Frauengeschichte(n) Nachtrag 1985-2021

10.06.2021 Aufrufe

Die Jahre 1985 bis 2021 Zur Neuauflage 2021 Um die Mitte des letzten Jahres kam die Anfrage des Limmat Verlags, ob die seit längerem vergriffenen «Frauengeschichte(n)» zur Erinnerung an 50 Jahre Frauenstimmrecht nicht wieder neu aufgelegt und eventuell ergänzt werden sollten. Wir sagten zu in der Absicht, die «Frauengeschichte(n)» bis in die Gegenwart fortzuführen. Da Heidi Witzig zeitlich keine Ressourcen hatte, haben wir, Anja Suter und Elisabeth Joris, das Anliegen zu unserem gemacht. Als Historikerinnen und Feministinnen sind wir generationenbedingt von unterschiedlicher Erfahrung und Theoriebildung geprägt. Um die Neuauflage der 1986 erstmals erschienenen Quellensammlung am feministisch bedeutsamen 14. Juni 2021 herauszugeben, war die Zeit zwar knapp bemessen, doch wir waren sicher, es schaffen zu können. Die vierte Auflage von 2001 war bereits durch einen Nachtrag ergänzt worden. In sieben kürzeren Kapiteln wurden die wesentlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frauen seit Mitte der 1980er-Jahre dargestellt. Ein Nachtrag zu demselben erschien uns nicht sinnvoll. Vielmehr haben wir, aufbauend auf dem Nachtrag von 2001, eine neue, längere Version verfasst. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, deckt sie den ganzen Zeitraum seit Erscheinen der ersten Auflage bis in die Gegenwart ab. Zentral erschien uns dabei, den Fokus nicht nur auf die wesentlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frauen* zu richten: Ebenso wichtig war uns, die seither geführten Debatten unter Feministinnen* so gut wie möglich nachzuzeichnen. So wirkt sich beispielsweise die seit den 1990er-Jahren sowohl in akademischen Zusammenhängen als auch in feministischen Bewegungen vorgenommene Infragestellung klar abgegrenzter binärer Geschlechterkonstruktionen – Frauen/Männer – bis heute auf feministische Diskussionen und Theoriebildung aus. Um dies zum Ausdruck zu bringen, haben wir uns für eine kontextabhängige Verwendung des Gendersterns (*) entschieden. Ganz einfach gestaltete sich dies natürlich nicht, definierte doch die Frauenbewegung noch weit über die 1980er-Jahre hinaus auch ihre Kritik des Patriarchats über die Abgrenzung gegen Männer und als männlich definierte Werte. Auch in der Statistik kam den binär definierten Geschlechtern als zentraler Kategorien der sozialen Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen zunehmend grösseres Gewicht zu, beispielsweise beim Vergleich der Löhne oder der unterschiedlichen Vertretung von Frauen und Männern in den Parlamenten. In den Texten variiert daher je nach Kontext, Thema und vor allem auch je nach Akteur*innen die Verwendung der Begriffe «Frauen» oder «Männer» mit oder ohne Gender-Stern; und je nachdem, ob Frauen* im Fokus der Erzählung stehen oder, wie beispielsweise beim Wort Partner*innen, Frauen* und Männer*, befindet sich der Stern am Ende des Wortes oder mitten im Wort. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, obwohl die gewählte Lösung nie ganz stringent ist, nie stringent sein kann – nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich bei der Bezeichnung sowohl des feministischen Subjekts als auch der unterschiedlichen Geschlechter um Debatten handelt, die offen bleiben und immer aufs Neue geführt werden müssen. Und so möchten wir uns auch bezüglich dieser Diskussionen für die Hinweise und die kritische Lektüre aller nunmehr acht neuen Kapitel ganz herzlich bei Caroline Arni und Shelley Berlowitz bedanken. Auch die Technologie hat sich seit der ersten ergänzten Neuauflage 2001 verändert. 573

Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Zur Neuauflage <strong>2021</strong><br />

Um die Mitte des letzten Jahres kam die Anfrage des Limmat Verlags, ob die seit längerem<br />

vergriffenen «<strong>Frauengeschichte</strong>(n)» zur Erinnerung an 50 Jahre Frauenstimmrecht<br />

nicht wieder neu aufgelegt und eventuell ergänzt werden sollten. Wir sagten zu in der<br />

Absicht, die «<strong>Frauengeschichte</strong>(n)» bis in die Gegenwart fortzuführen. Da Heidi Witzig<br />

zeitlich keine Ressourcen hatte, haben wir, Anja Suter und Elisabeth Joris, das<br />

Anliegen zu unserem gemacht. Als Historikerinnen und Feministinnen sind wir generationenbedingt<br />

von unterschiedlicher Erfahrung und Theoriebildung geprägt. Um die<br />

Neuauflage der 1986 erstmals erschienenen Quellensammlung am feministisch bedeutsamen<br />

