir das Einschenken<br />

ins Glas. Die Bar hatte sich gefüllt. Zwei Tennisspieler, die ich<br />

bei meinem letzten Aufenthalt im Club kennengelernt hatte,<br />

saßen neben mir. Wir kamen ins Gespräch. Sie erzählten einige<br />

Witze. Junge, aufgetakelte Damen mit tiefen Ausschnitten,<br />

hohen Dominaschuhen und aufgeklebten Fingernägeln sprachen<br />

Männer an, die allein an Tischen saßen. „Do you buy me<br />

a drink?“ Die internationale Sprache in ihrem Beruf. Weiter<br />

oben an der Bar saß ein etwa 45-jähriger Mann mit einem rötlichen<br />

Zweitagesbart. Sein Gesicht war von kleinen Narben<br />

übersät, die vermutlich von Pickeln in seiner Jugend herrührten.<br />

Seine rötlichen kurzen Haaren passten zu ihm. Kein Lächeln<br />

huschte über sein Gesicht. Verbissen sah er <strong>aus</strong>. Er bestellte<br />

einen Whiskey in schlechtem Englisch.<br />

„Bitte bringen Sie mir einen Ballantine. Sie wissen doch, dass<br />

102


das ein schottischer Whiskey ist“, sagte er provokativ. Der<br />

Barkeeper holte die Flasche, goss ein und schob ihm das Glas<br />

hin.<br />

„Mit Eis habe ich gesagt. Hast du das nicht gehört?“ Der Barkeeper<br />

verzieht den Mund und murmelt:<br />

„Gilipollas!“ Der Rothaarige verstand anscheinend „kommt<br />

gleich“. Dabei war das ein wüstes spanisches Schimpfwort. Der<br />

Barkeeper ließ das Eis in den Whiskey plumpsen. Es spritzte.<br />

„Können Sie nicht etwas besser achtgeben?“ Der Rothaarige<br />

schnupperte an dem Glas.<br />

„Das ist kein Ballantine. Das ist ein billiger Ersatz.“ Der Barkeeper<br />

versuchte, höflich zu bleiben. Er reichte die Flasche dem<br />

Rothaarigen.<br />

„Ihr habt ihn umgefüllt!“, schnaubte der. Der Barkeeper<br />

nahm das Glas zurück, holte eine nicht geöffnete Flasche Ballantine<br />

<strong>aus</strong> dem Schrank, öffnete sie und goss ein weiteres Glas<br />

ein. Gibt einen Eiswürfel hinzu. „Ich habe es mir anders überlegt,<br />

ich will keinen Ballantine mehr, sondern einen Regal Chivas.<br />

Ich bin überzeugt, dass ihr diesen Namen noch nie in dieser<br />

Kaff-Beize gehört habt. Ihr seid doch nichts anders als ganz<br />

gewöhnliche Provinzler. Dass ich mich als Künstler mit euresgleichen<br />

abgeben muss! Schaut mich an!“<br />

Er hob den Kopf, versuchte zu lächeln, was wirklich schief<br />

lief, denn nur ein gequältes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.<br />

„Ich bin ein internationaler Künstler, ich spiele Klavier und<br />

gebe Konzerte. Noch nie etwas von Ben Hogan gehört? Natürlich<br />

nicht. Ihr seid doch Kulturban<strong>aus</strong>en! Ihr gehört nur zu<br />

der ganz gewöhnlichen Plebs. Doch ich bin mir sicher, dass ihr<br />

dieses Wort auch noch nie gehört habt.“ Der Barkeeper holte<br />

einen seiner Kollegen, wollte den Beleidigungen nicht länger<br />

zuhören und ließ sich von ihm ablösen. Er flüsterte ihm zu:<br />

103


„Das ist der Israeli, der uns schon letzte Woche bis aufs Blut<br />

schikaniert hat.“ Der Israeli trieb dasselbe Spiel mit dem anderen<br />

Barkeeper weiter. Es machte ihm Spaß, den Larry r<strong>aus</strong>zuhängen<br />

und die Barkeeper zu provozieren. Ich beobachtete<br />

ihn, wie er jetzt doch den Regal Chivas hinunterstürzte. Und<br />

noch einen. Und einen weiteren. Der Mann war aber schon<br />

betrunken. Das wird nicht gutgehen. Die beiden neben mir<br />

hatten ihr Repertoire an Witzen aufgebraucht. Verabschiedeten<br />

sich. Ich probierte auch einen Regal Chivas. Bei den immer<br />

neuen Spielchen, die der Rothaarige mit den Kellnern trieb,<br />

war die Zeit beim unfreiwilligen Zuhören wie im Flug vergangen.<br />

Es war zwei Uhr geworden. Der Chivas war unverschämt<br />

teuer. Bevor ich mich auf den Weg zum Club machte, suchte<br />

ich noch auf die im Keller untergebrachte Toilette auf, als ich<br />

Flüche und Schreie von oben in der Bar hörte. Ich rannte hinauf,<br />

zwei Stufen auf einmal nehmend. Die drei Kellner hatten<br />

sich den Israeli geschnappt und prügelten mit Stöcken auf den<br />

am Boden liegenden Mann ein, der vergeblich versuchte,<br />

wenigstens sein Gesicht zu schützen.<br />

„Vete a la mierda!“ Fahr zur Hölle, schrie der erste Barkeeper.<br />

Sein Mund schäumte. Seine Augen versprühten Hass. „Dir<br />

werden wir eine Lektion erteilen, die du nicht so schnell vergessen<br />

wirst“, und weiter schlugen sie auf den jetzt wehrlosen<br />

und völlig betrunkenen Mann ein. Sie traktierten ihn jetzt mit<br />

Fußtritten. Der Mann wimmerte. In seinem betrunkenen Zustand<br />

würde er allerdings nicht viel von den Schlägen spüren.<br />

Ich stand daneben, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.<br />

Sie werden den Mann töten. Wo war meine Zivilcourage?<br />

Wie konnte ich ihm helfen? Wie könnte ich die Schläger davon<br />

abringen, den Mann umzubringen?<br />

Die meisten Spanier sind sehr religiös. Sie verehren die Jungfrau<br />

Maria.<br />

104


Vielleicht half es, den Namen der Jungfrau Maria zu nennen?<br />

Vielleicht wirkte das Wunder. Der Satz kam mir wie von<br />

selbst über die Lippen, obwohl ich nur bruchweise Spanisch<br />

sprach. Es war eine Strophe des Ave Maria, die ich bei den<br />

wenigen Spanischstunden vor vielen Jahren gelernt hatte, und<br />

noch irgendwo tief in meinem Gedächtnis geschlummert hatte.<br />

„Santa Maria, mãe de Deus, rogai por nós, pecadores, agora<br />

e na hora da nossa morte. Amen.“ Heilige Maria, Muttergottes,<br />

bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.<br />

Amen.<br />

Die drei Spanier hielten mit ihren Schlägen ein, und es schien<br />

mir, als ob sie mich erst jetzt bemerkten. Ich hatte das ungute<br />

Gefühl, dass sie jetzt, ihren hasserfüllten Gesichtern nach zu<br />

urteilen, auch auf mich einschlagen würden. Doch einer von<br />

ihnen rief: „Er hat die Jungfrau Maria erwähnt!“<br />

Ich ließ mich nicht beeinflussen und fuhr in einfachem Englisch<br />

fort:<br />

„Wollt ihr ihn umbringen? Ich weiß, dass er sich euch gegenüber<br />

übel benommen, ja, euch beleidigt, euch in eurem<br />

Stolz getroffen hat. Er hat eine Strafe verdient. Aber genug ist<br />

genug. Wenn er stirbt, wie könnt ihr dann dem Antlitz der<br />

heiligen Maria gegenübertreten, ohne beschämt den Kopf senken<br />

zu müssen? Wird sie jemals wieder eure Gebete erhören?<br />

Werdet ihr nicht selbst zu Opfern ganz im Sinne dieses niederträchtigen<br />

Manns? Dann hat er sein Ziel wirklich erreicht.<br />

Ihr werdet den Rest eures Lebens im Gefängnis verbringen.<br />

Ihr seid zu jung dafür. Übergebt ihn mir, ich werde her<strong>aus</strong>finden,<br />

in welchem Hotel er abgestiegen ist und ihn dorthin bringen.“<br />

Die drei Schläger zögerten, aber ich zog den Verletzten auf<br />

die Beine. Sein Blut rann über mein weißes Hemd und Hose.<br />

105


Ich stützte ihn. Er konnte gerade noch gehen. Wir schwankten<br />

zum Ausgang.<br />

„Pírate! Pírate!“, riefen die Spanier hinter ihm her.<br />

„Verpiss dich, hau ab! Lass dich nie wieder hier blicken. Das<br />

nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon.“<br />

Kaum hatten wir die Bar bei stockfinsterer Nacht verlassen,<br />

schnauzte der Rothaarige mich an.<br />

„Was hast du bei mir verloren. Lass mich los.“ Er stieß mich<br />

weg. Es war ihm offenbar nicht bewusst, dass ich ihm<br />

möglicherweise das Leben gerettet hatte.<br />

Anstatt auf seine Worte einzugehen, sagte ich:<br />

„Soll ich dich in ein Krankenh<strong>aus</strong> bringen, damit sie dich<br />

untersuchen und deine Wunden versorgen können?“<br />

„Lass mich mit deinen weisen Sprüchen zufrieden, du verdammter<br />

deutscher Hurensohn.“<br />

Ich bemerkte die schlanken Finger seiner Hände. Sie waren<br />

weiß, bis auf die auf der Hand geronnenen Blutflecken. Gepflegte<br />

Fingernägel. Sie sahen <strong>aus</strong> wie die Hände eines Klaviervirtuosen.<br />

Vielleicht war er wirklich ein Künstler, wie er<br />

im R<strong>aus</strong>ch geprahlt hatte. Trotzdem war er ein Kotzbrocken.<br />

Während ich in meine Gedanken vertieft so dastand, nicht<br />

wissend, wie ich mich verhalten sollte, ballte er die Finger zu<br />

einer F<strong>aus</strong>t und rammte sie mir völlig überraschend oberhalb<br />

des Bauchnabels in den Magen. Im Fallen wusste ich, dass er<br />

mich am Solar Plexus erwischt hatte. Die Spanier würden sagen:<br />

„Fue una mierda! Das war Scheiße!“<br />

Es wurde langsam schwarz um mich herum, ich erkannte<br />

nichts mehr und ein tiefes wohliges Dunkel hüllte mich ein.<br />

Ich wachte auf. In einem großen weißen Bett. Eine Krankenschwester<br />

war im Zimmer. Sie lächelte mich an und sagte, dass<br />

der Arzt sofort käme.<br />

„Wie lange bin ich denn schon hier?“, fragte ich.<br />

106


„Zwei Tage.“<br />

„Ich muss sofort telefonieren, meiner Freundin Bescheid sagen.“<br />

„Damit warten Sie, bis der Arzt da war. Dann können Sie<br />

telefonieren.“<br />

An ihrem perfekten Deutsch erkannte ich, dass sie eine Deutsche<br />

war. Die deutschsprachige „<strong>Fuerteventura</strong> Zeitung“ lag<br />

auf meinem Nachttischchen. Automatisch las ich die Überschrift.<br />

„Israelischer Pianovirtuose stirbt nach einer Schlägerei.“<br />

Ich nahm die Zeitung zur Hand und überflog den Artikel:<br />

„Ein etwa 45-jähriger Mann wurde in einer Seitenstraße von<br />

Morro früh am Morgen schwer verletzt aufgefunden. Die Verletzungen<br />

hat er sich vermutlich bei einer Schlägerei in der<br />

nicht weit vom Fundort entfernten Bar zugezogen. Er wurde<br />

in die Klinik in Morro Jable eingeliefert, wo die Ärzte allerdings<br />

nur noch den Tod des Mannes feststellen konnten. Er war an<br />

einem Herzinfarkt und nicht, wie zunächst vermutet, an seinen<br />

Verletzungen gestorben. Aus seinen Ausweispapieren und<br />

anderen Unterlagen, die er bei sich trug, ging hervor, dass er<br />

israelischer Staatsbürger war. Er sollte in nicht ganz einer<br />

Woche ein Konzert in Berlin geben, wo Werke von Chopin und<br />

Strawinski – l‘oiseau de feu – Fassung für Klavier auf dem Programm<br />

standen.“<br />

Der Arzt war da. Er sagte, dass ich morgen entlassen werde.<br />

Ich telefonierte. Hannelore war eingetroffen. Sie wunderte sich,<br />

wo ich war.<br />

Ich konnte den nächsten Morgen fast nicht erwarten, damit<br />

die Erholungsphase auf der Insel wirklich beginnen konnte.<br />

Romantische Liebe pur unter Sternen, die nackten Körper von<br />

kühler Atlantikluft umspült.<br />

107


Die folgende Geschichte ist bereits in dem vom Autor veröffentlichten<br />

Buch „Mörder unter sich“ enthalten. Da sie in <strong>Fuerteventura</strong><br />

spielt und viele Einzelheiten über die Villa Winter<br />

beschreibt, wird sie hier wiederholt.<br />

Gold in der Villa Winter<br />

(reine Fantasie, allerdings hätte die Geschichte um Heinz Ruhau,<br />

dem Einsieder, durch<strong>aus</strong> so stimmen können)<br />

Heinz Ruhau hatte an der Technischen Hochschule in Berlin<br />

Maschinenbau studiert. Nach Abschluss des Examens stellte<br />

ihn die renommierte Firma Borsig in Berlin für die Entwicklung<br />

von Absorptions-Kältemaschinen ein, die von Professor<br />

Niebergall erfunden worden waren und für die Borsig Weltmarktführer<br />

war. Nach einigen Jahren sah er eine Möglichkeit,<br />

sich selbstständig zu machen, sein eigener Chef zu werden<br />

und dabei mehr zu verdienen. Er brauchte einfach mehr<br />

Geld in der Tasche, denn er hatte ein Luxusweib geheiratet,<br />

was ihm aber erst voll zum Bewusstsein kam, als es schon zu<br />

spät war. Um mehr Geld verdienen zu können, gründete er<br />

einen Reparaturdienst für Klimaanlagen.<br />

Trotz aller Bemühungen war er bei Borsig nie richtig vorangekommen.<br />

Sein Gehalt reichte nicht für den Luxus <strong>aus</strong>, den<br />

sich seine Frau gönnte. Ein neuer Porsche musste für sie her.<br />

Sie verkehrte in den teuersten Boutiquen und achtete beim<br />

Kauf ihrer Garderobe nicht auf den Preis. Hundert Paar Schuhe<br />

standen im Schrank, und es waren immer noch nicht genug.<br />

Sie beklagte sich über ihre H<strong>aus</strong>haltshilfe. „Sie ist faul“, fauchte<br />

sie, „und überbezahlt.“ Wenn sie mit Freunden beim Essen<br />

waren, bestellte sie Champagner, er musste <strong>aus</strong> der Region<br />

Montagne de Reims stammen. Ein deutscher Sekt tat es nicht.<br />

Dann war er nicht kalt genug oder zu warm, und der Ober<br />

108


verzog schon seine Miene, allerdings kaum merkbar, wenn sie<br />

in Begleitung ihres Mannes das Nobelrestaurant betrat, denn<br />

auch an den Speisen gab es für sie immer etwas <strong>aus</strong>zusetzen.<br />

Trotz dieses auf Vergnügen und Ausgeben <strong>aus</strong>gerichteten Lebens<br />

war sie unzufrieden und warf ihm nicht nur einmal vor:<br />

„Alle unsere Bekannten besitzen ein eigenes H<strong>aus</strong>. Sogar die<br />

Meiers am Wannsee. Nur wir nicht. Warum ist das so? Du bist<br />

doch gen<strong>aus</strong>o tüchtig wie der Meier? Oder vielleicht doch<br />

nicht? Mindestens behauptest du das immer!“<br />

Diese weinerliche und gleichzeitig schrille Stimme! Sie nervte<br />

ihn und er zog es vor, keine Antwort auf ihre Anschuldigungen<br />

zu geben, die zudem zu weiteren unsachlichen Diskussionen<br />

geführt hätte.<br />

Sie waren beide Mitglieder im elitären Berliner Tennisclub<br />

Rot-Weiß. Er war begeisterter Tennisspieler. Er machte schnelle<br />

Fortschritte, so dass er nach einigen wenigen Jahren die Clubmeisterschaft<br />

gewann und an die erste Stelle in der Herrenmannschaft<br />

gesetzt wurde.<br />

Sie hatten einen Sohn, dem er eine Lehre zur Ausbildung als<br />

Kältetechniker bei seiner früheren Firma Borsig besorgt hatte.<br />

Zu einem Studium hatte der junge, verwöhnte Mann keine Lust<br />

gehabt. Es fehlten ihm allerdings auch die Intelligenz und der<br />

Fleiß dazu.<br />

Heinz rieb sich auf mit all den Problemen, die das Führen<br />

eines neu gegründeten Kleinunternehmens mit sich brachte.<br />

Er war einfach nicht der Typ dazu, von Kunden Aufträge hereinzuholen<br />

und sich dann bei der Abwicklung mit den eigenen<br />

Mitarbeitern herumzuschlagen. Zum Ausgleich verbrachte<br />

er viel Zeit auf dem Tennisplatz, wo er dann, nachdem er die<br />

Prüfung zum Übungsleiter geschafft hatte, gelegentlich auch<br />

Tennisunterricht gab, was ihm viel Freude bereitete.<br />

Die Arbeit in seinem Unternehmen machte ihm keinen Spaß,<br />

109


sie befriedigte ihn nicht, obwohl die Firma ganz gut lief und er<br />

viel mehr Geld als zuvor verdiente, aber immer noch zu wenig<br />

in den Augen seiner Frau, die ihm das Bett mit der bekannten<br />

Ausrede von Migräne schon lange verwehrte, bis er seine<br />

Bemühungen endgültig einstellte und seine Unterhaltung im<br />

Rotlichtmilieu von Berlin fand. Sollte sein Leben so weiter verlaufen,<br />

bis er in Rente gehen konnte? Dieser Gedanke war ein<br />

Albtraum, erschreckte ihn. Wie viele Jahre noch! Er war erst<br />

fünfundvierzig.<br />

Irgendetwas musste sich ändern. Irgendetwas anderes als<br />

diese nervtötende Arbeit im Büro musste es für ihn auf dieser<br />

Welt doch geben. Eine ganz andere Lebensart zum Beispiel?<br />

Irgendwo müsste doch ein Platz zu finden sein, wo er frei von<br />

all den täglichen Sorgen in der Natur einfach nur in den Tag<br />

hinein leben konnte? Weg von der Hektik der Großstadt, weg<br />

von dem Ärger mit den Behörden, dem Finanzamt, der Berufsgenossenschaft,<br />

dem Gewerbeaufsichtsamt, dem Statistischen<br />

Landesamt, dem Zoll, den Betriebskrankenkassen, den Reklamationen<br />

von Kunden, mit den Banken, wenn es um die Finanzierung<br />

eines größeren Auftrages ging. Weg von den Bestechungsgelagen<br />

mit den Einkaufsleitern der auftragsvergebenden<br />

Firmen, den Verhandlungen mit dem Betriebsrat, der<br />

ihn ärgerte, wenn sich nur die geringste Gelegenheit dazu bot.<br />

Weg wollte er von all dem. Er wollte vor allen Dingen auch<br />

weg von seinem Luxusweibchen, dessen Ansprüche ihn anwiderten<br />

und die er auch nicht mehr erfüllen wollte, selbst wenn<br />

er es könnte. Er wollte nur noch leben, und er wusste, dass er<br />

für sich selbst nicht viel brauchte. Nur ganz einfach leben. Er<br />

war doch von Natur <strong>aus</strong> bescheiden. Er war so aufgewachsen.<br />

Er konnte sich vorstellen, in einer primitiven Hütte oder auch<br />

in einer Höhle zu wohnen, so, wie das die Urmenschen in grauer<br />

Vorzeit getan hatten, und wenn es sein müsste, auch nackt.<br />

110


Spartanisch würde er sich ernähren, von Fladenbrot, Tomaten<br />

und über Holzfeuer gegrilltem Fisch. Diese Vorstellung<br />

nahm Gestalt an und brannte sich in sein Hirn ein.<br />

Und so reifte ein Plan langsam in ihm heran. Warum sollte<br />

er hier in Berlin nicht alles aufgeben? Warum nicht <strong>aus</strong> allem<br />

<strong>aus</strong>steigen, alles um sich herum sich einfach selbst überlassen?<br />

Warum sollte er sich nicht auf irgendeine verlassene Insel absetzen,<br />

wo es warm ist, und genau dieses spartanische Leben<br />

führen? Sorgenfrei ohne ein verpflichtendes Morgen? Sollte<br />

sich doch seine Frau das neueste Porsche-Modell kaufen, mit<br />

welchem Geld auch immer, und sich einen Liebhaber nehmen,<br />

am besten gleich auch einen Porschefahrer mit Jonny-Player-<br />

Sonnenbrille, athletischer Figur und blondem Haar. Er konnte<br />

an nichts anderes mehr als an seinen Plan denken und überschrieb<br />

kurz entschlossen den Betrieb seinem Sohn.<br />

„Überweise mir zweihundert Mark einmal im Monat <strong>aus</strong><br />

dem Gewinn der Firma. Mehr will ich nicht. Das hier ist mein<br />

Konto in Madrid.“<br />

Sein Sohn versprach es ihm in die Hand. Das war seine Chance,<br />

auf die er insgeheim schon lange gewartet hatte. Jetzt konnte<br />

er auch einen Lebensstil wie seine Mutter führen. Das nötige<br />

Geld dafür würde die Firma abwerfen.<br />

Heimlich, nur mit einer Tennisumhängetasche übergeschultert,<br />

schlich Heinz eines Morgens <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong>. Seine Frau<br />

bemerkte in den ersten Tagen sein Fehlen überhaupt nicht und<br />

gab erst nach einer Woche eine Vermisstenmeldung auf. Sein<br />

Sohn aber kannte nur den Namen der Bank und die dubiose<br />

Kontonummer in Madrid. Er hatte keine Ahnung, was sein<br />

Vater vorhatte und was er mit seinem Verschwinden bezweckte.<br />

Heinz nahm zuerst ein Flugzeug nach Wien. Von dort nach<br />

Istanbul. Er fand einen Platz auf einem schrottreifen Frachter,<br />

111


der auf dem Weg nach Kapstadt war. Auf den Kanarischen<br />

Inseln machte der Frachter zum Auftanken eine Zwischenstation.<br />

Diese Gelegenheit nutzte Heinz, um im Hafen von Santa<br />

de la Cruz das Schiff unbemerkt zu verlassen. Er konnte ein<br />

kleines Fischerboot <strong>aus</strong>findig machen, das ihn nach Morro Jable,<br />

einem Fischerdorf auf der Halbinsel Jandia im südlichen Teil<br />

von <strong>Fuerteventura</strong>, mitnahm. Niemand sah ihn ankommen.<br />

Seine Wege hierher waren so verschlungen, dass alle Nachforschungen<br />

nach seinem Verbleib im Sand verlaufen mussten.<br />

Das alles trug sich im Jahr 1977 zu, als die Insel touristisch<br />

fast unerschlossen war.<br />

Auf Jandia war allerdings einige wenige Jahre zuvor gerade<br />

der erste Robinson Club eröffnet worden, der die Keimzelle für<br />

eine unglaubliche touristische Entwicklung mit Hunderten von<br />

Hotels und Bettenburgen werden sollte. Bei der Einweihung<br />

war sogar der damalige Bundeskanzler Willy Brandt anwesend.<br />

Es war die Zeit der Null-Bock-Generation. Die Ideen der 68er-<br />

Bewegung hatten viele Menschen erfasst. Die Ideen, die über<br />

dreißig Jahre lang verhängnisvoll nachwirken sollten und die<br />

– im Irrglauben an eine mögliche totale und soziale Gerechtigkeit<br />

– Deutschland um die Jahrt<strong>aus</strong>endwende ans Schlusslicht<br />

der europäischen Länder bringen sollten, insbesondere was<br />

Bildung, H<strong>aus</strong>eigentum und Arbeitslosigkeit anging.<br />

Das Erscheinungsbild von Heinz hatte sich entscheidend<br />

verändert. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der blondrot<br />

in seinem Gesicht stand. Seinen Körper hatte er auf dem<br />

Frachter in der Sonne bräunen lassen. Seine hellblauen Augen<br />

spiegelten jetzt schon, obwohl er gerade angekommen war, die<br />

helle Sonne <strong>Fuerteventura</strong>s wider, und seine Haare waren von<br />

der Sonne zu einem fast unnatürlich wirkenden Hellblond<br />

<strong>aus</strong>gebleicht. Der ehemalige Unternehmer <strong>aus</strong> Berlin war nicht<br />

112


wiederzuerkennen. Er schaute sich in einer Spiegelscherbe an<br />

und sagte zu sich gut gelaunt: „Jetzt endlich lebe ich, jetzt bin<br />

ich endlich frei!“<br />

Einer der schönsten Sandstrände der Welt erstreckt sich von<br />

Morro Jable, damals ein kleines, heruntergekommenes Fischerdorf,<br />

bis zur Costa Calma, einer nördlich gelegenen Siedlung,<br />

auf einer Länge von etwa dreißig Kilometern.<br />

Er suchte an diesem menschenleeren Strand nach einem geeigneten<br />

Platz, wo er sein Aussteigerleben beginnen konnte.<br />

In etwa zehn Kilometer Entfernung von Morro Jable fand er<br />

am Auslauf eines Barrancos, so nennt man in <strong>Fuerteventura</strong><br />

die Schluchten, die von Wassermassen früherer Zeiten <strong>aus</strong>gespült<br />

worden waren, neben aufragenden Felsen an einer kleinen<br />

felsigen Anhöhe, nicht einmal fünfzig Meter vom Strand<br />

entfernt, einen verlassenen Kalkofen, mit einem Innendurchmesser<br />

von etwa drei Metern.<br />

„Das ist genau das, was ich suche!“, rief er freudig erregt<br />

<strong>aus</strong> und warf seine Tasche in die Höhle. „Das ist jetzt mein<br />

Zuh<strong>aus</strong>e“, sagte er laut zu sich selbst. „Hier am Strand von<br />

Butihondo, in der Bucht von Playa Esquinzo, werde ich ein Jahr<br />

verbringen!“ Diese Namen las er auf der zerknitterten Landkarte,<br />

die er von einem Einheimischen erstanden hatte.<br />

Er wusste damals noch nicht, dass sein Aufenthalt viele Jahre<br />

dauern sollte.<br />

Er hatte etwas Geld mitgebracht. Er kaufte sich einen gerade<br />

noch fahrbaren, klapprigen PKW und einen uralten, von<br />

der Sonne vergilbten Wohnwagen, den er auf dem ebenen Gelände<br />

vor seiner Höhle in den Sand setzte. Den PKW ließ er<br />

weiter oben auf einem schlecht geschotterten Weg stehen. Den<br />

Kalkofen deckte er mit einigen verrosteten Wellblechen ab,<br />

obwohl es in <strong>Fuerteventura</strong> sehr selten regnet. Er legte auf den<br />

Boden der Höhle einen verschlissenen Teppich, darüber wei-<br />

113


Strand Butihondo in der Bucht von Playa Esquinzo zwischen<br />

Morro und Costa Calma<br />

114


Zum Teil restaurierter Kalkofen im Jahr 2000<br />

Blick vom Hochsitz aufs offene Meer<br />

115


che Schaffelle als Schlafstätte und als besonderen Luxus leistete<br />

er sich ein daunengefülltes Kopfkissen. Als er so weit eingerichtet<br />

war, besorgte er sich von einer stillgelegten B<strong>aus</strong>telle<br />

eine etwa zwei Meter lange und achtzig Zentimeter breite Betonplatte,<br />

die er seitlich vor dem Kalkofen auf zwei Steinhaufen<br />

legte, so dass sie wie ein normaler Tisch <strong>aus</strong>sah. Er schützte<br />

die Platte mit hoch stehenden, in den Sand eingegrabenen<br />

Holzbrettern vor neugierigen Blicken. Direkt vor dem Höhleneingang<br />

baute er sich <strong>aus</strong> Steinen und Sand einen Hochsitz,<br />

von dem er den ganzen Strand auf viele Kilometer Länge<br />

nach beiden Richtungen überblicken konnte, und natürlich<br />

auch das Meer, das sich unendlich blau vor ihm <strong>aus</strong>dehnte,<br />

und manchmal glaubte er, sogar die Erdkrümmung am Horizont<br />

erkennen zu können. Dann mauerte er sich eine Feuerstelle.<br />

Holz wurde am Strand immer wieder angeschwemmt,<br />

und getrockneter Tang diente ihm dazu, das Feuer in Gang zu<br />

setzen. Schlangen, Skorpione und anderes giftiges Getier oder<br />

gefährliche, wilde Tiere hatte er nicht zu fürchten, denn die<br />

gab es auf der Insel nicht. Damals, als es noch keine bewässerten<br />

Gärten rings um die Hotelkomplexe und Bettenburgen gab,<br />

waren auch Moskitos so gut wie unbekannt. Aber jeden Morgen<br />

besuchte ihn ein kleines Streifenhörnchen und wartete geduldig,<br />

bis er dem kleinen, putzigen Besucher etwas Fressbares<br />

zuwarf.<br />

Die Helligkeit der Insel machte ihn fröhlich. <strong>Fuerteventura</strong><br />

ist die Insel des Lichts. Die Lebensbedingungen für einen Einsiedler<br />

sind geradezu ideal. Selten fällt die Lufttemperatur<br />

unter achtzehn Grad. Die Sonne scheint jeden Tag unverschleiert<br />

vom blauen Himmel herunter. Regen ist auf dieser Insel<br />

fast ein Fremdwort. Ein starker Regen ist für <strong>Fuerteventura</strong><br />

etwas ganz Außergewöhnliches, seltener noch als ein Erdbeben<br />

oder ein Vulkan<strong>aus</strong>bruch. An den immer wehenden Nord-<br />

116


Blick vom Hochsitz auf den Strand<br />

ostpassat mit einer Windstärke zwischen drei und sieben gewöhnte<br />

er sich schnell. Hieß <strong>Fuerteventura</strong> nicht, auf Deutsch<br />

übersetzt, „starke Winde“? Oder vielleicht „großes Glück“, wie<br />

manche behaupteten? Das Letztere würde auf ihn zutreffen,<br />

das große Glück hatte für ihn begonnen.<br />

Im Sommer bläst hin und wieder der Schirokko, ein heißer<br />

Wind <strong>aus</strong> der nur einhundert Kilometer entfernten Sahara im<br />

Osten, von den Guanchen, den Ureinwohnern der Insel, auch<br />

Leveche genannt. Dann klettert die Temperatur sprunghaft in<br />

wenigen Stunden um mehr als zehn Grad auf über vierzig<br />

Grad. Der Wind bringt extrem trockene Luft heran. Sie ist mit<br />

feinem, gelblich-grauem Sandstaub geschwängert, der durch<br />

alle Ritzen dringt. Die Guanchen schützen sich vor dem Einatmen<br />

des Staubes mit einem dicken Tuch vor Mund und Nase,<br />

das sie zuvor ins Meerwasser tauchen. Ohne dieses Tuch glaubt<br />

man, ersticken zu müssen. Die Sicht sinkt oft auf weniger als<br />

117


zweihundert Meter. Der Schirokko weht nicht selten Wanderheuschrecken<br />

von Afrika auf die Insel herüber, die dann zu<br />

Millionen am Strand liegen und verenden, da sie hier nichts<br />

Fressbares mehr finden und außerdem von dem langen Flug<br />

geschwächt sind. Die Inselbewohner nennen dieses relativ seltene<br />

Wetter Calima.<br />

Beim letzten Schirokko verzog sich Heinz in seine Höhle,<br />

dichtete den Zugang ab und verkroch sich unter seiner Decke,<br />

bis das Schlimmste vorüber war.<br />

Bei Einbruch der Nacht trank er gewöhnlich eine halbe Flasche<br />

spanischen Rotwein, ein billiger, unverfälschter Landwein,<br />

der ihm köstlich schmeckte und auch gut bekam, und legte sich<br />

beim gleichmäßigen R<strong>aus</strong>chen der Brandung zum Schlafen, um<br />

am Morgen mit dem ersten Geschrei der Seemöwen wieder<br />

aufzuwachen.<br />

Einmal in der Woche steuerte er den alten Wagen nach Morro<br />

Jable, wo er sich Trinkwasser, Wein, Streichhölzer und Brot<br />

kaufte. Mit allem anderen wollte er sich selbst versorgen, um<br />

von der menschlichen Zivilisation so unabhängig wie möglich<br />

zu sein. Vor allen Dingen musste er lernen, wie man Fische im<br />

Meer fing, die seine Hauptnahrung werden sollten. Vielleicht<br />

wäre ein Netz von Vorteil? Und vielleicht ein kleines Boot?<br />

Kleidung brauchte er nicht. Vom ersten Tag an blieb er nackt,<br />

so, wie Gott ihn geschaffen hatte. Nur zum Einkaufen zog er<br />

eine kurze Hose über. Nach wenigen Monaten war sein ganzer<br />

Körper nahtlos von einer tiefen Bräune überzogen, und<br />

dazu war er gertenschlank geworden, kein Gramm hatte er zu<br />

viel. Zucker und Fett standen nicht auf seinem Speiseplan. Er<br />

hatte jetzt sein Idealgewicht und nicht nur das, sondern auch<br />

sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Die Hektik von<br />

Berlin war wie weggeblasen, sein Geist frei für das, was kommen<br />

sollte – ein sorgenfreies Leben, ein Leben in Meditation.<br />

118


Er hatte jetzt Zeit und Muße, über die Dinge nachzudenken,<br />

die für einen Menschen wirklich wichtig sind. Er hatte den richtigen<br />

Standort und die richtige Einstellung für sein neues Leben<br />

gefunden.<br />

Er saß auf seinem Stein vor der Hütte und dachte darüber<br />

nach, wofür er eigentlich lebte.<br />

Wo konnte man Gott näher sein als hier in der menschenleeren<br />

Natur, nur den leichten Nordostpassat im Gesicht, der<br />

warm von der Sahara herüberblies? Wo konnte er die Existenz<br />

Gottes besser in sich spüren als angesichts einer im Meer<br />

untergehenden Sonne, die den Himmel in ein glühendes Rot<br />

verwandelte? War überhaupt ein Gott vorhanden, der direkten<br />

Einfluss auf sein Leben nahm? Hatte ER ihn veranlasst,<br />

alles in Berlin aufzugeben, um ein Einsiedlerleben zu führen,<br />

das ihn glücklich machte, das aber einem anderen wahrscheinlich<br />

als Last und Entbehrung vorkommen würde?<br />

Hier könnte er über die Verhaltensweisen von Menschen<br />

grübeln, mit denen er in seinem früheren Leben zu tun hatte.<br />

Immer wieder kam ihm seine Frau vor Augen. In einsamen<br />

Stunden in den ersten Monaten begehrte er sie sogar<br />

manchmal. Dann aber verwünschte er sie wieder, weil sie<br />

immer nur an sich selbst und an ihr eigenes Vergnügen gedacht<br />

hatte. Welchen Platz hatte er denn in ihrem Leben eingenommen?<br />

War er für sie lediglich ein Objekt, eine Maschine,<br />

zur Geldbeschaffung gewesen? Hatte sie ihn wirklich jemals<br />

geliebt?<br />

Dann dachte er über seine Geschäftspartner nach, aber auch<br />

über seine angeblichen Freunde. Viele von ihnen waren, wenn<br />

er es <strong>aus</strong> seiner heutigen Sicht betrachtete, unehrlich und egoistisch,<br />

nur auf ihren eigenen Vorteil <strong>aus</strong>. Manche waren Neocheaters,<br />

Neubetrüger, die, wenn sich die Gelegenheit dazu bot,<br />

119


Geld, Wissen und Erfahrung <strong>aus</strong> ihm her<strong>aus</strong>saugten, wie ein<br />

Baby die Milch <strong>aus</strong> der Brust der Mutter.<br />

Doch bald sollte sich sein sorgenfreies Leben etwas ändern.<br />

Die kleine Bankfiliale in Morro Jable eröffnete ihm, dass kein<br />

Geld mehr auf seinem Konto sei. Es sei bei der Zentrale in<br />

Madrid auch keines mehr eingegangen. Sein Sohn hatte die<br />

Überweisung des vereinbarten Betrags nach wenigen Monaten<br />

eingestellt. Das hatte er von ihm nicht erwartet. Die Gene<br />

seiner Frau waren bei seinem Sohn offenbar voll durchgeschlagen.<br />

Ganz ohne Geld konnte er, auch wenn seine Ansprüche<br />

noch so niedrig waren, nicht existieren. Wenn es ihm auch noch<br />

so schwer viel, diese Erkenntnis zu akzeptieren, es führte kein<br />

Weg daran vorbei. Es erging ihm jetzt so, wie es vielen T<strong>aus</strong>enden<br />

von Vätern vor ihm ergangen war, die ihr Vermögen<br />

ihren Kindern zu früh überschrieben hatten und an die Liebe<br />

und die Verlässlichkeit ihrer Söhne und Töchter glaubten. Diese<br />

bittere Erfahrung musste er jetzt selbst machen. Er musste sich<br />

jetzt überlegen, wie er sich etwas Geld beschaffen konnte. Er<br />

konnte sich als Tennistrainer im Robinson Club bewerben. Diese<br />

Tätigkeit übte er dann auch eine gewisse Zeit <strong>aus</strong>.<br />

Und dann kam ihm eine weitere Idee, die funktionieren konnte,<br />

etwas Geld zu verdienen.<br />

Viele Deutsche hatten, nachdem der Robinson Club nicht weit<br />

von Morro Jable eröffnet worden war, diesen herrlichen Strand<br />

entdeckt, der zu kilometerlangen Wanderungen direkt am<br />

Meer einlud, und immer öfter sah er Menschen, die, obwohl<br />

offiziell nicht erlaubt, jedoch stillschweigend geduldet, nackt<br />

an seinem Strand vorbeispazierten. Manche von ihnen trugen<br />

die am Strand herumliegenden schwarzen Kieselsteine zusammen,<br />

häuften sie zu Steinburgen auf und verbrachten den ganzen<br />

Tag darin. Damit niemand am nächsten Tag ihnen die<br />

120


Steinburg streitig machte, brachten sie ein Schild an, auf dem<br />

stand besetzt bis... mit dem Datum ihrer Abreise.<br />

Er könnte Massagen anbieten. Er brannte mit einem glühenden<br />

Eisen in ein Brett:<br />

„Ganzkörpermassagen“, mit einem Pfeil, der zu seiner Höhle<br />

zeigte, und stellte es auf.<br />

Eine einzelne Dame im mittleren Alter war die Erste, die sich<br />

traute. Er saß auf seinem Sitz und beobachtete sie, wie sie mit<br />

einem Seidentuch um die Hüften geschlungen den kleinen<br />

Hügel zu ihm heraufkletterte. Er hatte auf der Betonplatte eine<br />

Decke <strong>aus</strong>gebreitet. Die Platte hatte die richtige Arbeitshöhe.<br />

Sie fragte nach dem Preis und legte sich auf die Platte. Er massierte<br />

sie von Kopf bis Fuß und verwendete dazu ein gut riechendes<br />

Kokosöl. Sie war zufrieden und bezahlte. Am nächsten<br />

Tag war sie wieder da und die folgenden Tage, bis ihr Urlaub<br />

zu Ende war. Unter vorgehaltener Hand empfahl sie ihn<br />

weiter. Unter den Urlauberinnen breitete sich die Nachricht<br />

von der Kunst seines Massierens in Windeseile <strong>aus</strong>.<br />

Nicht immer endete seine Massage nur mit der Bezahlung<br />

des vereinbarten Preises. Dann trug er sie auf seinen starken<br />

Armen in die Höhle und legte sie auf die weichen Lammfelle.<br />

Die Vereinigung ging wie von selbst vonstatten, wie die natürlichste<br />

Sache der Welt, was sie im Grunde auch ist. Danach<br />

lagen sie, die zuvor nur wenige Worte miteinander gewechselt<br />

hatten, gut gelaunt und lachend entspannt nebeneinander.<br />

Es kam die un<strong>aus</strong>weichliche Frage, für die bisher kein<br />

Anlass war und auch keine Zeit: „Wie heißt du eigentlich?“<br />

Und es folgte ein Glas Rotwein, um anzustoßen.<br />

Er hatte sich ein Notizbuch besorgt. Wie Robinson Crusoe<br />

die Tage zählte, so zählte er die Damenbesuche in seiner Höhle.<br />

Das Büchlein war bald gespickt mit Namen wie Hanne, Iso-<br />

121


lde, Angela oder Inge. An fast jedem Tag war mindestens ein<br />

Name eingekritzelt.<br />

Er hatte jetzt eine Geldquelle entdeckt, die seinen Lebensunterhalt<br />

bestritt. Und er musste dafür nicht einmal arbeiten, wie<br />

die armen Schweine für ihr Geld in Deutschland, denn das<br />

Massieren mit dem sich oft anschließenden Vergnügen konnte<br />

man beim besten Willen nicht als Arbeit bezeichnen. Von<br />

vornherein waren auch die Weichen so gestellt, dass keine<br />

Komplikationen auftreten konnten, denn die meisten Damen<br />

waren in festen Händen, waren verheiratet, und an einer Bindung<br />

nicht interessiert, gen<strong>aus</strong>o wenig wie er. Bei ledigen Damen<br />

aber unterließ er jeden Annäherungsversuch. In den vielen<br />

kommenden Jahren sollte er in seinem Notizbuch auf diese<br />

Weise über fünfhundert Namen notieren.<br />

Manchmal fragte er sich, wie sich die Frauen voneinander<br />

unterschieden. Jede war für sich wunderschön und einmalig.<br />

An manche konnte er sich lange erinnern, und andere hatte er<br />

schon nach wenigen Tagen vergessen. Der Beischlaf selbst verlief<br />

nach ähnlichen, fast <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbaren Mustern. Diese Erkenntnis<br />

war für ihn neu und überraschend zugleich. Früher,<br />

als er noch in Berlin war und im Grunde nur mit seiner Frau<br />

schlief, wenn man von seinen Eskapaden meistens unter Alkoholeinfluss<br />

im Rotlichtmilieu absieht, glaubte er, dass es mit<br />

anderen Frauen ganz anders sein müsste. Aber er vermochte<br />

„das Andere“ nicht zu definieren. Und jetzt musste er ernüchtert<br />

feststellen, dass es dieses in seiner Vorstellung diffuse „Andere“<br />

wahrscheinlich gar nicht gab.<br />

Hatte er nicht vor Jahren einen französischen Film gesehen,<br />

in dem ein junger Mann unsterblich in eine Tänzerin verliebt<br />

war, die mit ihm schlief, ihn dann verließ und schließlich verschmähte?<br />

Niedergeschlagen und mit Selbstmordgedanken im<br />

Kopf hatte er seinem Freund gegenübergesessen und dessen<br />

122


Blick auf den Club Aldiana<br />

Trost gesucht. Sein Freund aber kramte <strong>aus</strong> seiner Westentasche<br />

ein Gruppenfoto der leicht geschürzten Tänzerinnen<br />

hervor, die alle lange, schlanke Beine hatten, und schob es ihm<br />

unter die Nase.<br />

„Zeig mir dein Mädchen auf diesem Foto“, sagte er. Der junge<br />

Mann suchte nach ihr mit scharfen Augen. „Das ist sie!“ Er<br />

korrigierte sich. „Nein, die daneben!“<br />

„Du erkennst sie nicht einmal auf diesem Foto. Sie ist die<br />

Letzte in der Reihe. Siehst du, dein Verlust kann nicht so groß<br />

gewesen sein. Tänzerinnen ähneln sich, ihre Körper sind <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbar.“<br />

Der junge Mann protestierte. „Sie ist in ihrer Art ganz anders<br />

als die anderen!“, doch insgeheim musste er zumindest über<br />

das Argument seines Freundes nachdenken. War ihre Art wirklich<br />

so anders, oder war er durch seine Liebe nur blind geworden?<br />

Was wusste er schon von ihr? Wie viele Sätze hatte er<br />

123


mit ihr gewechselt? Hatte jemals ein Dialog zwischen ihnen<br />

stattgefunden?<br />

Heinz sah sich in seiner Ansicht bestätigt, nachdem er sich<br />

diese Filmszene in Erinnerung gerufen hatte, dass Sex allein,<br />

ohne eine andere menschliche Beziehung, eine <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbare<br />

Sache zu sein scheint.<br />

Eine weitere Geldquelle bot sich ihm. Den vor der Höhle in<br />

den Sand gesetzte Wohnwagen, dem er die Räder abmontiert<br />

hatte, konnte er vielleicht vermieten. Er säuberte das Innere<br />

und belegte es mit Schaffellen. Ein junges Pärchen kam vom<br />

Strand herauf und fragte nach dem Wohnwagen. Über den<br />

Preis waren sie sich schnell einig, und für wenige Peseten zog<br />

es für einige Wochen ein.<br />

Seine Existenzgrundlage schien jetzt gesichert zu sein. Er<br />

pfiff auf irgendwelche Unterstützung seines Sohns, auf den er<br />

allerdings nach wie vor wütend war.<br />

Viele Stunden verbrachte er meditierend auf seinem Hochsitz.<br />

Manchmal waren auch Jogger am Strand unterwegs. In<br />

den letzten Tagen hatte er einen Mann beobachtet, dessen Verhalten<br />

zumindest eigenartig, wenn nicht sogar dekadent war.<br />

Er war schätzungsweise fünfundfünfzig Jahre alt. Er joggte<br />

nicht allzu schnell am Strand entlang, eigentlich war es mehr<br />

ein Trotten. Sein Körper hatte die Bräune von <strong>Fuerteventura</strong><br />

noch nicht angenommen. Er musste erst in den letzten Tagen<br />

angereist sein. Seine weite Jogginghose verdeckte einen Teil<br />

seines weißen Bauches. Das Dekadente an seinem Verhalten<br />

war, dass er einen jungen Mann engagiert hatte, der ihm im<br />

Abstand von etwa zwanzig Meter mit einer Wasserflasche in<br />

der Hand zu folgen hatte. Wenn er Durst verspürte, legte er<br />

eine kurze P<strong>aus</strong>e ein und ließ sich von ihm die Flasche reichen.<br />

Das erinnerte ihn an die Geschichte einer H<strong>aus</strong>angestellten,<br />

124


die der „gnädigen Frau“ in Hamburg im Bad frühmorgens die<br />

Zahnpaste auf die Bürste streichen musste.<br />

Der 55-Jährige hatte sehr wohl die sitzende Gestalt auf dem<br />

Hochsitz bemerkt und fragte sich, was diesen Mann hierher<br />

verschlagen hatte. Auch hatte er den Kalkofen entdeckt, der<br />

mit Wellblechen bedeckt war, und die Bretterverkleidung um<br />

die Betonplatte. Das Schild Ganzkörpermassage war ihm auch<br />

nicht entgangen. Sollte hier ein Einsiedler h<strong>aus</strong>en? Ein Aussteiger,<br />

der der Hektik des Berufslebens entflohen war, oder<br />

nur schlicht ein Masseur, der den Damen das Geld <strong>aus</strong> der<br />

Tasche zog? Heute hatte er den jungen Mann nicht beauftragt,<br />

mitzulaufen. Deshalb unterbrach er das Joggen und stieg, seiner<br />

Neugier folgend, den Hügel hinauf. Er wollte mehr über<br />

den Nackten erfahren. Er grüßte mit einem „Guten Morgen“<br />

und setzte sich neben Heinz auf den Boden, der ihn kritisch<br />

musterte.<br />

„Sie haben mich sicher schon beobachtet, wie ich jeden Morgen<br />

während meines dreiwöchigen Urlaubs hier am Strand<br />

entlanggejoggt bin. Ich heiße Jürgen Fass und komme <strong>aus</strong><br />

Frankfurt. Ich bin bei einer Bank beschäftigt, genauer gesagt,<br />

der Vorsitzende. Damit habe ich mich mit wenigen Worten<br />

vorgestellt und das Wichtigste über mich gesagt. Darf ich fragen,<br />

was Sie hier machen? Sie sehen <strong>aus</strong>, als ob Sie schon längere<br />

Zeit hier leben.“ Eigentlich wollte er gar nicht so viel über<br />

sich sagen, aber die klaren Augen von Heinz veranlassten ihn<br />

dazu.<br />

„Sie können es ruhig <strong>aus</strong>sprechen, was Sie denken“, erwiderte<br />

Heinz. „Sie denken, dass ich ein Aussteiger bin, einer,<br />

der der Zivilisation ein für alle Mal den Rücken gekehrt hat.<br />

Damit haben Sie recht und, als ich die Entscheidung damals in<br />

Berlin traf, habe ich das einzig Vernünftige in meinem Leben<br />

getan. Jetzt bin ich unabhängig, jetzt bin ich frei, und jetzt bin<br />

125


ich glücklich, so weit das ein Mensch überhaupt über einen<br />

längeren Zeitraum sein kann.“<br />

„Vermissen Sie denn gar nichts? Einen Theaterbesuch, ein<br />

Konzert, ein schönes Essen bei gepflegter Unterhaltung unter<br />

Freunden, ein Hochzeitsfest, einen Einkaufsbummel, ein Karten-<br />

oder Schachspiel oder einen Gottesdienst?“<br />

„Nein, ganz sicher nicht, dies alles vermisse ich nicht, denn<br />

ich erlebe dafür, wie die Sonne morgens aufgeht und abends<br />

im Meer wieder verschwindet. Ich weiß, dass dies Tag für Tag<br />

geschieht, komme, was wolle, und was dazwischen liegt, ist<br />

nicht eine innere, tiefe, unerklärliche Unruhe, die die Menschen<br />

in Europa zu immer neuen Taten und Anstrengungen treibt,<br />

weil sie glauben, etwas zu versäumen, nicht alles mitzubekommen,<br />

benachteiligt zu sein oder ins Abseits zu geraten, sondern<br />

eine Ausgeglichenheit, die zu heilender Meditation und<br />

zu innerem Frieden der Seele führt. Diese unerklärliche Unruhe<br />

kommt <strong>aus</strong> unserem Unterbewusstsein und ist nicht durch<br />

unseren Willen steuerbar. Bei mir sind Furchtlosigkeit und Freude<br />

anstelle von Angst getreten. James Redfield hat über die innere<br />

Unruhe in seinem Kultbuch Die Prophezeiungen der Celestine<br />

geschrieben. Aber auch in der Bibel ist davon die Rede, z.<br />

B. Psalm 42, 6: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig<br />

in mir?“<br />

„Sie haben recht mit der inneren Unruhe. Sie treibt mich<br />

auch, und ich kann ihr nicht entkommen. Herzrhythmusstörungen<br />

hatte ich schon. Sie haben bestimmt keine“, sagte er,<br />

indem er seinen Blick über den braun gebrannten, durchtrainierten<br />

Körper seines Gegenübers gleiten ließ.<br />

Jürgen fuhr fort:<br />

„In gewisser Weise beneide ich Sie um Ihren Mut und Ihren<br />

Lebensstil. Aber ich kenne mich, das schaffe ich nicht! Ich habe<br />

eine Villa in einer der besten Lagen in Bad Homburg. Sie liegt<br />

126


mitten in einem Park. Sie wurde von dem berühmten Architekten<br />

Professor Eiermann entworfen. Beim Bau der Villa sind<br />

nur die teuersten Materialien verwendet worden. So bestehen<br />

die Böden <strong>aus</strong> feinstem italienischem Marmor. Die Wände vieler<br />

Zimmer sind mit Kirschbaum getäfelt. Meine Frau hat einen<br />

Designer engagiert, der die gesamte Einrichtung entworfen<br />

hat. Die Möbel wurden in einer Schreinerwerkstätte nach<br />

seinen Plänen angefertigt. Sie hat teure Bilder gekauft und<br />

wurde dabei von ihm beraten. Ein Otto Dix ist dabei und Lithographien<br />

von Salvatore Dalí. Meine Frau fährt einen Porsche,<br />

daneben steht mein Wagen, der neueste Daimler, wie es<br />

sich für einen echten Schwaben, ich stamme nämlich <strong>aus</strong> Stuttgart,<br />

gehört. Unsere zwei Söhne haben studiert, der eine hat<br />

an der Business School of London promoviert und der andere an<br />

der Harvard University. Ich bin von Luxus umgeben. Doch in<br />

meiner freien Zeit, die mir meine Tätigkeit lässt, bin ich zu<br />

H<strong>aus</strong>e nicht wirklich glücklich. Glauben Sie mir, mir ist es nicht<br />

möglich, mich auch nur für eine halbe Stunde in einen Sessel<br />

zu setzen und an gar nichts zu denken oder gar nichts zu tun.<br />

Etwas treibt mich an, etwas hetzt mich, obwohl kein objektiver<br />

Grund für diese innere Unruhe vorhanden ist.“<br />

Heinz hörte aufmerksam zu und dachte an sein eigenes früheres<br />

Luxusweibchen. Wie sich die Bilder doch glichen!<br />

„Kann es sein, dass der Bankerberuf nicht der richtige für<br />

Sie ist, wenn er Sie nicht <strong>aus</strong>zufüllen vermag? Der Schreiner,<br />

der Ihnen die Möbel schreinerte, war sicher ein glücklicher<br />

Mann, denn er kann am Abend anfassen, mit seiner Hand<br />

darüber streichen, was er am Tag geschaffen hat. Können Sie<br />

das auch anfassen, was Sie am Tag geschaffen haben? Ich glaube,<br />

dass der Bankerberuf darin besteht, anderen Menschen mit<br />

den raffiniertesten Methoden Finanzprodukte und Bankleistungen<br />

aufzuschwatzen, um so an ihrem Erfolg und ihrem Geld<br />

127


teilzuhaben. Gehören die Banker, die Zöllner, die Versicherungsfachleute,<br />

ja, auch die religiösen Führer nicht zur Gattung<br />

der Spinnen, die ihre Beute <strong>aus</strong>saugen? Oder sind sie eher<br />

wie Maden, die in der Rinde des Baumes den süßesten Saft<br />

abzwacken, aber immer nur so viel, dass der Baum daran nicht<br />

zugrunde geht?<br />

Ein Schmarotzer hat es nämlich im Leben leichter. Er muss<br />

keine Wurzeln schlagen. Die Wurzeln müssen nicht tief in die<br />

Erde eindringen, um Wasser zu finden. Das angezapfte Opfer<br />

erkennt ihn oft nicht, und wenn er seinen Peiniger schließlich<br />

<strong>aus</strong>macht, glaubt es sogar, eine Symbiose mit ihm eingehen zu<br />

müssen und legt zu, um ihn mitzuernähren. Dazu muss das<br />

Opfer, wenn es zum Beispiel ein Baum ist, zusätzliche Wurzeln<br />

wachsen lassen, tiefere Wasserquellen suchen und muss<br />

die Kraft verschlingende Produktion von Samen auf ein Minimum<br />

reduzieren. Die Taktik des Aussaugens muss aber weise<br />

angelegt sein. Nicht wie die einer Spinne. Die Mutterpflanze<br />

darf nicht überstrapaziert werden. Der Aussauger muss wissen,<br />

wann er viel und wann er weniger abzweigen kann: Wann<br />

darf er in S<strong>aus</strong> und Br<strong>aus</strong> leben, und wann muss er sich einschränken,<br />

damit sein Wirt immer mit optimaler Leistung arbeiten<br />

kann? Er will nicht, dass sein Wirt kränkelt und<br />

schließlich eingeht, weil das auch sein eigenes Ende bedeuten<br />

würde.<br />

Es geht dem Gastgeber so wie dem Läufer, der seinem Ziel<br />

entgegenstrebt und dabei immer wieder stolpert, weil ihm auf<br />

dem Weg dahin ein Bein gestellt wird. Er darf aber nicht fallen<br />

und sich verletzen, denn dann kann er nicht mehr laufen und<br />

muss sein Ziel für immer aufgeben. Ich habe in einem Buch<br />

mit dem Titel Neo-Tech von Dr. Wallace, das in Amerika vor<br />

Jahren unter dem Tisch gehandelt wurde, von dem Begriff des<br />

Neocheaters gelesen. Ein erfundener Ausdruck für Neubetrü-<br />

128


ger, für Aussaugerparasiten, für Mystiker, die mit autoritären<br />

Worten, mit großartigen Ansprachen, mit Gesten, mit dem<br />

Hinweis auf Ethik, Religion, Gesetz oder ganz einfach mit dem<br />

Appellieren an das Gewissen, den Rechtschaffenen dazu verleiten,<br />

einen Teil seines Erschaffenen herzugeben; er wird, ohne<br />

das wahrzunehmen, so vom Neocheater manipuliert, dass er<br />

sich für sein eigenes Geben bei ihm noch bedankt. Die Grundlagen<br />

für seine Erkenntnisse hatte Wallace beim Pokerspiel entdeckt,<br />

ein Spiel, das durch raffinierte Täuschung der Mitspieler<br />

zum Gewinn führen kann.<br />

Ein Rechtschaffener verdient aber sein Geld mit Arbeit, mit<br />

seinen Händen und seinem Verstand, damit etwas Wertvolles<br />

entsteht, das man greifen oder begreifen kann, und nicht mit<br />

Pokerspielen.<br />

Schauen Sie sich in Ihrer Umgebung um! Wer ist denn ein<br />

solcher Aussauger?<br />

An erster Stelle ist unser eigener Staat zu nennen. Er nimmt<br />

immer so viel von seinen Bürgern, bis die Bürger resignieren<br />

und weniger schaffen, dann lockert er wieder die Zügel, um<br />

den Handwerkern, den Arbeitern, den produktiv Schaffenden<br />

wieder mehr zu lassen und neue Anreize zu geben, ihm am Laufen<br />

zu halten.<br />

Wie aber sieht es mit der Religion <strong>aus</strong>?<br />

Die Rechtschaffenen haben eigenartigerweise einen besonderen<br />

Hang zum Spirituellen. Hier lauern die religiösen Fanatiker<br />

auf ihre Opfer. Den meisten Menschen reicht die Bergpredigt<br />

nicht mehr <strong>aus</strong>. Sie kennen auch die Zehn Gebote, die<br />

teilweise, auf unser heutiges Leben angewandt, unrealistisch<br />

wirken. Sie wollen mehr, etwas, das ihren persönlichen Wünschen<br />

näher kommt.<br />

Sie wollen einen konkreteren Gott. Einen Gott, der direkt zu<br />

ihnen spricht und ihnen die innere Unruhe und auch die Angst<br />

129


vor dem Tod nimmt. Und die Religion zeigt ihnen einen Weg.<br />

Tue Buße. Opfere. Der Opferstock ist am Ausgang der Kirche!<br />

Deshalb hüte dich vor allen Menschen in schwarzen, dunkelblauen<br />

oder Nadelstreifen-Anzügen! Die Wahrscheinlichkeit<br />

ist groß, dass sie Neocheater sind.“<br />

Jürgen schüttelte den Kopf. Das war eine Anspielung auf ihn.<br />

Der Nackte hatte ihn nicht verstanden, als er von seiner inneren<br />

Unruhe sprach. Er wollte ihn auf ein anderes Thema bringen<br />

und fragte deshalb unvermittelt:<br />

„Glaubst du an Gott?“<br />

Heinz erwiderte: „Der Psalm ist noch nicht zu Ende: Harre<br />

auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit<br />

seinem Angesicht.“<br />

In diesem Moment kraxelte eine hübsche Brünette mit einem<br />

makellosen, nahtlos braun gebrannten Körper den mit<br />

Geröll gespickten Pfad zu Heinz‘ Höhle herauf und blieb vor<br />

den beiden stehen.<br />

„Bin ich hier richtig bei Heinz, dem Masseur? Der mit den<br />

Ganzkörpermassagen? Meine Freundin Judith hat mir begeistert<br />

von Ihnen erzählt“, und sie musterte Heinz neugierig von<br />

Kopf bis Fuß. „Hier sind Sie richtig“, sagte Heinz. „Eine Stunde<br />

kostet zwanzig Mark.“<br />

„Ich werde morgen wiederkommen“, sagte Jürgen zu Heinz.<br />

„Wir können uns dann weiter unterhalten. Ich störe jetzt nur.“<br />

Heinz bedeutete der jungen Frau, sich mit dem Bauch auf<br />

die raue Betonplatte zu legen, wobei er mit geübtem Auge sofort<br />

den Ehering an ihrer linken Hand wahrnahm, und Vorfreude<br />

stieg in ihm auf. Er ließ etwas Öl, der Geruch von Kokosnuss<br />

lag schon in der Luft, auf ihren Rücken tropfen und verteilte<br />

es und begann mit seinen starken Händen sie langsam zu massieren.<br />

Auf dem Weg zurück in den Club dachte Jürgen über den<br />

130


von Heinz gebrauchten Begriff des Neocheaters nach. War er<br />

auch einer von der Sorte? Nein, das hatte überhaupt nichts<br />

mit ihm zu tun. Er saugte die Menschen nicht <strong>aus</strong>. Er arbeitete<br />

in seiner Bank mit Produkten, die einem Kunden helfen sollten,<br />

sein Vermögen zu vergrößern, oder er räumte seinen Kunden<br />

Kredite ein, die sie in die Lage versetzten, zukunftsträchtige<br />

Pläne, die auch der Allgemeinheit nützten, anzugehen.<br />

Dann aber fiel ihm ein, wie manche Kundenbetreuer in seiner<br />

Bank alte, einfache Leute, die wenig besaßen, berieten: „Unsere<br />

Bank empfiehlt Ihnen ein Sparbuch. Da ist Ihr Geld sicher und<br />

Sie bekommen auch Zinsen auf Ihre Einlage.“<br />

Sie sprachen betont so, als ob das nicht selbstverständlich<br />

wäre: „Zwei Prozent. Sie können sogar jederzeit über Ihr Geld verfügen.<br />

Wenn Sie mehr als t<strong>aus</strong>end Mark abheben wollen, müssen<br />

Sie uns das nur sechs Wochen zuvor mitteilen.“<br />

Bundesanleihen, die noch sicherer sind als ein Sparbuch,<br />

hätten der guten alten Frau aber mindestens doppelt so viel<br />

an Zinsen eingebracht, und sie hätte die Papiere sogar jederzeit<br />

verkaufen können, ohne irgendeine Kündigungsfrist einhalten<br />

zu müssen. Doch der Kundenbetreuer würde das der alten<br />

Frau erst dann anbieten, wenn sie ein besseres Angebot einer<br />

anderen Bank erwähnen oder vorlegen würde. Man würde<br />

doch nicht auf eine lukrative Einnahmequelle verzichten, nur<br />

um einer alten Frau zu helfen?<br />

Auch auf ein Girokonto bezahlte seine Bank keine Zinsen.<br />

Wenn aber dieses Konto überzogen wurde, waren dreizehn<br />

Prozent fällig. Genau genommen war das Wucher. Er kannte<br />

diese Praxis und war nie eingeschritten. Er hätte den Vorsitz<br />

nicht mehr lange innegehabt, wenn er sichere Einnahmequellen<br />

gekappt und so den Gewinn der Bank geschmälert hätte.<br />

Der Chefmathematiker hatte ihn kürzlich wieder einmal in<br />

seiner Chefetage aufgesucht, um ihm ein neues Finanzprodukt<br />

131


vorzuschlagen. Ein Finanzderivat. Derivate sind Papiere, denen<br />

Anleihen, Aktien oder Rohstoffe zugrunde liegen. Sie sind<br />

oft so konzipiert, dass sie für den Anleger in den letzten Feinheiten,<br />

auf die es aber letztlich ankommt, unverständlich bleiben.<br />

Er muss deshalb in der Regel an die von der Bank in Aussicht<br />

gestellten Gewinnchancen glauben und sich auf die Aussagen<br />

seines Betreuers verlassen. Je weniger verständlich und<br />

je komplizierter ein Derivat ist, desto höher ist der erzielbare<br />

Gewinn für die Bank. Zertifikate, auch zur Gattung der Derivate<br />

zählend, sind besonders beliebt und lassen sich glänzend<br />

an den Mann bringen. Ein bekanntes Zertifikat bildet zum Beispiel<br />

den DAX-Index nach. Nur müsste es eigentlich besser als<br />

der DAX abschneiden, denn die Unternehmen werfen Dividenden<br />

ab, die im DAX nicht berücksichtigt sind. Wo verstecken<br />

sich aber die Dividenden im Zertifikat? Werden sie unterschlagen<br />

und bilden so den satten Gewinn der Bank?<br />

Irgendwie hat dies alles schon mit Aussaugen zu tun, musste<br />

er widerstrebend zugeben, wenn auch nicht so krass wie das<br />

Heinz darstellte. War er selbst also doch ein Mini-Neocheater?<br />

Der nächste Morgen kam, und Jürgen saß wieder zu Füßen<br />

des Einsiedlers.<br />

„Wir waren bei Gott stehengeblieben. Glaubst du an Gott?“,<br />

fragte Jürgen noch einmal.<br />

„Nun gut“, sagte Heinz. „Wer ist denn Gott? Gibt es nur einen?<br />

Denkt er wie ein Mensch? Sieht er einem Menschen ähnlich?<br />

Sieht er wie ein alter Mann mit einem langen, weißen<br />

Bart <strong>aus</strong>, wie er von manchen Religionen für den einfachen<br />

Gläubigen beschrieben und auch dargestellt wird? Nein, wirst<br />

du sagen, weil du nicht einfach bist, so sieht er bestimmt nicht<br />

<strong>aus</strong>. Gott muss anders sein. Er muss eine transzendente Macht<br />

oder auch eine Kraft sein jenseits unserer Wahrnehmung und<br />

unseres Vorstellungsvermögens, wenn du seine Existenz nicht<br />

132


von vornherein leugnen willst. Bildlicher <strong>aus</strong>gedrückt: Was das<br />

Auge nicht gesehen, noch das Ohr gehört, noch die Zunge geschmeckt<br />

hat, das ist er. Doch was bedeutet Gott für uns, wenn<br />

er keinen direkten Einfluss auf uns nimmt? An Gott glauben<br />

heißt deshalb, dass diese Macht auf unser Leben Einfluss nimmt<br />

und Orientierung gibt. Orientiere ich mich daran? Ich weiß es<br />

nicht. An Gott zu glauben, hat nicht unbedingt etwas damit<br />

zu tun, auch an ein Weiterleben zu glauben. Wie stehst du<br />

dazu?“<br />

Jürgen schwieg. Er wusste keine Antwort. Und Heinz fuhr<br />

fort.<br />

„Gott ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner vom<br />

unendlichen Universum und der Welt der Atome. Er ist allgegenwärtig<br />

und kann deshalb nicht als eine riesige Schaltzentrale,<br />

von der alles wie von einem Supergehirn gesteuert wird,<br />

aufgefasst werden. Er ist vielleicht die vierte Dimension, die<br />

unsere Welt transzend enthält. So ist er in gewisser Weise auch<br />

die Zeit. Sie ist es, die die Unruhe in unsere Welt bringt. Mit ihr<br />

entstehen erste Abläufe. Gott ist wie ein riesiges Gravitationsfeld,<br />

das – auch wenn noch so schwach und kaum messbar ist<br />

– trotzdem überall vorhanden ist, manchmal stärker,<br />

manchmal schwächer, selbst im leeren, unendlich weit entfernten<br />

Raum jenseits von uns Menschen. So ist die Aussage naheliegend:<br />

Gott ist Schöpfer unserer Welt.<br />

Ich glaube, dass Gott in dieser Definition besonders stark in<br />

uns wirkt. Wir schaffen in uns eine eigene Gottesaura, was mit<br />

dem Entstehen unseres Bewusstseins zusammenhängen kann.<br />

Das volle Bewusstsein eines Menschen entwickelt sich langsam.<br />

Man kann es an der Frage messen: „Wer bin ich?“und<br />

„kann ich Ich denken?“ Ein anderes Lebewesen als der Mensch<br />

ist nicht in der Lage, über sein eigenes Ich nachzudenken. Mit<br />

der Entstehung des Bewusstseins ist ein Stück von Gott kon-<br />

133


kret, erkennbar geworden. Das Bewusstsein aber setzt die Entstehung<br />

des Ichs vor<strong>aus</strong>. Und in uns Menschen ist das größte<br />

Geheimnis dieses eigene Ich. Es ist unangreifbar immer da.<br />

Immer zentriert, obwohl es sich im Laufe der Jahre verändern<br />

kann, dreht es sich immer um die eigene Achse und bleibt sich<br />

treu. Zwei Ichs in einem Menschen führen zu Wahnsinn oder<br />

zu einer Katastrophe, was die Natur zu verhindern sucht.<br />

Das Ich ist, wenn wir geboren werden, leer. Es wird erst langsam<br />

zum Leben erweckt, wenn Eindrücke und Erfahrungen,<br />

kurz Informationen, die vom Umfeld einwirken, also der Welt,<br />

in der wir leben, im Gehirn zunächst gespeichert, dann bearbeitet<br />

und schließlich verarbeitet werden. Das Ich kristallisiert<br />

sich <strong>aus</strong> diffuser Masse und bleibt immer das Zentrum des<br />

Menschen. Es ist vergleichbar mit einem Kreisel, der gepeitscht<br />

seine Achse beibehält, wobei die Achse selbst einen eigenen<br />

Kreis beschreiben und auf seiner Unterlage wandern kann.<br />

Der alte persische Weise und Prophet Zarathustra sagt: „Der<br />

Mensch wird als vernünftiges Wesen frei geboren und kann<br />

allein durch freie Entscheidung und persönliche Einsicht zu<br />

Gott gelangen.“<br />

So gesehen glaube ich, dass Gott in uns geboren wird und in uns<br />

bis zu unserem Ende bleibt, wie hätte sonst das Ich entstehen<br />

können? Manche Menschen besitzen die Fähigkeit, sich selbst<br />

im eigenen Spiegel und dabei IHN zu sehen und SEINE Botschaften<br />

zu empfangen. ER ist in uns, und wir nehmen Einfluss<br />

auf IHN.“<br />

„Dann glaubst du also an Gott?“, fragte Jürgen.<br />

„Ja“, war Heinz' schlichte Antwort.<br />

Jürgens Urlaub war fast zu Ende. Übermorgen startete sein<br />

Flugzeug von Puerto de Rosario, dem Flughafen von <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

nach Frankfurt. Er hatte von dem Einsiedler viel gelernt,<br />

manches gehört, worüber er nachdenken konnte. Ein Jahr lang<br />

134


is zum nächsten Cluburlaub. Er würde sicher wieder hierher<br />

kommen. Doch zuvor würde er an einer Jeep-Safari teilnehmen,<br />

die zur verlassenen Westküste Jandias führen würde mit<br />

einem Abstecher zur sagenumwobenen Villa Winter, die, wenn<br />

man den wilden Gerüchten Glauben schenkte, als Fluchtburg<br />

und Versteck für Nazigrößen nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

gedient hatte.<br />

Die Animateure Joe Schäfer und Hans Burkau vom Robinson<br />

Club saßen im ersten Jeep. Fünf weitere Jeeps folgten im<br />

gebührenden Abstand. Kurz hinter Morro ging die Straße in<br />

eine schlecht befestigte Schotterpiste über, die zum Leuchtturm<br />

am südlichsten Punkt der Insel führte, dem Punta de Jandia.<br />

Die beiden hatten ihre Hemden <strong>aus</strong>gezogen, und ihre braun<br />

gebrannten, vom vielen Sport durchtrainierten Oberkörper<br />

samt den langen Haaren auf den Köpfen waren schon nach<br />

wenigen Kilometer mit rostbraunem Sandstaub, von durchdrehenden<br />

Rädern aufgewirbelt, überzogen. Jürgen, im letzten<br />

der sechs Suzukis am Steuer, hielt sich sein Taschentuch<br />

vor Mund und Nase, um wenigstens einen Teil des Staubes<br />

nicht einatmen zu müssen. Die beiden Animateure legten ein<br />

Tempo vor, das für Schotterpisten viel zu hoch war. Sie liebten<br />

es, dem untermotorisierten Jeep alles abzuverlangen, was<br />

in ihm steckte.<br />

Die Piste wurde enger und steiniger, voll gefährlichem Geröll.<br />

Jürgens Jeep schlitterte wie auf Kugellagern. Ohne Vierradantrieb<br />

hätte der Wagen die Fahrspur nicht halten können.<br />

An manchen Stellen war die Piste weggebrochen, und der Jeep<br />

streifte hin und wieder die seitlichen Felswände. Wieder musste<br />

eine enge Kurve um einen Barranco, eine Schlucht, die in grauer<br />

Vorzeit, als es hier noch <strong>aus</strong>giebig regnete, von herabstürzenden<br />

Wassermassen <strong>aus</strong>gespült wurde, umfahren werden.<br />

Jürgens Mitfahrer beschwerte sich:<br />

135


„Fahr doch schneller, wir verlieren den Anschluss. Soll nicht<br />

lieber ich fahren?“ Jürgen winkte entsetzt ab. Allein das Aussehen<br />

seines Mitfahrers vermittelte das eines rücksichtslosen<br />

Draufgängers, ein Unfall wäre vorprogrammiert.<br />

Der junge, allein fahrende Fahrer in seinem Jeep vor den beiden<br />

unterschätzte die Rutschgefahr. Er gab unkontrolliert Gas<br />

und freute sich wie ein Kind, wenn der leicht gebaute, vom<br />

vielen Fahren <strong>aus</strong>geleierte und <strong>aus</strong> der Spur geratene Jeep in<br />

Sätzen nach vorn schoss und dabei der Motor aufheulte. Er<br />

wollte den R<strong>aus</strong>ch des gefährlichen Fahrens an der Grenze des<br />

Möglichen voll <strong>aus</strong>kosten. Und da passierte es! Der Achtzehnjährige<br />

verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Die Räder glitten<br />

über das Geröll wie auf Eis, die runden Steine spritzten<br />

zur Seite. Jürgen schien es, als ob der nervig jaulende Suzuki<br />

für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft über dem Barranco<br />

schweben würde, bis er in voller Fahrt die Schlucht hinabstürzte,<br />

sich dabei überschlug und gegen einen findlingsgroßen Felsbrocken<br />

knallte, wo er schließlich zur Ruhe kam. Der Kühler<br />

platzte und zischend entwich weißer Dampf. Jürgen stockte<br />

der Atem. Wie gelähmt schaute er zu, als ob ein Film vor ihm<br />

abspulen würde. Hatte der Junge überlebt, oder war er tot?<br />

Dann beobachtete er, wie der Blondschopf auf allen vieren <strong>aus</strong><br />

dem qualmenden, zerstörten Fahrzeug her<strong>aus</strong>kroch. Er streckte<br />

seinen linken Arm in die Höhe. Eine Ader an seinem Armgelenk<br />

war geplatzt. Ein Blutstrahl spritzte wie eine Fontäne.<br />

Dann brach der Junge zusammen. Jürgen, seinen Schock überwindend,<br />

überlegte, wie er dem Jungen zur Hilfe kommen<br />

könnte. Der Abhang war zu steil. Er würde das nicht schaffen,<br />

ohne selbst abzustürzen. So sportlich war er nicht mehr. Doch<br />

Joe und Hans waren schon zur Stelle. Mit katzenartiger Geschicklichkeit<br />

kletterten sie den Abhang zu dem Jungen hinunter.<br />

Sie rissen ein Hemd in Streifen und banden ihm den Arm<br />

136


ab. Sie führten eine Flasche Wasser an seine Lippen, der Junge<br />

trank. Jetzt stand er wieder, und sie geleiteten ihn an einer flacheren<br />

Stelle <strong>aus</strong> der Schlucht. Hans fuhr ihn zurück zum Club,<br />

wo er ärztlich versorgt werden sollte.<br />

Joe führte die verbleibenden fünf Jeeps jetzt allein an. Vorsichtig<br />

geworden, fuhr er etwas langsamer. Eine Piste, die über<br />

die Bergkette über einen Pass nach Cofete führte, vielleicht das<br />

abgelegenste Dorf der Kanaren an der menschenleeren Südwestküste<br />

<strong>Fuerteventura</strong>s, ging rechts ab. Nach vielen Serpentinen<br />

über noch gefährlicheres Geröll als auf der Piste zuvor,<br />

hielt die Gruppe auf der Passhöhe Degollada de Agua Oveja.<br />

Ein orkanartiger, sandgetränkter Wind pfiff durch die Passniederung<br />

und durch die offenen Jeeps. Jürgen stieg <strong>aus</strong> und<br />

konnte sich gegen den Wind kaum auf den Beinen halten. Dafür<br />

bot sich ihm ein atemberaubender Blick auf die Berge und die<br />

Sandstrände vor der Kulisse der hereinbrechenden, weiß<br />

schäumenden Atlantikwellen bis hin zum Inselchen El Islote,<br />

das gerade noch sichtbar im Norden lag. Der Strand Playa de<br />

Cofete zog sich bis dahin, und dahinter schloss sich der Strand<br />

von Playa de Barlovento an. Dies war also die wilde, weiträumige<br />

Schönheit der Westküste, von der mancher Besucher<br />

schon geschwärmt hatte!<br />

Cofete lag vor ihnen. Kaum als Dorf zu bezeichnen, war Cofete<br />

eine Anhäufung von heruntergekommenen, unbewohnten,<br />

lehmverschmierten Steinhäuschen und Bretterbuden, bis<br />

auf ein rechteckiges, gemauertes Gebäude, in dem eine Familie<br />

lebte und die eine Café-Bar für die wenigen Touristen betrieb,<br />

die sich hierher verirrten. Das bisschen Geld und die<br />

Milch der wenigen Ziegen, die auch die winzigste Pflanze fanden,<br />

die in der Dürre von welchem Wasser auch immer keimen<br />

sollte, sorgten für ihren Unterhalt.<br />

Und dann entdeckte er, vielleicht einen Kilometer entfernt,<br />

137


am Ende eines schroff abfallenden Hanges ein schlossartiges,<br />

zweistöckiges Gebäude mit einem alles überragenden runden<br />

Turm. Die Rundbögen an der Vorderseite gaben dem Gebäude<br />

das unverwechselbare Aussehen, wie er es von Fotografien<br />

kannte. Das war also die legendäre Villa Winter! Ein solch<br />

ungewöhnliches Herrenh<strong>aus</strong> in dieser gottverlassenen Gegend!<br />

Hinter der Villa fielen Wolken über den Pico de la Zarza, den<br />

mit über 800 Meter höchsten Berg der Insel, die beim Wälzen<br />

über die Bergspitze und beim Fallen in die Tiefe verdampften<br />

und sich in nichts auflösten.<br />

Die ganze Bergkette fiel so steil zum Meer ab, dass Jürgen<br />

sich in seiner Fantasie vorstellte, Atlantis sei hier einst abgebrochen<br />

und im Meer versunken. Ein versunkenes Atlantis,<br />

jenseits der Säulen des Herakles – jenseits der Meerenge von<br />

Gibraltar, so geheimnisvoll wie diese Villa Winter?<br />

Zurück im Wagen, folgte Jürgen den anderen, entlang an<br />

scharfen Felswänden mit dem schon gewohnten Schotter und<br />

Geröll auf der Piste. Links von ihm ging es vierhundert Meter<br />

tief, für ihn schwindelerregend, abwärts zum Meer. Er kurbelte<br />

den Jeep durch die enge Haarnadelkurve. Die Geröllpiste<br />

war kaum breiter als der Suzuki, der schon wieder ins Rutschen<br />

geriet. Er entdeckte in einer Senke, wo es tief unter der Erde<br />

vielleicht noch etwas Wasser gab, einige grüne Pflanzen in der<br />

sonst vertrockneten, braungelben Landschaft. Waren das Kakteen?<br />

Joe erklärte bei einem Halt in einer Kurve, dass es sich<br />

hier tatsächlich um eine Kakteenart handelte, eine botanische<br />

Rarität der Insel, die den Namen Cardón de Jandia trug, ein<br />

Euphorbiengewächs. Die Ziegen hatten diese Pflanzen verschont.<br />

Sie waren hochgiftig.<br />

Joe führte die Jeeps zu der genannten Bar. Sie stellten die<br />

Jeeps vor dem einstöckigen, grob gemauerten Gebäude ab. Zwei<br />

junge Hunde sprangen an den Ankömmlingen empor, die<br />

138


staubbedeckt auf der kleinen Terrasse auf den verrosteten Eisenstühlen<br />

Platz nahmen. Der hagere Wirt kam her<strong>aus</strong>:<br />

„Buenos días“, sagte er.<br />

Jürgen versuchte sein Spanisch und erwiderte: „Un cafe, por<br />

favor.“<br />

Joe setzte sich in die Mitte der Gruppe und erzählte:<br />

„Der Deutsche Gustav Winter, von den Einheimischen Don Gustavo<br />

genannt, auf Jandia meistens mit Sonnenbrille und einer Pfeife<br />

im Mund anzutreffen, kam während des Spanischen Bürgerkriegs<br />

im Jahr 1937 auf die Insel.<br />

Er soll mit den Fundamenten der Villa, die ihr am Berghang<br />

da drüben sehen könnt, während des Zweiten Weltkriegs begonnen<br />

haben. Da war der Tourismus noch ein Fremdwort auf<br />

der Insel. Auch dieses Gebäude, in dem wir uns aufhalten, hat<br />

er erstellen lassen. Der kleine Hügel, der vor uns liegt, birgt<br />

sicher auch ein Geheimnis. Er passt überhaupt nicht in die topographische<br />

Landschaft, wie ihr selbst beurteilen könnt. Wie<br />

ein künstlich aufgeschütteter Fremdkörper. Ist irgendetwas<br />

darunter versteckt?<br />

Ein Gerücht geht um, dass Winter ein deutscher General oder<br />

Admiral gewesen sei.<br />

Das trifft aber nicht zu, denn meine Nachforschungen haben<br />

ergeben, dass Gustav Winter von Beruf Chemiker war,<br />

mindestens steht es so in einer alten Meldekarte vom Stadtarchiv<br />

Titisee-Neustadt. Aus der gleichen Meldekarte geht<br />

hervor, dass er am 10.5.1893 in Zastler bei Freiburg geboren<br />

wurde. Er war mit Johanna Winter, eine geborene Adelsberger,<br />

verheiratet und hatte zwei Töchter, Isolde 1912 in Paris<br />

und Anamarie 1914 in Lissabon geboren. Im gleichen Jahr 1914<br />

zog er von Rio Grato kommend, das in Argentinien liegt, nach<br />

Neustadt im Schwarzwald, um kurz danach nach Spanien<br />

weiterzuziehen. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er mit sei-<br />

139


Blick vom Pass auf Cofete<br />

ner Familie in Madrid, wo er sein, wahrscheinlich in Hamburg<br />

angefangenes, Ingenieurstudium 1921 beendete. Wenige Jahre<br />

danach errichtete er als junger Ingenieur das Elektrizitätswerk<br />

CICER in der Hafenstadt Las Palmas auf Gran Canaria,<br />

das 1928 in Betrieb ging. 1933 soll er zum ersten Mal kurz auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, genauer gesagt, auf deren südlichem Teil Jandia,<br />

gesehen worden sein.<br />

Er war in jungen Jahren schon in vielen spanisch sprechenden<br />

Ländern unterwegs gewesen, und es ist deshalb nicht verwunderlich,<br />

dass man seinen Namen viel später in den siebziger<br />

Jahren in einer geheimen, schwarzen Liste der Alliierten<br />

über Nazi-Agenten in Spanien findet, die lange Jahre für niemanden<br />

zugänglich war und erst kürzlich offengelegt wurde.<br />

Darin steht als Winters Kurzprofil: deutscher Agent auf den<br />

Kanarischen Inseln, der für einen mit drahtloser Telefonie <strong>aus</strong>-<br />

140


Siedlung Cofete und dahinter der Strand Playa de Cofete<br />

Ist hier Atlantis abgebrochen und im Meer versunken?<br />

141


Giftige Kakteen an der menschenleeren Westküste<br />

Villa Winter (weiß eingerahmt) am Fuß des Pico de la Zarza<br />

142


Wasserrinne vom Stollen zum Wasserreservoir<br />

gerüsteten Observierungsposten verantwortlich ist und für die<br />

Versorgung von deutschen U-Booten.<br />

Winter pachtete gleich nach seiner Ankunft die ganze Halbinsel<br />

Jandia von der Familie der Grafen Santa Colma, repräsentiert<br />

durch Don Alejandro Marques de Portago. Viele Jahre<br />

später, nämlich 1962, wurde dieses Land Gustav Winter geschenkt,<br />

offiziell von der Firma Dehesa de Jandia S. A., als „Entschädigung<br />

für seine unermüdlichen Anstrengungen zur Erschließung<br />

der Halbinsel“, sicher nicht ohne den Segen von<br />

Generalissimo Franco. 2 300 Hektar! Der ganze südliche Teil<br />

von Jandia!<br />

Von wem hatte damals Winter den Auftrag erhalten, die<br />

unfruchtbare, menschenleere Halbinsel Jandia, eine Mondlandschaft<br />

ohne die geringste Infrastruktur, zu pachten? Von<br />

wem das viele Geld? Es wird gemunkelt, dass es <strong>aus</strong> der Kriegskasse<br />

Görings stammte. Vielleicht war das auch der Grund-<br />

143


Amerikanischer Dodge Lastwagen in Cofete<br />

stock für die vielen Millionen, die das Land einmal der Familie<br />

Winter einbringen sollte.“<br />

Jürgen hörte aufmerksam zu. So abwegig war die Theorie<br />

nicht, dass die Nazis einen sicheren Schlupfwinkel im Atlantik<br />

suchten, um ihre U-Boote auftanken und warten zu können.<br />

Hitlers U-Boote waren während des Krieges bekanntlich<br />

bis zum Kap und weiter zum Indischen Ozean vorgedrungen,<br />

um feindliche Schiffe aufzuspüren und zu torpedieren.<br />

Joe machte eine kurze P<strong>aus</strong>e und fuhr mit seinem Bericht<br />

fort:<br />

„In den ersten Jahren versuchte Winter, Jandia landwirtschaftlich<br />

nutzbar zu machen. Verkümmerte Reste einer begonnenen<br />

Aufforstung sind heute noch zu finden. Vor allem<br />

dieses Gebiet um Cofete, das noch vor hundert Jahren die<br />

fruchtbarste Gegend von <strong>Fuerteventura</strong> war, sollte seinen<br />

144


Villa Winter vor dem Pico de la Zarza<br />

Mystische Villa Winter im morgendlichen Gegenlicht<br />

145


Eingangstür<br />

Blick vom Garten auf den Turm<br />

146


Stolleneingang im Fels bei der Villa Winter<br />

Verrostete Bergwerkslore mit dem Schriftzug „Krupp“<br />

147


Verteilerdose mit<br />

Schriftzug „Elag“<br />

landwirtschaftlichen Versuchen dienen.<br />

In seiner Vision wollte er die karge<br />

Landschaft wieder in ein blühendes<br />

Paradies verwandeln. Warum dies<br />

aber mit einer Zwangsumsiedlung aller<br />

Bewohner dieses Gebietes in nördlichere<br />

Teile der Insel verbunden war,<br />

ist nicht verständlich. Die Halbinsel<br />

wurde kurz nach seiner Ankunft<br />

sogar zur militärischen Sperrzone erklärt<br />

und an einer der engsten Stellen,<br />

nur fünf Kilometer breit, mit Stacheldraht<br />

abgetrennt. Nur wenige <strong>aus</strong>gesuchte,<br />

einheimische Landarbeiter<br />

durften mit Sonder<strong>aus</strong>weis die Stacheldrahtgrenze<br />

passieren, die rund um die Uhr bewacht wurde.<br />

Sie haben sicher bemerkt, dass ein Teil dieses Gebäudes, in<br />

dem wir uns befinden, zugemauert ist. Ein Zugang zu diesem<br />

Teil ist nicht möglich. Auch Petro, unser Wirt, hat keinen<br />

Schlüssel. Immer wieder wurde gerätselt, was darin versteckt<br />

sein könnte. Meine Neugierde wollte ich befriedigen, und ich<br />

nagelte eine primitive Leiter zusammen, wobei mir Petro half,<br />

der einige Peseten dafür bekam. Durch ein oberes, enges, eingeschlagenes<br />

Fenster kann man in den Raum gelangen. Hat<br />

jemand Lust, mich zu begleiten?“<br />

Jürgen zwängte sich durch das Fenster und ließ sich an einem<br />

Seil auf der Innenseite des dunklen Raums hinab. Vor ihm<br />

stand ein alter Lastwagen. Ein alter amerikanischer Dodge <strong>aus</strong><br />

der Kriegszeit in erbärmlichem Zustand. Ein alter Holzvergaser,<br />

in der Bauart, wie sie im Krieg für Lastwagen in Deutschland<br />

verwendet worden waren, lag in der Ecke. Das erzeugte<br />

148


Bergwerkslore mit dem Schriftzug „Krupp“<br />

Mauerumrandung der Villa Winter im Umriss von Jandia<br />

149


Gas ersetzte das Benzin, das Mangelware war. Altes Gerümpel<br />

stand herum und verschiedene verrostete landwirtschaftliche<br />

Geräte mit deutschen Firmennamen. Die Überraschung<br />

war perfekt. Der Lastwagen hatte sicher dazu gedient, das benötigte<br />

Baumaterial für die Villa Winter vom Hafen in Morro<br />

über den Pass, den sie gekommen waren, hierher zu karren.<br />

Einheimische beteuern jedoch, dass das meiste Baumaterial<br />

auf Kamelen und Eseln hierher transportiert wurde, weil die<br />

Straße zu schlecht gewesen sei, wie Joe zu berichten wusste.<br />

Es bestand zu jener Zeit auch keine befahrbare Straße von Puerte<br />

del Rosario nach Morro.<br />

Jetzt war Jürgens Neugier voll entfacht. Wie sah die Villa<br />

selbst <strong>aus</strong>? Welche Überraschungen hatte sie zu bieten?<br />

Joe saß schon wieder in seinem Jeep und nahm den holprigen<br />

Weg in wenigen engen Kurven durch die verwilderten<br />

Felder des Anwesens hinauf zu der in den Hang hineingezwängten<br />

Villa. Imposant und stolz präsentierte sie sich, ein<br />

festungsartiger, zweigeschossiger, mit behauenen Natursteinen<br />

gemauerter Bau mit einem runden Turm an der Seite und<br />

an der Vorderfront mit Rundbögen. Die Villa war von einem<br />

weiten, mauerähnlichen Steinwall umgeben, der die Umrisse<br />

von Jandia nachzeichnete. Winter musste nicht nur ein genialer<br />

Ingenieur, sondern auch ein guter Architekt gewesen sein<br />

und über viel Fantasie verfügt haben. Oder war die Architektur<br />

der Villa derjenigen der Nazis nachempfunden? Waren<br />

nicht stilistische Ähnlichkeiten mit Hitlers Obersalzberg festzustellen?<br />

Die Frage drängte sich Jürgen erneut auf: Warum<br />

hatte Winter die Villa gerade in dieser unzugänglichen Einöde<br />

errichtet?<br />

Joe hielt mit seinem Jeep auf dem Hof hinter der Villa. Jürgen<br />

stellte sich mit seinem Fahrzeug daneben. Zwei Hunde<br />

bellten gefährlich. Es waren keine Dobermänner oder Deut-<br />

150


sche Schäferhunde, wie er eigentlich erwartet hatte, sondern<br />

Hirtenhunde, friedliche Mischlinge, wie sie auch in Morro anzutreffen<br />

waren. Trotzdem wich Jürgen zurück, bis sich einer<br />

der Hunde streicheln ließ und seine Hand leckte.<br />

Hinter ihm entdeckte er eine Kipplore, wie sie im Bergbau<br />

verwendet wird. Sie war verrostet. Der Name Krupp war auf<br />

einem Blech eingeprägt. Verbogene Schienen lagen daneben,<br />

und da rostete ein alter Traktorenmotor in der Salzluft vor sich<br />

hin.<br />

Joe setzte seine Erläuterungen fort:<br />

„Weiter oben am Berg hat Winter einen Stollen in den Fels<br />

treiben lassen. Dazu wurden solche Loren eingesetzt. Es wird<br />

vermutet, dass er eine direkte Verbindung nach Morro schaffen<br />

wollte. Doch auch einem anderen Zweck hätte der Stollen<br />

dienen können. Stollen dieser Art werden auf den Kanaren<br />

›Galerias‹ genannt. Sie führen in einer porösen Schicht, hier<br />

eine Art Mergel, etwa dreihundert Meter leicht ansteigend in<br />

den Berg. An den Wänden des Ganges perlt Wasser hervor,<br />

das sich in T<strong>aus</strong>enden von Jahren im Mergel gespeichert hat,<br />

und sammelt sich in einer Rinne am Boden. Es fließt her<strong>aus</strong><br />

und wird durch einen Kanal oder ein Rohr zu einem Wasserreservoir<br />

geleitet, in diesem Fall einem kleinen Staudamm,<br />

dessen Mauer noch zu sehen ist. Vielleicht wollte Winter so<br />

die Wasserversorgung der Villa sichern.“<br />

Ein zerlumpter, alter Mann saß am Eingang und rauchte ein<br />

Zigarillo. Sein Gesicht war <strong>aus</strong>gedörrt von der Seeluft, der<br />

immerwährenden Sonne und dem blasenden Passatwind. Er<br />

schätzte die Fremden wortlos ab. Wie viel würden sie bezahlen?<br />

Seine Augen wirkten gläsern. Vom vielen Trinken oder<br />

von den Drogen, die er konsumierte? Joe sagte, dass er Rafael<br />

heiße. Nachdem Joe ihm einige Peseten zugesteckt hatte, schaute<br />

er verächtlich auf das wenige Geld, erhob sich aber trotz-<br />

151


Don Gustavo - mit seiner Pfeiffe im Mund<br />

dem schwerfällig von seinem Sitz und öffnete die kleine Tür,<br />

die in ein halbkreisförmiges Holztor eingelassen war, groß<br />

genug, um einen Heuwagen passieren zu lassen. Sie quietschte<br />

beim Aufstoßen in ihren verrosteten Scharnieren. Das Holztor<br />

selbst war in eine drei Meter hohe, oben mit Glasscherben<br />

besetzte Mauer eingesetzt.<br />

In dem Atrium wuchsen einige Hibiskussträucher in Steintrögen,<br />

einige übermannshohe Wolfsmilchgewächse und wilde<br />

Bananenstauden um den in der Mitte stehenden, <strong>aus</strong> Stein<br />

gemeißelten Brunnen. Versiegt war der künstliche Bachlauf,<br />

der einst den Brunnen gespeist hatte. Ein Feigenbaum trug einige<br />

kümmerliche Früchte. Alle Pflanzen waren verwildert und<br />

fast verdorrt. Unrat lag herum, Müll des Alten, der einige Räume<br />

im linken Flügel der Villa bewohnte. Ein hölzerner, geschnitzter<br />

Krokodilskopf bildete das Ende einer Regenrinne.<br />

Die Villa selbst war offen. In der Eingangstür, die über einen<br />

152


Vorraum zum Wohnzimmer führte, war ein großes “ W„ eingeschnitzt,<br />

das für den Namen Winter stand. Jürgen bemerkte<br />

unwillkürlich die außergewöhnliche Dicke der Außenwände<br />

von etwa siebzig Zentimetern. Warum so dicke Außenwände,<br />

wie die von einer Festung?<br />

Joe führte die Gruppe ins Wohnzimmer, das ohne Möbel groß<br />

und kalt wirkte. Der Boden war glatt, <strong>aus</strong> poliertem Marmor.<br />

Alles war verdreckt. Braune Kügelchen von Ziegen lagen herum.<br />

Vor dem offenen Kamin waren Maiskolben zum Trocknen<br />

aufgehängt. Der Essensaufzug, der vom unteren Geschoss<br />

heraufführte, war leer. Vom Wohnzimmer ging es auf die überdachte<br />

Terrasse, die durch sechs Arkaden begrenzt war. Vom<br />

obersten Stockwerk des Turms war der Blick nach Süden und<br />

Norden über das ganze Meer frei. Ein endloses Panorama in<br />

drei Himmelsrichtungen. Ein idealer Aussichts-, aber auch<br />

Beobachtungspunkt. Am Horizont konnte Jürgen die bräunliche<br />

Linie von Gran Canaria erkennen und dahinter ganz<br />

schwach den Pico del Teide, den 3 718 Meter hohen Berg und<br />

das Wahrzeichen von Teneriffa unter den vom Wind gejagten<br />

Kumuluswolken. Mit einem Fernrohr könnte ein Beobachter<br />

den Schifffahrtsweg zwischen Gran Canaria und <strong>Fuerteventura</strong><br />

lückenlos überwachen.<br />

Jürgen entdeckte einen riesigen elektrischen Hochlast-Messerschalter,<br />

wahrscheinlich von Siemens, der sicher fünfzig Ampere<br />

schalten kann, und eine Verteilerdose mit dem eingegossenen<br />

Schriftzug ELAG. Steht vielleicht für Elektrizitäts-Aktiengesellschaft?<br />

Diese hohen Stromleistungen, wofür? Radiotelefonie brauchte<br />

damals sehr viel Strom, besonders für einen leistungsfähigen<br />

Sender. Joe meinte, dass vielleicht mit dem Strom riesige<br />

Magnetfelder erzeugt werden sollten, um die Kompasse vor-<br />

153


eifahrender Schiffe abzulenken. Vielleicht ist diese Theorie<br />

auch nur ein Gerücht.<br />

Er ging weiter in die unteren Geschosse, wo sich die Küche<br />

mit einem Backofen und einem Herd befand. Dahinter lag ein<br />

Vorrats-Kühlraum. Einige Gänge, von denen kleinere Zimmer<br />

abgingen, waren an ihrem Ende zugemauert. Wo führten sie<br />

hin? In den Fels dahinter?<br />

Joe hatte die Gruppe wieder um sich geschart:<br />

„Mit dem Bau der Villa kurz nach seiner Ankunft soll Winter<br />

auch mit dem Bau eines kleinen Fischereihafens in Morro<br />

begonnen haben. Er soll mit dem Gedanken gespielt haben,<br />

dazu eine Art Fischverarbeitung einzurichten. Vielleicht waren<br />

das ja nur Projekte, so wie auch seine landwirtschaftlichen<br />

Aktivitäten – die von ihm angelegten Tomatenplantagen von<br />

Casa de Joros sind auch ein Beispiel dafür –, um seinen wirklichen<br />

Auftrag zu tarnen.<br />

Geld schien bei seinen Unternehmungen keine Rolle gespielt<br />

zu haben. Manche bringen Winter nicht nur mit Göring, sondern<br />

auch mit dem damaligen Abwehrchef der Reichsregierung<br />

Canaris in Verbindung. Die Vermutung liegt nahe, dass<br />

er den Auftrag erhalten hatte, ganz diskret für die mit Franco<br />

befreundeten Nazis einen U-Boot-Stützpunkt zu planen. Doch<br />

wahrscheinlich sind die Vorbereitungen dazu in der unwirtlichen<br />

und logistisch ungünstigen Lage <strong>Fuerteventura</strong>s im Sand<br />

verlaufen. Man kann sich aber beim besten Willen nicht vorstellen,<br />

dass Winter, ohne einen speziellen Regierungsauftrag<br />

in der Tasche zu haben, 1937 <strong>aus</strong> rein privaten Gründen nach<br />

Jandia gekommen war. Bis in die sechziger Jahre hinein diente<br />

die Insel der spanischen Regierung nämlich dazu, unerwünschte<br />

Personen auf dem spanischen Festland nach <strong>Fuerteventura</strong><br />

abzuschieben oder nach dahin zu verbannen. Niemand wollte<br />

auf dieser verlassenen Insel ohne Zukunft, wo die Menschen<br />

154


in tiefer Armut lebten, freiwillig bleiben. Spaniens großer Dichter<br />

Miguel de Unamuno wurde 1924 hierher verbannt. Er schreibt<br />

über diese Insel: Sie ist ein spiritueller Felsen, wo nur das Herz<br />

herumstreift, von Mensch und Wüste entblößt!<br />

Die oft genannten Höhlen von Ajuy weiter nördlich von hier,<br />

die wie natürliche Einfahrten für U-Boote <strong>aus</strong>sehen, haben sicher<br />

nie ein deutsches U-Boot gesehen, gen<strong>aus</strong>o wenig wie das<br />

angelegte, nicht asphaltierte Flugfeld südlich von hier ein deutsches<br />

Flugzeug.<br />

In Wahrheit wurde das Flugfeld erst lange nach dem Krieg<br />

angelegt, um den ersten deutschen Urlaubern die mühselige<br />

Anfahrt vom alten Flughafen Los Estancos zu ersparen. Dann<br />

baute die Inselverwaltung aber den neuen Flughafen südlich<br />

der Hauptstadt und eine Straße nach Morro, so dass das Flugfeld<br />

auf Jandia nie in Betrieb gehen musste. Die gern aufgestellte<br />

These, das Flugfeld sei als Stützpunkt für die Deutsche<br />

Luftwaffe konzipiert, ist wohl ebenso irrig wie die von den U-<br />

Boot-Bunkern bei Ajuy.<br />

Fest steht, dass Gustav Winter den wenigen verbliebenen<br />

Einheimischen in Morro Arbeit gegeben hat, Straßen gebaut<br />

hat und sogar eine kleine Kirche.<br />

In dem einzigen Interview, das Winter einer deutschen Zeitschrift,<br />

dem Stern, im Jahr 1971, kurz bevor er starb, gegeben<br />

hat, behauptet er, dass er mit dem Bau der Villa erst 1947 begonnen<br />

habe und erst im Jahr 1958 der jetzige Zustand erreicht<br />

worden sei. Im gleichen Jahr verließen die Winter Jandia, wo<br />

sie in Morro lebten, und zogen nach Gran Canaria um. Fest<br />

steht, dass die Familie Winter nie in der Villa gelebt hat. Auch<br />

fehlt in dem Gebäude zum Beispiel ein Schlafzimmer. Im gleichen<br />

Bericht des Stern wird der deutsche Filmproduktionsleiter<br />

Hans Wernicke zitiert, der bei einem heimlichen Besuch in<br />

155


der Villa Kisten mit deutschen Wehrmachtsuniformen und<br />

Musikinstrumenten gefunden haben will“.<br />

Jürgen nahm die von Joe eingelegte Sprechp<strong>aus</strong>e wahr, ihn<br />

zu fragen, warum gerade Winter diese nur mühsam erreichbare<br />

Gegend von Cofete für sein Vorhaben <strong>aus</strong>gesucht hatte.<br />

Es ist kein natürlicher Hafen in der Nähe. Schiffe können nicht<br />

landen. Die Strömung ist viel zu stark und ebenso die Brandung<br />

bei den vorwiegend auflandigen Winden. Da nützt es<br />

wenig, wenn das Licht und die Menschenleere dieses Strandes<br />

den Betrachter oder Besucher in ihren Bann schlagen.<br />

Jürgen war von dem bisherigen Wissen des jungen Mannes<br />

überrascht und erfuhr von seinem Mitfahrer, dass Joe als Student<br />

deutscher Literatur und Geschichte im Robinson Club jobbte<br />

und gerade eine Abhandlung über die Spionagetätigkeit der<br />

Deutschen im Krieg schrieb.<br />

Joe hatte eine unerwartete Antwort bereit:<br />

„Ich glaube“, sagte Joe, „dass die Villa den Eingang zu einem<br />

Höhlensystem verdeckt. Meine Vermutung ist absolut<br />

nicht abwegig. Auf Teneriffa befinden sich die längsten natürlichen<br />

Tunnel der Welt, die Cueva del Viento. Sie sind durch<br />

vulkanische Aktivitäten entstanden und fünfzehn Kilometer<br />

lang. Sie ziehen sich wie ein mehrstöckig angelegtes Röhrensystem<br />

durch den Fels und sind erst zum Teil erforscht. Auch<br />

auf der Nachbarinsel Lanzarote finden sich solche vulkanischen<br />

Tunnel. Warum soll es solch ein Höhlensystem nicht<br />

auch auf <strong>Fuerteventura</strong> geben? Die Bewohner der Villa würden<br />

über sichere Fluchtwege und auch nie zu entdeckende<br />

Verstecke verfügen, die auf künstliche Weise und mit den damaligen<br />

Mitteln unter Zeitdruck nie zu schaffen gewesen wären.<br />

Warum sind denn die Gänge im Keller alle zugemauert?<br />

Wohin führen sie?“<br />

Joe beendete seinen Vortrag. Die Jeeps krochen die Geröll-<br />

156


piste zum Strand von Cofete hinab. Sie kamen an einem mysteriösen<br />

Friedhof vorbei. Wer wohl hier begraben lag? Einheimische<br />

waren es nicht. Die wurden in Morro begraben.<br />

Sie erreichten den Strand.<br />

Fünf Kilometer waren es bis zu dem kleinen Halbinselchen<br />

El Islote, wo die ankommenden Wellen sich in den Felsspalten<br />

stauen, brechen und in Wasserfontänen hoch in die Luft schießen<br />

und so ihre Energie in einem spektakulären Sch<strong>aus</strong>piel freisetzen.<br />

Die Fahrt über den festen Sand dahin wurde zu einem<br />

Jeep-Rennen. Es herrschte Ebbe. Nach einem Picknick ging es<br />

wieder zum Robinson Club zurück. Morgen früh würde Jürgen<br />

wieder nach H<strong>aus</strong>e fliegen. Die Flugzeit würde schnell vergehen.<br />

Er hatte viel in diesem Urlaub erlebt.<br />

In den Monaten nach Jürgens Heimflug sollte sich das bisher<br />

einsame und besinnliche Leben von Heinz entscheidend ändern.<br />

Er war auf seinem Hochsitz gesessen, um dem Sonnenuntergang<br />

zuzusehen, als ein junges Mädchen singend am<br />

Strand entlangschlenderte, sich schließlich setzte und dann<br />

niederlegte, um zu schlafen. Die Flut würde in der Nacht über<br />

sie hinwegrollen, weshalb er sich entschloss, sie zu wecken.<br />

Sie schaute ihn mit glasigen Augen verständnislos an und legte<br />

sich wieder zurück. Es schien ihm, als ob sie ihn gar nicht<br />

wahrgenommen hatte. Dann bemerkte er die vielen Einstiche<br />

in der Beuge ihres linken Arms. Sie war abgemagert, das Essen<br />

dem Heroin geopfert, sie sah fahl und krank <strong>aus</strong>. Einige ihrer<br />

vorderen Zähne waren schwarz gefärbt. Sie hatte nur eine<br />

kurzärmelige, dünne Baumwollbluse übergestreift. Eine verschlissene<br />

Umhängetasche lag achtlos im Sand. Dem Alter nach<br />

hätte sie seine Tochter sein können. Er konnte sie hier nicht<br />

über Nacht einfach liegenlassen. Kurz entschlossen hob er sie<br />

auf und trug sie in seine Höhle, wo er sie auf die Schafwollfelle<br />

legte, und deckte sie zu. Er legte sich neben sie, nahm sie in<br />

157


seine starken Arme und schlief ein. Am Morgen setzte sie sich<br />

entsetzt auf und starrte ihn an: „Wo bin ich? Was hast du mit<br />

mir gemacht?“<br />

Er beruhigte sie: „Ich habe nicht mit dir geschlafen, wenn<br />

du das meinst, und ich werde dich auch nicht anrühren. Ich<br />

wohne hier und habe dich vom Strand heraufgeholt, weil die<br />

Flut kam.“<br />

„Wo ist meine Umhängetasche?“, rief sie aufgeregt.<br />

„Sie ist hier“, sagte er, „aber darin ist kein Heroin mehr. Ich<br />

habe schon nachgesehen. Wenn du so weitermachst, wirst du<br />

ohnehin nicht mehr lange leben.“<br />

Sie zuckte zunächst nur mit der Schulter, bis sie von einer<br />

Art Schüttelfrost geschüttelt wurde, der mit einem Aufbäumen<br />

des ganzen Körpers, Schluchzen und Schreien verbunden<br />

war. Weißer Schaum bildete sich in ihren Mundwinkeln.<br />

Die Auswirkungen des R<strong>aus</strong>chgiftentzugs! „Wo bekomme ich<br />

die nächste Nadel, wann den nächsten Schuss? Ich muss weg<br />

von hier“, schrie sie, doch sie war schwach und wusste auch<br />

nicht, wohin. Heinz war klar, dass dies nur der Anfang von<br />

einem langen Leidensweg war.<br />

Dann stieß sie plötzlich die Worte <strong>aus</strong>: „Hilf mir, bitte hilf<br />

mir!“ Sie begann, stoßweise von sich zu erzählen. Immer<br />

wieder habe sie versucht, von der Nadel wegzukommen und<br />

es nicht geschafft. Sie habe nicht die Kraft dazu, die Droge sei<br />

stärker als sie. Und dann rollten ihr die Tränen von den knochigen<br />

Wangen.<br />

„Wenn du dies wirklich tief in deinem Innersten willst, kann<br />

ich dir vielleicht helfen. Du musst aber meinen Anweisungen<br />

genau folgen. Wenn du das nicht tust, werde ich dich zum<br />

Strand zurückbringen, und du kannst sehen, wo du bleibst.“<br />

Er gab ihr zu essen, zu trinken und etwas Wein. Der zweite<br />

Anfall setzte ein. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie<br />

158


schrie: „Ich brauche einen Schuss.“ Sie weinte, biss sich in die<br />

Lippen, versuchte die Wände in dem Kalkofen hochzugehen,<br />

doch er hielt sie fest und ließ sie nicht los. Und er erinnerte<br />

sich daran, dass er in jungen Jahren die Fähigkeit besessen hatte,<br />

zu hypnotisieren. Ein Versuch könnte nicht schaden. Der<br />

Anfall war vorbei, und sie war jetzt wieder ganz ruhig.<br />

„Willst du mir vertrauen? Dann hör mir aufmerksam zu und<br />

entspann dich! Lass dich einfach in dich selbst hinein fallen,<br />

ganz tief fallen.“ Und so redete er mit fester, tiefer Stimme mit<br />

ihr, legte ihr dabei die Hand auf die Stirn und drückte sie<br />

rückwärts in die Felle. Sie war schneller in Hypnose gefallen,<br />

als er vermutet hatte. „Noch tiefer musst du fallen, ganz tief.<br />

Nichts stört dich mehr. Du fühlst dich wohl. Du fühlst dich<br />

frei!“<br />

In diesem tiefen Hypnoseschlaf befahl er ihr:<br />

„Nie mehr wirst du Heroin spritzen oder sonst wie zu dir<br />

nehmen. Die Nadel wirst du nicht mehr in deiner Hand halten<br />

können, weder in deiner linken noch in deiner rechten. Heroin<br />

ist Gift für dich, zerstört deinen Körper und deinen Geist. Du<br />

willst das nicht und deshalb bleibst du dem Heroin ab sofort<br />

fern. Selbst, wenn du die Droge spritzt, würde sie in Zukunft<br />

bei dir nicht mehr wirken. Die Träume bleiben <strong>aus</strong>, kein Hochgefühl<br />

mehr entsteht. Deshalb kannst du auf die Droge verzichten,<br />

denn sie zerstört deinen Körper und vernichtet deinen<br />

Verstand. Doch ich gestatte dir für eine Übergangszeit einen<br />

Ersatz. Du darfst jeden Tag eine Flasche Wein trinken. Nicht<br />

mehr als eine Flasche. Der Wein wird dich betäuben. Du wirst<br />

vom Wein neue, vielleicht sogar schönere Träume haben.“<br />

Seine Therapie funktionierte. Sie trank Wein und lebte jetzt<br />

bei ihm, und er ließ sie in Ruhe, bis sie eines Nachts selbst die<br />

Initiative ergriff und nach seinem Körper griff. Er hatte das<br />

Mädchen, sie war vielleicht einundzwanzig, vom Heroin auf<br />

159


weniger gefährlichen Alkohol umgepolt. Ihre Anfälle blieben<br />

<strong>aus</strong>. Der erste Schritt zu ihrer Genesung war getan.<br />

Alfonso kam einmal die Woche vorbei. Er brachte dem Einsiedler<br />

und dem jungen Mädchen für wenige Peseten einige<br />

Fische, die er gefangen hatte.<br />

„Mein Vater ist vor wenigen Tagen gestorben“, klagte er. „In<br />

seinem Nachlass habe ich ein dickes Buch gefunden. Es ist, glaube<br />

ich, in Deutsch geschrieben. Ein deutscher Offizier war 1944<br />

im alten Hafen von Morro mit einem Motorboot angekommen.<br />

Er war dann mit Don Gustavo auf Maultieren über den Pass<br />

nach Cofete geritten. Nach einigen Tagen kam er allein zurück<br />

und übernachtete bei meiner Familie, um auf das Boot zu warten,<br />

das am frühen Morgen kommen sollte, ihn abzuholen. Das<br />

Boot legte aber nicht an. Niemand weiß in Morro, wie er<br />

schließlich die Insel verlassen hat. Das Buch hat er jedenfalls<br />

neben seiner Bettstelle zurückgelassen.“<br />

Er öffnete das Tuch, das er über die Schulter geschlungen<br />

hatte, und reichte Heinz das Buch.<br />

„Das ist ein Geschenk für dich. Du kannst doch sicher lesen<br />

oder etwa nicht?“, fügte er an sich selbst denkend hinzu. Heinz<br />

nahm das dicke Buch in die Hand. Es war schwarz in Leinen<br />

gebunden. In eingeprägten Goldbuchstaben prangte der Titel:<br />

Mein Kampf von Adolf Hitler.<br />

Als der Fischer schon längst gegangen war, holte Heinz<br />

nochmals das weggelegte Buch hervor. Das Buch Mein Kampf<br />

hatten seine Eltern auf dem Standesamt überreicht bekommen,<br />

als sie 1934 heirateten. So war es kein Wunder, dass es das Buch<br />

im Lauf der Jahre auf Millionenauflagen brachte. Der volle<br />

Buchpreis, damals um die dreizehn Reichsmark, wurde vom<br />

Staat bezahlt. Adolf Hitler soll mit den eingenommenen Tantiemen<br />

zum vielfachen Millionär geworden sein, Heinz hatte<br />

gehört, dass es sich um etwa zwanzig Millionen Reichsmark<br />

160


gehandelt haben soll, und sein Verlag soll dieses Geld in seinem<br />

Auftrag auf einer Schweizer Bank, nämlich der Schweizer<br />

Bankgesellschaft, einbezahlt haben. Seinem eigenen Staat, dem<br />

T<strong>aus</strong>endjährigen Reich, wollte er offenbar sein Geld nicht anvertrauen.<br />

Eine für sich sprechende Eigenschaft vieler Diktatoren,<br />

die an ihre eigenen Versprechen nicht glauben. Ihr Wissen<br />

und ihre Schaffenskraft geben sie dem von ihnen geführten<br />

Staat, nicht aber ihr Geld, das geht in die Schweiz.<br />

Heinz' Eltern waren glühende Verehrer des Führers gewesen,<br />

und es interessierte Heinz, was denn so Besonderes am<br />

Nationalsozialismus war und welche Ziele er verfolgte. In diesem<br />

Buch müsste etwas darüber zu finden sein. Und er las in<br />

dem Buch. Wie lange schon hatte er kein Buch mehr gelesen!<br />

Er bemerkte bald, dass Hitlers Mein Kampf eine Hetzschrift,<br />

wenn nicht sogar Hassschrift war. Hitler fordert in seinem Buch<br />

den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Er predigt<br />

den Antisemitismus und weist den Juden die Schuld an vielen<br />

Fehlentwicklungen in Deutschland zu. Er sagt allen Juden, die<br />

er als Parasiten und Schmarotzer bezeichnet, den Kampf an. Er<br />

fordert das deutsche Volk zum Rassenkampf auf. Rassenkampf<br />

statt Klassenkampf! Damit will er die deutsche Arbeiterschaft<br />

gewinnen. Den Bolschewismus will er zerschlagen. Deutschland<br />

braucht Lebensraum im Osten“. Er übt Kritik am Parlamentarismus<br />

und setzt einen germanischen Führerstaat dagegen.<br />

Volksgemeinschaft anstatt Demokratie! Alles vermengt er zur<br />

Programmatik seiner Partei, der NSDAP, der Nationalsozialistischen<br />

Deutschen Arbeiterpartei. Es war Heinz schleierhaft,<br />

was seine Eltern an diesem Programm gut fanden. Oder waren<br />

sie Opfer einer verhängnisvollen Massenpsychose geworden,<br />

die einen Großteil des deutschen Volkes erfasst hatte?<br />

Hitler sah die Judenfeindschaft als seine göttliche Mission an:<br />

„So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu han-<br />

161


deln: Indem ich mich des Judentums erwehre, kämpfe ich für das<br />

Werk des Herrn.“ Den allmächtigen Schöpfer, Hitlers Ausdrucksweise<br />

für Gott, als Alibi für seinen Hass auf die Juden zu zitieren,<br />

ist pervers und offenbart seine kranke Geisteshaltung, die<br />

vor nichts zurückschreckte.<br />

Als Heinz das Buch weglegte, entdeckte er auf dem sandigen<br />

Boden einen <strong>aus</strong> dem Buch her<strong>aus</strong>gefallenen, schon etwas<br />

vergilbten Papierfetzen, der <strong>aus</strong> einem linierten Schreibblock<br />

her<strong>aus</strong>gerissen worden war. Er hob ihn auf und entzifferte die<br />

Handschrift darauf:<br />

Oberstleutnant Ramsberger<br />

25. August 1944<br />

DR 076441 bis DR 076541<br />

Elag<br />

Die Zeichnung unter der Handschrift stellte den Umriss der<br />

Halbinsel Jandia dar, und der Kreis in der Mitte war wahrscheinlich<br />

der Standort der Villa Winter am Abhang der Bergkette,<br />

die von Nord nach Süd durch Jandia führt. War das<br />

vielleicht der Name des Offiziers, von dem Alfonso gesprochen<br />

hatte und der bei dessen Eltern übernachtet hatte? Das Datum<br />

würde stimmen. Was aber bedeuteten die Buchstaben mit den<br />

Zahlen dahinter? Irgendwelche Waren oder Gegenstände, die<br />

mit Nummern versehen waren? Einhundert laufende Nummern<br />

von 076441 bis 076541. Einhundert Gegenstände? Und was bedeutete<br />

das Wort Elag? Immer wieder kreisten seine Gedanken<br />

um den mysteriösen Papierfetzen, der 1944 geschrieben<br />

worden war.<br />

Nach einem halben Jahr im Bankenhochh<strong>aus</strong> in Frankfurt<br />

hielt es Jürgen Fass in seinem klimatisierten Büro nicht mehr<br />

<strong>aus</strong>. Er musste während der Arbeit und der Sitzungen fortwährend<br />

an Heinz denken, der ein freies, sorgloses Leben in<br />

seinem Kalkofen führte und immer die frische Meeresluft ein-<br />

162


atmen konnte, nicht wie er die klimatisierte Luft im Hochh<strong>aus</strong>.<br />

Heinz scherte es nicht, ob die Aktien stiegen oder fielen, ob der<br />

Dollar schwach war und der Franken stark. Kurz entschlossen<br />

buchte er erneut einen vierzehntägigen Urlaub im Robinson<br />

Club. Schon am Ankunftstag suchte er Heinz auf. Verschwitzt<br />

vom Joggen, kühlte er sich zuerst im kalten Meer ab<br />

und setzte sich dann zu Füßen des Einsiedlers. Erst dann bemerkte<br />

er das Mädchen, das unbekleidet in der Höhle saß und<br />

in einer zerfederten, alten Ausgabe des Stern las. Eine halb <strong>aus</strong>getrunkene<br />

Weinflasche stand neben ihr.<br />

„Das ist Irene“, erläuterte Heinz, als er Jürgens fragenden<br />

Blick sah. „Sie ist mir am Strand zugelaufen. Sie wohnt schon<br />

fast ein halbes Jahr bei mir.“<br />

Jürgen hoffte, dass er mit Heinz eine Unterhaltung beginnen<br />

könnte, die an die letzte anschloss, doch Heinz blieb wortkarg<br />

und ging auf seine diesbezüglichen Fragen nicht ein. Dann<br />

aber erzählte er ihm von<br />

dem Buch, das er von Alfonso<br />

bekommen hatte. Er<br />

blätterte darin, bis er die<br />

handgeschriebene Notiz<br />

des Nazi-Offiziers fand. Er<br />

reichte den Fetzen Jürgen.<br />

„Kannst du dir<br />

vielleicht einen Reim <strong>aus</strong><br />

dem Gekritzel machen?“<br />

„Das ist ja hochinteressant“,<br />

entfuhr es Jürgen.<br />

„Jandia ist leicht zu erkennen.<br />

Ohne Zweifel ist mit<br />

dem kleinen Kreis in der<br />

Mitte die Villa Winter ge-<br />

163


meint“, sagte er und fügte hinzu: „Im Turm der Villa habe ich,<br />

wenn ich mich richtig erinnere, eine Verteilerdose gesehen, die<br />

die Aufschrift ELAG trägt. Diese Abkürzung könnte für Elektro<br />

AG stehen. Aber die Zahlen? Wie du weißt, befasse ich mich<br />

in meinem Beruf mit Geld. Geld in allen Variationen bis hin<br />

zum Gold. Ich sammle auch alte Goldmünzen. Das ist nämlich<br />

ein Hobby von mir. Vielleicht haben die Nummern sogar<br />

etwas mit Geld zu tun? Warte, ich muss überlegen. In den<br />

Kriegsjahren wurden die Goldreserven der besetzten Gebiete<br />

von Hitler gestohlen, damals hieß das ›beschlagnahmt‹, und<br />

in Goldbarren mit Reichsadler und Hakenkreuz darauf umgeschmolzen.<br />

Fein säuberlich wurden alle Barren mit fortlaufenden<br />

Nummern versehen. Vor den Nummern die Initialen der<br />

Reichsbank: RB. Aber da fällt mir ein, dass Hitler den Vorsitz<br />

der Reichsbank 1939 selbst übernommen hat. Er war nicht nur<br />

Kanzler des Deutschen Reichs, sondern auch Reichsbankpräsident,<br />

wenn man das so bezeichnen will. In dieser Eigenschaft<br />

konnte er so viel Geld drucken, wie er für seine Kriegsmaschinerie<br />

benötigte. Der Name der Reichsbank ließ er in Deutsche<br />

Reichsbank umbenennen. Jetzt machen die Initialen einen Sinn<br />

DB, für Deutsche Reichsbank. Der größte Teil des Goldes ging<br />

in die Schweiz, um Kriegsmaterial, das die Nazis brauchten,<br />

zu kaufen, denn die inflationäre Reichsmark wurde in der<br />

Schweiz oder in anderen neutralen Ländern nicht akzeptiert.<br />

Solche Goldbarren erhielten auch die Spanier, die sich nicht in<br />

den Krieg ziehen ließen. Ich glaube, dass die hier aufgeschriebenen<br />

Nummern in ein Kilo schwere Goldbarren eingeprägt<br />

sind. Das wären einhundert Kilogramm Gold, was für ein Vermögen!<br />

In der Villa versteckt? Wo könnte man das Gold besser<br />

verbergen als dort? Ein Teil des legendären Goldschatzes<br />

der Nazis hier auf Jandia?“<br />

Heinz zuckte, als er die Theorie von Jürgen hörte.<br />

164


„Die ganze Geschichte um Gustav Winter ist nur eine erfundene,<br />

sich selbst nährende Legende für unsere leichtgläubigen<br />

und sensationsgierigen Touristen“, schwächte Heinz ab.<br />

„Während des Krieges war Gustav Winter gar nicht auf Jandia<br />

anwesend, sondern in Frankreich beschäftigt. In Bordeaux<br />

leitete er von 1939 bis 1944 eine Werft der Deutschen Kriegsmarine.<br />

Er kam erst wieder 1947 in dieses Land. Seine zweite<br />

Frau, Frau Winter-Alth<strong>aus</strong>, die er übrigens 1945 in Madrid erst<br />

kennengelernt hatte, hat dies in einem Interview bestätigt. Alle<br />

Gerüchte um die Villa Winter, die sie mit den Nazis in Verbindung<br />

bringen, sind bei genauer Prüfung nicht haltbare Erfindungen<br />

sensationsgieriger Journalisten und Touristen.“<br />

Jürgen wollte sich nicht lächerlich machen. Er sagte zu sich:<br />

„Vergiss die ganze Geschichte, denn du willst sicher nicht zum<br />

Schatzgräber in der Villa werden. Und zu der brodelnden Gerüchteküche<br />

um die Villa Winter will ich auch nicht beitragen.“<br />

Er machte sich zurück auf den Weg in den Robinson Club,<br />

wo er ein Fernschreiben vorfand. „Ihre Anwesenheit in Frankfurt<br />

ist dringend geboten. Die Devisenoptionen Yen/Dollar<br />

haben sich nicht in unserem Sinne entwickelt. Sie wissen selbst,<br />

wie viel für die zukünftige Entwicklung unserer Bank auf dem<br />

Spiel steht.“<br />

Heinz fragte sich, ob er Jürgen mit seinen vorgebrachten<br />

Argumenten genügend überzeugt hatte, so dass er niemanden<br />

von ihrer Unterhaltung erzählen würde, denn, als er dessen<br />

Theorie hörte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Natürlich,<br />

das war die Erklärung! In der Villa sind einhundert<br />

Kilogramm Gold vergraben! Und die erwähnte Verteilerdose<br />

muss den Schlüssel dazu liefern, wo zu suchen ist.“<br />

Mit seiner Gelassenheit auf seinem Hochsitz war es vorbei.<br />

Nicht eine Stunde mehr konnte er dasitzen und auf eine Dame<br />

165


Goldbarren der<br />

Deutschen Reichsbank<br />

warten, die zum Massieren<br />

den Berg heraufkraxelte. Den<br />

ganzen Tag lang musste er<br />

nur an das Gold denken, das<br />

ihm gehören könnte. Seine<br />

Fingernägel hatte er schon<br />

wund gebissen. Die Gedanken<br />

zermarterten sein Hirn.<br />

Was könnte er alles damit<br />

anfangen! Vorbei wäre dieses<br />

elende Leben, das er sich<br />

anfangs allerdings so gewünscht<br />

hatte, in dieser verwahrlosten,<br />

nach Schweiß<br />

und Urin riechenden Hütte.<br />

Er konnte sich auf einmal<br />

vorstellen, in einem schönen<br />

Bungalow am Hügel zu wohnen, mit einem mit grünem Rasen<br />

umrandeten Swimmingpool in einem blühenden Garten. Er sah<br />

sich im Geist auf einer Liege unter einem Sonnenschirm, eine<br />

junge Dame würde ihm einen Drink reichen und mit ihm anstoßen.<br />

Die Stereoanlage würde leise klassische Musik spielen.<br />

Und dann würde er endlich wieder einmal ein Stück Schwarzwälder<br />

Kirschtorte essen können. Mit Sahne! Schon bei dem<br />

Gedanken an die Torte lief ihm das Wasser im Munde zusammen.<br />

Er wusste wirklich nicht mehr, wie eine solche Torte<br />

schmeckte. Wann war es das letzte Mal gewesen, dass er etwas<br />

wirklich Süßes zwischen den Zähnen hatte? Und dann<br />

sah er die Fische von Alfonso im Eimer, die endlich gegrillt<br />

werden mussten, was ihn auf den Boden der Wirklichkeit zurückbrachte.<br />

Und ein widerlicher Fischgeruch stieg ihm in die<br />

Nase.<br />

166


Er musste einen Plan schmieden. Er musste in die Villa gelangen<br />

und nach dem Schatz suchen. Solange er das nicht anging,<br />

würde die ihn erfasste Unruhe umbringen.<br />

Er überlegte sich, wie er vorgehen sollte. Sollte er jemanden<br />

in seine Pläne einweihen? Jemanden, der ihm helfen könnte?<br />

Irene schied <strong>aus</strong>. Sie durfte von all dem nichts erfahren. Wenn<br />

sie getrunken hatte, war ihr ohnehin nicht zu trauen.<br />

Aber wie wäre es mit Hubert, dem österreichischen Maler?<br />

Hubert Schmalzer?<br />

In dem Barranco hinter seiner Höhle hatte sich Hubert einen<br />

alten Wohnwagen aufgestellt. Er führte ein ähnliches Einsiedlerleben<br />

wie er selbst auch. Er wartete wie er auf Touristen,<br />

denen er seine Bilder anbot, die die karge Landschaft <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

zeigten. Er porträtierte sie auf Wunsch und malte<br />

auch Akte. An Modellen an diesem Nacktstrand fehlte es<br />

ihm nicht, aber die Käufer seiner Bilder waren rar. Er war ins<br />

Alter gekommen, vielleicht sechzig, seine Haare wuchsen wild<br />

nach oben und waren immer zers<strong>aus</strong>t. Sein langer, immer noch<br />

schwarzer Bart ließen seine listigen Augen wie Edelsteine in<br />

einem eingerahmten Gesicht funkeln. Heinz hatte mit ihm<br />

schon manche Flasche Wein getrunken, immer dann, wenn<br />

Hubert eines seiner Bilder besonders teuer verkaufen konnte.<br />

Heute war wieder einmal solch ein Abend, und Heinz erzählte<br />

Hubert von der Botschaft in dem Buch. Hubert war hellwach<br />

geworden und rief: „Ich werde mit dir gehen. Wir werden<br />

die Villa auf den Kopf stellen, bis wir das Gold gefunden<br />

haben.“<br />

Heinz und Hubert in kurzen, verschlissenen Jeans, in verschmutzten<br />

kurzärmeligen Hemden und in <strong>aus</strong>getretenen Tennisschuhen<br />

hatten einen langen Fußmarsch vor sich. In einem<br />

umgehängten vergilbten Rucksack hatte Heinz eine starke<br />

Taschenlampe, Ersatzbatterien, vier Flaschen Wasser und zwei<br />

167


Flaschen mit billigem Brandy verstaut. In Huberts Rucksack<br />

waren verschiedene Werkzeuge wie Hammer, Schraubenzieher,<br />

Rohr- und Kombizangen und auch ein starker Seitenschneider<br />

zum Aufschneiden von Ketten und Drahtseilen untergebracht.<br />

Sie diskutierten darüber, ob sie die Fahrt mit<br />

Heinz' klapprigem Auto wagen sollten, doch entschieden sich<br />

dagegen, weil der Vierradantrieb fehlte und ein Steckenbleiben<br />

auf der Geröllpiste einem Verlust des Wagens gleichgekommen<br />

wäre. Zu Fuß würden sie kaum jemandem auffallen,<br />

zumal die gewählte Strecke kaum jemandem im Dorf und schon<br />

gleich gar nicht im Club bekannt sein dürfte.<br />

Ganz früh am Morgen nahmen sie zunächst die Piste, die<br />

hinter dem Hafen von Morro zum Leuchtturm führte. Nach<br />

nicht ganz einer Stunde bogen sie rechts ins Grande Valle ein.<br />

Das müsste der direkte Weg über die Berge zu der Villa Winter<br />

sein, wie das ein Ziegenhirte Heinz erklärt hatte. Nur wenige<br />

Hirten kannten den Weg, den sie Königsweg nannten und der<br />

nichts anderes war als ein schmaler, fast nicht <strong>aus</strong>zumachender<br />

Ziegenpfad. Er war das Tal aufwärts mit kleinen Steinanhäufungen<br />

in einem Abstand von etwa fünfzig Metern markiert.<br />

Den Steinhügeln folgend hatten sie den Ziegenpfadpass<br />

nach weiteren zwei Stunden auf ihrem steilen, kaum erkennbaren<br />

Trampelweg über Geröll erklommen. Ein kalter Wind<br />

empfing sie. Vor ihnen lag die Villa Winter am Bergabhang<br />

vor der Kulisse der hereinbrechenden Wellen des Atlantiks,<br />

deren Brandung bis hier nach oben dröhnte. Der Abstieg zur<br />

Villa war nicht mehr markiert und viel steiler als sie erwartet<br />

hatten. Die beiden durchtrainierten Männer mussten langsam<br />

und vorsichtig gehen, damit sie nicht abrutschten und abstürzten.<br />

Sie kamen am Eingang des Stollens vorbei, den Winter in<br />

den Berg hatte treiben lassen, dann an den Überresten des kleinen<br />

Staudamms entlang, wo Winter das Wasser <strong>aus</strong> dem Stol-<br />

168


len gesammelt hatte. Sie überquerten die Mauer, die die Umrisse<br />

von Jandia nachzeichnete. Vielleicht hatte der deutsche<br />

Offizier auf seiner Skizze gerade diese Umrisse gemeint und<br />

die Villa als Kreis in die Mitte gesetzt. Wie dem auch sei, es<br />

liefe auf das Gleiche hin<strong>aus</strong>.<br />

Der verkommene Bewohner der Villa Raphael blickte die<br />

Ankömmlinge misstrauisch an. Die Hirtenhunde bellten, aber<br />

beruhigten sich schnell, nachdem die beiden den ihnen bekannten<br />

Geruch langjähriger Inselbewohner verbreitet hatten.<br />

Heinz öffnete den Rucksack und gab dem Bewacher der Villa<br />

die Flasche Brandy. Er öffnete sie sofort, fuhr mit der flachen<br />

Hand einer alten Gewohnheit folgend über den Flaschenmund,<br />

als ob er ihn reinigen müsste, und nahm einen tiefen Schluck.<br />

Es würde nicht lange dauern, bis die Flasche leer war und er in<br />

einen seligen Dämmerschlaf fallen würde. Sie konnten sich<br />

dann in der Villa bewegen, wie und wie lange sie wollten. Darauf<br />

hatten sie beide gebaut.<br />

Sie fanden nach kurzer Suche die Verteilerdose mit dem eingegossenen<br />

Namen Elag im Turm der Villa. Hubert betrachtete<br />

sie mit dem geübtem Auge eines Malers.<br />

„Der Schraubenschlitz zeigt einen Bart, der auf ein unsachgemäßes<br />

Werkzeug schließen lässt. Jemand hat sich daran zu<br />

schaffen gemacht. Nach den Roststellen zu urteilen, muss das<br />

vor langer Zeit gewesen sein.“<br />

„Lass uns die Dose öffnen“, sagte Heinz und griff nach einem<br />

Schraubenzieher in Huberts Rucksack. Die Schraube ließ<br />

sich nicht drehen. Sie saß fest.<br />

Hubert sagte: „Das haben wir gleich“, und zauberte <strong>aus</strong> seinem<br />

Rucksack ein kleines Fläschchen mit reinem Terpentin<br />

hervor. Einige Tropfen genügten. Nach fünf Minuten Einwirkzeit<br />

ließen sich die Schrauben leicht her<strong>aus</strong>drehen. Der Deckel<br />

fiel herunter.<br />

169


Zwischen den Drähten entdeckten sie ein Papierröllchen. Das<br />

Papier war augenscheinlich <strong>aus</strong> demselben Schreibblock her<strong>aus</strong>gerissen<br />

wie die erste Nachricht. Heinz rollte es vorsichtig<br />

<strong>aus</strong> und las vor:<br />

25. August 1944<br />

Das Licht am Ende des Tunnels wird golden, wenn es den<br />

Fels trifft.<br />

Scheue nicht die Dunkelheit des Labyrinths.<br />

Vergiss nicht den Faden der Ariadne, er führt wieder hin<strong>aus</strong>.<br />

Es ist dann fünf Minuten vor zwölf und fünf vor halb eins<br />

bist du genau von Norden wieder da.<br />

Oberstleutnant Ramsberger<br />

Hubert kommentierte: „Dieser Leutnant muss eine lyrische<br />

Ader gehabt haben. Was will er uns mit diesen Worten eigentlich<br />

sagen? Der Faden der Ariadne? Die Athener wurden in<br />

der griechischen Sage von König Minos dazu verpflichtet, alljährlich<br />

je sieben Jungfrauen und Jünglinge als Menschenopfer<br />

für den Minotaurus, ein Ungeheuer mit menschlichem Körper<br />

und dem Kopf eines Stieres, nach Kreta zu schicken.<br />

Diesmal aber schloss sich der griechische Held und Königssohn<br />

Theseus freiwillig der Gruppe an. Auf Kreta betörte er<br />

die Königstochter Ariadne. Sie schenkte ihm ein magisches<br />

Schwert und ein Knäuel Wolle. Als die Opfer in das Labyrinth<br />

getrieben wurden, wo der Minotaurus h<strong>aus</strong>te, rollte er das<br />

Knäuel ab. Mit dem Schwert erschlug er den Stiergott und fand<br />

am Ariadnefaden wieder hin<strong>aus</strong>. So viel weiß ich noch von<br />

meinem Kunststudium, in dem die griechische Mythologie eine<br />

wichtige Rolle spielte.“<br />

Heinz erwiderte: „Das Labyrinth ist auch erwähnt. Vielleicht<br />

ist in der Villa tatsächlich der Eingang zu einem unterirdischen<br />

Labyrinth verborgen, wie manche schon lange vermuten.<br />

170


Vielleicht ist das Gold darin versteckt? Suchen wir doch im<br />

Keller nach einem Eingang!“<br />

Das Ende eines Ganges war zugemauert. Heinz nahm ein<br />

Brecheisen <strong>aus</strong> Huberts Rucksack und löste einen Stein. Der<br />

Mörtel war brüchig. Dahinter war der rohe Fels. Warum war<br />

das Ende überhaupt zugemauert? Einen Grund hierfür gab es<br />

nicht. Oder vielleicht doch? Zur Irreführung? Hubert öffnete<br />

die Tür, die vom Gang <strong>aus</strong> in ein kleines Zimmer führte. Die<br />

Türklinke war <strong>aus</strong> Messing, mit Grünspan überzogen. Er klopfte<br />

die Wände mit seinem Hammer ab. Keine Hohlräume. Aber<br />

am Boden entdeckte sein geübtes Auge eine eingelassene Bodenplatte,<br />

deren Fugen am Rand mit Schmutz gefüllt waren.<br />

Ein leichter Hammerschlag. Ein hohler Widerhall. Er kratzte<br />

die Fugen mit einem Messer <strong>aus</strong> und setzte das Brecheisen an.<br />

Die Platte löste sich, und sie schoben sie mit vereinten Kräften<br />

beiseite. Kalte modrige Luft schlug ihnen <strong>aus</strong> der Öffnung von<br />

über zwei Quadratmetern entgegen. Ein schräg nach unten<br />

führender Gang tat sich vor ihnen auf. Heinz leuchtete mit<br />

171


seiner starken Stabtaschenlampe hinein. Eine riesige Höhle<br />

schloss sich an, ein Raum so groß wie eine kleine Kathedrale.<br />

Nach allen Seiten gingen viele weitere Gänge ab. Hubert war<br />

der Erste, der mit offenem Mund mitten in der Höhle stand<br />

und sich staunend umschaute.<br />

„Das Licht am Ende des Tunnels“, murmelte er vor sich hin.<br />

„Damit meint er wahrscheinlich, dass irgendwo der Tunnel<br />

wieder nach draußen geht oder eine Öffnung ins Freie hat, wo<br />

Licht hereinfallen kann. Das Licht soll auf den Fels fallen, und<br />

der wird golden reflektieren. Da muss das Gold sein, wo das<br />

Licht auf den Felsen trifft. Den ersten Teil des Rätsels haben<br />

wir gelöst!“<br />

Heinz führte Huberts Gedanken zu Ende. „Es ist dann fünf<br />

Minuten vor zwölf und fünf vor halb eins bist du genau von Norden<br />

wieder da. Das bedeutet, dass die Sonne fünf vor zwölf ihre<br />

Strahlen durch das Loch auf die gesuchte Stelle wirft und das<br />

am 25. August. Wir müssen den Weg nach Norden einschlagen<br />

und dahin benötigen wir eine halbe Stunde. Er empfiehlt<br />

uns, uns den Weg gut zu merken. Der Faden der Ariadne, er führt<br />

wieder hin<strong>aus</strong>. In diesem Tunnellabyrinth ist eine Kennzeichnung<br />

des gegangenen Weges wahrscheinlich lebensrettend.“<br />

Hubert gab zu bedenken: „Wir haben aber erst den 20. August.<br />

Wird das an der Sonnenbahn und dem Zeitpunkt viel<br />

<strong>aus</strong>machen?“<br />

Heinz antwortete: „Wir versuchen es einfach. Vielleicht<br />

brauchen wir etwas länger als eine halbe Stunde, bis wir dort<br />

sind, aber immer noch in der Zeit vor zwölf.“<br />

Hubert nahm seinen Rucksack ab und kramte einen Kompass<br />

hervor. Sogar daran hatte er gedacht. Heinz war sich jetzt<br />

sicher, dass er den richtigen Partner zur Suche des Schatzes<br />

gewählt hatte.<br />

Es gab tatsächlich nur einen Gang, der direkt nach Norden<br />

172


zeigte. Das Höhlensystem war riesig, und immer wieder mussten<br />

sie andere Abzweigungen nehmen, immer diejenige, die<br />

mehr nach Norden <strong>aus</strong>gerichtet war. Sie waren über eine halbe<br />

Stunde lang über Geröll und Steinschlag mehr geklettert<br />

als gegangen und manchmal auch durch enge Öffnungen geschlüpft.<br />

Einmal mussten sie sogar durch ein eiskaltes Wasserbecken<br />

waten, das ihnen bis zur Hüfte reichte. Nur an dieser<br />

einen Stelle hatten sie Wasser entdeckt. War dieses Wasservorkommen<br />

zu weit von der Villa entfernt, um es anzuzapfen?<br />

Alle zehn Meter malte Hubert mit einem Stück Kreide<br />

<strong>aus</strong> seinen Malerutensilien einen Pfeil an die Felswand und<br />

bei jeder Abzweigung einen Kreis. Sie gelangten in eine riesige<br />

Kathedrale, deren Innenkuppel etwa dreißig Meter hoch reichte.<br />

Seitlich an der Kuppel sahen sie einen Lichtschein. Das war<br />

sicher die Öffnung nach draußen, aber noch war kein einfallender<br />

Lichtstrahl <strong>aus</strong>zumachen. Noch zehn Minuten bis zur<br />

angegebenen Zeit. Sie warteten ungeduldig und voll innerer<br />

Spannung. Und genau fünf vor zwölf fiel ein feiner Lichtkegel<br />

auf die gegenüberliegende Felswand, die zunächst einen goldenen<br />

Schimmer annahm und danach wie Gold glänzte. Die<br />

beiden waren wie gelähmt von dem Sch<strong>aus</strong>piel und stolperten<br />

dann übereinander hinweg zu dem Felsen. Mit der Brechstange<br />

konnten sie den Felsbrocken bewegen. Er war leichter<br />

zu bewegen, als sie zunächst angenommen hatten. Dahinter<br />

blendete sie das Gold, das sich vor ihnen <strong>aus</strong>breitete. Verführerisch<br />

und faszinierend zugleich. Goldbarren mit dem aufgeprägten<br />

Reichsadler, das Hakenkreuz in seinen Fängen. Einhundert<br />

Kilogramm Gold. Die beiden fielen sich um den Hals<br />

und schrien, dass es in der Kathedrale nur so widerhallte: „Wir<br />

sind reich, wir sind reich!“ und tanzten miteinander im Kreis<br />

herum, im Licht der heruntergefallenen Stableuchte gespenstige<br />

Schatten an die Wände werfend. Und der Lichtkegel brach-<br />

173


te ein mit Phosphorfarbe aufgemaltes, gespenstig wirkendes<br />

Hakenkreuz auf dem weggerollten Felsen zum Leuchten.<br />

Wie sollten sie jetzt vorgehen? Hundert Goldbarren waren<br />

zu schwer, um sie auf einmal die ganze Strecke zurückzutragen.<br />

Aber jeder von ihnen konnte fünfundzwanzig Kilogramm<br />

in seinem Rucksack verstauen. Den Rest würden sie morgen<br />

holen. Sie rollten den Felsbrocken so vor das Versteck, wie sie<br />

ihn vorgefunden hatten. Das Gold auf dem Rücken war schwerer,<br />

als sie es sich zunächst vorgestellt hatten. Sie hatten die<br />

Wasserstelle passiert. Ohne die Kreidepfeile hätten sie den Weg<br />

zurück nicht gefunden. Der Kompass schien die Richtung nicht<br />

mehr richtig anzuzeigen. Heinz richtete den Lichtkegel in einen<br />

seitlichen Gang. Er glaubte, eine Gestalt bemerkt zu haben.<br />

Seine Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Er stieß<br />

Hubert an und flüsterte mit heiserer Stimme: „Sieh, da ist jemand!“<br />

Ein Totenkopf mit tiefen, unheimlichen Augenhöhlen<br />

grinste sie an. Das Skelett steckte in halb vermoderter Khakikleidung<br />

und saß aufrecht gegen die Felswand gelehnt da. Die<br />

schwarzen Stiefel hingen lose und unnatürlich an den Füßen.<br />

Manche Stellen des Skeletts waren mit lederartiger Haut überzogen.<br />

Ein Schauer durchlief Heinz' Körper, und erst jetzt fühlte<br />

er die Kälte in der Felsgrotte.<br />

„Einer war schon vor uns da“, raunte er. Hubert erholte sich<br />

als erster von dem Schock. Er untersuchte die Leiche. Vom<br />

Handgelenk, das mit seinen rohen Knochen klapperte, streifte<br />

er eine Uhr ab. Er las auf der Rückseite eingraviert: Heinrich<br />

Ramsberger.<br />

„Das ist Ramsberger“, sagte er leise zu Heinz. „Er hat Jandia<br />

nie verlassen.“ Dann entdeckte er eine flache Steinplatte,<br />

auf der die Skelettfinger des ehemaligen Offiziers ruhten. Er<br />

nahm sie in die Hand und entdeckte darauf mit einem scharfen<br />

Stein fein eingeritzt: Das Wasser ist giftig.<br />

174


Hubert sagte: „Als wir durch das Wasser wateten, das so klar<br />

wie ein Bergbach war, meinte ich einen unangenehmen Geruch<br />

wahrzunehmen. Hast du nichts bemerkt? Wahrscheinlich<br />

hat der Leutnant von dem Wasser getrunken. Jetzt wissen<br />

wir auch, weshalb Winter diese Quelle nicht angezapft hat.“<br />

Sie waren zum Ausgang gekommen. Heinz ging voran. Er<br />

meinte, einen gefährlichen Schatten ganz in seiner unmittelbaren<br />

Nähe wahrgenommen zu haben. Eine böse Vorahnung<br />

ließ ihn zur Seite hechten. Der Schlag des Brecheisens ging<br />

neben ihm in die Erde und streifte dabei leicht seinen rechten<br />

Arm. Adrenalinstöße durchzuckten seinen Körper. Hellwach<br />

fuhr er herum und blickte in das verzerrte, zu allem entschlossene<br />

Gesicht von Hubert, der im Begriff war, zum zweiten<br />

Schlag <strong>aus</strong>zuholen. Er wollte es einfach nicht glauben, was er<br />

sah. Hubert, dem er vertraut hatte, den er als seinen Freund<br />

betrachtete, wollte ihn töten. Daran gab es keinen Zweifel. Die<br />

Habgier war ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Augen, von<br />

schwarzen Haaren eingerahmt, waren die eines wilden Tieres<br />

beim Fressen seiner Beute geworden. Goldr<strong>aus</strong>ch und Habgier,<br />

das waren nicht nur Schlagworte, sie gehörten zusammen wie<br />

Feuer und Wasser und waren so alt wie die Menschheit selbst.<br />

Noch im Liegen, blitzschnell wie eine Raubkatze, hatte Heinz<br />

ein Bein seines Angreifers zu fassen bekommen. Mit dem<br />

schweren Rucksack auf dem Rücken verlor Hubert sein Gleichgewicht<br />

und fiel auf der Schräge des Weges zu Boden. Mit einem<br />

Griff hatte Heinz seinen eigenen Rucksack abgelegt und<br />

warf sich über Hubert. Heinz war größer und viel stärker als<br />

der Österreicher. Er legte seine beiden Hände um dessen Hals.<br />

Hubert, durch den schweren Rucksack gehandicapt, konnte<br />

sich schlecht bewegen. So wurde das Gold zu seinem Nachteil.<br />

Heinz drückte erbarmungslos zu. Dieser Hundesohn hat<br />

ihn ermorden wollen! Das Gold hat er alleine haben wollen!<br />

175


Er hat mit niemandem teilen wollen! Eine ohnmächtige Wut<br />

bemächtigte sich Heinz. Dieser Hundesohn hat nichts anderes<br />

verdient, als selbst zu sterben, dröhnte es ihn ihm. Aber<br />

dann dachte er an die vielen Gespräche, die er über das Leben,<br />

Gott, die Religion, die Sanftmut und die Liebe mit anderen, oft<br />

fremden Menschen geführt hatte. An seine Meditationen auf<br />

seinem Hochsitz. Den schraubstockartigen Griff um den Hals<br />

lockerte er etwas. Doch nicht genug – die Glieder des Mannes<br />

erschlafften. Erschrocken riss Heinz seine Hände von seinem<br />

Opfer weg. War Hubert schon tot?<br />

Waren jetzt die Karten neu gemischt? Gehörte ihm jetzt das<br />

ganze Gold? Kein unangenehmer Gedanke. Bis jetzt hatte er<br />

diese Möglichkeit noch nicht ins Auge gefasst. Zum Teufel<br />

damit! Ein Menschenleben ist viel mehr wert als alles Gold<br />

dieser Welt! Er legte seine Hand an die Halsschlagader des<br />

Mannes. Kein Puls mehr zu fühlen! Er beugte sich über Hubert<br />

und begann mit Wiederbelebungsversuchen. Er drückte seine<br />

Brust zusammen, ließ wieder los. Wieder und wieder. Er begann<br />

mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Er bemühte sich redlich<br />

und brach in Schweiß <strong>aus</strong> und dann in Panik. Nach einer halben<br />

Stunde stellte Heinz seine Bemühungen ein. Hubert war<br />

tot, nicht mehr ins Leben zurückzuholen. Heinz machte sich<br />

schwere Vorwürfe, eine seltsame Traurigkeit überfiel ihn. Er<br />

fragte sich, ob er jetzt zum Mörder geworden war? Er zu einem<br />

Mörder! Erst Unternehmer, dann Aussteiger, Einsiedler,<br />

meditierender Eremit und jetzt Mörder? Eine unvorhersagbare,<br />

erschreckende Entwicklung.<br />

Er konnte die Ereignisse der letzten Stunden nicht so schnell<br />

verarbeiten. Die anstehenden Dinge mussten aber trotzdem<br />

erledigt werden. Zuerst musste er die Leiche beiseiteschaffen,<br />

am besten in einem Seitengang der Höhle vergraben. Hubert<br />

würde von niemandem gesucht werden. Der Wohnwagen<br />

176


würde einfach unbewohnt dort stehen bleiben, wo er jetzt war,<br />

bis ein anderer verrückter Einsiedler den Wohnwagen entdecken<br />

und einziehen würde. Niemand würde ihn vermissen oder<br />

gar eine Vermisstenanzeige bei der hiesigen Polizei aufgeben,<br />

niemand nach seinem Verbleib forschen. Er musste auch ein<br />

Versteck für Huberts Rucksack, wenigstens bis morgen, finden.<br />

Vielleicht in dem Steinhaufen, der da drüben in seinen<br />

Blickwinkel fiel. Dann würde er den Heimweg antreten. Seinen<br />

Goldanteil im Fußboden seiner Höhle unter den Fellen<br />

verscharren. Zuvor aber musste er die Kleine wegschicken. Sie<br />

durfte auf keinen Fall von dem Gold und von dem Tod Huberts<br />

erfahren. In den nächsten vier Tagen würde er alles Gold<br />

unter der Erde in seinem Kalkofen vergraben haben. Er würde<br />

alles Gold hertransportieren. Bei jeder Tour fünfundzwanzig<br />

Barren. Er würde danach auf einhundert Kilogramm Gold<br />

schlafen, über einem unermesslichen Reichtum.<br />

Rafael schnarchte laut neben den Hunden, die ihn nur <strong>aus</strong><br />

ihren Augenwinkeln beobachteten, als er die Villa mit diesen<br />

Gedanken im Kopf und dem schweren Rucksack auf dem Rücken<br />

verließ.<br />

Als er seinen Kalkofen betrat, war die Kleine verschwunden.<br />

Er fand sie nicht am Strand und auch nicht bei der jungen Frau<br />

im Wohnwagen. Die junge Frau erzählte, dass drei junge Männer,<br />

die einen Surfurlaub im gerade neu gebauten Hotel Los<br />

Gorriones machten, hier aufgetaucht waren, zusammen mit<br />

dem Mädchen Wein tranken, scherzten, lachten und sich lautstark<br />

vergnügten. Sie konnte beobachten, dass es danach mit<br />

seinem schnell gepackten Bündel übergeschultert mit den drei<br />

Burschen weggegangen war.<br />

Erst hatte er sich vorgenommen, die Kleine wegzuschicken,<br />

wenn er zurückkam. Jetzt, nachdem sie ohne sein Zutun weggegangen<br />

war, versetzte ihm das einen Stich in sein Herz. Er<br />

177


hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Ihr Blick, ihre Bewegungen,<br />

ihre Worte. Sie war der einzige Mensch gewesen, den<br />

er wirklich hatte und der ihm etwas nahe stand.<br />

Er hatte die Kleine wahrscheinlich an einen Jüngeren für<br />

immer verloren. Das tat weh. Er spürte zum ersten Mal, dass<br />

er alterte. Dafür hatte er jetzt viel Gold. War das ein <strong>aus</strong>reichender<br />

Ersatz? Niemals. Und er vergrub es wie geplant unter<br />

den Schaffellen im Boden und deckte die Barren mit dem goldgelben<br />

Sand seines Strands zu. Wie würde er die erste Nacht<br />

über den schweren Barren schlafen? Würden sie ihn tief in einen<br />

unbewussten Schlaf ziehen, oder würden die Schuldgefühle<br />

die Oberhand gewinnen und ihn nie mehr zur Ruhe kommen<br />

lassen?<br />

Hätte er doch seine Hände um den Hals früher gelockert.<br />

Etwas früher!<br />

Die Schuldgefühle behielten die Oberhand. Die ganze Nacht<br />

verbrachte er zwischen Wachen und abgrundtiefen Albträumen.<br />

Warum hatte er trotz aller Bemühungen Hubert nicht<br />

mehr ins Leben zurückholen können? Waren wirklich nur<br />

Bruchteile von Sekunden entscheidend zwischen Leben und<br />

Tod? Zwischen Notwehr und Mord im Affekt? Oder hatte<br />

Hubert vielleicht einen Herzinfarkt erlitten? Vielleicht hatte<br />

er in Wirklichkeit ein schwaches Herz. Das wäre eine Erklärung<br />

dafür gewesen, dass seine Wiederbelebungsversuche<br />

nichts gefruchtet hatten. Wenn er dies in seinem Innersten nur<br />

glauben könnte! Dann wäre seine Schuld weniger groß. Dann<br />

würde ihn sein Gewissen weniger peinigen. Was hatte er doch<br />

nicht alles über Gott erzählt? Als Jürgen ihn gefragt hatte, ob<br />

er an Gott glaube, hatte er schlicht mit einem Ja geantwortet.<br />

Wie kann er nur an einen Gott glauben und trotzdem eine solch<br />

schreckliche Tat begehen?<br />

Die nächsten Tage verliefen nach Plan. Alles Gold hatte er<br />

178


hergeholt. Er war Millionär geworden und trotzdem hatte er<br />

kein Geld. Denn wie und wo konnte er einen Teil des Goldes<br />

verkaufen? Käme er mit einem Goldbarren zu der kleinen<br />

Bankfiliale in Morro, würde sofort das ganze Dorf zusammenlaufen,<br />

wahrscheinlich würde ein Polizeikommissar <strong>aus</strong> Gran<br />

Canaria auf der Insel erscheinen, ihn vernehmen und am Ende<br />

des Verhörs einsperren. Die Barren zersägen? Auch zerteilte<br />

Goldstücke würden auffallen. Außer Landes bringen? Wohin?<br />

Nach Deutschland? Im Flugzeug einhundert Kilogramm? Wie<br />

den Zoll überwinden? Sollte er anstatt dessen einen Schmelzofen<br />

bauen und das flüssige Gold in einen Eimer mit Wasser<br />

werfen, so dass Nuggets entstehen würden? Nuggets zum Verkauf<br />

anbieten in dem Fischernest Morro? Ein Goldr<strong>aus</strong>ch würde<br />

über die Insel hereinfegen. Die Einheimischen würden<br />

schreien: „Wo hast du das Gold gefunden? Das Gold gehört<br />

dir nicht, es gehört uns, du hast es auf unserer Insel gefunden!“<br />

Sie würden nicht locker lassen und hätten bald seinen Schmelztiegel<br />

entdeckt, die ganze Wahrheit würde an den Tag kommen,<br />

und seine Geschichte würde auffliegen.<br />

So gesehen, änderte sich nichts an seinem Einsiedlerleben<br />

durch das Gold. Allein das Bewusstsein würde ihm bleiben,<br />

dass er reich war. Ein Reichtum, über dem er schlief, und doch<br />

konnte er nichts damit anfangen. Die Krux war die Umwandlung<br />

des Goldes in Geld, das war für ihn zu einem nicht zu<br />

lösenden Problem geworden. Eine verflixte Situation. Genau<br />

genommen war das Gold für ihn wertlos.<br />

Wie weit war er gekommen?<br />

Die innere Ausgeglichenheit war weg. Die innere Unruhe,<br />

die er glaubte überwunden zu haben, war mit voller Wucht<br />

zurückgekehrt. Schuldgefühle peinigten ihn und die nicht<br />

weichen wollenden Gedanken rund um sein Gold. Sein Mädchen<br />

war verschwunden. Der einzige Mensch, mit dem er hat-<br />

179


te reden können. Er war allein. Er hatte in einem Paradies gelebt<br />

und war durch eigenes Verschulden in einer Hölle gelandet.<br />

Wie hatte das nur geschehen können!.<br />

Nach einem weiteren halben Jahr hatte Jürgen erneut <strong>Fuerteventura</strong><br />

als Urlaubsziel <strong>aus</strong>gesucht. Er joggte zum Esquinzo<br />

Strand hinauf. Würde er Heinz mit seinem Mädchen im Kalkofen<br />

antreffen? War es immer noch bei ihm? War er immer<br />

noch mit seinem Einsiedlerleben glücklich? Hatte er neue Erkenntnisse<br />

in seinen Meditationen über Gott und die Welt gewonnen?<br />

Er rannte um den letzten Felsvorsprung, der noch den Blick<br />

auf den Kalkofen versperrte hatte. Der Kalkofen aber war verschwunden.<br />

Keine Bretterverkleidung, keine Betonplatte. Auch<br />

der alte, verkommene Wohnwagen war weg. Es bot sich ein<br />

Anblick, als ob nie irgendjemand hier gelebt hätte. Keine Spur<br />

von dem Einsiedler oder seinem Mädchen. Er verlangsamte<br />

seine Schritte und blieb schließlich enttäuscht stehen. War der<br />

Kalkofen hier oder dort gestanden? Auf diesem oder auf jenem<br />

Hügel? Er war sich seiner Sache nicht mehr sicher. Die<br />

Vergangenheit kam ihm auf einmal wie eine Halluzination vor,<br />

die er gar nicht erlebt, sondern sich selbst nur eingebildet hatte.<br />

Dabei konnte er sich doch an das Gesicht des Einsiedlers<br />

genau erinnern, die blauen Augen, das blonde Haar, die von<br />

der Sonne gegerbte und mit Fältchen durchzogene Gesichtshaut<br />

an den Stellen, wo der rotblonde Bart nicht wucherte.<br />

Alfonso trottete heran. „Wollen Sie einige frische Fische kaufen?“,<br />

fragte er und zeigte auf seinen Eimer. Jürgen schüttelte<br />

den Kopf: „Was ist mit dem Einsiedler und seinem Mädchen<br />

passiert?“<br />

Alfonso senkte den Kopf:<br />

„Das Mädchen ist mit drei Burschen abgezogen. Danach ist<br />

etwas mit dem Einsiedler geschehen, er hat sich plötzlich ver-<br />

180


ändert. Er lachte nicht mehr, er war aufbr<strong>aus</strong>end, und wenn<br />

er einen Fisch kaufte, beschwerte er sich über den zu hohen<br />

Preis und die Qualität. Ich glaube, er kam mit sich selbst nicht<br />

mehr zurecht. Er sprach davon, dass er ein altes Segelboot<br />

umbauen und eine t<strong>aus</strong>end Kilometer südlich gelegene, menschenleere<br />

Insel ansegeln wolle, um dort ein neues Einsiedlerleben<br />

zu beginnen. Diese Insel hier sei nicht mehr dieselbe. Er<br />

erwähnte, glaube ich, die Kapverdischen Inseln, wenn es so<br />

etwas gibt. Dort soll es die Insel Boa Vista geben. Diesen Namen<br />

konnte ich mir gut merken, weil das die schöne Ansicht<br />

heißt. Er klagte auch darüber, dass der Bürgermeister von<br />

Morro ihn aufgefordert hatte, seinen Kalkofen zu räumen. Der<br />

Gemeinderat hatte entschieden, dass niemand mehr direkt am<br />

Strand wohnen dürfe. Auch das Bauen am Strand war verboten.<br />

Wenn er nicht freiwillig gehen würde, kämen Bulldozer,<br />

um alles zu planieren. Die Bulldozer rückten an einem frühen<br />

Morgen an. Mitgekommene Polizisten führten Heinz in Handschellen<br />

ab. Er soll immer wieder gerufen haben. Mein Gold, in<br />

meiner Hütte ist Gold, viel Gold! Die Polizisten lachten nur über<br />

diesen Witz. Sie zweifelten ohnehin an seinem Verstand. Wenn<br />

dieser Mann Gold hätte, würde er nicht so zerlumpt in einer<br />

schmutzigen Höhle wohnen. Die Bagger schaufelten das Gerümpel<br />

auf Lastwagen, die alles zu der Müllhalde hinter dem<br />

Berg fuhren und dort in der Schlucht entsorgten.<br />

Der Einsiedler wurde seither nicht mehr gesehen. Manche<br />

behaupten, dass er nach Deutschland zurückgekehrt sei. Ich<br />

aber glaube, dass er auf der fernen, menschenleeren Insel Boa<br />

Vista einen stillgelegten Kalkofen gefunden hat.“<br />

Jürgen durchfuhr es:<br />

Vielleicht sollte ich meinen nächsten Urlaub auf Boa Vista<br />

verbringen. Vielleicht finde ich ihn dort. Über zu viele Dinge<br />

181


haben wir noch nicht gesprochen. Zu H<strong>aus</strong>e las er im Reiseführer<br />

nach:<br />

„Ausgedehnte Dattelhaine wechseln sich ab mit Dünenfeldern,<br />

gebirgigen Steinwüsten und weiten Kiesfeldern in den<br />

zumeist flach <strong>aus</strong>laufenden Tälern. Umgeben ist die Insel von<br />

einer Kette weiter heller Sandstrände. Vielleicht die schönsten<br />

der Welt. Die jahreszeitlichen Schwankungen der Lufttemperatur<br />

sind gering. Zwischen 20 und 32 Grad. Niederschläge<br />

sind extrem selten und meistens bläst eine kräftige Brise <strong>aus</strong><br />

Nord-Ost.“<br />

182


Der Roman, der mein Leben verändern sollte<br />

eine wahre Begebenheit<br />

Die Dame in einem Überlinger Reisebüro, die meine Urlaubsvorlieben<br />

kannte, buchte für mich einen Aufenthalt im Aldiana<br />

Club auf <strong>Fuerteventura</strong>, genauer gesagt auf der Halbinsel<br />

Jandia von <strong>Fuerteventura</strong>. Ich hatte zuvor schon einmal einen<br />

Urlaub in einem Aldiana Club verbracht, und zwar 1971 im<br />

Senegal. Dort hatte es mir sehr gut gefallen, und sie erinnerte<br />

sich an meine damalige Begeisterung. Ich hatte sie angerufen<br />

und sie gebeten, für mich tätig zu werden.<br />

„Wohin soll es gehen? Wie lange?“, fragte sie am Telefon.<br />

„Egal wohin. Egal, wie lange. Einfach weg! Meine einzige<br />

Bedingung ist, dass das Flugzeug morgen in aller Frühe starten<br />

muss“, antwortete ich.<br />

Ich war nämlich <strong>aus</strong> der Notaufnahme <strong>aus</strong>gerissen, um einer<br />

Operation zu entgehen, und ich wollte, auf den Druck<br />

meiner Familie hin, nicht wieder zurück ins Gefängnis, ans Bett<br />

gebunden, ins Krankenh<strong>aus</strong>. Das war es für mich nämlich: ein<br />

Gefängnis. Ich war nicht willensstark genug, liegend im Bett<br />

weiß angezogenen, ernst <strong>aus</strong>sehenden Ärzten einfach „nein“<br />

zu sagen.<br />

Ich hatte ein leichtes Ziehen in meiner linken Schulter gehabt.<br />

„Das ist dein Herz“, vermutete meine Tochter sorgenvoll.<br />

„Du musst dich von einem Spezialisten untersuchen lassen.“<br />

Der Herzspezialist stellte schwere Herzrhythmusstörungen<br />

fest und überwies mich ins Singener Krankenh<strong>aus</strong>.<br />

„Sofort melden Sie sich dort bei Professor Winter“, sagte er,<br />

„Ihr Zustand erlaubt keinen weiteren Aufschub!“<br />

Der Professor sah mich ernst an. Sein Blick wanderte von<br />

der EKG-Aufzeichnung zu mir und wieder zurück.<br />

183


„Wie alt sind Sie? Wie groß? Welches Gewicht haben Sie?“<br />

Was hatten diese Fragen mit meinem Herzen zu tun, dachte<br />

ich, als ich wie mechanisch, aber schon äußerst besorgt, seine<br />

Fragen beantworte.<br />

Er legte eine Karteikarte an und sagte:<br />

„Dieses EKG ist eine eindeutige Indikation für die Implantation<br />

eines Herzschrittmachers. Wir müssen Sie sofort stationär<br />

aufnehmen und Ihnen zum frühestmöglichen Termin,<br />

wahrscheinlich schon morgen, einen Herzschrittmacher einsetzen.“<br />

Bei seinen Worten wurde mir schwarz vor Augen, und ich<br />

saß wie gelähmt auf dem Stuhl, fast unfähig, mich zu rühren.<br />

Ich hörte, wie er weiter davon sprach, dass die Operation<br />

vergleichsweise nur ein harmloser Eingriff sei, und dergleichen<br />

mehr. Langsam wich der Schock. Gestern hatte ich noch wie<br />

wild mit meinem Freund um eine Flasche Bier Tennis gespielt,<br />

und vorgestern war ich eine Dreiviertelstunde joggen gewesen<br />

und heute dies! Ich konnte das einfach nicht glauben. Innerhalb<br />

von kaum einer Stunde diese Diagnose! Wie ein Blitz<br />

<strong>aus</strong> heiterem Himmel! Was war überhaupt ein Herzschrittmacher?<br />

Helmut Schmidt hatte einen. T<strong>aus</strong>end andere auch.<br />

Würde ich dadurch zum Halbkrüppel werden? Kein Tennis<br />

mehr, kein Waldlauf? „Nein, natürlich nicht“, meinte der Professor<br />

– ich hatte anscheinend laut gesprochen –, „und ob Sie<br />

später noch Tennis spielen können, werden wir sehen.“<br />

Wie benommen stand ich auf. Zitternd stand ich da, wankte<br />

fast.<br />

„Ich werde jetzt nach H<strong>aus</strong>e fahren“, sagte ich so bestimmt<br />

wie möglich.<br />

„Das kann ich nicht zulassen“, erwiderte er, „Sie würden<br />

den Verkehr in Ihrem gegenwärtigen Zustand gefährden.“ Und<br />

184


schon lag ich auf der Station in einem Bett in der Notaufnahme.<br />

Nachts entronnen, ließ ich im Auto meinen Tränen freien<br />

Lauf, beklagte mein Schicksal, sah mich schon, wenn nicht<br />

gleich als Krüppel, dann aber als Behinderter, und als ich zu<br />

H<strong>aus</strong>e ankam, hatte ich wieder etwas Mut gefasst. Ich erinnerte<br />

mich an einen Rat, den mir mein inzwischen längst verstorbener<br />

Vater gegeben hatte:<br />

„Glaube dem Ersten nicht, auch nicht dem Zweiten. Hör den<br />

Dritten an und auch den Vierten und tu dabei niemals etwas<br />

gegen deine eigene Überzeugung.“ Dieser Rat hatte mir schon<br />

bei vielen geschäftlichen Entscheidungen gute Dienste geleistet.<br />

Warum sollte ich ihn jetzt, bei einer so viel wichtigeren<br />

Frage, die mich persönlich betraf, nicht auch beherzigen?<br />

Ich war fest davon überzeugt, dass mein Körper mit den<br />

Herzrhythmusstörungen, sofern sie überhaupt von der Art<br />

waren, die einen Schrittmacher erforderten und die beiden<br />

Ärzte mit ihrer Diagnose richtig lagen, selbst fertig werden<br />

konnte. Ich musste nur mir selbst und meinem Körper die<br />

Chance zur Selbstheilung geben und auch die äußeren besten<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen für die Heilung schaffen. Das Klima der Kanarischen<br />

Inseln hatte schon manchen Kranken geheilt.<br />

Vielleicht würden die frische Atlantikluft und das kühle Meerwasser<br />

auch mir helfen. Wie war es eigentlich zu den Rhythmusstörungen<br />

gekommen? Was hatte ich falsch gemacht?<br />

Bisher erfreute ich mich immer bester Gesundheit. Ich war<br />

immer fit, spielte bei schönem Wetter Tennis, und wenn es regnete,<br />

joggte ich mit unserem Dalmatiner, dem die Nässe nichts<br />

<strong>aus</strong>machte, durch den tropfenden Wald. Ich hatte das Rauchen<br />

schon vor vielen Jahren aufgegeben und hatte auch kein<br />

Übergewicht. Ab und zu ein bisschen Alkohol, aber eigentlich<br />

nur an Wochenenden.<br />

185


Sicher war ich mit Arbeit überhäuft. Die Arbeit war es aber<br />

nicht, die mir schadete. Es war der damit verbundene Stress,<br />

der mich zermürbte und nachts nicht schlafen ließ.<br />

Neben dem Tennisgeschäft war ich nach wie vor, nämlich<br />

seit 24 Jahren, freiberuflich für die Firma Gohl mit der Entwicklung<br />

von Kühltürmen tätig. Sie hatte von mir die Lizenz<br />

zum Bau von Kompaktkühltürmen erworben, die hauptsächlich<br />

für Klimaanlagen eingesetzt wurden. Gohl war zuvor auf<br />

diesem Gebiet nicht bewandert. Mit meinen Kühltürmen war<br />

sie aber dann zum Marktführer in Deutschland aufgestiegen.<br />

Laufend waren jedoch Entwicklungsanstrengungen nötig, um<br />

diese Position halten zu können. Das war mein alleiniges Resort.<br />

Über 50 Patentanmeldungen liefen auf meinen Namen.<br />

Ungezählte Konstruktionszeichnungen und Skizzen hatte ich<br />

erstellt.<br />

Immer wieder traten technische Probleme bei installierten<br />

Anlagen auf. Die Firma vertrat die Ansicht, dass das auch in<br />

mein Resort falle und ich die Verantwortung dafür trage. Verantwortung<br />

hieß in diesem Fall: ein Großteil des finanziellen<br />

Risikos. Ich sei schließlich der Konstrukteur!<br />

Bei etwa 30 000 installierten Anlagen kann selbstverständlich<br />

nicht immer alles glatt laufen. Viele Probleme ließen sich<br />

nicht einfach am grünen Tisch lösen. Oft standen hohe Summen<br />

auf dem Spiel, weil manche Anlagen aufgrund miserabler<br />

Aufstellungsverhältnisse die zugesagten Leistungen nicht<br />

erbrachten und dann im schlimmsten Fall der Abriss der Anlage<br />

mit entsprechenden Schadenersatzforderungen drohte.<br />

Das war mit häufigem Reisen verbunden. Die wichtigen Arbeiten<br />

am Schreibtisch mussten warten.<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> wurden immer mehr technische Unterlagen<br />

angefordert. Neue Prospekte mit allen Daten und andere technische<br />

Ausarbeitungen mussten für Werbezwecke laufend neu<br />

186


gestaltet werden, die ich allein entwarf und druckfertig vorlegte.<br />

Auch die Ausbildung neuer und gestandener Mitarbeiter<br />

verschlang Zeit und Nerven. Kaufmännische Probleme<br />

gesellten sich dazu, die auch mit der an mich zu bezahlenden<br />

Lizenz zu tun hatten. Neu eingestellte Mitarbeiter warteten<br />

mit eigenen Ideen und Vorstellungen auf und stellten anfangs<br />

oft alles bisher Bewährte infrage, so dass es dabei hin und<br />

wieder zu heftigen Meinungsverschiedenheiten kam, die ich<br />

zwar zu vermeiden suchte, die aber dennoch un<strong>aus</strong>weichlich<br />

waren, wenn man der bisherigen erfolgreichen Linie treu bleiben<br />

wollte. Diese Querelen und Rechthabereien waren nervenaufreibend,<br />

zumal ich als freier Mitarbeiter keine Weisungsbefugnis<br />

gegenüber Angestellten der Firma hatte.<br />

Die Tennisschläger, die in meiner eigenen Firma hergestellt<br />

wurden, bereiteten auf einmal auch Probleme. Ich wurde verklagt.<br />

Ich hatte Prozesse am Landgericht München, am Oberlandgericht<br />

und am Europäischen Patentamt zu führen. Das<br />

kostete Zeit und Nerven!<br />

Auf diese Weise war ich Stresssituationen <strong>aus</strong>gesetzt, die ich<br />

nicht einfach abschütteln konnte. Stress war latent da, ständiger<br />

Begleiter über Wochen, Monate, Jahre.<br />

Ich musste <strong>aus</strong> diesem Teufelskreis <strong>aus</strong>brechen, mich von<br />

allen Stresssituationen lösen, denn die waren es, die mir<br />

schließlich auf mein Herz schlugen. Ich hatte die Warnung<br />

verstanden. So durfte ich nicht weitermachen.<br />

Und jetzt ein Urlaub zum ersten Mal in diesem Club! Hier<br />

werde ich meine Chance wahrnehmen. Ich werde in mich gehen,<br />

mein Leben überdenken. Meine Ess- und Trinkgewohnheiten<br />

ändern. Fett vermeiden, Zucker und Alkohol weglassen.<br />

Versuchen, schlanker zu werden, meine Gedanken neu zu<br />

ordnen. Ruhiger werden. Stress nicht an mich herankommen<br />

lassen. Nicht einmal einen Gedanken an irgendein bisheriges<br />

187


stressbeladenes Problem zulassen. Solche Gedanken werde ich<br />

›einkapseln‹ und ›im Kleingehirn vergraben‹, so wie die Lunge<br />

Tuberkulosebazillen einkapselt und dadurch unschädlich<br />

macht. Schuldgefühle muss ich bis zur nächsten Beichte aufheben,<br />

aber da ich ja nicht beichte, sollte ich sie gleich ins nächste<br />

Leben verbannen. Endlich will ich her<strong>aus</strong>finden, was für<br />

mich wirklich wichtig ist. Das Buch ›Sorge Dich nicht, lebe!‹<br />

von Dale Carnegie will ich noch einmal lesen, mehr Freude<br />

am Tennisspielen haben und laut am Achtertisch des Clubs<br />

lachen. Entspannt will ich am Meer joggen und danach die<br />

Endorphin-Ausschüttungen beim anschließenden Duschen<br />

genießen. Ich will meinen Körper spüren, mich an ihm freuen<br />

und in ihm wohlfühlen. Pollenfreie, vom Atlantik gefilterte<br />

Luft, will ich atmen und meinen nackten Körper Wind und<br />

Sonne <strong>aus</strong>setzen, dabei braun werden und für das andere Geschlecht<br />

begehrenswerter machen.<br />

Das alles hatte ich mir vorgenommen. Doch vor allen Dingen<br />

musste ich meinen Kopf freibekommen. Ihn von all dem<br />

Müll und den Schlacken der vergangenen Jahre reinigen. Frei<br />

von Patentanmeldungen „schruppen“, frei von fehlgeschlagenen<br />

Entwicklungen, frei von sorgenbeladenen Gedanken<br />

über meine Familie. Frei von Gedanken über meine Kunden<br />

und meine Mitarbeiter. Mein Gehirn für Neues öffnen. Alles<br />

löschen, was nicht wichtig war, was mich jedoch belastete. Für<br />

wen trage ich eigentlich Verantwortung? Gibt es denn für einen<br />

Menschen überhaupt so einen Begriff, wie ›Verantwortung<br />

tragen‹, wenn sie nicht mit Geld bezahlt werden muss? Politiker<br />

tragen Verantwortung. Sagt man. Sagen sie. Dann übernehmen<br />

sie manchmal sogar die Verantwortung, treten dann<br />

zurück und werden dafür mit einer fürstlichen Rente bis an<br />

ihr Lebensende belohnt. Ihnen konnte wahrscheinlich nichts<br />

Besseres passieren. Geld bezahlen sie jedenfalls nicht und ins<br />

188


Gefängnis wandern sie deswegen auch nicht. Ihr Ruf ist<br />

vielleicht geschädigt, ihre Karriere beendet. Doch, um Wilhelm<br />

Busch zu zitieren: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig<br />

ungeniert.“<br />

Doch ich glaube, dass ich für meine Kinder Verantwortung<br />

getragen habe. Jedenfalls, solange sie klein waren und Hilfe<br />

brauchten. Jetzt sind sie aber nicht mehr klein. Die Jüngste ist<br />

21 und der Älteste 27 Jahre alt.<br />

Das alles trug sich im März des Jahres 1984 zu. Der Club<br />

war erst wenige Monate zuvor eröffnet worden. Er liegt an<br />

einem breiten Sandstrand, fünfzig Minuten zu Fuß nördlich<br />

vom Robinson Club Jandia entfernt, der seit 1970 besteht.<br />

Mit einem neuen, ungewöhnlichen Projekt könnte ich meinen<br />

Kopf freibekommen. Eine vage Vorstellung hatte ich schon.<br />

War ich dieser Aufgabe gewachsen? Konnte ich so etwas<br />

überhaupt? Einen Roman schreiben? Ohne besondere Ausbildung,<br />

einfach so <strong>aus</strong> dem Stegreif? Hinsetzen und schreiben?<br />

Bei offener Tür saß ich vor dem Schreibtisch in meinem spartanischen<br />

Aldiana-Bungalow, und mein Blick wanderte vom<br />

weiten Horizont über das dem Auge so wohltuende Blau des<br />

Meeres zu dem weißen Blatt Papier auf dem Tisch. Wie anfangen,<br />

wie schreiben, welches Thema? Nicht irgendein Thema.<br />

Ich will schon etwas Besonderes sagen. Der Leser soll etwas<br />

von mir erfahren, das er nicht so schnell vergessen soll. Ich<br />

will ihn mit meiner Geschichte fesseln. Spannend muss sie<br />

werden. Mit Wendungen, die nicht alltäglich und auch überraschend<br />

sind. Es genügt sicher nicht, nur schreiben zu wollen.<br />

Etwas muss in einem schlummern, das nach draußen dringen<br />

will, etwas, worauf man selbst eine Antwort finden will.<br />

Ich ging vor die blau gestrichene, einfach <strong>aus</strong> Brettern zusammengefügte<br />

Tür, blickte in das sich vor mir <strong>aus</strong>breitende<br />

Tal. Der Gärtner sagte, es sei das ›Valluelo de la Cal‹. Das sei<br />

189


der direkte Weg zum 800 Meter hohen ›Pico de la Zarza‹. So<br />

wird der am Horizont sichtbare höchste Berg <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

genannt, über dessen Spitze um diese Jahreszeit des Nordostpassats<br />

Wolken ins Tal fallen und sich dabei auflösen. Es sieht<br />

<strong>aus</strong>, als ob ein weißes Tischtuch über die Bergspitze gezogen<br />

wird. In der Ferne sah ich, wie sich die blütenweißen Wolken<br />

gegen den blauen Himmel abhoben. Das Tal hingegen sah trostlos<br />

und zum Wandern überhaupt nicht einladend <strong>aus</strong>. Trotzdem,<br />

ich wagte es. Schwarzbraune Steine wechselten sich mit<br />

helleren ab, die von <strong>aus</strong>getrockneten Flechten rötlich schimmerten.<br />

Schon hatte ich meine Tennisschuhe mit griffigem<br />

Profil angezogen und machte mich auf den Weg. Ohne lang<br />

zu überlegen, schlug ich den direkten Weg ein. Der anfängliche<br />

Pfad endete nach wenigen Kilometern am einem Bergabhang.<br />

Das konnte kein Grund zur Aufgabe sein. Auf allen vieren<br />

kletterte ich hoch. Der Schweiß rann mir von der Stirn.<br />

Durstig war ich. Wasser hatte ich in der Eile vergessen. Nach<br />

weiteren zwei Kilometern erreichte ich aber wieder einen Pfad,<br />

der anscheinend zur Bergspitze führte. In dieser bereits erklommenen<br />

Höhe entdeckte ich in den schattigen Spalten der wettergeschlagenen<br />

Steine mehr Pflanzen als weiter unten. Sie<br />

waren den spitzen Mäulern der Ziegen entronnen. Auf einem<br />

Stein saß ein Mauergecko gut getarnt. Sah <strong>aus</strong> wie eine große<br />

Flechte. Eine goldgefärbte Eidechse rannte vor mir über den<br />

Pfad und blieb unvermittelt auf einem Stein bewegungslos sitzen.<br />

Sie weiß um die Gefahr. Bussarde kreisten über dem gesamten<br />

Gebiet und suchten nach Beute. Immer wieder sah ich<br />

Büsche mit gelben Blüten und kleinen, fast könnte man meinen,<br />

unterentwickelten Blättchen, auf denen kleine Schnecken<br />

saßen. Die toten weißen Schneckengehäuse lagen verstreut<br />

unter den Büschen. Man könnte sie leicht mit kleinen, weißen<br />

Kieselsteinen verwechseln. Ein anderer Busch heißt ›Tabaiba‹,<br />

190


ein purpurrot blühendes Wolfsmilchgewächs. Er besteht hauptsächlich<br />

<strong>aus</strong> Stacheln. Viele dieser Sträucher sind so vertrocknet,<br />

dass man glauben könnte, sie seien abgestorben, was aber<br />

nicht stimmt. Sie leben und trotzen den gefräßigen Ziegen.<br />

Wie stark das Leben doch ist! Es überwindet die widerwärtigsten<br />

Bedingungen und passt sich immer wieder aufs Neue<br />

an. Auch Aloe-vera-Pflanzen waren verstreut zu sehen, und<br />

zwar die Aloe vera ›Barbadensis‹, die vorherrschende Art auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong> und diejenige, der man die größte Heilkraft zuschreibt.<br />

Ich erreichte die Wolke. Sie war als solche nicht mehr<br />

zu erkennen. Ich sah aber, wie sich Nebenfetzen absonderten<br />

und ins Tal fielen, immer dünner wurden und sich auf einmal<br />

in Nichts auflösten. Ich war im Nebel, der nicht so dicht war,<br />

wie ich mir das vorgestellt hatte. Doch die großen Felsbrocken,<br />

unter denen ich mich jetzt befand, waren nass. In tellerförmigen<br />

Mulden sammelte sich sogar Wasser. Kondenswasser. Ich<br />

beugte mich darüber und trank. Es war kühl und schmeckte<br />

süß. Die Büsche um mich herum waren jetzt saftig grün. Der<br />

Nebel wurde lichter und plötzlich stand ich auf der Spitze des<br />

Bergs und wie durch ein Wunder brach die Sonne hervor und<br />

gab den Blick frei über einen senkrecht abfallenden Abgrund<br />

auf die gelblich schimmernde Sandküste und das tiefblaue<br />

Meer der Westküste. Ein grandioser Ausblick. Verschlafen und<br />

gleichzeitig geheimnisvoll wirkte die Villa Winter, die wie ein<br />

Fremdkörper am Abhang lag.<br />

Ich stellte mich auf den meterhohen Felsen. Das ist die höchste<br />

Stelle <strong>Fuerteventura</strong>s. Das ist die Stelle, wo ich mich entscheiden<br />

wollte. Nackt will ich dazu sein. Nackt am Körper<br />

und nackt in meinen Gedanken.<br />

Fast pathetisch zog ich mich <strong>aus</strong>, breitete meine Arme <strong>aus</strong><br />

wie die Christusfigur in Rio und schloss meine Augen. Ich richtete<br />

mich nach Norden:<br />

191


„Ich grüße euch alle in Europa. Euch alle, die ihr auf eure<br />

Kultur so stolz sein wollt. Zu Recht? Oder seid ihr nicht anders<br />

als alle anderen Menschen auch?“<br />

Ich verbeugte mich nach Westen.<br />

„Ihr Amerikaner mit eurem ›American way of life‹. Habt<br />

ihr nicht sehr oft, bei allem, was ihr tut, ein Dollarzeichen in<br />

den Augen? Seid ihr wirklich so christlich wie ihr immer behauptet?<br />

Unkompliziert? Seid ihr darauf stolz? Oder seid ihr<br />

nicht anders als alle anderen Menschen auch?“<br />

Und jetzt nach Süden.<br />

„Ihr Völker Afrikas! Werdet ihr die Armut überwinden?<br />

Durch Bildung den Anschluss an die Annehmlichkeiten der<br />

Zivilisation finden? Jetzt schon seid ihr nicht anders als alle<br />

anderen Menschen auch.“<br />

Und im Osten?<br />

„Ich nehme an, ihr seid Buddhisten. Ihr wollt die Gewaltlosigkeit<br />

und den Frieden. Alle von euch? Warum lächelt ihr<br />

dabei? Seid ihr stolz auf eure euch nachgesagten Tugenden?<br />

Oder seid ihr nicht anders als alle anderen Menschen auch?“<br />

Nackt will ich sein und so wie ihr alle auch: nur ein ganz<br />

gewöhnlicher Mensch. Ich will nur leben, Freude haben und<br />

etwas Glück finden. Wie lange will ich leben? Unendlich lange?<br />

Unendlich lange würde irgendwann sehr langweilig werden.<br />

Es würde im persönlichen Chaos enden. Doch das Christentum<br />

verspricht uns das ewige Leben. Sozusagen als Belohnung<br />

für ein tugendhaftes Benehmen. Ein ewiges Leben muss<br />

demnach doch für viele Menschen sehr erstrebenswert sein!<br />

Ich erinnerte mich daran, dass ich schon mit vierzehn eine<br />

längere Geschichte schreiben wollte. Sie sollte den Lebensweg<br />

eines erfolgreichen Mannes beschreiben, der, nachdem er alle<br />

seine selbst gesetzten Ziele erreicht hatte, plötzlich und für ihn<br />

völlig unerwartet vor dem Nichts stand und nicht mehr wuss-<br />

192


Pico de la Zarza<br />

te, was er mit sich anstellen sollte. Solche Gedankengänge<br />

waren wohl ungewöhnlich für einen Jungen dieses Alters, aber<br />

in den ersten Nachkriegsjahren war vieles ungewöhnlich. Ich<br />

stellte mir wohl damals selbst die Frage: Warum soll ich so viel<br />

lernen? Warum denn überhaupt etwas werden wollen? Der<br />

Aufwand lohnt sich doch nicht. Alles endet doch ähnlich und<br />

zum Schluss bleibt nur die Langeweile übrig. Einen Titel für<br />

diese Geschichte, der diese Gedankengänge am besten umschreibt,<br />

hatte ich mir <strong>aus</strong>gedacht: ›Und dann?‹ Sollte ich jetzt<br />

diese Geschichte als Roman schreiben? Ohne Zeitdruck schreiben,<br />

ohne die Verpflichtung, den Roman je fertig schreiben zu<br />

müssen, nur wenn es mir Spaß machte? Mit einem überraschenden<br />

Schluss? Eine verrückte Idee! Ich hatte schon so viel<br />

verrückte Dinge in meinem Leben getan, auf eine weitere kam<br />

es sicher nicht an.<br />

Ich verabschiedete mich von den Völkern der vier Himmel-<br />

193


ichtungen und legte mich etwas weiter unten auf eine flache<br />

Felsformation, so dass mein nackter Körper engen Kontakt mit<br />

dem nassen Basalt hatte. Ich wollte die Gravitationswellen<br />

dieser Erde spüren. T<strong>aus</strong>ende Meter von hartem Basalt unter<br />

mir. Die Einzelheiten zu dem Roman hier und jetzt erfinden.<br />

Sozusagen ein Romangerüst erstellen, eine Kurzzusammenfassung<br />

der Handlung, das ›Exposé‹ entwerfen.<br />

Ich zog aber zunächst den alten Sony-Walkman <strong>aus</strong> der Tasche<br />

und legte den ›Feuervogel‹ ein. Strawinsky. Seine Musik<br />

passt zu der bizarren Landschaft. Volle Lautstärke. Mein Herz<br />

vibrierte schon bei den bei den ersten Akkorden. Ich sah im<br />

Geiste den Feuervogel im Garten des Zauberers ›Kastschej‹<br />

tanzen, der ihn gefangen hielt, dargestellt von einer betörenden<br />

Balletttänzerin in einem freizügigen roten Kostüm. Prinz<br />

Iwan lässt den Vogel frei und erhält dafür eine rote Feder. Die<br />

Wunderfeder schützt den Prinzen fortan und rettet ihm sogar<br />

später das Leben. Die magische, rhythmisch wechselnde Musik,<br />

zwischen Harmonie und Disharmonie, rüttelt den einen<br />

auf, erregt ihn, dem anderen aber widerstrebt sie, er will sie<br />

abschalten. Bei mir wirkt sie wie ein Katalysator für fantasievolle<br />

Gedanken, die fassbar werden. Ich sah, wie die Figuren<br />

des Romans in meinem Kopf Gestalt annahmen. Iwan führt<br />

indessen den Feuervogel zu einer Höhle, wo ein großes Ei versteckt<br />

ist, worin die Seele des Zauberers gefangen ist. Der Prinz<br />

zerschlägt das Ei und der gehasste Zauberer stirbt. Die dreizehn<br />

Jungfrauen, die der Zauberer gefangen gehalten hat, sind<br />

frei. Das Crescendo folgt. Die letzten Trompetenstöße. Plötzlich<br />

herrscht totale Stille. Meine Gedanken wanderten. Ich<br />

glaubte, jetzt den Nebel fallen zu hören. Das Exposé des Romans<br />

entstand.<br />

Der rote Faden des Romans musste deutlich her<strong>aus</strong>gestellt<br />

werden. Ich musste an einem Beispiel durchspielen und darle-<br />

194


gen, dass die ewige Jugend ein Zustand ist, den auf Dauer niemand<br />

ertragen kann und der deshalb auch für niemanden erstrebenswert<br />

ist.<br />

Wenn jemand nicht mehr altern kann, wird er, da er genügend<br />

Zeit hat, fast jedes berufliche Ziel erreichen können, das<br />

er sich vorgenommen hat. Er braucht dazu vielleicht 50 Jahre,<br />

500 oder gar 1 000. Aber irgendwann wird er es schaffen. Er<br />

könnte zum Beispiel Präsident der Vereinigten Staaten werden,<br />

wenn er sich dieses Ziel gesetzt hätte. Irgendwann einmal.<br />

Und ich überlegte zunächst, ob ich den Helden der Geschichte,<br />

ich wollte ihn ›Peter Grant‹ nennen, nicht gerade diese Laufbahn<br />

nehmen lassen sollte. Doch dann beschloss ich, dass Peter<br />

Grant ein junger, mäßig begabter Tennisspieler sein sollte,<br />

der sich auf der Tour schwertut und bisher noch nie ein bedeutendes<br />

Turnier gewonnen hat. Mit Tennisspielern kannte<br />

ich mich besser <strong>aus</strong> als mit Präsidenten. Auch ein Tennisspieler<br />

kann Großes erreichen. Er kann z. B. alle vier Grand-Slam-<br />

Turniere in einem Jahr gewinnen.<br />

Das Problem tat sich auf: Wie soll in dem Roman dieser junge<br />

Mann die ewige Jugend erhalten? Einigermaßen glaubhaft<br />

für den Leser?<br />

Einer Droge, einer unerforschten Pflanze <strong>aus</strong> dem Amazonasbecken<br />

könnte man am ehesten eine solche Wirkung zutrauen.<br />

Aber sie sollte beim Menschen nicht nur das Altern<br />

verhindern, sondern auch alle seine Bewegungen im Zeitlupentempo<br />

ablaufen lassen, wenn er sich auf eine Sache stark<br />

konzentriert. Die Nebenwirkung soll sein, dass er im Laufe der<br />

Zeit impotent wird. Dies alles sollte die Droge bewirken. In einem<br />

Roman geht so etwas natürlich.<br />

Als Peter Grant von dieser Droge abhängig wird, heißt sein<br />

Schicksal, von nun an immer jung zu bleiben. Bevor er jedoch<br />

anhängig wurde, war er von Indianerinnen, die ihn nach ei-<br />

195


nem Flugzeugabsturz über dem Amazonasgebiet noch lebend<br />

<strong>aus</strong> einem Sumpf gezogen haben, gepflegt und gesund gepäppelt<br />

worden. Sie hatten ihre Männer umgebracht, die bei täglichen<br />

Drogenräuschen ihre Potenz verloren hatten. Damit war<br />

der Stamm dem Aussterben geweiht. Doch der mächtige Manitu<br />

oder wie immer ihr Gott hieß, ließ einen blonden jungen<br />

Mann vom Himmel fallen. Was sich dann abgespielt hatte,<br />

kann man leicht erraten. Er hatte dafür zu sorgen, dass der<br />

Stamm nicht <strong>aus</strong>starb.<br />

Peter genoss dieses Leben zunächst. Jeden Tag ein anderes<br />

junges Mädchen. Er hielt sich körperlich fit, indem er tagsüber<br />

der Jagd nachging und im nahe gelegenen See seine Runden<br />

schwamm.<br />

Doch dann kamen ihm Zweifel. Er war auf einmal mit diesem<br />

Leben nicht mehr zufrieden. Nur noch körperlichen Sex?<br />

Ohne Zärtlichkeit der Worte? Ohne Kommunikation? Ohne<br />

geistigen Anspruch? Auf Dauer nicht <strong>aus</strong>zuhalten. Er sehnte<br />

sich nach ›Liebe‹, so wie er seine Freundin Diana geliebt hatte,<br />

die mit abgestürzt war. Was war nur <strong>aus</strong> ihr geworden?<br />

Er begann, die Droge zu nehmen, der die alten unter den Indianerinnen<br />

die ›ewige Jugend‹ zuschrieben. Vielleicht half sie,<br />

bei R<strong>aus</strong>chzuständen, die sich gelegentlich einstellten, die Eintönigkeit<br />

zu besiegen. Sie half nicht. Er musste zurück in die<br />

Zivilisation. Er musste fliehen.<br />

Er erreichte schließlich auf abenteuerliche Weise Miami, wo<br />

er seine Tenniskarriere fortsetzen wollte. Hier waren die Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

für Tennisspieler ideal.<br />

Die Auswirkungen der Droge, von der er nicht mehr wegkam,<br />

waren zunächst überraschend. Seine geistigen und körperlichen<br />

Funktionen schalteten auf Höchstleistung, ohne dass<br />

er sich dabei sonderlich anstrengen musste. Er lernte schneller<br />

und müheloser als je zuvor, obwohl er jetzt alle Zeit der Welt<br />

196


esaß und Eile durch nichts gerechtfertigt gewesen wäre. Weil<br />

er aber genügend Zeit hatte, brachen alle Barrieren, Vorurteile,<br />

Ängste und Komplexe in sich zusammen und machten Platz<br />

für ein grenzenloses Selbstvertrauen. Nie erwartete Leistungen<br />

und Erfolge stellten sich ein. Damit nahmen aber auch die<br />

Aufgaben ab, und die Langeweile wurde erst schüchterner,<br />

dann ständiger Begleiter in seinem Leben. Schon der Gedanke,<br />

immer jung zu bleiben, ließ ihn das Wachsein immer mehr<br />

fürchten. So fehlten ihm Ideen, seinen Geist zu füttern, und<br />

Aufgaben, seinen Körper zu beschäftigen. Er erkannte, dass<br />

das so oft gepriesene ewige Leben die Hölle ist und im Wahnsinn<br />

enden musste. Irgendwann wird er alles, gedacht und alles<br />

geschaffen haben, und dann’?<br />

Ich musste anfangen zu schreiben. Sofort. Den Abstieg schaffte<br />

ich leichten Fußes, zumeist rennend.<br />

Das leichte Ziehen des Röhrchentuschefüllers über das Papier<br />

auf dem <strong>aus</strong> Beton gegossenen Schreibtisch in meinem<br />

Bungalow vermischte sich mit dem gleichmäßigen R<strong>aus</strong>chen<br />

der vom Nordostpassat getriebenen Wellen, das über die Klippen<br />

ins Zimmer drang. Ich schrieb! Zuerst mühsam, zaghaft,<br />

dann aber sprudelten die aufgestauten Gedanken nur so<br />

hervor, und der Füller glitt immer schneller über das Papier.<br />

Nach einigen Stunden legte ich die Feder weg und war einfach<br />

glücklich. Ein glückliches Gefühl von grenzenloser Freiheit.<br />

Ich konnte auf dem Papier Menschen erfinden, ihnen spezifische<br />

Charaktereigenschaften geben und Begabungen. Ich<br />

konnte die Handlung in eine bestimmte Richtung lenken, um<br />

sie später zu korrigieren oder in eine andere Richtung zu zwingen.<br />

Gibt es überhaupt eine andere Form der Kunst, die dem<br />

Schaffenden so viel Spielraum, so viel Freiheit lässt wie das<br />

Schreiben einer erfundenen Geschichte?<br />

197


Der Roman ‚Und dann?‘<br />

Ich schrieb also den Abenteuerroman „Und dann?“<br />

Wie konnte ich damals wissen, dass dieser Roman mir so viel<br />

Geld einbringen sollte wie keine meiner Tätigkeiten zuvor? Wie<br />

konnte ich wissen, dass ich durch ihn einige Millionen Dollar<br />

verdienen würde, obwohl das spätere Buch praktisch unverkäuflich<br />

war? Als Leser werden Sie sich fragen: Wie ist so etwas<br />

überhaupt möglich? Nur wenige Bücher sind verkauft<br />

worden, und trotzdem ist das Buch ein großer finanzieller Erfolg<br />

geworden?<br />

Unter der Wirkung der Droge <strong>aus</strong> dem Amazonasbecken<br />

erschienen ihm alle Bewegungen im Zeitlupentempo, so dass<br />

er z. B. einen hochgeworfenen Ball mit dem Schläger äußerst<br />

genau treffen und somit auch platzieren konnte. Trotzdem war<br />

er mit der Präzision seines Schlags nicht zufrieden. Sollte<br />

vielleicht die immer wieder auftretende Abweichung des vom<br />

Boden aufspringenden Balls vom anvisierten Punkt trotz der<br />

198


Resonanzschläger<br />

perfekten Schlagbewegung gar nicht an ihm, sondern am<br />

Schläger liegen? Diese Vermutung hatte sein Trainer und wissenschaftlicher<br />

Berater Dr. Helmholtz schon längst geäußert.<br />

Der Schläger musste es sein! Welche Stellung hatte er eigentlich,<br />

wenn der Ball den Schläger verließ? Der Schläger musste<br />

genauer werden! Aber wie? Er verbog sich doch beim Aufprall<br />

des Balls. Könnte man wohl einen Schläger konstruieren, der<br />

mit dem Ball sozusagen im Gleichschritt zurückginge und<br />

gen<strong>aus</strong>o wieder vorschnellte? Würde dieses Resonanzprinzip<br />

auch für die Drehbewegung um die Schlägerlängsachse an-<br />

199


US Patent<br />

wendbar sein? Könnte man schlussendlich beides miteinander<br />

verknüpfen? – In einem Roman ist alles möglich! Das ›Resonanz-Racket‹<br />

war zumindest auf dem Papier schon geboren,<br />

und der Romanheld erreichte mit diesem neuen Schlagwerkzeug<br />

problemlos die Ziele, die er sich als Spieler gesteckt hatte.<br />

Vielleicht erraten Sie jetzt, warum diese Buch so viel eingebracht<br />

hat. Diese Idee habe ich, nachdem ich von <strong>Fuerteventura</strong><br />

zurückgekehrt war, zum Patent angemeldet. Viele Versuche<br />

waren dann nötig, bis schließlich ein ›Resonanz-Racket‹<br />

verwirklicht worden war. Als es dann auf der Sportartikelmesse<br />

in München 1985 präsentiert wurde, war die Sensation perfekt.<br />

Das Racket spielte genauer und besser als herkömmliche<br />

Schläger.<br />

Net Post, Verkaufsleiter von Wilson, der größten Sportfirma<br />

der Welt, war begeistert: „You have invented a frequency<br />

matched racket! Sie haben einen frequenzabgestimmten Schläger<br />

erfunden! Wir wollen eine Lizenz von Ihnen erwerben.“<br />

200


Kurz danach kamen die Wilson-Schläger nach dem neuen<br />

Prinzip auf den Markt. 18 Jahre lang bauten sie die Schläger.<br />

Einige Millionen. Viele Jahre hindurch waren sie die bestverkauften<br />

Schläger in Amerika. Die Idee in dem Buch war verwirklicht<br />

worden. Wenige Autoren sind durch das Schreiben<br />

eines Buchs finanziell so belohnt worden wie ich mit dem Roman<br />

›Und dann?‹!<br />

Im Roman aber perfektionierte Peter Grant also seinen Aufschlag<br />

mit dem neuen Schläger, der nach den Vorstellungen<br />

des Doktors gebaut worden war, und gewann in Folge alle vier<br />

Gran-Slam-Turniere: in Melbourne, Paris, Wimbledon und<br />

New York. Er hatte keine ernstzunehmenden Gegner mehr. Mit<br />

seinen Aufschlägen allein gewann er alle Spiele. Auf längere<br />

Ballwechsel musste er sich schon gar nicht einlassen. Zurückgekehrt<br />

nach Miami, hatte er keinen Biss mehr, weiterzutrainieren.<br />

Seine Ziele waren erreicht, sein Ehrgeiz verbraucht. Er,<br />

der nie in seinem Leben innerlich daran geglaubt hatte, auch<br />

nur eines dieser Turniere zu gewinnen, hatte alle Großen im<br />

Tennis besiegt. Er bemerkte, dass die dritte Wirkung der Droge<br />

ebenfalls eingetreten war. Er war impotent geworden. Das<br />

andere Geschlecht reizte ihn nicht mehr.<br />

Über Florida zog ein Hurrikan herauf. Ein zweiter Hurrikan<br />

folgte im dichten Anstand. Eine Katastrophe bahnte sich an.<br />

Die beiden Wirbelstürme implodierten ineinander zu einem<br />

Super-Hurrikan. Der Unterdruck im Auge des Hurrikans war<br />

so abgefallen, dass eine 20 m hohe Welle entstand, die ähnlich<br />

einer Tsunami-Welle über das nur wenige Meter über dem<br />

Meeresspiegel liegende Florida hinwegrollte. Peter Grant verlor<br />

bei dieser Naturkatastrophe alle Freunde, die er hatte. Auch<br />

sein Trainer Dr. Helmholtz war unter den Opfern. Wie durch<br />

ein Wunder blieb er aber selbst am Leben.<br />

Nichts blieb ihm auf dieser Welt. Er alterte nicht und lebte<br />

201


deshalb für immer. Er hatte das erreicht, was ihm in seinem<br />

Leben einmal als unerreichbares Ziel vorgeschwebt war. Es<br />

blieb ihm kein Anreiz mehr irgendetwas zu schaffen oder zu<br />

erreichen. Frauen interessierten ihn auch nicht mehr. Alle seine<br />

Freunde hatte er verloren. Heimat hatte er keine.<br />

Also sah er auch keinen Grund, weiterzuleben. Doch wenn<br />

er von dieser Welt gehen sollte, sollte dies mit einem ›Big Bang‹<br />

geschehen. Einmal noch wollte er die Headlines der Zeitungen<br />

besetzen. Ein Sprung von der ‚Golden Gate Bridge‘? Als<br />

der T<strong>aus</strong>endste?<br />

Er sprang nicht. Eine Rockerbande schlug ihn auf der Brücke<br />

mit Ketten nieder. Er landete in der Notaufnahme eines<br />

Krankenh<strong>aus</strong>es. Der Arzt fand bei ihm die Droge und ließ sie<br />

untersuchen. Peter hatte den Stoff von Rio mitgebracht, nachdem<br />

der Vorrat von den Indianerinnen zu Ende gegangen war.<br />

„Sind sie drogenabhängig?“, fragte ihn der Arzt. „Nehmen<br />

sie die Droge, die wir bei ihnen gefunden haben?“<br />

Peter nickte.<br />

„Wissen Sie nicht, dass dies nur ganz normaler Traubenzucker<br />

ist, was sie bisher eingenommen haben?“<br />

„Traubenzucker? Das ist unmöglich!“, antwortete Peter ungläubig.<br />

Der Arzt aber wiederholte: „Unsere Untersuchungen<br />

lassen keinen Zweifel zu. Sie haben ganz gewöhnlichen Traubenzucker<br />

eingenommen.“<br />

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Bei dem Indianerstamm<br />

hatte er die wirkende Droge erhalten. Danach aber hatte<br />

ihn der Verkäufer in Rio hereingelegt. Er hatte ein kleines Vermögen<br />

für den Stoff bezahlt, den er jetzt dabei hatte.<br />

„Traubenzucker, Traubenzucker!“, schrie er jetzt jubilierend,<br />

nachdem er erfasst hatte, welche Konsequenzen das nach sich<br />

zog.<br />

„Dann lebe ich ja ganz normal, altere wie alle anderen Men-<br />

202


schen auch. Das Zeitlupentempo habe ich mir nur eingebildet!<br />

Die Impotenz auch! Ich bin gar nicht impotent! Alles habe ich<br />

mir nur eingebildet! Ich bin ein ganz normaler Mensch wie<br />

jeder andere auch! Dann möchte ich natürlich nochmals von<br />

ganz vorn anfangen.“ Er fragte sich: „Wie viele Kinder sind<br />

mir eigentlich geboren worden? Die Kinder brauchen mich<br />

vielleicht. Ich könnte ihnen einiges beibringen. Zum Beispiel<br />

lesen und schreiben. Ich habe eine neue Aufgabe!“<br />

Im Laufe der Tage und Wochen hatten meine Herzbeschwerden<br />

aufgehört, und am Ende des Urlaubs hatte ich vergessen,<br />

dass ich sie je hatte. Hatte ich meine ganz persönliche Therapie<br />

gefunden?<br />

Nachdem ich wieder zu H<strong>aus</strong>e war, hatte ich einen Verleger<br />

für das Buch gefunden. Das Buch wurde im Oktober 1985 auf<br />

der Buchmesse in Frankfurt vorgestellt. Ich wollte dabei sein.<br />

Niemand war auf dem kleinen Stand anzutreffen außer dem<br />

Verlagsbesitzer Becker. Kein Kunde, kein Interessent nahm das<br />

Buch in die Hand und blätterte darin. Enttäuschend.<br />

„Das wird sich ändern“, sagte ich zu ihm. Ich schickte ihm<br />

am nächsten Tag zehn der Resonanzschläger, die als Neuheit<br />

zur selben Zeit auf der Sportmesse in München vorgestellt<br />

worden waren. Her Becker rief mich begeistert an: „Ein voller<br />

Erfolg. Es läuft. Bitte schicken Sie mir nochmals fünfzig.“ Er<br />

hatte die Schläger verkauft und kein Buch! Dabei hatte ich vor,<br />

den ersten zehn Buchkäufern ein Racket dazuzuschenken,<br />

sozusagen als Demonstration für die im Buch entwickelte<br />

Schlägertheorie.<br />

Die Herzrhythmusstörungen waren nicht wie weggeblasen.<br />

Diese einmalige Therapie wäre auch zu einfach gewesen.<br />

Manchmal legte ich auch den rechten Daumen auf das Innere<br />

meines linken Handgelenks, um den Puls zu fühlen. Eine Unregelmäßigkeit<br />

– Aussetzer – konnten mich nicht mehr son-<br />

203


derlich aufregen. Ich beruhigte mich: Bei Sportlern kommen<br />

Aussetzer häufig vor. Doch wenn ich einen Schmerz in der<br />

Herzgegend verspürte oder ein gemeines Ziehen im linken<br />

Arm, rief ich die Dame im Reisebüro an. So kam es, dass ich in<br />

manchen Jahren drei- oder viermal im Aldiana Club auftauchte.<br />

Schon nach dem Landen auf dem Flugplatz in <strong>Fuerteventura</strong><br />

waren alle Beschwerden verschwunden. Keine Aussetzer<br />

mehr, keine Schmerzen. War das alles nur Einbildung? So wie<br />

bei dem Romanhelden Peter Grant und seiner Droge? Der<br />

Anblick der kargen Insel, wo ich auf dem Berg beobachten<br />

konnte, wie sich das Leben in den Pflanzen und wenigen Tieren<br />

behaupten kann, wie groß der Wille zum Leben ist, genügte,<br />

um frei und gesund die wunderbare Atlantikluft einzuatmen<br />

und alles abzuschütteln, was an mir hing. Die Dame musste<br />

wie immer Bungalow 757 buchen, wo ich an dem Betontisch<br />

vor dem offenen Fenster mit Blick auf das Meer den Roman<br />

geschrieben habe. Ich habe mich in diesen Bungalow verliebt.<br />

Am liebsten würde ich ihn mit nach H<strong>aus</strong>e nehmen, wenn<br />

das möglich wäre.<br />

Anmerkung:<br />

Und dann? Geschichte eines Tennisspielers, Roman, The<br />

World of Books Ltd. ISBN 3-88325-334-0, S. Kuebler.<br />

204


Blue Dolphin<br />

die Beziehungsgeschichte ist erfunden, alles andere habe ich so<br />

erlebt.<br />

Herbert ist ein kleiner, untersetzter Mann im besten Mannesalter<br />

von 42 Jahren. Er war wie vom Donner gerührt, als er<br />

erfuhr, dass seine jüngere Frau, gerade 30 Jahre alt, mit einem<br />

anderen Mann ins Bett gegangen war. Sie hatte ihm, während<br />

beide im Aldiana Club auf <strong>Fuerteventura</strong> im ›Las Gaviotas‹-<br />

Restaurant über den Klippen mit Blick über das Meer ihr Langschläferfrühstück<br />

einnahmen und sie in das mit Butter bestrichene<br />

Croissant biss, mitgeteilt, dass sie endlich den Mann<br />

gefunden habe, den sie wirklich lieben und dem sie sich mit<br />

jeder Faser ihres Lebens hingeben könne. Er wäre so ganz anders<br />

als er. Gefühlvoller, männlicher. Er würde sie verstehen, auf<br />

ihre Wünsche eingehen. Nicht so wie er. Er sei doch nichts<br />

anderes als ein kalter, gefühlloser Geschäftsmann. Heute in<br />

den Morgenstunden waren sie erst nach einer durchzechten<br />

Nacht in großer Runde <strong>aus</strong> der Clubdiskothek Blue Dolphin in<br />

ihr Domizil zurückgekehrt, ohne dass Unstimmigkeiten zwischen<br />

ihnen aufgetreten waren. Oder doch? Hatte sie nicht<br />

immer wieder mit Manfred getanzt, der ihr Golflehrer in<br />

Deutschland war und der mit seinem Freund Ringo ebenfalls<br />

im Club Urlaub machte, jeder allerdings in seinem eigenen<br />

Bungalow? Sie würde ihre Sachen packen und zu Manfred ziehen.<br />

Beim Hin<strong>aus</strong>gehen hatte sie noch gerufen: „Ich werde die<br />

Scheidung einreichen. Du wirst von Dr. Kolbing hören.“ Das<br />

war der gewiefteste Scheidungsanwalt in Wiesbaden, wo sie<br />

wohnten.<br />

War das nur ein Zufall oder war das alles so geplant?<br />

Wie konnte es anders sein: Der Mann, der sie angeblich so<br />

205


gut verstand, war natürlich ihr Golflehrer. Früher waren es<br />

gewöhnlich Skilehrer, dann Tennistrainer und heute eben Golflehrer,<br />

die die Frauen so gut verstehen und auf die sie abfahren.<br />

Aber er war immer der Ansicht gewesen, dass dieser Golflehrer<br />

schwul war und mit einem anderen Mann zusammenlebte.<br />

Mit der Hand strich er seine fast glatten schwarzen Haare<br />

<strong>aus</strong> seinem Gesicht. Er wusste, dass er nicht gerade ein Adonis<br />

war, doch als Vorsitzender einer der größten Versicherungsgesellschaften,<br />

er war einer der Jüngsten in der Bundesrepublik,<br />

die es in diesem Alter so weit geschafft hatten. Er hatte<br />

auch Chancen bei Frauen. Mindestens bildete er sich das bisher<br />

ein. Die Sekretärinnen im Büro himmelten ihn förmlich an und<br />

bei Betriebsfesten hatte er schon hin und wieder an einen der<br />

provozierend hervorstehenden Busen gefasst oder eine Hand<br />

unter einen Rock geschoben, wenn eine von ihnen auf seinem<br />

Schoß saß. Aber das war höchst gefährlich. Bei einer diesbezüglichen<br />

Anzeige hätte er seinen Posten schneller losgehabt<br />

als ihm lieb sein konnte. Sexuelle Belästigung im Büro! Das<br />

übersteht heutzutage auch kein Aufsichtsratvorsitzender<br />

mehr. Also hatte er solche Spielchen in letzter Zeit unterlassen,<br />

selbst wenn sich eine Gelegenheit noch so verführerisch<br />

darbot. Unwillkürlich wanderte sein Blick auf die wurstigen<br />

Finger seiner rechten Hand, die bei diesen Aktionen immer im<br />

Spiel war.<br />

Außerdem hatte er Dorothea geheiratet. Vor drei Jahren. An<br />

andere Frauen dachte er nicht mehr. Sie bot ihm alles, was er<br />

brauchte. Er liebte sie!<br />

Die Scheidung würde wohl kaum zu vermeiden sein. Dass<br />

sie aber schon Dr. Kolbing verpflichtet hatte, verletzte ihn auf<br />

eigenartige Weise. Er kam sich so leer vor. Unfähig, klar zu<br />

denken. Unfähig, alle Konsequenzen realistisch abzuschätzen.<br />

206


Ihre Ansprüche würden ihn teuer zu stehen kommen. Er wollte<br />

sich das gar nicht <strong>aus</strong>malen. Sie war eben ein kleines Luxusweibchen<br />

und raffiniert dazu. Kurz gesagt, ein Luder. Zum<br />

ersten Mal sagte er es laut, obwohl er allein im Zimmer war<br />

und ihn niemand hören konnte.<br />

„Sie ist ein Luder.“<br />

Irgendwie kam es ihm im Nachhinein so vor, als ob sie alles<br />

sorgsam im Vor<strong>aus</strong> geplant und eingefädelt hätte.<br />

Während er noch an romantische Liebe glaubte, mit Liebesschwüren,<br />

Urlaub auf einsamen idyllischen Inseln, war der<br />

ganze Ablauf wie ein Drehbuch in ihrem nicht allzu intelligenten<br />

Köpfchen schon geschrieben gewesen. An diese unendliche<br />

Liebe hatte er geglaubt. Er hatte sie auch mit Dorothea<br />

erlebt. Der wohlige Schauer einer Zärtlichkeit, das Kribbeln<br />

und Spannen der Haut, das Vortasten der Finger, die aufkeimende<br />

Begierde, der Geruch, der alles Denken betäubte, die<br />

Gier, die Atemlosigkeit, das Keuchen, das Versinken im Anderen,<br />

das Fließen, die Hin- und Hergerissenheit zwischen Lachen<br />

und Weinen, zwischen Vertrauen und Eifersucht. Das<br />

Gefühl, im zeitlosen Unendlichen eingetaucht zu sein. Das alles<br />

hatte er mit ihr erlebt. Und siedend heiß lief es seinen Rücken<br />

hinunter: Hatte nur er das alles erlebt, gefühlt, während<br />

sie nur sch<strong>aus</strong>pielerte? Kann jemand überhaupt ein so guter<br />

Sch<strong>aus</strong>pieler sein?<br />

Und schließlich auf einmal dieses fassungslose Anstarren und<br />

das Nicht-Begreifen des Gegenübers. Keine Farben eines<br />

Schmetterlings in ihrem Gesicht waren nun zu erkennen, auf<br />

einmal nur widerliches Wachs und Schminke. Und trotzdem:<br />

„Ich will sie nicht verlieren!“<br />

Hatte sie in den zurückliegenden Jahren wenigstens ein bisschen<br />

von dem Glück gespürt wie er? Oder war sie wirklich<br />

eine so perfekte Sch<strong>aus</strong>pielerin gewesen, dass er in all dieser<br />

207


Zeit nichts merken konnte? Hatte sie wenigstens auch die tiefe<br />

Traurigkeit gespürt wie er, wenn sie beide nicht zusammen<br />

waren?<br />

Und jetzt hatte er das Ende seiner Liebe erlebt. Der bedingungslose<br />

Rückzug <strong>aus</strong> dem Liebeswahn. Das Gefühl, verraten<br />

worden zu sein. Von dem einzigen Menschen verraten<br />

worden zu sein, mit dem man das einzige wirkliche Wunder<br />

dieser Welt erlebt hatte. Man war zusammen ganz tief in der<br />

Unendlichkeit vereint.<br />

„Ich kann dich nicht so lieben wie du mich“, waren ihre<br />

Worte gewesen.<br />

„Ich habe dich nie wirklich geliebt. Du mit deiner hässlichen<br />

Hasenscharte im Gesicht, mit deinen überhängenden Falten<br />

am Bauch und deinen gefühllosen dicken Fingern.“<br />

Das war gemein. Doch alle Luder sind gemein. Er hatte<br />

immer schon unter seiner Figur gelitten, doch Falten am Bauch<br />

hatte er wirklich nicht. Die scharfe Klinge ihrer Worte schnitt<br />

ihm ins Herz. Dieser unbarmherzige, alles <strong>aus</strong>löschende<br />

Schmerz zerstörte alles, was einmal war.<br />

Und er dachte: So wird der Augenblick sein, wenn die Welt<br />

untergeht. Wenn meine Liebe so stirbt, stirbt auch mein mühsam<br />

zurechtgebastelter Sinn meines Lebens. Es ist wie ein Tod.<br />

Wenn ich wieder an irgendetwas glauben soll, muss viel geschehen.<br />

Wie soll ich mein Selbstbewusstsein jemals wiederfinden?<br />

Er fühlte, wie sich sein Schmerz langsam in Wut verwandelte.<br />

Der gemeine Schmerz verwandelte sich in überschäumende<br />

Wut.<br />

Und die Wut verlangte Rache. Ja, er würde sich an ihr und<br />

auch an ihrem Geliebten rächen. Der Zeitpunkt würde in nicht<br />

allzu ferner Zukunft kommen.<br />

208


Der Golf-Pro Manfred stand auf der Driving Range und<br />

wartete auf seinen nächsten Schüler, in diesem Fall eine Dame.<br />

Ein sportlicher, groß gewachsener Kerl von etwa 35 Jahren.<br />

Dunkle dichte Haare, ein jugendliches Gesicht mit einem Eintagebart.<br />

Er trug kurze Khakihosen mit einem Gürtel <strong>aus</strong> Kudu-<br />

Leder, die ihm fast bis zum Knie reichten, und ein hellgelbes<br />

Greg-Norman-Golftrikot mit Kragen, so wie es die Golfetikette<br />

vorschrieb. Eine elegante Erscheinung, die Frauenherzen<br />

höher schlagen ließ. Wie viele Stunden er jeden Tag auf dieser<br />

langweiligen Driving Range verbringen musste! Manchmal<br />

zwölf Stunden am Stück. Gibt es etwas Eintönigeres, als immer<br />

wieder den gleichen Schwung zu lehren? Aufschwung im Zeitlupentempo,<br />

Zehn-Grad-Weise, Abwinkeln der Handgelenke<br />

und Auflösen im Treffmoment. Ganz sicher keine natürliche<br />

Bewegung. So wenig wie Cha-Cha-Cha tanzen. Tagelang, monatelange<br />

ein ganzes Leben lang? Manche meinen zwar, dass<br />

ein richtig <strong>aus</strong>geführter Golfschwung nach dem Stabhochsprung<br />

die komplizierteste Bewegung sei, die einem Menschen<br />

abverlangt werden kann. Andere halten dagegen, dass vor<br />

wenigen Jahren ein junger Kanadier, der in seinem Leben noch<br />

nie eine Stunde gehabt hatte, einen Golfball weiter geschlagen<br />

hatte als irgendjemand vor ihm.<br />

Aber er verdiente gutes Geld, denn eine Golfstunde ist eigentlich<br />

nur eine halbe. Sie wird aber ›Stunde‹ genannt und<br />

die Vergütung ist so hoch wie die eines teueren Handwerkers<br />

für zwei ganze Stunden. Aber wer würde schon wagen, einen<br />

Golflehrer mir einem Handwerker zu vergleichen? Das wäre<br />

so, als ob man einen Arzt mit einem Heilpraktiker vergleichen<br />

würde. Ein Golf-Pro ist ganz oben angesiedelt, so wie früher<br />

ein Tennislehrer. Der Schwarm von Mädchen und Frauen in<br />

ihren Dreißigern. Dorothea war so alt. Und sie nahm Stunden<br />

bei ihm. Er fasste sie an den Hüften, um ihr die Drehung um<br />

209


das Rückgrat beim Schwung zu demonstrieren. Dabei lief ihr<br />

ein Schauer den Rücken hinunter. Es war so ganz anders, verglichen<br />

mit einer Berührung ihres Mannes. Es dauerte nicht<br />

lange, bis sie im Bett in seiner kleinen Wohnung landete. Was<br />

sie aber nicht wusste, war, dass viele andere junge Damen<br />

schon vorher dasselbe Bett mit Manfred geteilt hatten, alles<br />

Affären von nur wenigen Monaten. Aber, was sie wirklich<br />

nicht vermuten konnte, war, dass er auch Beziehungen zu jungen<br />

Männern verzweifelt suchte, die ihn weit mehr zu bieten<br />

hatten als jede Frau. Nur waren die Chancen hier wesentlich<br />

geringer, einen Partner zu finden, der ihm gefiel und den er<br />

lieben konnte. Dorothea hatte in ihrer Naivität nur noch ihre<br />

neue Liebe im Kopf und malte sich <strong>aus</strong>, wie sie von dem Geld,<br />

das sie bei einer Scheidung von ihrem Mann her<strong>aus</strong>schlagen<br />

würde, eine Penthousewohnung mit Blick auf den See kaufen,<br />

mit Manfred einrichten und mit ihm zusammen einziehen<br />

würde. Vielleicht konnte sie mit ihm zusammen sogar noch<br />

eine Familie gründen. Beide waren sie ja noch jung genug dazu.<br />

Sie würde ihr zukünftiges Leben in reinem Glück verbringen.<br />

Von seinem Intimfreund Ringo hatte sie nicht die blasseste<br />

Ahnung. Es gelang ihr, Manfred zu überreden, in dem Club<br />

zur gleichen Zeit wie sie Urlaub zu machen. Überrascht war<br />

sie allerdings, als er in Begleitung seines Freundes erschien. Auf<br />

die Idee, dass die beiden schwul sein könnten, wäre sie aber<br />

nie gekommen.<br />

Herbert kannte den Clubchef Hoffmann von früheren Urlauben.<br />

Er war mit ihm schon früher auf der Insel unterwegs<br />

gewesen. Als die Insel noch wenige Urlauber hatte, war fast<br />

alles erlaubt. Mit dem Jeep konnte man die Westküste am<br />

Strand entlangr<strong>aus</strong>chen, Wettfahrten veranstalten, Sanddünen<br />

hochfahren und wieder hinunter, bis man stecken blieb<br />

und von einem anderen her<strong>aus</strong>gezogen werden musste. Die<br />

210


eiten hinterlassenen Reifenspuren störten niemanden, und<br />

dass die Dünen langsam eingeebnet wurden, auch niemanden.<br />

Das war die Zeit, als er mit Hoffmann mit einem solchen Jeep<br />

sogar querfeldein, buchstäblich über Stock und Stein, den Pico<br />

de la Zarza, den 800 m hohen Berg, hochgefahren war. Das<br />

gemeinsame Abenteuer verband. Hoffmann, der in der großen,<br />

im spanischen Stil gehaltenen Empfangshalle mit einer<br />

langen, auf einem Podium angebrachten Bar und einer darüber<br />

liegenden Empore sich bei vorgerückter Stunde öfter mal ans<br />

Klavier setzte und zur Belustigung der Gäste einige einstudierte<br />

Evergreens sang – zur Belustigung deshalb, weil er eigentlich<br />

gar nicht singen konnte, was auch der Grund für den tosenden<br />

Beifall war und der Einzige, der dies nicht merkte, war<br />

er selbst –, hatte Herbert erzählt, dass sich im Club ein Hypnotiseur<br />

aufhielte. Und er erfuhr noch Weiteres.<br />

Der Club hatte einen Hypnotiseur engagiert, der sich selbst<br />

zum Schamanen Krypta-Lo ernannt hatte. Die Gäste im Club<br />

konnten spezielle Kurse zur Raucherentwöhnung belegen.<br />

Aber auch bei anderen Gebrechen wie Verspannungen, Unwohlsein<br />

und allgemeiner Nervosität könnte die Hypnose des<br />

Schamanen helfen.<br />

Die Raucherentwöhnung durch Hypnose war der eigentliche<br />

Grund gewesen, weshalb Dorothea den Urlaub im Aldiana<br />

Club gebucht hatte. Ihre Freundin hatte ihr davon erzählt,<br />

dass sie nach einigen Sitzungen mit einem Schamanen keine<br />

Zigarette mehr angerührt habe. Dieser Schamane habe auch<br />

den Weltrekord in der klassischen hypnotischen Disziplin ›Kataleptische<br />

Brücke‹ in der Clubdisco Blue Dolphin aufgestellt.<br />

Steife, übereinander geschichtete Menschen. Zwölf übereinander<br />

auf vier Stühlen! Allerdings hatte er für diese Vorführung<br />

nur junge Leute zugelassen.<br />

Er hatte sie so trainiert, dass er nur mit den Fingern der rech-<br />

211


ten Hand zweimal schnalzen musste, und sie blieben auf der<br />

Stelle steif stehen, unfähig sich zu rühren. In der Starre wurden<br />

sie dann von bereitwilligen Helfern auf die Stühle gelegt.<br />

Der Kopf mit Schulter des Hypnotisierten lag auf der einen<br />

Kante des Stuhls und die Füße auf dem gegenüberliegenden.<br />

Die ›Kataleptische Brücke‹. Auf die beiden anderen Stühle<br />

wurde der Zweite in gleicher Anordnung gelegt. Quer dazu<br />

wurden die zwei Nächsten aufgelegt, bis sich ein Turm von<br />

zwölf übereinander geschichteten, steifen Menschen bildete.<br />

Nach der Auflösung der Brücke hatte keiner über Ermüdungserscheinungen<br />

der Muskulatur geklagt, was unter Fachleuten<br />

als Beweis von tiefer Hypnose gilt. Die deutschsprachige Zeitung<br />

von <strong>Fuerteventura</strong> hatte Aufnahmen gemacht, um den<br />

Weltrekord entsprechend zu würdigen.<br />

Herbert hatte schon einmal vom ›posthypnotischen Verhalten‹<br />

gehört, Befehle, die während des Hypnosetiefschlafs suggeriert<br />

wurden und die zu einem späteren Zeitpunkt vom<br />

Hypnotisierten <strong>aus</strong>geführt werden. Er hatte die zündende Idee.<br />

Er konnte Krypta-Lo für seine Ziele einsetzen. Geld macht<br />

fast alles möglich!<br />

Dorothea war bereits in der Rauchergruppe. Wenn sie die<br />

unbeweglichen, nie blinzelnden Augen des bärtigen Krypta-<br />

Lo vor sich hatte, die am ehesten mit den sich nicht bewegenden<br />

Augen einer Schlange verglichen werden konnten, die ihr<br />

Froschopfer durch ihren Blick in unbewegliche Starre versetzt,<br />

fiel sie schon in einen tiefen Schlaf. Sie hörte seine tiefe, monotone<br />

Stimme nur noch von weitem: „Du fällst immer tiefer,<br />

immer tiefer in den wohltuenden Schlaf. Nichts wird dich stören.<br />

Du fühlst dich wohl. Deine Glieder sind schwer, so schwer<br />

wie Blei. Du bist gefangen, aber du fühlst dich wohl. Du weißt,<br />

dass Zigaretten Gift für dich sind. Reines Gift. Der Rauch der<br />

Zigaretten zerstört deine Lunge, macht dich krank. Du wirst<br />

212


ab sofort nur noch gesund leben. Die Zigaretten werden in deinem<br />

Leben keine Rolle mehr spielen. Du wirst sie <strong>aus</strong> deinem<br />

Leben verbannen. Wenn du nur in der Nähe einer Zigarette<br />

sein solltest, wird dir speiübel. Richtig speiübel. Du willst nur<br />

noch diesem Geruch entkommen. Du wirst jetzt noch tiefer in<br />

den Schlaf fallen.“ So, oder so ähnlich hatte sie die Stimme<br />

gehört. An das, was danach kam, konnte sie sich nicht mehr<br />

erinnern. Sie war in einen hypnotischen Tiefschlaf gefallen, an<br />

den man sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern kann.<br />

Vielleicht konnte er den Hypnotiseur gegen gute Bezahlung<br />

dazu bringen, Dorothea von Manfred auf Ringo umzupolen.<br />

Und dann wieder zurück auf Manfred – Ringo und Manfred -<br />

Dorothea. Die entstehenden Verwicklungen müssten zur Katastrophe<br />

führen. Irgendjemand würde umgebracht werden,<br />

ganz nach dem Drama ›Geschlossene Gesellschaft‹<br />

des französischen Schriftstellers und Philosophen Jean-Paul<br />

Sartre. Jeder ist verdammt dazu, die anderen beständig zu<br />

quälen und selbst von den anderen gequält zu werden. Der<br />

schwule Manfred verzehrt sich nach Ringo, der aber von ihm<br />

nichts wissen will und sich an Dorothea heranmacht. So dürstet<br />

jeder nach der Hilfe eines der beiden anderen, aber sich diesem<br />

nähernd, verletzt er zugleich zutiefst den anderen. Sie<br />

können weder voneinander lassen noch voreinander fliehen.<br />

Sie könnten sich gegenseitig umbringen. Aber wie? Sie sind doch<br />

bereits tot. Und so gilt auf ewig: ›Die Hölle, das sind die anderen‹.<br />

Herbert hatte in seiner beruflichen Laufbahn gelernt: Komplizierte<br />

Vorgänge bringen dich beruflich voran, lösen aber<br />

selten Probleme. Funktionierte das, was er vorhatte? Wie konnte<br />

er überprüfen, ob solche Situationen, die er sich <strong>aus</strong>gemalt<br />

hatte, überhaupt eintraten? Außerdem wäre Ringo involviert,<br />

den er gar nicht kannte und der ihm nichts zuleid getan hatte.<br />

213


Der Schamane sollte Dorothea im Tiefschlaf suggerieren, eine<br />

Jeepfahrt mit ihrem Geliebten zur Villa Winter an die Westküste<br />

zu unternehmen. Nach etwa einstündiger Fahrt über<br />

Schotterpisten kämen sie an den Pass ›Roque de Moro‹, der nach<br />

dem Dörfchen Cofete führt. Der Westwind würde ihnen ins<br />

Gesicht schlagen. In engen Kurven auf wegspritzenden Steinen<br />

der Schotterpiste würde es an einer Steilwand hinunter<br />

nach Cofete gehen. Nach der dritten Schleife kommt eine<br />

besonders enge Stelle. Dorothea sollte fahren. An der Stelle,<br />

wo sich die ersten Euphorbien auf der rechten Seite zeigten,<br />

sollte Dorothea das Bremspedal mit dem Gaspedal verwechseln.<br />

Das musste Krypta-Lo Dorothea suggerieren. Der Jeep<br />

würde beschleunigen und ungebremst in die Schlucht hinunterrasen.<br />

In dem schwarzen Barranco würde der Jeep zerschellen,<br />

und explodieren. Die beiden hätten ihre gerechte Strafe<br />

gefunden.<br />

Krypta-Lo hatte zunächst Bedenken. Doch als die Summe,<br />

die Herbert bot, immer höher wurde, willigte er schließlich ein.<br />

„Sie werden an die Westküste fahren. Nach Cofete. Nach<br />

dem Pass, an dem der Wind so heftig bläst, werden sie nach<br />

einigen scharfen Kurven auf der linken Seite Euphorbien sehen.<br />

Sie drücken das Gas mit ihrem rechten Fuß bis zum Anschlag,<br />

um den höllischen Geistern zu entkommen, die sie seit<br />

dem Pass verfolgt haben. So werden sie ihnen entfliehen können.<br />

Bis zum Anschlag. Bis zum Anschlag.“<br />

Der nächste Tag kam. Herbert lag auf der Lauer und beobachtete<br />

versteckt, wie Dorothea und Manfred in den verhängnisvollen<br />

Jeep einstiegen. Dorothea saß am Steuer. Es war einer<br />

der Suzuki-Jeeps, dessen Spur durch das andauernde Fahren<br />

über holprige Schotterstraßen und Sanddünen so verstellt<br />

war, dass es eine Kunst war, sogar auf einer asphaltieren Stra-<br />

214


ße gerade<strong>aus</strong> zu fahren. Die beiden bogen in die Straße nach<br />

Morro ein und verschwanden <strong>aus</strong> seinem Gesichtsfeld.<br />

Der Tag verging langsam. Er verbrachte den Vormittag mit<br />

Trainerstunden bei dem schwedischen Tennisprofi Bergelin,<br />

der Borg trainiert hatte. Er war jetzt von der Tennisschule Evercourt<br />

engagiert. Wenn ein Unfall geschehen wäre, wäre sicher<br />

schon ein Hubschrauber unterwegs gewesen, Polizeisirenen<br />

wären zu hören gewesen. Sicher hätte sich die Nachricht eines<br />

schweren Unfalls von Cluburlaubern im Club in Windeseile<br />

herumgesprochen. Nichts war zu hören. Spät in der Nacht<br />

saß er an der langen Bar im Blue Dolphin. Um Mitternacht<br />

wurde immer eine scharfe Gulaschsuppe serviert. Das beste<br />

Mittel gegen zu viel Alkohol. Der Hals brannte ihm von dem<br />

Chilipfeffer. Er sah, wie Dorothea am Arm von Manfred in die<br />

Bar hereinstürmte. Sie warf ihm einen kurzen, vernichteten<br />

Blick zu, als sie ihn wahrnahm. Beide waren unverletzt und<br />

bestellten sich einen Drink. Er überhörte, wie sie sich unterhielten.<br />

„Ich war immer der Meinung“, sagte Dorothea, „dass Euphorbien<br />

Kaktusgewächse mit den großen saftigen Blättern<br />

seien, auf denen Läuse gezüchtet werden und die auch Kaktusfeigen<br />

tragen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Als ich<br />

die Kakteen am Ortsrand von Cofete sah, hatte ich das dringende<br />

Bedürfnis, Gas zu geben, das Gaspedal bis zum Anschlag<br />

niederzudrücken, um den Wagen so schnell wie möglich zu<br />

beschleunigen. Ich konnte dagegen nichts tun. Das wäre verhängnisvoll<br />

gewesen, wenn das weiter oben gewesen wäre, wo<br />

die richtigen Euphorbien wachsen, wie ich jetzt weiß. Wir<br />

wären in der Schlucht zerschellt. Mir ist alles so vorgekommen,<br />

als ob ich einem Zwang folgen musste, der tief in mir saß.<br />

So ist der Wagen kurz nach Cofete zum Stehen gekommen,<br />

215


weil du das Steuer herumgerissen hast und mit deinem rechten<br />

Fuß die Bremse gefunden hast.“<br />

Krypta-Lo erschien bei Herbert am nächsten Tag und verlangte<br />

sein Geld. Da der Erfolg <strong>aus</strong>geblieben war, verweigerte<br />

Herbert die Bezahlung. Doch der Schamane drohte, die Sache<br />

aufliegen zu lassen. So einigten sie sich auf eine niedrigere<br />

Summe.<br />

Einige Tage später entdeckte Herbert, wie Dorothea mit Ringo<br />

an einem Tisch saß, während Manfred an einem anderen<br />

Tisch Platz genommen hatte. War der zuerst gehegte Plan zur<br />

Wirklichkeit geworden? War es jetzt zu dieser Dreierbeziehung<br />

gekommen, in der alle nur verlieren konnten? Würde Dorothea<br />

so ihre Strafe finden, die sie, wie er glaubte, verdient hatte?<br />

Mit Genugtuung stieg Herbert in den Bus ein, der ihn zum<br />

Flugplatz bringen sollte, wo das Flugzeug nach Frankfurt in<br />

zwei Stunden starten würde.<br />

Noch im Bus summten die letzten Schlager in seinem Kopf,<br />

die im Blue Dolphin p<strong>aus</strong>enlos <strong>aus</strong> den Lautsprechern tönten<br />

… YMCA‘s ›Junge, Junge‹ … und Olivia Newton-John’s ›Xanadu,<br />

a place where nobody dared to go, the love that we came<br />

to know, they called it Xanadu‹.<br />

216


Die Brigantine Rose of Sharon strandet<br />

Im Jahre 1986 strandete die Brigantine Rose of Sharon an der<br />

Playa de Matorral de Jandia im Süden von <strong>Fuerteventura</strong> auf<br />

dem Strandabschnitt zwischen dem Robinson Club und dem<br />

Aldiana Club. Eine Brigantine ist ein Segelschiff mit einem<br />

vorderen Fock- und einem hinteren Großmast mit Rahsegeln,<br />

wie sie die alten spanischen Galeeren hatten und wie sie auf<br />

dem Bild nebenan gezeigt sind. Am Großmast ist zusätzlich<br />

ein Gaffelsegel angebracht. Dazu kommen mehrere Stagsegel<br />

im vorderen Bereich. Im Hafen von Morro Jable soll die ›Rose<br />

of Sharon‹ mehrere Tage zuvor angelegt haben. Anscheinend<br />

waren die Holzplanken des Segelschiffes über der Wasserlinie<br />

so <strong>aus</strong>getrocknet, dass nach dem Auslaufen <strong>aus</strong> dem Hafen<br />

Wasser ins Boot eindringen konnte. Die Lenzpumpen waren<br />

überfordert.<br />

Vielleicht führte auch ein nicht fachgerechtes Kreuzen<br />

entlang der Ostküste der Insel gegen den Nordostpassat,<br />

schwierig bei einer Brigantine, die gerade 70° bis 60° hoch an<br />

den Wind segeln kann, zum ersten Bodenkontakt, was das Ende<br />

der ›Rose of Sharon‹ bedeuteten sollte, wie erfahrene Segler<br />

sich vorstellen können. Sie saß auf Grund fest.<br />

Alle Bemühungen der <strong>aus</strong> jungen Leuten bestehenden Crew<br />

scheiterten, sie ohne den Einsatz von in diesem Seegebiet nicht<br />

zur Verfügung stehenden Schleppern wieder flott zu bekommen.<br />

Die Crew gab sie auf und überließ sie ihrem Schicksal.<br />

Die starke Brandung hatte die Rose of Sharon im folgenden<br />

Winter bei einem heftigen Sturm dann ganz auf den Sandstrand<br />

geworfen. Sie verrottete zusehends von Jahr zu Jahr.<br />

Zuerst verschwanden die Segel, die Masten, dann die Planken.<br />

Nur das Gerippe blieb zunächst übrig. Viele Jahre hindurch<br />

war das Wrack Anziehungspunkt vieler Standurlauber, die ihre<br />

217


eigenen Spekulationen<br />

über das Schiff<br />

und dessen Geschichte<br />

anstellten und Fotos<br />

fürs Album schossen.<br />

Ein Spaßvogel<br />

malte mit weißer Farbe<br />

auf den Rumpf<br />

›Cuxhaven‹, nachdem<br />

der ursprüngliche<br />

Name nicht mehr<br />

<strong>aus</strong>zumachen und in<br />

Vergessenheit geraten<br />

war. Die ›Rose of<br />

Sharon‹ senkte sich<br />

mehr und mehr in<br />

den Sand, der nun<br />

fast die Eigenschaften<br />

von Treibsand<br />

Rahsegel<br />

aufwies, bis fast<br />

nichts mehr zu sehen war. Manche behaupten, dass die spanischen<br />

Behörden das letzte Holzgerippe entfernen ließen, andere<br />

aber meinen, dass alles im Sand versunken sei. Seit 2006<br />

deutet jedenfalls nichts mehr darauf hin, dass jemals ein 37 m<br />

langes Segelschiff hier gestrandet ist.<br />

Alles andere in der folgenden Geschichte ist frei erfunden,<br />

die Charaktere, die Handlung, der Ablauf. Alles nur der Fantasie<br />

entsprungen!<br />

218


Die Besatzung der Rose of Sharon,<br />

erfundene Geschichte<br />

Es war im Sommer des Jahres 1986. Peer beschleunigte seinen<br />

Porsche bis zum Anschlag des Gaspedals. Der Wagen<br />

schoss über die Autobahn nach Hamburg, wo er früher zu<br />

H<strong>aus</strong>e war. Der Wind jagte über sein Gesicht. Seine nicht allzu<br />

langen braunen Haare flatterten über seinem Zweitagebart.<br />

Sein Hemd mit dem Haifischemblem von Paul & Shark war<br />

offen, zeigte seine stark behaarte Brust auf einem athletischen,<br />

von der Sonne gebräunten Körper. Dieses Gefühl der Kraft des<br />

Wagens, dieses Gefühl sich am Limit zu bewegen, ber<strong>aus</strong>chte<br />

ihn, ließ seinen Adrenalinspiegel steigen. Kaum etwas wirkte<br />

auf seinen Spiegel so wie eine viel zu hohe Geschwindigkeit in<br />

einem offenen Wagen. Er hatte das Gefühl, dass der Wagen<br />

kurz vor dem Abheben war. Seine Augen hatten einen samtenen<br />

Glanz. Das Braun ging fast unmerklich in das Schwarz<br />

der Pupillen über. Von einer gewissen Entfernung konnte man<br />

den Übergang überhaupt nicht <strong>aus</strong>machen. Auf viele junge<br />

Frauen wirkten sie anziehend, vielleicht sogar sexy, auf jeden<br />

Fall aber exotisch-romantisch. Auf andere konnten sie abweisend,<br />

leer und starr wirken, manche glaubten darin Gefühllosigkeit,<br />

Gemeinheit, wenn nicht sogar Gr<strong>aus</strong>amkeit zu entdecken,<br />

besonders dann, wenn er einen Joint geraucht hatte.<br />

Peer, gerade 23 Jahre alt geworden, musste aufpassen, denn<br />

er hatte schon zehn Punkte in Flensburg gesammelt. Wenn er<br />

auf einer Strecke mit Geschwindigkeitsbeschränkung geblitzt<br />

werden würde, wäre er seinen Führerschein los. Deshalb gab<br />

er auf die Verkehrszeichen acht, so schwer ihm das auch fiel.<br />

Den Führerscheinverlust konnte er sich nicht leisten.<br />

Peer war <strong>aus</strong> gutem H<strong>aus</strong>e, was nicht heißt, dass er auch gut<br />

erzogen war. Seine Eltern hatten ihm alles ermöglicht, was er<br />

219


Brigantine oder Zweimasten-Rahsegler<br />

sich wünschte. Alles, woran er Freude hatte. Fast immer. So<br />

hatte ihm sein Vater sogar diesen Porsche zum Geburtstag<br />

geschenkt. Das Abitur hatte er gerade noch so geschafft, bei<br />

der Bundesmarine hatte er gedient und jetzt wusste er nicht,<br />

was er mit seinem Leben anstellen sollte. Studieren? Was bitte?<br />

Ingenieurwissenschaften? Wozu! Medizin? Viel zu lange!<br />

Jura oder Volkswirtschaft? Viel zu trocken! Sport? Viel zu<br />

anstrengend! Nein, studieren musste er nicht. Er würde<br />

ohnehin alles von seinen Eltern erben. Geld verdienen musste<br />

er nicht, obwohl er sich dem süßen Geruch des Geldes – es<br />

musste sich aber schon um eine hohe Summe handeln – nicht<br />

entziehen konnte. Das musste in seinen Genen verankert sein.<br />

Und seine Großmutter lebte auch noch. Sie hatte ein Vermögen,<br />

das dem seiner Eltern in nichts nachstand. Sie hatte ihn<br />

sogar als Alleinerben eingesetzt. Sie hatte das nicht nur einmal<br />

erwähnt.<br />

220


Die gestrandete ‚Rose of Sharon‘ c. 1987<br />

Ja, Playboy konnte er werden. Oder war er das schon? Wenn<br />

er an die Partys in seines Vaters Villa auf Mallorca dachte! Und<br />

auf dessen Yacht! Mit all den blonden Puppen. Der Alkohol<br />

war dabei immer in Strömen geflossen. Der Konsum von Marihuana,<br />

gelegentlich auch das in Harzform erhältliche, stärkere<br />

Haschisch, mit Tabak zusammen geraucht oder in Alkohol<br />

gelöst und gespritzt, ließ seine Sinne in eine andere Welt<br />

abgleiten. Trotzdem, über so viel Geld zu verfügen, wie seine<br />

Eltern oder seine Großmutter es hatten, wäre ein geiles Gefühl<br />

und würde sein Selbstwertgefühl steigern. Zu seiner Großmutter<br />

wollte er jetzt fahren. Sie musste ihm helfen. Mit Geld! Sein<br />

Freund Jan, den er auf einer Trekkingtour kennengelernt hatte,<br />

hatte ihn von Tanger <strong>aus</strong> angerufen.<br />

„Peer“, hatte er gesagt, „hier im Hafen von Tanger liegt ein<br />

Traum von einem Segelschiff. Das scheint wie zugeschnitten<br />

221


für unsere Pläne zu sein. Ein Schoner mit Rahsegeln, ein Zweimaster,<br />

37 m lang, 400 Quadratmeter Segelfläche, er soll bei<br />

Blohm & Voss 1936 vom Stapel gelaufen sein. Ich aber glaube,<br />

dass das Schiff in England gebaut wurde, da die Schiffsdieselmotoren<br />

auf einem englischen Hersteller hinweisen. Der Zustand<br />

des Schoners ist zwar nicht der beste, aber er ist seetüchtig.<br />

Er soll nur 150 000 Mark kosten. Er war zuletzt auch unter<br />

englischer Flagge gesegelt und ist gerade <strong>aus</strong> Israel kommend<br />

hier eingelaufen. Er heißt ›Rose of Sharon‹. Der Eigentümer,<br />

gleichzeitig auch Kapitän des Schiffs, konnte seine Schulden<br />

nicht bezahlen und ist spurlos verschwunden. Der Schoner<br />

wurde vom Gläubiger konfisziert und zum Verkauf angeboten.<br />

Ein Käufer findet sich aber in Tanger nicht so schnell. Er<br />

ist deshalb auf den genannten unglaublich niedrigen Preis heruntergegangen.<br />

Wir müssen uns beeilen, sonst wird uns das<br />

Schiff vor der Nase weggeschnappt. Ob ›Rose of Sharon‹ der<br />

ursprüngliche Name des Schoners ist, kann niemand sagen. In<br />

den Schiffspapieren steht der Name jedenfalls nicht. Ich kann<br />

mir aber nicht vorstellen, dass in der Nazizeit ein Schiff mit<br />

einem Namen jüdischen oder biblischen Ursprungs in Deutschland<br />

vom Stapel gelaufen wäre. Schon <strong>aus</strong> diesem Grund ist<br />

er eher in England gebaut worden. Du musst sofort herfliegen<br />

und dir die ›Rose of Sharon‹ ansehen, bevor das Schiff weg ist.<br />

Setz dich heute noch ins Flugzeug!“<br />

Das hatte er getan und sich eine befristete Kaufoption auf<br />

das Schiff geben lassen. Seine Großmutter würde ihn schon<br />

nicht im Stich lassen. Er hatte von Frankfurt <strong>aus</strong> fliegen müssen<br />

und war jetzt auf dem Rückweg nach Hamburg. Er hatte<br />

den Zweimaster gesehen. Die ›Rose of Sharon‹ war ein<br />

Schnäppchen. Sie war genau richtig für ihren Zweck. Mit diesem<br />

Schiff könnten sie viel Geld verdienen. Mit Marihuana<br />

und Haschisch Schmuggel. Es galt jetzt, die geforderte Sum-<br />

222


me zu beschaffen und noch etwas mehr, denn gewisse Reparatur-<br />

und Umbauarbeiten waren wahrscheinlich unumgänglich.<br />

Seine Großmutter Gerda Beilharz, die Mutter seines Vaters,<br />

war die richtige Anlaufstelle. Er bereitete sich in Gedanken<br />

im Geschwindigkeitsr<strong>aus</strong>ch des Fahrens auf das Gespräch<br />

mit seiner Großmutter vor. Die Fahrzeit verrann wie im Flug,<br />

jetzt noch durch den Elbtunnel, und schon parkte er vor dem<br />

schmucken, reetgedeckten Fachwerkh<strong>aus</strong> in Blankenese, eine<br />

der besten Wohngegenden Hamburgs. Gerda war da. Sie empfing<br />

ihren Enkel an der H<strong>aus</strong>türschwelle mit einer kräftigen<br />

Umarmung.<br />

„Wo bist du gewesen? Denkst du auch einmal wieder an<br />

deine Großmutter? Komm herein! Erzähl mir von dir. Ich mache<br />

uns einen Kaffee.“<br />

Peer setzte sein charmantestes Lächeln auf. Sie glaubte in<br />

seinen Augen die ihres verstorbenen Mannes zu sehen. So hatte<br />

ihr Mann sie angesehen, wenn er etwas von ihr wollte. „Rose<br />

of Sharon“, wiederholte sie, nachdem sie seine Story und diesen<br />

Namen von Peer gehört hatte, und rollte dabei die beiden<br />

›Rs‹ fast genüsslich mit der Zunge.<br />

„Viel Geld, das du von mir haben willst. Ich hoffe, dass du<br />

Erfolg mit deinem Vorhaben hast, Touristentörns um die Kanarischen<br />

Inseln zu veranstalten. Vielleicht bekomme ich dann<br />

mein Geld irgendwann einmal zurück. Wenn nicht, geht es<br />

eben von deinem Erbe ab“, fügte sie fast unhörbar für Peer hinzu,<br />

so, als ob sie zu sich selbst reden würde. Dass Peer einen<br />

windigen Freund Jan hatte und den Schoner für einen ganz<br />

anderen Zweck einsetzen wollte, konnte sie natürlich nicht<br />

ahnen.<br />

„Rose of Sharon ist ein schöner Name für ein Segelschiff, versprich<br />

mir, dass du ihn nie ändern wirst. Er erinnert mich an<br />

meine Jugend.“<br />

223


Die Blume Rose of Sharon<br />

Ihr württembergischer Dialekt drang durch. Bei ihren wasserblauen<br />

Augen hatten allerdings die Kelten und nicht die<br />

Römer die Oberhand behalten.<br />

„Weißt du eigentlich, wo ich geboren bin?“, fragte sie ihren<br />

Enkel.<br />

Peer hatte schon davon gehört, dass sie irgendwo in Palästina<br />

geboren war. War sie nicht Mitglied einer pietistischen Sekte<br />

gewesen, deren Anhänger Mitte des neunzehnten Jahrhunderts<br />

nach dem damaligen, unter türkischer Herrschaft stehenden<br />

Palästina <strong>aus</strong>gewandert waren? Sie wollten versuchen, dort<br />

im Lande Jesu das Reich Gottes – den Tempel Gottes – nach<br />

ihren eigenen religiösen Vorstellungen zu errichten. Absolut<br />

nicht nachvollziehbar für Peer. Das waren ja nur religiöse Fantasten!<br />

„Ich bin in Sarona geboren“, fuhr sie fort. „Wir gehörten der<br />

Sekte der Templer an, die allerdings nichts mit dem Templerorden<br />

zu tun haben, der schon im frühen Mittelalter aufgelöst<br />

worden war, falls du das von unserem letzten Gespräch vergessen<br />

haben solltest. Fast alle Einwanderer waren <strong>aus</strong><br />

224


Württemberg gekommen. Sarona war eine ihrer landwirtschaftlichen<br />

Siedlungen mit damals wenigen Hundert Einwohnern.<br />

Es gehört heute zu dem Stadtgebiet von Tel-Aviv. Und<br />

jetzt kommen wir zu dem Namen ›Sarona‹. Die Siedlung wurde<br />

nach der von Tel-Aviv nördlich gelegenen ›Saron-Tiefebene‹,<br />

auch ›Sharon‹ geschrieben, benannt. Und in dieser Tiefebene<br />

wächst wild die ›Rose von Sharon‹ mit herrlichen rosaroten<br />

Blütenblättern und rotem Kelch. Ich habe sie in meiner<br />

Jugend im Frühjahr gesucht und gepflückt, einen Strauß meiner<br />

Mutter gebracht. Sie ist aber keine richtige Rose, sondern<br />

eine Hibiskusart, deren Blüten aber nicht weniger schön sind.<br />

Nach ihr ist euer Schiff benannt! Ich glaube nicht, dass du das<br />

Geld von mir bekommen hättest, wenn dies nicht der Name<br />

des Schiffs gewesen wäre. Er hat mein Herz berührt.“<br />

Gerda, die während des Zweiten Weltkriegs im Gefangenen<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>ch<br />

nach Deutschland gekommen war – sie hatte die<br />

deutsche Staatsangehörigkeit nie verloren und die Engländer,<br />

die Palästina als Mandatsgebiet nach dem Ersten Weltkrieg<br />

verwalteten, hatten sie und alle anderen in Palästina lebenden<br />

Württemberger im Zweiten Weltkrieg interniert – war still<br />

geworden. Sie sah für ihre 65 Jahre noch gut und attraktiv <strong>aus</strong>.<br />

Gleichmäßige Gesichtszüge. Glatte Haut. Sie achtete auf ihr<br />

Äußeres. Das war sie ihren Produkten schuldig. Die von ihr<br />

gegründete Firma ›Gerda Kosmetik‹ wuchs ständig und war<br />

zu einem gefürchteten Konkurrenten selbst für solch renommierte<br />

Firmen wie ›L’Oréal‹ und ›Nivea‹ geworden. Das Geld,<br />

das sie mit dieser Firma verdiente, konnte sie nie mehr <strong>aus</strong>geben,<br />

selbst, wenn sie hundert Jahre alt werden würde.<br />

Palästina und Templer? Was konnte Peer mit solchen Begriffen<br />

schon anfangen? Alte Kamellen! Interessierten ihn nicht.<br />

Jetzt kam endlich der Satz, auf den Peer so sehnsüchtig gewartet<br />

hatte:<br />

225


Junge Cannabis Pflanze – Hanfpflanze, <strong>aus</strong> der auch Seile und Kleidung<br />

hergestellt werden, seit 12.000 Jahren von den Menschen<br />

genutzt. Mit Cannabis werden die getrockneten Pflanzenteile der<br />

weiblichen Pflanze bezeichnet. Mit Haschisch, das dar<strong>aus</strong> gewonnene<br />

Harz, das hauptsächlich in den Blüten vorkommt.<br />

„Wie viel brauchst du?“<br />

„200 000 Mark“, sagte er.<br />

Gerda Beilharz schluckte, stand auf, ging an den altmodischen<br />

Sekretär und zog den quietschenden Rollladen auf. Sie<br />

kramte in der Schublade herum, fand einen Scheckvordruck,<br />

setzte den Betrag mit ihrem Füller ein und unterschrieb ihn<br />

etwas zittrig, aber mit einer wundervollen Handschrift. Peer<br />

glaubte, noch nie eine solch schöne Handschrift gesehen zu<br />

haben, besonders aber die Zahl ›zweihundertt<strong>aus</strong>end‹ in Tinte<br />

<strong>aus</strong>geschrieben. Er umarmte seine Großmutter, nahm den<br />

Barscheck an sich und war schon wieder unterwegs zurück<br />

nach Tanger. Peer konnte nicht wissen, dass Jan und seine holländische<br />

Freundin Katja ein doppeltes Spiel mit ihm trieben.<br />

Aber Gerda wusste in diesem Moment, dass sie einen verhängnisvollen<br />

Fehler begangen hatte. Dieses Geld würde ih-<br />

226


Haschisch (auf Arabisch Gras) – Chocolata Marokkaner, vom Handelszentrum<br />

Ketama in der Provinz Tetouan, Marokko, im Rif-Gebirge<br />

südöstlich von Tanger.<br />

rem Neffen nicht guttun. Er hatte in seinem jungen Leben schon<br />

so viele krumme Dinge gedreht. Darunter soll sogar Totschlag<br />

an einem Klassenkameraden gewesen sein. Nur das Jungenschutzgesetz<br />

hatte ihn bisher vor längeren Gefängnisstrafen<br />

bewahrt.<br />

Jan war Südafrikaner. Er hatte Peer erzählt, dass er in Kapstadt<br />

aufgewachsen sei. Er habe bei der südafrikanischen Armee<br />

in der Apartheid gedient und dabei eine Terroristen<strong>aus</strong>bildung<br />

erhalten. Danach habe er als Wildhüter im Krüger-<br />

Nationalpark gearbeitet. Dort habe er zum ersten Mal von<br />

Marihuana gehört und erfahren, wie viel Geld man damit verdienen<br />

kann. Der Marihuanaanbau habe in Südafrika eine lange<br />

Tradition. Bereits vor der Ankunft der Bantustämme <strong>aus</strong><br />

Zentralafrika sei Marihuana von den Buschmännern in der<br />

Kapstadtregion verwendet worden. Das Zentrum des Anb<strong>aus</strong><br />

liege aber in der mit normalen Straßenfahrzeugen unzugäng-<br />

227


Cannabis bei Ketama<br />

lichen Bergregion von Hhohho im Swaziland. Da seien die<br />

Wachstumsbedingungen für die Pflanze geradezu ideal. Die<br />

Substanz THC, die für die Drogenwirkung beim Menschen<br />

verantwortlich ist, sei besonders konzentriert in den Pflanzen<br />

enthalten, die dort wachsen, besonders konzentriert aber in<br />

den weiblichen Blüten. In Hhohho könne man den Stoff äußerst<br />

billig kaufen. Bei einem möglichen Wiederverkauf in<br />

Europa könne man sein Geld vert<strong>aus</strong>endfachen. Eine unvorstellbare<br />

Gewinnspanne.<br />

Aber nicht Südafrika sei das Hauptanbaugebiet für Marihuana,<br />

das auch mit Cannabis bezeichnet werde. Das größte<br />

Anbaugebiet der Welt liege gerade vor der Tür. Südöstlich von<br />

Tanger. Relativ leicht mit dem Auto zu erreichen. Ketama in<br />

der Provinz Tetouan, im Rif-Gebirge, sei das Welthandelszentrum<br />

für Haschisch. Dort könne man auch sehr billig kaufen,<br />

aber vor allen Dingen die beste Qualität.<br />

Haschisch, das wusste Peer, war das <strong>aus</strong> den Blüten gewonnene<br />

Harz der Cannabis-Pflanze und hatte naturgemäß eine<br />

228


viel höhere Konzentration des Wirkstoffs THC als die Blätter.<br />

Schmuggel von Haschisch, auch ›Dope‹ oder ›Shit‹ genannt,<br />

würde einfacher sein als ›Grass‹, wie die Marihuanablätter<br />

neben vielen anderen Namen gelegentlich genannt werden.<br />

Diese Gedanken durchkreuzten den Kopf von Peer, als er<br />

zum Flughafen nach Frankfurt raste. Cannabis war also auch<br />

in Ketama billig. Nicht nur in Hhohho. Selbst die beste Sorte.<br />

Jan hatte erwähnt, dass dies Marokko Cream oder Chocolata<br />

Marokkaner sei. Peer wusste von seinem letzten Urlaub im Robinson<br />

Club Jandia in <strong>Fuerteventura</strong>, dass auf der Insel ein blühender<br />

Markt für Haschisch bestand. Die Dealer erzielten Spitzenpreise,<br />

aber nur für die beste Qualität. ›Chocolata‹ war die<br />

richtige Sorte. Schon der Name klang vielversprechend. Auf<br />

der 37 Meter langen Brigantine wäre reichlich Platz. Das in<br />

Plastikfolie eingeschweißte Haschisch könnte man in dem verwinkelten<br />

Inneren des langen Rumpfs gut verstecken, so dass<br />

es nicht so leicht gefunden werden konnte. Das Problem war<br />

jedoch der von dem Haschisch <strong>aus</strong>gehende Geruch. Selbst in<br />

Folie eingeschweißt würde ein gut <strong>aus</strong>gebildeter Schnüffelhund<br />

des Zolls den Stoff aufspüren. Man müsste einige läufige Hündinnen<br />

an Bord mitführen, die den Geruchssinn des Rüden<br />

verwirren würden.<br />

Peer rechnete in Gedanken <strong>aus</strong>, dass sie mit nur 200 kg Haschisch<br />

einen Gewinn von fast einer Million erzielen könnten.<br />

Das wäre ein Geschäft nach seinem Geschmack!<br />

Es galt jetzt die ›Rose of Sharon‹ zu kaufen, das Nötigste instand<br />

zu setzen, den Stoff zu besorgen und eine Crew zusammenzustellen,<br />

die die nicht einfach zu segelnde Brigantine auch<br />

steuern konnte.<br />

Jan und Katja saßen in einem kleinen Straßencafé vor dem<br />

Souk der Altstadt. Die Gerüche von Gewürzen vermischten<br />

229


sich mit dem Kaffeeduft. Katja, ein hübsches Mädchen, gut<br />

gewachsen, mit braunen langen Haaren und in geflickten, enganliegenden<br />

Jeans lachte und sagte:<br />

„Der erste Teil unseres Plans hat ja geklappt. Die alte Beilharz<br />

ist ja wieder einmal auf ihren Enkel hereingefallen. Peer<br />

hatte offenbar keine großen Probleme, das Geld <strong>aus</strong> ihr her<strong>aus</strong>zupressen.<br />

Für sie ist die Summe ja nur ein Pappenstiel,<br />

wenn man die Gewinne ihres Konzerns in der Börsenzeitung<br />

nachliest. Hundert Millionen im letzten Jahr! Ihre Kosmetikfirma<br />

ist zu einem ernstzunehmenden Wettbewerber für<br />

L‘Oréal geworden, und das heißt schon etwas.“<br />

Jan wunderte sich immer wieder über die Intelligenz und<br />

das Wissen seiner Freundin, die er jetzt schon etliche Jahre<br />

kannte. Aber erst vor wenigen Tagen hatte er erfahren, dass<br />

sie Betriebswirtschaft studiert hatte. Sie hatte sich über die alte<br />

Beilharz informiert. Einen Artikel in der Financial Times gelesen.<br />

Immer wieder gelang es ihr, ihn aufs Neue zu überraschen.<br />

„Der Schmuggel von Haschisch ist mit großen Risiken für<br />

uns verbunden“, fuhr sie fort. „Wenn sie uns erwischen, werden<br />

wir uns mit unseren Vorstrafen in einem der üblen spanischen<br />

Gefängnisse wiederfinden. Danach habe ich überhaupt<br />

kein Verlangen. Wir könnten Peer einen Deal vorschlagen. Wie<br />

ich ihn kenne, wird er nicht nein sagen und mitmachen. Wir<br />

werden seine Großmutter erpressen. Ihr sagen, dass wir Peer<br />

in unserer Gewalt hätten. Ihm würde Schreckliches widerfahren,<br />

wenn sie nicht auf unsere Lösegeldforderung von zwei<br />

Millionen einginge. Wir würden seiner Oma androhen, ihm<br />

zuerst die Finger abzuhacken, dann die Ohren abzuschneiden,<br />

wenn sie nicht zahlen will. Ihn langsam zu Tode quälen. Für<br />

jede Woche Verzögerung mit der Geldübergabe würden wir<br />

eine Million mehr verlangen.“<br />

Jan überlegte. Ließ ihren Vorschlag auf sich einwirken.<br />

230


Schnalzte mit den Fingern. Da wäre das Problem der Geldübergabe.<br />

Das müsste zuerst gelöst werden. Vielleicht hatte<br />

Peer dazu eine Idee. Aber auf den Haschischschmuggel wollte<br />

er diesmal nicht verzichten. Alles war schon eingefädelt, verlief<br />

nach Plan. Jussuf hatte den Stoff in Ketama schon besorgt.<br />

In vier Stunden würde das Haschisch an der Anlegestelle der<br />

›Rose of Sharon‹ im weitverzweigten Hafen von Tanger sein.<br />

In Marokko mussten sie sich keine Sorgen machen, entdeckt<br />

zu werden. König Hassan II. duldete stillschweigend den Anbau<br />

und den Verkauf von Cannabis, der die Existenzgrundlage<br />

von fast einer Million Marokkaner war, und außerdem waren<br />

alle Beamten am Hafen mit wenig Geld zu bestechen.<br />

„Deinen Plan werden wir verschieben. Wir werden zuerst<br />

den Stoff nach <strong>Fuerteventura</strong> bringen und dort zunächst<br />

einmal abkassieren. Mir wird schon etwas einfallen, dass uns<br />

der größte Teil des Gewinns bleibt“, war dann schließlich seine<br />

Antwort.<br />

Peer war in Tanger eingetroffen. Die ›Rose of Sharon‹ lag in<br />

einem Außenbecken des Hafens. Die Formalitäten des Kaufs<br />

waren schnell getätigt. Er war jetzt stolzer Schiffseigner und<br />

Kapitän. Eine Brigantine zu segeln, durfte auf keinen Fall unterschätzt<br />

werden. Er brauchte gute Leute für den Job. Jan hatte<br />

wenig Erfahrung. Aber einige Seeleute, die das Schiff hierher<br />

gesegelt hatten, konnte er vielleicht anheuern, die wenigsten<br />

die Befehle zum Wenden und zum Halsen, zum Fieren und<br />

Brassen verstanden. Beim Bund hatte er eine halbjährige Ausbildung<br />

auf der ›Georg Fock‹, dem Segelschulschiff der Deutschen<br />

Marine, absolviert. Außerdem war er mit der Zwölfmeter-Yacht<br />

seiner Großmutter in der Kieler Bucht schon segeln<br />

gewesen und hatte an Regatten teilgenommen. Er fand vier<br />

Seeleute von der ›Rose of Sharon‹. Sie wurden sich über die<br />

231


Heuer schnell einig. Eine Gruppe junger deutscher Studenten,<br />

sechs junge Männer und vier junge Frauen, hatte er bei einem<br />

Trinkgelage an einem Abend zuvor in einer der vielen Bars<br />

rings um den Hafen kennengelernt. Er musste sie nicht lange<br />

dazu überreden, mit nach Fuerte zu segeln. Die jungen Leute<br />

ließen kein Abenteuer <strong>aus</strong>. Wie es der Zufall wollte, hatten die<br />

Jugendlichen zwei Hündinnen dabei. Das war es, was Peer<br />

noch an Bord brauchte. Wie der Zufall so spielte.<br />

Jussuf hatte den Stoff, in sechs zugeschweißten Foliensäcken<br />

verpackt, in einem alten Lieferwagen angeliefert. Bei Dunkelheit<br />

wurden die Säcke an Bord getragen und tief im Rumpf<br />

der Brigantine zwischen Bordwänden verstaut. Nur Jan, Katja<br />

und Peer wussten von der Transaktion. Und ein anderer:<br />

Jörg Bucher.<br />

Gerda Beilharz, Geschäftsfrau durch und durch, wollte mehr<br />

über die ›Rose of Sharon‹ wissen. Sollte nun ihr Enkel Peer doch<br />

noch auf den richtigen Weg kommen? Ausflugsfahrten mit<br />

dem Zweimaster für Touristen? Sie konnte sich nicht so richtig<br />

vorstellen, dass dabei ein Gewinn her<strong>aus</strong>springen würde.<br />

Eine Crew von zumindest zehn Mann wäre zu bezahlen. Sie<br />

hatte ihre Zweifel an Peers Geschichte und beauftragte<br />

kurzerhand einen Detektiv, der her<strong>aus</strong>finden sollte, wo die<br />

›Rose of Sharon‹ lag, welche Freunde ihr Enkel hatte und welche<br />

Crew er engagiert hatte. Jörg Bucher war dafür der geeignete<br />

Mann. Er hatte das Aussehen und die Art von Philip Marlowe,<br />

wie Raymond Chandler seinen Detektiv in seinen Kriminalromanen<br />

beschrieben hatte. „Was kann ich für Sie tun,<br />

Lady?“, war der Satz, mit dem er seine Kundinnen zu empfangen<br />

pflegte. Bucher war wie Peer auch nach Tanger geflogen.<br />

Es war nicht schwer, Informationen über Jan und seine<br />

Freundin Katja zu erhalten. Ein sauberes Pärchen! Wegen Dealen<br />

mit Drogen, im Besonderen mit Haschisch, schon vorbe-<br />

232


straft. Der Verdacht lag nahe, dass die ›Rose of Sharon‹ nicht<br />

zufällig im Hafen von Tanger lag. War Marokko nicht der<br />

weltgrößte Lieferant für Haschisch und einer der wichtigsten<br />

Umschlagplätze? Es kostete ihm einige T<strong>aus</strong>end Dirhams an<br />

Bestechungsgeldern, bis er von einem Zollbeamten am Hafen<br />

erfuhr, dass Jussuf der Mittelsmann war, der den Stoff besorgte<br />

und an Bord bringen sollte. Sein Warten hinter einer H<strong>aus</strong>ecke<br />

an der Pier hatte sich gelohnt. Ein kleiner Lieferwagen<br />

war nachts vorgefahren, und drei Männer waren damit beschäftigt,<br />

einige Säcke an Bord zu tragen. Er folgte dem wieder<br />

wegfahrendem Lieferwagen. Jussuf war auch bestechlich. Er<br />

erzählte von den 200 kg ›Chocolata‹. Er wusste auch, wohin<br />

die Reise gehen sollte. Nach <strong>Fuerteventura</strong>. Zum südlichen<br />

Hafen Morro Jable. In drei Tagen dürfte die ›Rose of Sharon‹<br />

dort einlaufen, wenn der Wind richtig stand.<br />

Gerda Beilharz war über diese Nachricht eigentlich nicht<br />

überrascht. Trotzdem konnte sie eine gewisse Enttäuschung<br />

nicht leugnen. Es war schlimmer: Sie spürte einen Stich in ihrem<br />

Herzen. Warum nur ließ sich der Junge auf solche kriminellen<br />

Freunde ein? Warum nur war er selbst mit von der Partie?<br />

Hatte er nicht alles gehabt? War ihm nicht jeder Wunsch<br />

von seinen Lippen abgelesen worden?<br />

Sie rief das Reisebüro an. „Buchen Sie mir eine Woche in einem<br />

Pueblo im Robinson Club Jandia. Ich will morgen fliegen.“<br />

Im Hochh<strong>aus</strong> wollte sie nicht untergebracht sein. Nachts<br />

dröhnten oftmals vom Niteclub die Discomusik und das Gegröle<br />

von denjenigen herauf, die zu viel getrunken hatten. Im<br />

Hochh<strong>aus</strong> war es nachts zu laut.<br />

Die ›Rose of Sharon‹ war zum Auslaufen bereit. Peer hatte<br />

die jungen Deutschen einigermaßen eingewiesen, was sie zu<br />

tun hatten. Die vier Seeleute kannten das Schiff. Die Segel<br />

waren noch nicht gesetzt. Er ließ den Dieselmotor an, der das<br />

233


Schiff nur langsam bewegen konnte. Sie fuhren zum Hafen<br />

hin<strong>aus</strong> und nahmen Kurs <strong>Fuerteventura</strong> über den Atlantik. Es<br />

wehte eine leichte Brise <strong>aus</strong> Nord. „Segel setzen!“, rief Peer.<br />

„Mit dem obersten Royalsegel am Fockmast beginnen.“ Die vier<br />

Seeleute kletterten hoch.<br />

„Lass fallen das Segel.“ Der Wind fing sich sofort in dem<br />

Segel.<br />

„Lass fallen das Bramsegel.“ Auch dieses Segel blähte sich<br />

sofort.<br />

„Lass fallen das Obermars, lass fallen das Untermars und<br />

jetzt lass fallen das größte Segel an diesem Masten, die Fock.<br />

Die Stagsegel setzen!“ Diese Segel waren ähnlich einer Fock<br />

einer Zwölfmeter-Yacht.<br />

„Und jetzt an den Großmasten.“ Die deutschen Studenten<br />

mussten nun die Prüfung bestehen. Sie waren natürlich nicht<br />

so geschickt wie die Seeleute, aber es gelang ihnen, die Befehle<br />

<strong>aus</strong>zuführen:<br />

„Lass fallen das Großroyal, das Großbram, das Großobermars,<br />

das Großuntermars und das Groß.“ Jetzt musste nur noch<br />

das letzte Segel gesetzt werden, das am Großmast angebracht<br />

war, das Briggsegel.<br />

„Klar zum Brassen“, rief Peer.<br />

„Klar bei“, riefen die Seeleute.<br />

„Fiert auf die Backbord und etwas brassen!“<br />

„Klar bei.“<br />

So gingen die Befehle hin, und die Bestätigungen mit „Klar<br />

bei!“ kamen zurück.<br />

Das Schiff war voll aufgetakelt und hatte den Nordwind jetzt<br />

voll von achtern. Der Motor war schon längt abgestellt, und<br />

das 37 Meter lange Schiff segelte mit leichtem R<strong>aus</strong>chen in den<br />

Segeln leicht dahin, glitt über die See, dass ein Seglerherz ins<br />

Schwärmen geraten konnte. Die Rahen, alle an den zwei Mas-<br />

234


ten angebrachten zehn Segel, die wie ein Spinnacker bei einer<br />

Segelyacht den Wind einfingen, wölbten sich, ohne irgendwelche<br />

Falten zu bilden. Das Segelschiff war richtig getrimmt,<br />

jedenfalls war das Peers Gefühl. Sie konnten sich alle zurücklehnen<br />

und sich einen Drink genehmigen. Der Mannschaft von<br />

solchen Briggsegelschiffen ist es im Allgemeinen untersagt, auf<br />

See alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Aber Peer sah<br />

das gelassener und er prostete seinen Leuten zu. Jan und Katja<br />

hatten das Manöver mit Interesse verfolgt, zumal Jan Peer die<br />

Kapitänsrolle nicht zugetraut hatte.<br />

Es war wahrscheinlich, dass sie bis zum Hafen von Morro<br />

weder Wenden noch Halsen mussten, so ideal stand der Wind.<br />

Kurz vor den Kanaren würde wahrscheinlich der Wind etwas<br />

nach Osten drehen. Sie würden den Nordostpassat erreichen,<br />

mit dem schon so manche Segler von den Kanarischen<br />

Inseln <strong>aus</strong> über den Atlantik nach Rio sozusagen auf einer Kufe<br />

gesegelt sind. Einige von Peers Freunden hatten diesen Törn<br />

schon gemacht. Der gleichmäßige Wind mit einer Windstärke<br />

zwischen 6 und 8 ermöglichte eine Überfahrt in weniger als<br />

zehn Tagen. Peer wusste das noch von der Schule: Der Nordostpassat<br />

auf der nördlichen Halbkugel (Südostpassat auf der<br />

südlichen Halbkugel) entsteht durch die Erddrehung. Er bläst<br />

entgegengesetzt der Drehung zum Äquator hin. Verantwortlich<br />

dafür ist eine Querbeschleunigung, die der französische<br />

Physiker Coriolis entdeckt und berechnet hat. Sie wird deshalb<br />

auch Corioliskraft genannt.<br />

Peer mit seiner Mannschaft segelte an der Westküste der<br />

schwarz-roten Vulkaninsel Lanzarote vorbei, und die Sandhügel<br />

mit spärlicher Vegetation von <strong>Fuerteventura</strong> erschienen.<br />

Sie erblickten den Leuchtturm an der Südspitze von Jandia.<br />

Jetzt war es nicht mehr weit bis zum Hafen von Morro Jable.<br />

„Segel bergen“, befahl Peer. Das letzte Stück wollte Peer mit<br />

235


Kanarische Inseln<br />

dem Motor fahren, damit er ein umständliches Kreuzen mit<br />

komplizierten Wenden umgehen konnte. Eine Brigantine<br />

schafft gegen den Wind gerade noch 60°, im Gegensatz zu einer<br />

modernen Yacht, die bis zu 25° hoch an den Wind kommen<br />

kann.<br />

Sie machten an einem Hafensteg fest. Das Segelschiff erweckte<br />

die Neugierde der Einwohner von Morro und der Touristen.<br />

Die Neugierigen kamen in Scharen. Der kleine Hafen war überlaufen.<br />

Ein Zollbeamter kam an Bord. Er hatte einen Hund<br />

dabei, einen Jack-Russell-Terrier. Ein kleiner süßer Hund mit<br />

einem weißen Fell mit größeren braunen Flecken. Der Hund<br />

schnüffelte schon auffällig, als eine der Hündinnen aufgeregt<br />

<strong>aus</strong> einer der unteren Kojen an Bord sprang. Sofort nahm der<br />

Schnüffelhund die Verfolgung auf. Die Hündin entzog sich dem<br />

Zugriff des Rüden und sprang über Bord auf den Vorplatz in<br />

236


die gaffende Menge. Der Jack Russell hinterher. Die Menschen<br />

stoben <strong>aus</strong>einander. Die Rufe des Zollbeamten waren vergeblich.<br />

Der Rüde hatte keine Ohren mehr für seinen Herrn. Der<br />

Zollbeamte fand nichts und gab das Schiff frei. Peers Rechnung<br />

war aufgegangen.<br />

Doch die Hafenbehörde gab dem Kapitän – also Peer – die<br />

Anweisung, dass das Boot den Hafen am frühen nächsten<br />

Morgen zu verlassen habe. Es seien umfangreiche Bauarbeiten<br />

im Gange, und das Boot sei ein Hindernis. Die vieleckigen<br />

herumliegenden gegossenen Betonpoller von 3 m Höhe gaben<br />

ein Zeugnis dieser von der EU finanzierten Hafenerneuerung.<br />

Die Zuschauer würden gefährdet sein und der Liegeplatz wurde<br />

zudem benötigt.<br />

Doch Jan war seiner Aufgabe gewachsen. In der Nacht war<br />

sein Mittelsmann von der den Drogenhandel der Insel kontrollierenden<br />

marokkanischen Mafia aufgetaucht und hatte die<br />

geschmuggelte Ware von Bord geschafft.<br />

Bargeld war geflossen. Peer erhielt einen Anteil von 300 000<br />

Mark.<br />

„Mein Anteil beträgt aber 500 000 Mark“, protestierte Peer.<br />

„Wir konnten aber nur 600 000 anstatt einer Million erzielen.<br />

Die Preise sind gefallen“, erwiderte Jan lakonisch. Katja<br />

fügte hinzu:<br />

„Wir müssen froh sein, dass alles so reibungslos über die<br />

Bühne gegangen ist.“<br />

Peer hatte das ungute Gefühl, dass die beiden ihn betrogen<br />

hatten. Kaum hatte die ›Rose of Sharon‹ am nächsten Morgen<br />

den Hafen verlassen, blies der Nordostpassat ziemlich heftig<br />

mit einer Windstärke von acht von vorn.<br />

„Segel setzen, und brassen!“ Kreuzen war angesagt.<br />

Gerda Beilharz hatte ihr Quartier im Robinson Club bezo-<br />

237


gen. Die Pueblos – im Bungalowstil gebaute Unterkünfte – lagen<br />

in einem von Bougainvillea, Hibiskus und Oleander geschmückten<br />

Garten, der zur Strandseite hin mit einer Hecke<br />

<strong>aus</strong> roten Feigenkakteen vor Blicken und ungewünschten Besuchern<br />

geschützt war. Gerda hatte hier, wenige Jahre nach<br />

der Eröffnung des Clubs im Jahr 1970, als sogar Willy Brandt<br />

Gast war, schon einen Urlaub verbracht. Den jetzt amtierenden<br />

Clubchef kannte sie. Er bot ihr an, sie zu benachrichtigen,<br />

wenn das erwartete Segelschiff in Morro eingelaufen sei. Als<br />

der Anruf schließlich kam, konnte er nur noch berichten, dass<br />

in diesem Moment die ›Rose of Sharon‹ den Hafen mit Kurs<br />

nach Norden verlassen würde.<br />

Schiefgelaufen. Sie würde Peer nicht zur Rede stellen können.<br />

Sie ging die wenigen Schritte zum Strandrestaurant und<br />

nahm ihr Fernglas mit. Sie konnte das Schiff schon erkennen,<br />

wie es um die Morro-Spitze herumkam. Die Besatzung setzte<br />

gerade die Rahsegel, nicht gerade schnell und professionell,<br />

wie sie das als erfahrene Seglerin zu beurteilen wusste. Die See<br />

war rau. Meterhohe Wellen spülten über den weiten Sandstrand.<br />

Die Brigantine segelte nach Osten und nicht direkt nach<br />

Norden, weil sie nicht hoch genug an den Wind kam. Die Besatzung<br />

versuchte jetzt überraschend, eine Wende einzuleiten.<br />

Die Befehle klangen ihr im Ohr:<br />

„Klar zum Wenden!“<br />

„Luv zum Wenden!“<br />

„Ree!“<br />

„Rund achtern!“<br />

„Rund vorn!“<br />

„Beim Wind steuern!“<br />

Die Rahsegel hatten zu flattern begonnen und wieder den<br />

vollen Wind gefangen. Sie blähten sich, bis sie richtig gebrasst<br />

waren. Die Brigantine war schon fast auf der Höhe des Aldia-<br />

238


na Clubs angekommen – immer noch in Sichtweite von Gerda<br />

Beilharz und ihrem Fernstecher – und bewegte sich schnell<br />

bedrohlich nahe auf die Küste zu. Dann geschah das Unerwartete.<br />

Die Brigantine versuchte, mit dem Wind auf den anderen<br />

Bug zu gehen. Sie halste! Anscheinend wollte Peer zurück zum<br />

Hafen! Das konnte nicht gut gehen! Sie würde auf den Strand<br />

auflaufen! Dies vor Augen, ging Gerda schnellen Schrittes den<br />

Strand entlang dem Schiff entgegen. Sie sah, wie das Schiff<br />

auf den Strand zusteuerte und dann auf Grund festsaß. Sie<br />

glaubte, das Knirschen des Kiels auf dem groben Sand und den<br />

schwarzen Steinen zu hören.<br />

Manche sprangen schon von Bord, um schwimmend das<br />

seichte Wasser zu erreichen.<br />

Peer hatte die Katastrophe kommen sehen. Kurz, nachdem<br />

sie den Hafen verlassen hatten, schlugen meterhohe Wellen<br />

heftig gegen den Rumpf. Wahrscheinlich war es eine morsche<br />

Planke, die brach, jedenfalls strömte Wasser in großen Mengen<br />

in den Rumpf. Jetzt zeigte sich, dass es ein Fehler war, die<br />

Brigantine in Tanger nicht überholen zu lassen. Zu viele Eignerwechsel<br />

hatte sie in den vergangenen Jahren über sich ergehen<br />

lassen müssen, von denen jeder eine kostspielige Renovierung<br />

gescheut hatte. Die Lenzpumpen waren viel zu<br />

schwach, eine funktionierte überhaupt nicht und das Wasser<br />

stieg. Wollte er in dieser Situation zum Hafen zurück? Würde<br />

die ›Rose‹ die Strecke schaffen, ohne Schlagseite zu bekommen<br />

und zu sinken? Und was sollte im Hafen geschehen? Das<br />

Leck abzudichten, wäre dann vielleicht schon zu spät. Er spürte,<br />

wie das Schiff den Sand berührte. Es war ein schürfendes<br />

Geräusch. Sie würde von selbst nicht mehr freikommen, wenn<br />

sie einmal aufgelaufen war. Nur ein Hochseeschlepper könnte<br />

das schaffen. War sein Traum vom eigenen Schiff <strong>aus</strong>geträumt?<br />

239


Er musste sofort zurück zum Hafen, Dichtungsmaterial besorgen,<br />

die Lenzpumpen reparieren lassen, falls es einen kompetenten<br />

Mechaniker auftreiben konnte, und das Boot mit einem<br />

Schlepper her<strong>aus</strong>ziehen lassen. Wenn er ehrlich war,<br />

zweifelte er an einem Erfolg. Das würde alles sehr teuer werden<br />

und seinen Gewinn aufzehren, den er unter seiner Hose in<br />

einem wasserdicht verschweißten Plastikbeutel bei sich trug.<br />

Er wollte kein Risiko eingehen und die Scheine in seiner Koje<br />

lassen. Die angeheuerten Seeleute würden bei einem solchen<br />

Betrag hohe Risiken eingehen, vielleicht sogar Gewalt anwenden,<br />

und den deutschen Studenten traute er auch nicht über<br />

den Weg.<br />

Ein Versuch war es wert. Er schwamm an Land und machte<br />

sich auf den Weg zum Robinson Club, um von dort mit einem<br />

Taxi zum Hafen zu fahren.<br />

Er war kaum einige Schritte gegangen, als er sie erkannte.<br />

Seine Großmutter Gerda! Hier? Das war doch ganz und gar<br />

unmöglich! Er hatte niemanden, weder einem Familienmitglied<br />

noch einem seiner Bekannten, erzählt, dass das Schiff in Tanger<br />

lag und das Ziel <strong>Fuerteventura</strong> war.<br />

„Peer“, sagte sie, „was hast du getan! Ist es dir nicht immer<br />

gut gegangen? Hast du nicht immer alles gehabt, was du für<br />

ein angenehmes Leben brauchtest? Nein, du musst Drogen<br />

schmuggeln! Drogen, die viele Menschen ins Unglück stürzen.<br />

Die daran zugrunde gehen und ihre Angehörigen mit ins Unglück<br />

ziehen. Ein Mensch braucht bis zu dreißig Tage, um den<br />

aufgenommenen Stoff von nur einem einzig gerauchten Joint<br />

abzubauen. Hast Du jemals daran gedacht, was du mit deinem<br />

Tun anrichtest?“<br />

Peer war die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Wie<br />

hatte seine Großmutter das her<strong>aus</strong>finden können?<br />

Er gab keine Antwort. Sie hatte ihn zur Begrüßung diesmal<br />

240


auch nicht in ihre Arme geschlossen. Nur Tränen der Enttäuschung<br />

liefen ihre Wangen herunter.<br />

„Wie viel Geld hast du bekommen? Lüge mich nicht an!<br />

Nenne die Summe jetzt und gleich. Oder willst du, dass ich<br />

mich hier umdrehe, weggehe und dich nicht mehr kennen<br />

werde? Dich <strong>aus</strong> meinem Leben streichen? Mit all den verbundenen<br />

Konsequenzen?“<br />

Peer sah seine Chancen schwinden. Wollte er sein Erbe aufs<br />

Spiel setzen?<br />

„300 000 DM habe ich bekommen“, presste er schließlich<br />

her<strong>aus</strong>.<br />

„Gib mir das Geld!“, forderte Gerda ihn unmissverständlich<br />

auf.<br />

Er zog den Plastikbeutel <strong>aus</strong> seiner Hose.<br />

„Ist das auch wirklich alles?“<br />

„Ich schwöre, es ist alles.“<br />

„Ich werde dieses Geld einer Suchhilfegruppe übergeben, die<br />

sich der Rehabilitation von Drogensüchtigen widmet. Dein<br />

Geld soll wenigstens den Schaden etwas begrenzen, den du<br />

mit deinen kriminellen Drogengeschäften anrichten wirst oder<br />

schon angerichtet hast. Darüber hin<strong>aus</strong> wirst du weder von<br />

mir, und ich werde dafür sorgen, noch von deinem Vater irgendwelche<br />

finanziellen Mittel mehr bekommen. Ich geb dir<br />

aber eine Chance: Du kannst in meinem Betrieb im Lager anfangen<br />

und dich hocharbeiten wie jeder andere Angestellte<br />

auch. Du wirst dabei keine bevorzugte Behandlung erfahren,<br />

weil ich deine Großmutter bin und du ein ›Beilharz‹ bist. Diesen<br />

Namen musst du dir zuerst verdienen. Das wollte ich dir<br />

sagen, und deshalb bin ich hierher geflogen. Heute noch geht<br />

mein Flugzeug zurück. Ich erwarte dich in einer Woche in<br />

meinem Büro in Hamburg.“<br />

Würde der Junge auf ihren Vorschlag eingehen? Sie hoffte<br />

241


es inständig, aber innerlich glaubte sie nicht daran. Sie wusste:<br />

Ist jemand einmal auf die schiefe Bahn geraten, wird er<br />

meistens dort bleiben. Schon Charles Dickens hatte 1837 in<br />

seinem Buch ›Oliver Twist‹ geschrieben: ›Monks‹, Halbbruder<br />

von Oliver Twist, blieb kriminell, obwohl er durch sein Erbe<br />

reich geworden war und Betrügereien für seinen Lebensunterhalt<br />

nicht mehr nötig waren.<br />

Damit ließ sie Peer stehen und ging langsam am Strand über<br />

den festgetretenen Sand zum Club zurück.<br />

Peer stand mit leeren Taschen da. Das Boot retten zu wollen,<br />

war gegenstandslos geworden. Er hatte kein Geld, um irgendwelche<br />

Reparaturen, geschweige denn einen Schlepper zu bezahlen.<br />

Jan und Katja würden von ihrem Anteil nichts her<strong>aus</strong>rücken.<br />

Das Angebot der Großmutter würde er im Leben nie annehmen.<br />

Was dachte sich die alte Frau denn bei ihrem Vorschlag?<br />

Im Lager arbeiten? Er? Niemals in hundert Jahren. Da würde<br />

er eher auf den Vorschlag von Jan und Katja eingehen. Eine<br />

Erpressung der alten Dame würde ein viel einträglicheres Geschäft<br />

sein als Drogen zu schmuggeln. Sie würde bezahlen. Er<br />

hatte immer noch die verträumten Augen, die auch Gerdas<br />

Mann gehabt hatte. Er würde die beiden in Frankfurt treffen,<br />

um einen gemeinsamen Plan für eine vorgetäuschte Entführung<br />

<strong>aus</strong>zuhecken.<br />

Wie in Trance kehrte er zur Unglücksstätte zurück. Alle Bemühungen<br />

der Crew, unterstützt von Strandurlaubern, waren<br />

natürlich vergeblich, das Boot wieder flott zu kriegen. Eine<br />

37 Meter lange Brigantine!<br />

242


Was geschah mit der Brigantine?<br />

In den Jahren von 1986 bis 2006, das war das Jahr, in dem<br />

die letzten Reste der Rose of Sharon im Sand verschwunden<br />

sind, habe ich, als Erzähler dieser Geschichte, 36-mal Urlaub<br />

im Aldiana Club gemacht und bezog, wenn immer möglich,<br />

den Bungalow 757 über den Klippen. Regelmäßig war ich am<br />

Strand joggen, oft an dem Wrack vorbei bis zum Mäuseturm,<br />

wie der alte Leuchtturm von den eingefleischten <strong>Fuerteventura</strong>-Urlaubern<br />

im Süden der Insel genannt wird. Von Jahr zu<br />

Jahr konnte ich beobachten, wie das Segelboot mehr und mehr<br />

verrottete und verwitterte. Schnell waren die Segelfetzen weg,<br />

dann die Masten. Der Rumpf brauchte länger. Doch nach zwanzig<br />

Jahren hatten der Wind, die Wellen, der Sand und die Sonne<br />

ihr Werk vollendet. Nichts war von dem gestrandeten Schiff<br />

mehr übrig, nichts erinnerte mehr an das Wrack der ›Rose of<br />

Sharon‹. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass nichts auf<br />

dieser Welt von Dauer ist. Alle von Menschenhand geschaffenen<br />

Werke gehen denselben Weg: Gehen verloren, verrotten,<br />

verschwinden. Eine Frage der Zeit.<br />

Jetzt schon kann sich offenbar niemand mehr an die damalige<br />

Crew erinnern. Oder doch?<br />

Der Eingang zum Bungalow 757 ist beidseitig mit Hibiskusbüschen<br />

bepflanzt. Ich entdeckte einige Blüten darunter, die<br />

der Rose of Sharon-Hibiskusblüte sehr ähnelten. Und dieser Hibiskusbusch<br />

hält bei mir auch in den kommenden Jahren die<br />

Erinnerung an das gestrandete Segelschiff wach.<br />

243


Gustav Winter und seine Villa Winter<br />

Was ist Wirklichkeit, was Legende, was wilde Spekulation,<br />

wenn es um die Frage geht: Wer war Gustav Winter? War er<br />

General, Admiral, Spion, der für Canaris arbeitete, oder war<br />

er Chemiker und Ingenieur? Welchen Zweck sollte die geheimnisvolle<br />

Villa Winter an der menschenleeren Westküste von<br />

<strong>Fuerteventura</strong> erfüllen, an der sich die Fantasie vieler Besucher<br />

schon entzündet hat?<br />

Ich habe versucht <strong>aus</strong> den vielen Veröffentlichungen und<br />

auch den Informationen, die im Internet zu finden sind, im<br />

Folgenden eine chronologische Zusammenstellung aufzulisten.<br />

Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manche Aussagen<br />

müssen sogar vielleicht korrigiert werden, wenn neue<br />

Erkenntnisse gewonnen werden sollten. Einige der Quellen, die<br />

für die Recherchen benutzt worden sind, sind hier aufgeführt:<br />

• Stern, 04.04.1971, Die Glücksritter<br />

• Neue Züricher Zeitung, 10.4.1993<br />

• Frankfurter Rundschau, 13.12.1997, Das Geheimnis des<br />

Gustav Winter<br />

• Frankfurter Neue Presse, 29.03.1999, Mysteriöses Nazi-<br />

Erbe auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

• http:www.fuerteventura2000.de/Villa Winter<br />

• Die Woche, 12.04.2001, Seite 46, H<strong>aus</strong> im Süden<br />

• Eigene Recherchen: Stadtarchiv Titisee-Neustadt, 27. Juni<br />

2002, Hansestadt Lübeck, 4. Juli 2002<br />

• http://www.villawinter.com/chronik.htm, 2002<br />

• http://www.philosophie.at/cofete/site3.htm, 2002<br />

244


• Das Buch: Die Kette, Thriller von Wolfgang Kaes, März<br />

2005, im rororo Taschenbuchverlag<br />

• n-tv.de, Rätsel auf <strong>Fuerteventura</strong>, Die Villa Winter, 28.<br />

April 2006<br />

• La leyenda de Cofete, von Gustavo Winter-Alth<strong>aus</strong> (Sohn<br />

von Gustav Winter), Las Palmas de Gran Canaria 2005<br />

• http://hispanismo.org/reino-de-las-canarias/5643-laleyenda-de-gustav-winter-espia-nazienfuerteventura.html<br />

Publicado en Historia 16, abril y mayo de 2005: La Ley<br />

enda de Gustav Winter: ¿Espía nazi en <strong>Fuerteventura</strong>?,<br />

Don Cosme<br />

• http://viajarafuerteventura.blogspot.com/2005/09/<br />

janda-el-nido-del-halcn.html (Publicado en Historia 16,<br />

abril y mayo de 2005)<br />

Das Leben von Gustav Winter<br />

Der Name Gustav Winter ist mit der Insel <strong>Fuerteventura</strong> fest<br />

verbunden, da er dort die „Villa Winter“ gebaut hat, ein magischer<br />

Anziehungspunkt für alle Inseltouristen. Er wurde von<br />

den Einheimischen „Don Gustavo“ genannt und ist unter diesem<br />

Namen immer noch den in dem Städtchen Morro Jable<br />

alt gewordenen Menschen ein Begriff.<br />

Herr Vogelbacher vom Stadtarchiv Titisee-Neustadt schrieb<br />

an den Autor am 27. Juni 2002:<br />

„Bei meinen Nachforschungen konnte ich eine alte Meldekarte<br />

finden, die auf Gustav Winter <strong>aus</strong>gestellt war. Er wurde<br />

am 10.05.1893 in Zastler bei Freiburg geboren. Er zog am<br />

29.09.1914, von Rio Cuarto, einer Stadt in Argentinien, wohin<br />

ihn im Jahr 1913 sein jugendliches Temperament verschlagen<br />

hatte, kommend nach Neustadt/Schwarzwald in die Wilhelm-<br />

245


straße 1. Als Beruf wurde Chemiker angegeben. Verheiratet<br />

war Winter mit Johanna Winter geb. Adelsberger, geb. am<br />

06.02.1891 in Bermersbach bei Rastatt. Als Kinder sind auf der<br />

Meldekarte eine Isolde, geb. am 10.01.1912 in Paris, und eine<br />

Anamarie, geb. am 03.09.1914 in Lissabon, vermerkt. Im Januar<br />

1920 verzog die Familie nach Lübeck.“ (Anmerkung des<br />

Autors: Laut Auskunft der Meldestelle der Hansestadt Lübeck<br />

konnte Gustav Winter als in dieser Zeit gemeldet nicht ermittelt<br />

werden, auch nicht im Nebenregister-Archiv. Vielleicht<br />

war auch nur seine Frau mit den beiden Kindern nach dorthin<br />

verzogen, da er sich ja in dieser Zeit in Madrid aufhielt, wie<br />

folgender Absatz beschreibt.)<br />

Seine ersten Studien hatte er in Hamburg absolviert wahrscheinlich<br />

vor 1912.<br />

Gustav Winter kam bei einer Reise (oder einem Einsatz?) im<br />

Ärmelkanal 1915, also im Krieg, in englische Gefangenschaft.<br />

Die Engländer bezichtigen ihn der Spionage. Er wurde auf einem<br />

Schiff, das vor Portsmouth/England vor Anker lag, gefangen<br />

gehalten. Er konnte aber von dem Schiff fliehen und<br />

soll schwimmend das niederländische Schiff „Hollandia“ erreicht<br />

haben, das Kurs auf das neutrale Spanien nahm. Er gab<br />

sich dort als Engländer <strong>aus</strong>, was ihm Vorteile verschaffen sollte.<br />

Sein Name „Winter“ ist ein häufig vorkommender englischer<br />

Nachname, und er sprach die englische Sprache auch<br />

fließend. Er wurde deshalb vom britischen Konsulat in Madrid<br />

wie ein <strong>aus</strong> Seenot geretteter britischer Staatsbürger behandelt<br />

und bekam sogar finanzielle Unterstützung, von denen,<br />

die ihn Wochen zuvor als deutschen Spion verdächtigt<br />

hatten.<br />

In Madrid beendete er 1921 sein Ingenieurstudium. Mit erst<br />

drei Jahren Berufserfahrung auf dem spanischen Festland erhielt<br />

er den Auftrag, für die „Compañía Insular Canaria Colo-<br />

246


nial de Electricidad“ in Las Palmas de Gran Canaria 1924 das<br />

„Elektrizitätswerk CICER“ zu planen und den Bau zu überwachen.<br />

Es wurde am 21.10.1928 eingeweiht und in Betrieb<br />

genommen.<br />

Es gibt Hinweise, dass Winter sich erstmals im Jahr 1933<br />

kurz nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland auf der<br />

Halbinsel Jandia von <strong>Fuerteventura</strong> aufgehalten haben soll<br />

(nach Aussagen des Leiters des Historischen Archivs auf <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

Francisco Navarro Artiles). Sein Sohn Juan Miguel<br />

kann sich erinnern, dass er sogar zunächst liebäugelte,<br />

Lobos, die kleine Insel zwischen <strong>Fuerteventura</strong> und Lanzarote,<br />

zu kaufen, dann aber doch all seine Bemühungen auf Jandia<br />

lenkte. Jandia ist die südliche Halbinsel von <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

ein damals verlassenes, völlig unterentwickeltes Gebiet,<br />

fern jeder Zivilisation. Ein Wüstengebiet. Doch ein Verkauf von<br />

größeren Landflächen an Ausländer war 1937 durch ein von<br />

der Regierung erlassenes Decret verboten worden. Deshalb<br />

entschied er sich, die Halbinsel mit der riesigen Landfläche von<br />

18 000 Hektar zunächst nur zu pachten. Am 19.7.1937 unterschrieb<br />

Winter mit den Eigentümern von Jandia, dem Erben<br />

des Conde de Santa Coloma von Lanzarote, Marqués de Portago,<br />

in der in Nordspanien gelegenen Stadt Burgos einen entsprechenden<br />

Pachtvertrag. Das Grafengeschlecht gehört<br />

übrigens heute noch zu den größten spanischen Landbesitzern.<br />

Das Gebiet, das Gustav Winter von dem Marqués pachtete,<br />

war zwar riesig, dennoch dürfte die Pacht relativ gering gewesen<br />

sein, weil es sich zum damaligen Zeitpunkt um völlig<br />

wertloses Land handelte. Erloschene Vulkane, Wüste, absolut<br />

keine Infrastruktur: kein Trinkwasser, keine Elektrizität, keine<br />

Straßen, kein Hafen.<br />

Zunächst erwog Winter, eine Zementfabrik, später eine Fischfabrik,<br />

auf Jandia errichten zu lassen. Beide Projekte wurden<br />

247


jedoch vermutlich wegen des Spanischen Bürgerkriegs (1936–<br />

1939) nie realisiert. In diesem Jahr reiste Winter nach Berlin,<br />

um für ein nicht näher beschriebenes Vorhaben den nötigen<br />

finanziellen Zuschuss zu erhalten.<br />

Bald darauf, zwischen dem 14. Juli und 14. August 1938,<br />

entsendete aber Hermann Göring eine kleinere Gruppe von<br />

sogenannten Fischfangexperten (getarnte Militärexperten?), an<br />

Bord der „Richard Ohlrogge“, ein für den Fischfang <strong>aus</strong>gerüstetes<br />

Schiff, wahrscheinlich um auf <strong>Fuerteventura</strong> die Möglichkeit<br />

zur Errichtung einer militärischen Basis <strong>aus</strong>zuloten.<br />

Mit von der Partie war Gustav Winter, der sicher auch der<br />

Initiator dieses Unternehmens war. Fotos sollen von den besichtigten<br />

Gebieten gemacht und geografische Landkarten erstellt<br />

worden sein (Quelle: Hitler and Spain, by Robert H. Whealey,<br />

1989, The University Press of Kentucky).<br />

1938 soll es ein Treffen zwischen Winter und dem Abwehrchef<br />

Canaris, der als enger Freund Francos galt, gegeben haben,<br />

in dem vereinbart wurde, dass Winter auf Jandia für das<br />

Dritte Reich wirtschaftlich wichtige „Vorhaben“ durchführen<br />

sollte. Winter soll in dieser Zeit bereits als Agent der deutschen<br />

Abwehr in Spanien tätig gewesen sein.<br />

Im Juli 1938 wurde auf Vorschlag von Canaris ein Vorsorgefonds<br />

von 11,5 Millionen Reichsmark vom „Oberkommando<br />

der Marine“ für Treibstoffeinkäufe bereitgestellt. Das Geld<br />

wurde auf verschiedene Städte verteilt, wie Amsterdam, London<br />

und Zürich. Von der Summe wurden 1,5 Millionen Reichsmark<br />

für Spanien und eine Million für die Kanarischen Inseln<br />

abgezweigt.<br />

Am 30. März 1997 veröffentlichte die führende spanische<br />

Tageszeitung „El País“ eine sogenannte „schwarze Liste“. Sie<br />

wurde von den Alliierten bereits 1945 erstellt und enthält 104<br />

Personen, denen die Alliierten Kriegsverbrechen vorwarfen<br />

248


und die einen Wohnort in Spanien gehabt haben sollen. Diese<br />

Liste wurde seinerzeit dem spanischen Außenministerium<br />

übergeben, wo sie aber erst 1997 von der genannten Zeitung<br />

wiederentdeckt wurde und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht<br />

werden konnte.<br />

Das Dokument beweist die Zugehörigkeit von Gustav Winter<br />

zu einem dicht gespannten Netz von deutschen Agenten<br />

in Spanien vor und während des Zweiten Weltkrieges. Gustav<br />

Winter wird darin als „Deutscher Agent auf den Kanaren zuständig<br />

für die Beobachtungspositionen, <strong>aus</strong>gerüstet mit drahtloser<br />

Telefonie, und für die Versorgung der deutschen U-Boote.<br />

Aufenthaltsort: Calle de la Brisa 4, Teneriffa, oder Atlantica<br />

Comercial S. A., Jandia, <strong>Fuerteventura</strong>“ genannt.<br />

Ab 1939 dürften keine Einheimischen mehr die Halbinsel<br />

Jandia bewohnen, das Gebiet wurde komplett abgesperrt. Die<br />

meisten wurden evakuiert. Winter soll eine Flugzeug-Landepiste<br />

an der Südspitze von Jandia angelegt haben, deren Umrisse<br />

heute noch zu sehen sind. Auch den Fischereihafen in<br />

Morro Jable ließ er vergrößern. An der Westküste bei Cofete,<br />

in der Gegend, wo heute die Villa Winter steht, hatte es damals<br />

mehr geregnet als heutzutage, so dass eine bescheidene Landwirtschaft<br />

betrieben werden konnte und auch größere Schafsherden<br />

Futter fanden. Das soll Plünderer angezogen haben. Das<br />

soll auch der Grund für Winter gewesen sein, die Halbinsel an<br />

ihrer engsten Stelle mit einem hohen Zaun absperren zu lassen,<br />

etwas südlicher von dem heutigen „La Pared“ (laut Luis<br />

Fernández Fúster).<br />

Am 23. Oktober 1940 kam es zu einem Treffen zwischen<br />

Hitler und General Franco in Hendaye, dem französischen<br />

Atlantik Seebad unmittelbar hinter der spanischen Grenze.<br />

Unter anderem forderte Hitler einen deutschen Marinestützpunkt<br />

auf einer der Kanarischen Inseln. Franco lehnte aber nach<br />

249


geschickter Hinhaltetaktik zwei Monate später ab, weil er Spaniens<br />

Neutralität nicht aufs Spiel setzen wollte.<br />

Um dem zuvor erwähnten Dekret zu entgehen, gründete<br />

Winter eine Gesellschaft mit spanischen Strohmännern als<br />

Gesellschafter, die „Dehesa de Jandia Company, S.A.“, deren<br />

alleiniger Geschäftsführer jedoch er war. Der Erwerb des Gebiets<br />

durch diese Gesellschaft geschah am 28. April 1941 in<br />

Madrid mit einem notariell beglaubigten Kaufvertrag zwischen<br />

den Parteien. Die Gesellschaft ernannte Gustav Winter<br />

zum alleinigen Verwalter. De facto ist er jetzt der Eigentümer<br />

der Halbinsel.<br />

In der Zeitspanne 1940 bis 1944 soll Winter eine Werft der<br />

Deutschen Kriegsmarine bei Bordeaux, Frankreich nach Angaben<br />

seiner Frau Winter-Alth<strong>aus</strong> geleitet haben.<br />

Anfang 1945 konnte sich Winter von Bordeaux wieder in<br />

das neutrale Spanien absetzen. In Madrid lernte er kurz darauf<br />

seine zukünftige zweite Frau Elisabeth Alth<strong>aus</strong> kennen.<br />

Nach Aussagen der Familie Winter wurde mit dem Bau der<br />

Villa Winter im Jahr 1946 begonnen. In der Zeit war aber Gustav<br />

Winter gar nicht auf der Insel. Anderen, nicht bestätigten<br />

Quellen zufolge, sei mit dem Bau schon während des Kriegs<br />

begonnen worden.<br />

Im Jahr 1947 ließen die Alliierten das Ehepaar Winter wieder<br />

auf die Kanarischen Inseln zurückkehren.<br />

In diesem Jahr legte Gustav Winter die Tomatenplantage<br />

„Casas de Jorós“ an. Viele Brunnen sollen wieder saniert und<br />

einhundertt<strong>aus</strong>end Kiefern sollen an den Hängen des Pico de<br />

la Zarza, des höchsten Bergs <strong>Fuerteventura</strong>s, gepflanzt worden<br />

sein. Politische Häftlinge, in dem Städtchen Tefía auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

interniert, sollen die Schotterpiste von Morro Jable<br />

nach Cofete gebaut haben.<br />

250


Im Jahr 1950 sollen nach Aussagen von Einheimischen<br />

tagelang Sprengungen auf der Halbinsel Jandia stattgefunden<br />

haben. Sie sollen mit dem Bau der Villa in Zusammenhang<br />

gestanden haben. Die Villa Winter entstand in ihrer heutigen<br />

Form, nachdem die Genehmigung für eine Erweiterung erteilt<br />

worden war (Quelle: Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong>).<br />

Aber Gustav Winter erklärte in seinem denkwürdigen Interview<br />

1971 mit dem Reporter des „Sternmagazins“, er habe<br />

die Villa erst Ende 1958 erbaut.<br />

1962 übertrug die Firma „Dehesa de Jandia S. A.“ ca. 2 00 ha<br />

Land zwischen Morro Jable und Cofete an Gustav Winter<br />

sozusagen „als Entschädigung für die Erschließung der Halbinsel<br />

Jandia“ (Quelle: Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong> bzw.<br />

Stern), was natürlich Augenwischerei war, weil ihm die Firma<br />

mehr oder weniger von Anfang an gehörte.<br />

1971 starb Gustav Winter im Alter von 78 Jahren in Las Palmas,<br />

Gran Canaria. Kurz darauf erschien der Artikel im<br />

„Stern“.<br />

1985 fanden Renovierungsarbeiten an der Villa durch seine<br />

Erben statt. Die Kellerzugänge wurden zugemauert (Quelle:<br />

Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong>).<br />

Die Villa wurde in den 1990er Jahren von einer privaten<br />

Überwachungsfirma vor allzu neugierigen Besuchern geschützt.<br />

Die Villa mit dem ganzen Areal ringsum wurde etwa 1998<br />

von dem kanarischen Bau- und Hotelkonzern Lopesan S.A.,<br />

Las Palmas, aufgekauft. Hauptanteilseigner der Firma soll Don<br />

Felipe Marqués de Portago sein – der Sohn des Mannes, von<br />

dem Gustav Winter seinerzeit die Halbinsel gepachtet hatte.<br />

Hier scheint sich der Kreis zu schließen. Wird jemals ein Hotel<br />

an dieser Stelle entstehen?<br />

251


Nach wie vor zieht die Villa Winter den Besucher in ihren<br />

Bann. Die Familie Winter hat nie darin gelebt oder gewohnt<br />

und offensichtlich auch nie die Absicht gehabt, sich dort niederzulassen.<br />

Welchen Ideen ist Gustav Winter gefolgt? Welchen<br />

Zweck hat dieses schlossartige, im spanischen Stil gebaute<br />

Herrenh<strong>aus</strong> mit seinen dicken Mauern und großen Kellern erfüllen<br />

sollen? Elektrische Anlagen mit dicken Kupferdrähten<br />

und überdimensionierten Schaltgeräten sind installiert, die<br />

sicherlich nicht für ein reines Wohngebäude gebraucht worden<br />

wären. Viele Fragen sind noch offen und geben Raum für<br />

eigene Interpretationen. Eines ist aber sicher: Gustav Winter<br />

war ein außergewöhnlicher Mann, mit Abenteuerlust, Tatkraft,<br />

hoher Intelligenz und Fantasie! „Don Gustavo!“ von <strong>Fuerteventura</strong>.<br />

Seine Söhne sollen in Las Palmas leben (2010):<br />

Juan Miguel Winter Alth<strong>aus</strong> und<br />

Gustavo Winter Alth<strong>aus</strong>.<br />

252


Wissenswertes über die Insel <strong>Fuerteventura</strong><br />

Es war, glaube ich, mein erster Urlaub, den ich im Frühjahr<br />

1984 im Jahr zuvor eröffneten Club Aldiana zubrachte. Auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, der zweitgrößten und ältesten Insel der Kanaren<br />

und der Nächstgelegenen zu Afrika, der Marokko-Sahara,<br />

nur 120 km nach Westen entfernt. Die Insel ist vulkanischen<br />

Ursprungs. Die vulkanische Aktivität erlosch jedoch schon vor<br />

4000 bis 5000 Jahren im Gegensatz zu der nördlichen Nachbarinsel<br />

Lanzarote.<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, übersetzt Insel der starken Winde oder manche<br />

meinen auch Insel des Glücks (spanisch: es islas afortunadas).<br />

Was kann man auf dieser Insel schon erleben, was kann<br />

man über sie berichten? Das waren damals meine Gedanken.<br />

Vor nicht einmal hundert Jahren eine der verlassensten Regionen,<br />

in diesem Fall eine Insel, im spanischen Reich, Ein idealer<br />

Verbannungsort.<br />

Obwohl <strong>Fuerteventura</strong> die zweitgrößte Insel der Kanaren ist,<br />

fast 100 km lang und 30 km breit, ist sie für den Tourismus viel<br />

später als Teneriffa und Gran Canaria erschlossen worden, die<br />

durch ihre stark frequentierten Häfen, Puerto de la Cruz und<br />

Las Palmas, schon Anschluss an den internationalen Verkehr<br />

gefunden hatten. Auch die schon <strong>aus</strong>gebauten Flughäfen spielten<br />

eine Rolle.<br />

Erst in den 1970er Jahren sollte sich das für „die Insel des<br />

Lichts“ ändern. Zwei Faktoren kamen da zur Geltung, waren<br />

die „Initialzündung“ für die rasante Entwicklung des Tourismus,<br />

die folgen sollte. Heute sind es etwa 1,5 Millionen Urlauber<br />

pro Jahr.<br />

253


Das Rui Palace Tres Islas Hotel im Norden<br />

Im Norden der Insel unweit dem Städtchen Corralejo mitten<br />

in einer einmaligen Dünenlandschaft mit weißgoldenem<br />

Muschel- und Quarzsand wurde eine riesige Fünfstern Hotelanlage<br />

geplant und schließlich auch gebaut. Das Tres Islas Hotel.<br />

Eine Baugenehmigung wäre heute in diesem Gebiet undenkbar,<br />

das jetzt als Naturreservat geschützt ist. Es waren schon<br />

Überlegungen im Gange, die jetzt noch bestehende Hotelanlage<br />

abzureißen, um die Dünenlandschaft wieder in ihren jungfräulichen<br />

Zustand zurückzuführen. Doch es scheiterte an dem<br />

Widerstand der dort Beschäftigten, die gewerkschaftlich organisiert<br />

sind.<br />

Die 1970er Jahre waren die Jahre der Bauherrenmodelle, die<br />

der deutsche Staat steuerlich förderte. Für viele Gutverdienende<br />

eine Möglichkeit, der hohen Steuerlast zu entkommen. Der<br />

Höchststeuersatz war nämlich 56 %, davon zuzüglich 8 % für<br />

die Kirchensteuer (falls zutreffend) und dann noch obendrauf<br />

die von der SPD beschlossene 10 % Ergänzungsabgabe.<br />

Wie sollte ein solch ‚gigantisches‘ Projekt finanziert werden?<br />

Wie sollte es sich letztlich rechnen? Da bot sich doch ein Bauherrenmodell<br />

an. Selbstständige und andere mit hohen Einkommen<br />

in Deutschland wurden für solche Projekte mit hohen<br />

Verlustzuweisungen geködert.<br />

Überhöhte Bau-, Vertriebs-, Finanzierungs-, Agio- und Werbungskosten,<br />

erlaubten den Initiatoren (oftmals steckten Banken<br />

dahinter) hohe Verlustzuweisungen <strong>aus</strong>zustellen, die oft<br />

die schon hoch kalkulierten Baukosten überschritten z. B. 120<br />

bis 150 %. Manchmal wurde sogar die angefallene Mehrwertsteuer<br />

zurückerstattet.<br />

Mit solchen überhöhten Kosten ist ein rentabler Betrieb, in<br />

254


Das Riu Palace Tres Islas<br />

diesem Fall eines Hotels, nicht möglich. Letztlich war ein solches<br />

Projekt darauf <strong>aus</strong>gelegt, dass es in Konkurs ging und der<br />

Anleger sein Geld verlor. Danach, wurde der Bau billig an eine<br />

Bank verkauft, die schon den Konkurs erwartet hatte und in<br />

den Startlöchern bereitstand. Jetzt konnte der neue Besitzer<br />

das Hotel rentabel betreiben, weil die Zinsbelastung sich entsprechend<br />

verringerte.<br />

So gesehen also ein wohl kalkuliertes Betrugsmodell. Ich kenne<br />

keines von den damaligen Bauherrenmodellen, das ordentlich<br />

abgewickelt worden ist und schließlich für den ursprünglichen<br />

Investor (Steuervorteile mit eingerechnet) gewinnbringend<br />

aufgegangen war.<br />

Ich kann mich noch erinnern. Das Tres Islas Bauherrenmodell<br />

wurde auch mir angeboten. Hochglanzprospekte mit Plänen<br />

255


und Fotografien eines zweiflügligen, im Winkel zueinander<br />

angeordnet, sieben Stock hohen Hotelb<strong>aus</strong>, mit einer Swimmingpool<br />

Landschaft mittendrin, alles eingebettet in einer weiß<br />

gelblichen Dünenlandschaft. Im Parque Natural de las Dunas<br />

de Corralejo, einem Nationalpark, der sich über 11 km entlang<br />

des Meers erstreckt. – Hier ist der Kelch noch einmal an mir<br />

vorbeigegangen.<br />

Aber ich wurde doch in den Sumpf der Bauherrenmodelle<br />

hineingezogen. Ich beteiligte mich an Appartements auf Ibiza,<br />

an einem Hotel auf Gran Canaria namens El Rondo (es<br />

wurde nach dem Konkurs zu einem Spottpreis von einer anderen<br />

Hotelgruppe aufgekauft und existiert heute noch) und<br />

an einem Klinikum bei Hannover, woran sogar das Land Niedersachsen<br />

mit im Boot war. Alle sind sie in Konkurs gegangen.<br />

Und die Gefahr lauerte, dass das Finanzamt zum Schluss<br />

noch die zunächst gewährten Verlustzuweisungen in Frage<br />

stellte.<br />

Doch das so sanierte Tres Islas, damals ein Fünfsterne Hotel,<br />

heute (2021) immer noch vier Sterne, wurde nach der Eröffnung<br />

mit Begeisterung angenommen.<br />

Der Robinson Club Jandia Playa im Süden<br />

Im Süden aber, etwa 90 km entfernt, als Kontrapunkt zum<br />

Norden von <strong>Fuerteventura</strong>, gibt es auch wunderschöne lange,<br />

breite Sandstände. Beim Städtchen Morro Jable z. B. der Jandia<br />

Playa Strand. Der Süden wird durch die Halbinsel Jandia<br />

bestimmt, die bei der engsten Stelle der Insel beginnt und sich<br />

bis zur Südspitze erstreckt.<br />

Anfang der 70er Jahre war Morro vom Flughafen Puerto del<br />

Rosario erst nach Stunden über schlecht befahrbare Schotterpisten<br />

zu erreichen. Erst 1983 wurde die erste asphaltierte Stra-<br />

256


Alte Hotelanlage, vor 1970<br />

Blick vom Turm (span. La Torre) nach Morro Jable<br />

257


Neue Hotelanlage, Foto von 2021<br />

Mit der berühmten Kaktushecke entlang der Promenade<br />

Wer mehr über die Entstehung und die Geschichte des „Turms“<br />

wissen möchte, sei das Buch La Torre/50 Jahre des Insiders Monti<br />

Galmés wärmstens empfohlen, das zum Neubau des „La Torre“<br />

im Jahr 2018 veröffentlicht worden ist.<br />

258


ße gebaut. Auch hier entstand ein Kristallisationspunkt für den<br />

Tourismus durch die Initiative eines Deutschen Namens Rolf<br />

Bruns, der seinen Beruf als Schlosser in Deutschland aufgegeben<br />

hatte und auf die Kanarischen Inseln zog. Er lernte den<br />

Bauunternehmer Andrés Martin kennen.<br />

Zusammen standen sie am Strand von Jandia Playa. Vor ihnen<br />

endloser weißer<br />

Sandstrand. Fasziniert<br />

von dem Standort hatten<br />

sie die Vision, hier ein<br />

Hotel zu bauen. Der Bau<br />

des Hotels begann 1967.<br />

Nicht gerade klein geplant.<br />

Acht Stockwerke<br />

hoch. Bei den Einheimischen<br />

prägte sich bald<br />

der Name „La Torre“<br />

dafür, das spanische<br />

Wort für Turm. Das Hotel<br />

bekam jedoch den Namen<br />

„Jandia Playa“. Die<br />

dahinterstehende Gesellschaft<br />

Jandia Playa S.A.<br />

Die Quelle von Robinson<br />

Auf einer aufgestellten Bronzetafel<br />

lesen wir:<br />

Wasser ist Leben. Das Wasser dieser<br />

Quelle ermöglichte teilweise bereits<br />

1968 den Bau des Jandia Playas und<br />

somit die Geburt von Robinson.<br />

259<br />

Das Hotel hatte anfangs<br />

wenige Gäste, war nur zu<br />

20% <strong>aus</strong>gelastet. Der Konkurs<br />

hing wie ein Damoklesschwert<br />

über der Anlage<br />

mit ihren 200 Betten.<br />

Trotzdem es wurde Tourismusgeschichte<br />

geschrieben,<br />

obwohl es


damals direkt an der Küste von Morro Jable weder eine geregelte<br />

Strom- noch Wasserversorgung gab. Und keine Straßenanbindung.<br />

Die TUI AG, das schon damals führende Touristikunternehmen<br />

in Deutschland, witterte eine Chance, weil unerwartete<br />

Hilfe kam.<br />

Willy Brandt auf der Insel<br />

Der damalige deutsche Bundeskanzel buchte einen Erholungsurlaub<br />

und wählte dazu das Jandia Playa Hotel. Willy<br />

Brandt, nach dem gewonnenen Wahlkampf als Sieger hervorgegangen,<br />

jedoch gesundheitlich mit seinen Stimmbändern<br />

angeschlagen, suchte an einem ruhigen, warmen Ort am Meer<br />

Willy Brandt mit seiner Frau Rut beim Esel Ausritt 1973<br />

260


Willy Brandt mit Sonnenbrille 1973<br />

Skulptur von<br />

Willy Brandt mit<br />

seinem Hund an<br />

der Promenade<br />

vor dem jetztigen<br />

Robinson Club<br />

(2021)<br />

261


Brandt mit seinem Hund<br />

Erholung und nahm seine Familie mit. Aber auch seinen geliebten<br />

Hund Bastian, sein treuer Begleiter.<br />

Das war zu Weihnachten 1972 und der folgenden Jahreswende.<br />

Ein Glückstreffer für Brandt, denn er erholte sich prächtig,<br />

aber auch für den Süden der Insel, denn durch die Aufmerksamkeit<br />

in der Presse war sein Aufenthalt wie eine Initialzündung<br />

für den Tourismus im Süden der Insel.<br />

Die Bunte und der Stern berichteten über seinen Urlaub, ein<br />

Sternreporter, Robert Lebeck, war ihm unentwegt auf der Spur.<br />

Das vorstehende Bild zeigt Willy Brandt auf einem Esel, gefolgt<br />

von seiner Frau Rut, bei einem Ausritt nach Cofete, eine<br />

kleine Siedlung, eigentlich nur eine Kaffeebar, an der wilden<br />

Westküste.<br />

Ziemlich weit, auch mit einem trittfesten und schwindelfreien<br />

Esel einem schlechten nicht <strong>aus</strong>gebauten Pfad an Abhängen<br />

entlang, dürfte man hierzu wahrscheinlich fünf Stunden<br />

brauchen. Deswegen ist diese Aussage zweifelhaft.<br />

Von hier musste er die Regierungsgeschäfte erledigen. Nicht<br />

262


so einfach, denn die Funkverbindung nach Deutschland musste<br />

vom Militär erst aufgebaut werden. Wer einmal auf der Insel<br />

mit dem traumhaften Wetter und dem klaren sauberen<br />

Meerwasser Urlaub gemacht hat, wird höchstwahrscheinlich<br />

wiederkommen. So soll es auch Brandt ergangen sein.<br />

Die Insel soll eine Heilwirkung haben. Auf einem meiner<br />

Rückflüge saß ein Arzt neben mir. Er berichtete mir, dass er<br />

zusammen mit Kollegen ein Sanatorium für Krebskranke an<br />

der Westküste eröffnet hätten. Die Heilungschancen seinen<br />

hier nachweislich erheblich höher als in einem vergleichbaren<br />

Sanatorium in Deutschland. Keine Sekunde lang bezweifelte<br />

ich seine Aussage.<br />

Die Einwohner von Fuerte haben den damaligen Bundeskanzler<br />

nicht vergessen. An der Promenade vor dem Robinson<br />

Club ließen sie als Dankeschön eine Skulptur von ihm mit<br />

seinem Hund, geschaffen von dem kubanischen Künstlers<br />

Rafael Gómez, aufstellen.<br />

Doch zurück zu TUI. Zunächst vergab sie ein Darlehen, das<br />

in Aktien umgewandelt werden konnte. Schließlich besaß TUI<br />

die Mehrheit. Sie nahm weitere Investoren mit ins Boot, so z.B.<br />

auch die Steigenberger Hotel Gruppe. Im Jahre 2006 wurde<br />

die TUI AG zur alleinigen Eigentümerin des Robinson Jandia<br />

Clubs, in dessen Mittelpunkt „la Torre“ immer noch steht (2018<br />

abgerissen und in ähnlichem Aussehen neu errichtet, nachdem<br />

die B<strong>aus</strong>ubstanz des alten Turms zu wünschen übrigließ. Der<br />

damals verwendete Zement war mit salzhaltigem Wasser <strong>aus</strong><br />

einer Quelle in Ermangelung einer anderen Möglichkeit angerührt<br />

worden, mit der Folge von brüchigem Beton. Die Quelle<br />

sprudelt heute immer noch und ist auf dem Clubgelände als<br />

Blickfang zu besichtigen. Quellen sind außergewöhnlich auf<br />

der Insel, auf der es selten regnet, was man an der kargen Vegetation<br />

leicht erkennen kann.<br />

263


Die TUI nahm den französischen Club Méditerranée zum<br />

Vorbild. Achtertische beim Essen. Bezahlen mit Perlen.<br />

Vielleicht erinnert sich noch jemand meiner Leser an diese erste<br />

Zeit. Auf Sport und Unterhaltung wird Wert gelegt. Abendliche<br />

Shows im Clubtheater. Der Name „Robinson“ basiert natürlich<br />

auf Robinson Crusoe, Abenteuer suggerierend. So entstand<br />

der erste Robinson Club 1971. Im Laufe der kommenden<br />

Jahre sollten viele weitere folgen, in vielen Ländern der Welt.<br />

Manche davon waren unrentabel und verschwanden wieder<br />

<strong>aus</strong> dem Angebot der TUI. Ich erinnre mich z. B. an den Baobab<br />

in Kenia, an den Bentota auf Sri Lanka und den Tulum in<br />

Mexico. Aber einer soll doch noch erwähnt werden. Der Erfolg<br />

des Clubs auf Fuerte bewirkte, dass sich TUI dazu entschloss,<br />

einen weiten Club vornehmlich für Familien mit Kindern<br />

zu eröffnen, der etwa 6 km nördlich am gleichen Strand<br />

aber auf einem höher gelegenen Plateau angesiedelt ist. Der<br />

Robinson Esquinzo, gebaut 1989, eröffnete 1990.<br />

Miguel de Unamuno auf der Insel<br />

Noch 1924 wurde der der spanischen Regierung unbequeme<br />

Dichter und Philosoph Miguel de Unamuno (1864–1936),<br />

ein Baske, auf die Insel verbannt, bei Nacht und Nebel war er<br />

abgeholt worden. Er verbrachte einige Monate auf der Insel,<br />

bis ihm die Flucht auf einer Brigantine nach Paris gelang. Auf<br />

der Insel konnte dieser Unruhestifter in den Augen der spanischen<br />

Regierung keine Zeitungsartikel gegen die Regierung<br />

verfassen. Er war sozusagen „stillgelegt“, denn hier gäbe es<br />

nichts, was ihn zum Schreiben drängen könnte, keine Infrastruktur<br />

- Strom hin und wieder vom einem Dieselgenerator,<br />

verseuchtes Trinkwasser, - kein kulturelles Leben, wenn man<br />

einmal von dem Einfluss der katholischen Kirche absieht.<br />

264


Miguel de Unamuno auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

Miguel de Unamuno<br />

Ein optimaler Ort, um Jemanden in der Versenkung verschwinden<br />

zu lassen und ihm jeder Kommunikationsmöglichkeit<br />

zu berauben. Er soll geschrieben haben, dass <strong>Fuerteventura</strong><br />

eine Insel sei, die wie Skelett auf dem Meer liege. Man müsse<br />

zu verstehen wissen, wie man in einem Totenschädel einen<br />

schönen Kopf erkennen könne. Später aber sah er es etwas<br />

anders. Von ihm stammt der Ausspruch „<strong>Fuerteventura</strong> ist<br />

eine Oase in der Wüste der Zivilisation. Diese Erde, diese nob-<br />

265


le fleischlose Erde, sagt ihren Söhnen die Wahrheit, sie betrügt<br />

sie nicht. Und deshalb lieben sie sie.“ Über die Nachbarinsel<br />

Gran Canaria solle er <strong>aus</strong>gerufen haben: „Ein Gewitter <strong>aus</strong><br />

Stein!“<br />

Ein <strong>Fuerteventura</strong> Fan schloss sich dem Urteil des Basken<br />

an:<br />

Eine die Seele reinigende Kargheit und Wüste, die die spezielle<br />

Schönheit <strong>aus</strong>strahlt, welche nicht jedem zugänglich ist, sondern<br />

nur demjenigen, der gelernt hat auf der Isla de La Luz (Insel des<br />

Lichts) Besonderes zu sehen und zu erleben.<br />

2015 wurde die Insel zum UNESCO-Lichtschutzgebiet erklärt<br />

Die wenigen Einwohner von <strong>Fuerteventura</strong>, 1970 weniger<br />

als 5000, nennt man auch Guanchen, die als Ureinwohner bezeichnet<br />

werden können, wahrscheinlich von den einst gelandeten<br />

Phönizier (von dem heutigen Libanon/Syrien) abstammend.<br />

Ausgebaute Straßen hat es nicht gegeben, die ersten sollen<br />

erst in den 1970er Jahren angelegt worden sein, dafür Schotterwege,<br />

manchmal mit Steinplatten gepflastert, wie es einst<br />

die Römer taten, die für Esel und Kamele geeignet waren.<br />

Das Klima ist das ganze Jahr über mild, was den Kanarischen<br />

Inseln den Beinamen Inseln des ewigen Frühlings eingebracht<br />

hat. Das Meer gleicht die Temperaturen <strong>aus</strong>, und der<br />

fast ununterbrochen wehende Nordostpassatwind hält die<br />

heißen Luftmassen <strong>aus</strong> der nahen Sahara zumeist fern. Es regnet<br />

selten. Die Insel ist karg. Kaum, dass man in der Landschaft<br />

grüne Stellen entdeckt. Landwirtschaft wird kleingeschrieben,<br />

weil Wasser zur Bewässerung fehlt.<br />

Die überall frei herumstreunenden Ziegen tun das Übrige.<br />

Sie fressen die wenigen Gräser bis auf die Wurzeln ab. Fuerte<br />

266


wird auch als die Insel der Ziegen genannt. Die Vielzahl der<br />

Ziegen hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Insel zu<br />

einer Halbwüste geworden ist, vergleichbar mit der Großen<br />

Karoo in Südafrika. Auch der Holzeinschlag in früheren Zeiten,<br />

als die Insel teilweise noch bewaldet war, wie versteinerte<br />

Äste belegen, hat daran schuld.<br />

In einigen Gemeinden wird seit einiger Zeit die Heilpflanze<br />

Aloe Vera versuchsweise angebaut.<br />

Kulinarisch ist zu berichten: Ziegenkäse in vielen Variationen<br />

(wen wunderts?), kanarische Kartoffeln (Papas Arrugadas),<br />

kanarische Tomaten, <strong>aus</strong> Mais wird Gofio erzeugt, Adlerfisch,<br />

Barsche und natürlich Thunfisch.<br />

Ich habe noch miterlebt, wie die Fischer von Morro vor dem<br />

heutigen Robinson Jandia Club mit dem Hotelturm (Neubau<br />

2018), der schon vor 1970 gebaut war, und immer noch liebevoll<br />

„La Torre“ (Turm auf Spanisch) genannt wird, einen fast<br />

zwei Meter langen Thunfisch <strong>aus</strong> dem Meer geangelt und über<br />

den flachen Sandstrand an Land gezogen hatten, wo er dann<br />

erschlagen wurde. Dies war übrigens auch der Strand, an dem<br />

aufgebrachte einheimische Frauen <strong>aus</strong> Morro nackte Männer,<br />

Hotelgäste vom „La Torre“, gejagt, zu Boden geworfen und<br />

beschimpft haben, da sie es wagten, nackt herumzulaufen, für<br />

eine katholisch geprägte Gegend einfach eine Beleidigung.<br />

Ein besonderes Wetterphänomen ist der Calima, ein heißer<br />

Ostwind <strong>aus</strong> der Sahara. Die Temperatur kann auf 40 °C<br />

sprunghaft ansteigen und die Luft extrem trocken werden. Der<br />

Wind kann neben feinem Sand, der den Himmel verdunkeln<br />

kann und durch alle Ritzen in die Häuser dringt, kann auch<br />

gelegentlich Wanderheuschrecken mit sich bringen. Ich habe<br />

schon erlebt, dass der Strand mit verendenden Heuschrecken<br />

überdeckt war, die nichts mehr zu fressen auf dieser kargen<br />

Insel fanden.<br />

267


Damals wollte ich mich für die bevorstehende Tennissaison<br />

fit machen und fand bald einige Sportsfreunde. Die Gegend<br />

kannten wir nicht und auch nicht das kleine nicht weit entfernt<br />

gelegene Dorf Morro. Heruntergekommen. Armselig. Als<br />

ich jetzt vor wenigen Wochen dort war, war das Städtchen<br />

nicht wiederzuerkennen. Vieles neu, blitzblank, verputzt. Alles<br />

weiß getüncht. Ja, der Tourismus machts und natürlich die<br />

Gelder der EU. Nicht so wie am Bodensee bei uns. Da fließen<br />

die EU-Gelder nicht. Breit angelegte Autobahnen bis in die letzten<br />

Zipfel der Halbinsel Jandia. Moderner <strong>aus</strong>gebauter Hafen,<br />

wo früher nur eine Anlagestelle für kleinere Fischerboote war.<br />

Doch im dem alten Morro gab es noch urige Fischlokale, die<br />

den frisch gefangenen Fisch grillten serviert mit in Butter gerösteten<br />

Knoblauchzehen, die rote scharfe Mojo Sauce dazu<br />

und einen El Grifo Syrah Rotwein <strong>aus</strong> Lanzarote. Was ist das<br />

wichtigste am Fisch? Dass er frisch gefangen ist, direkt <strong>aus</strong> dem<br />

Meer kommt. Das wollten wir uns nicht entgehen lassen.<br />

Bei einer Flasche blieb es nicht. Der Heimweg sollte sich entsprechend<br />

gestalten. Um den Alkohol <strong>aus</strong> unserem Körper zu<br />

vertreiben, entschlossen wir uns die 7 Kilometer zu Fuß zu<br />

gehen und zwar am Strand entlang. Dazu mussten wir zuerst<br />

das Feuchtgebiet durchqueren. Die Flut war an dem Abend<br />

besonders hoch. Eine Springflut. Man nennt sie so, wenn Sonne,<br />

Mond und Erde auf einer Linie stehen. Dann addieren sich<br />

die Anziehungskräfte. Wir waren schon mitten drin. Zum<br />

Strand zu gelangen, war nicht möglich. Das Wasser stand<br />

schon zu hoch. Wir wateten mit unseren schon durchweichten<br />

Tennisschuhen so gut es ging um die Büsche und Sträucher<br />

herum, die von leicht abfließendem Wasser in Rinnsalen<br />

umgeben waren, wie kleine Inselchen oder kleine Lagunen, an<br />

deren Rändern es auch zu Salz<strong>aus</strong>blühungen kommt. Nach<br />

Stunden waren wir schließlich wieder im Aldiana Club, jetzt<br />

natürlich stocknüchtern.<br />

268


g p<br />

im "Gran Valle"<br />

Gorrinoes<br />

Hafen<br />

Morro Jable<br />

Gran Valle<br />

Jandia Playa<br />

Robinson Club<br />

Esquinzo<br />

Aldiana Club<br />

Alter Leuchtturm<br />

Leuchtturm<br />

Überflutung<br />

Robinson Club Jandia<br />

Im Mai 2009 wurde die gesamte Insel zum UNESCO-Biosphärenreservat<br />

erklärt und 2015 zum UNESCO-Lichtschutzgebiet. Zu<br />

dieser Entscheidung hat auch das grün eingezeichnete Überflutungsgebiet<br />

beigetragen, das in seiner Art mit den dort wachsenden<br />

Pflanzen einmalig ist. Dieses Gebiet wird auch Playa del Materral<br />

genannt. Auch „Salzwüste von Jandia“. Solche vom Meer<br />

durch immer wiederkehrenden Überflutungen entstandenen Feuchtgebiete<br />

mit ihrem hier herrschenden Ökosystem sind sehr selten<br />

und deshalb von wissenschaftlichem Interesse.<br />

Gelber Ginster?<br />

269


Feuchtgebiet an der Playa del Matorral<br />

Außer den nebenan gezeigten Pflanzen sind es: das Gänsefußgewächs<br />

Balancon, die Graue Gliedermelde, das Desfontaines Jochblatt,<br />

die Schneeweiße Vielfrucht und die Salzmelde. Alle können<br />

dem salzhaltigen Meerwasser widerstehen und im stehenden Wasser<br />

gedeihen. „Halophile“ Pflanzen. Dieses Gebiet ist auch ein idealer<br />

Lebensraum für viele einheimische Vögel, aber auch für Zugvögel.<br />

Hier lebt auch der Kanarenschmätzer, eine endemische Vogelart.<br />

270


Matamoro Pflanze<br />

Uva de Mar Pflanze<br />

271


Weitere Bücher von Siegfried Kuebler<br />

Titel Seiten Verlag Jahr<br />

Flugweltreise Südseeroute, Reisebericht 97 Eigenverlag 1983<br />

Das Mädchen, das der Sonne, Märchen 71 World of Books1985<br />

Und dann? Abenteuerroman<br />

151 World of Books1985<br />

Medina Nueba, Gedichte 121 R. G. Fischer 1990<br />

Die Lötkolbentherapie, Satire 49 R. G. Fischer 1990<br />

Zwanzig Jahre Tennisschläger<br />

153 Kuebler GmbH1992<br />

Das Buch der Tennisrackets, Geschichte<br />

423 Kuebler GmbH1995<br />

Book of Tennis Rackets, history of Tennis Rackets<br />

635 Kuebler GmbH2000<br />

Update 2010 to the Book of Tennis Rackets 322 Second Edition 2010<br />

Supplement to the Book of Tennis Rackets 60 First Edition 2015<br />

Twenty Years of Tennis Rackets 153 First Edition 2017<br />

Mörder unter sich, Mordgeschichten, Thriller 318 Dritte Auflage 2008<br />

<strong>Geschichten</strong> <strong>aus</strong> <strong>Fuerteventura</strong>, Abenteuer 253 Erste Auflage 2010<br />

Tage in Südafrika und Namibia, <strong>Geschichten</strong> 237 Erste Auflage 2012<br />

Aufzeichnungen und <strong>Geschichten</strong>, Weingüter/Abenteuer 386 Erste Auflage 2013<br />

Sternenwind, Weingüter/Abenteuer 232 Zweite Auflage 2014<br />

Karoostaub, Weingüter/Abenteuer 200 Zweite Auflage 2015<br />

South Easter, Weingüter/Abenteuer 250 Erste Auflage 2016<br />

... einen Cappuccino bitte... Weingüter/Berichte 133 Erste Auflage 2017<br />

Aurora, Weingüter/Abenteuer 144 Erste Auflage 2019<br />

Loxton ist überall, von Kapstadt zum Addo Park 158 Erste Auflage 2020<br />

Wie sollen wir unser Geld anlegen? 78 Erste Auflage 2020<br />

Autobiografie (1931-1984):<br />

Unter dem Jerusalemer Kreuz 1931-1942 240 Vierte Auflage 2013<br />

In Überlingen 1942-1953 398 Fünfte Auflage 2018<br />

Immer nur ein Fremder 1953-1956 218 Zweite Auflage 2012<br />

Ein Immigrant in Kanada 1957-1960 232 Dritte Auflage 2009<br />

Ein Kirschbaum blüht im Garten 1960-1984 357 Zweite Auflage 2011<br />

von<br />

Siegfried Kuebler<br />

Erfahrungen, nicht unbedingt zur<br />

Nachahmung empfohlen.<br />

Nicht für Feiglinge und Wehleidige.<br />

<br />

<br />

Zweite erweiterte Auflage.<br />

Dieses Büchlein wird nicht kommerziell vertrieben.<br />

272


273

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!