14. Juni <strong>2021</strong> herauszugeben, war die Zeit zwar knapp bemessen, doch wir waren<br />

sicher, es schaffen zu können.<br />

Die vierte Auflage von 2001 war bereits durch einen <strong>Nachtrag</strong> ergänzt worden. In<br />

sieben kürzeren Kapiteln wurden die wesentlichen Veränderungen der gesellschaftlichen<br />

Stellung der Frauen seit Mitte der 1980er-Jahre dargestellt. Ein <strong>Nachtrag</strong> zu demselben<br />

erschien uns nicht sinnvoll. Vielmehr haben wir, aufbauend auf dem <strong>Nachtrag</strong><br />

von 2001, eine neue, längere Version verfasst. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit,<br />

deckt sie den ganzen Zeitraum seit Erscheinen der ersten Auflage bis in die Gegenwart<br />

ab. Zentral erschien uns dabei, den Fokus nicht nur auf die wesentlichen Veränderungen<br />

der gesellschaftlichen Stellung der Frauen* zu richten: Ebenso wichtig war uns, die seither<br />

geführten Debatten unter Feministinnen* so gut wie möglich nachzuzeichnen. So<br />

wirkt sich beispielsweise die seit den 1990er-Jahren sowohl in akademischen Zusammenhängen<br />

als auch in feministischen Bewegungen vorgenommene Infragestellung klar<br />

abgegrenzter binärer Geschlechterkonstruktionen – Frauen/Männer – bis heute auf<br />

feministische Diskussionen und Theoriebildung aus. Um dies zum Ausdruck zu bringen,<br />

haben wir uns für eine kontextabhängige Verwendung des Gendersterns (*) entschieden.<br />

Ganz einfach gestaltete sich dies natürlich nicht, definierte doch die Frauenbewegung<br />

noch weit über die 1980er-Jahre hinaus auch ihre Kritik des Patriarchats über<br />

die Abgrenzung gegen Männer und als männlich definierte Werte. Auch in der Statistik<br />

kam den binär definierten Geschlechtern als zentraler Kategorien der sozialen Analyse<br />

von gesellschaftlichen Entwicklungen zunehmend grösseres Gewicht zu, beispielsweise<br />

beim Vergleich der Löhne oder der unterschiedlichen Vertretung von Frauen und<br />

Männern in den Parlamenten. In den Texten variiert daher je nach Kontext, Thema und<br />

vor allem auch je nach Akteur*innen die Verwendung der Begriffe «Frauen» oder<br />

«Männer» mit oder ohne Gender-Stern; und je nachdem, ob Frauen* im Fokus der<br />

Erzählung stehen oder, wie beispielsweise beim Wort Partner*innen, Frauen* und<br />

Männer*, befindet sich der Stern am Ende des Wortes oder mitten im Wort. Wir haben<br />

uns für diesen Weg entschieden, obwohl die gewählte Lösung nie ganz stringent ist, nie<br />

stringent sein kann – nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich bei der Bezeichnung<br />

sowohl des feministischen Subjekts als auch der unterschiedlichen Geschlechter um<br />

Debatten handelt, die offen bleiben und immer aufs Neue geführt werden müssen. Und<br />

so möchten wir uns auch bezüglich dieser Diskussionen für die Hinweise und die kritische<br />

Lektüre aller nunmehr acht neuen Kapitel ganz herzlich bei Caroline Arni und<br />

Shelley Berlowitz bedanken.<br />

Auch die Technologie hat sich seit der ersten ergänzten Neuauflage 2001 verändert.<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Damals wurde des Umfangs und Aufwands wegen bewusst auf die Veröffentlichung<br />

von Quellen verzichtet. Das machen wir auch in der gedruckten Neuauflage, doch<br />

ergänzen wir die thematischen Kapitel mit entsprechenden Quellen, die auf dem Netz<br />

abgerufen werden können unter der Adresse www.frau-engeschichte-n.ch in Zusammenarbeit<br />

mit dem Limmat Verlag sowie dem Archiv für Frauen-, Geschlechter- und<br />

Sozialgeschichte Ostschweiz. Es handelt sich dabei um ein Work in Progress, das jedoch<br />

höchst zukunftsträchtig ist, da jederzeit ergänzbar. Den Anfang macht eine Gruppe<br />

jüngerer Historikerinnen* um Anja Suter . Das garantiert eine Öffnung der Quellensammlung<br />

hin zu einem Projekt mit offenem Ausgang: eine klare Ablösung von den<br />

Herausgeberinnen und Autorinnen der Fassung von 1986, aber ebenso eine Weiterführung<br />

des Werks, das als historisches Standardwerk in die Historiografie eingegangen<br />

ist. Die Anfänge waren damals ebenso offen wie das neue Projekt der digitalen Quellensammlung,<br />

wie aus dem Vorwort von 1986 hervorgeht.<br />

Zürich, Sommer <strong>2021</strong><br />

Elisabeth Joris und Anja Suter<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Theoriedebatten und Forschung in Bewegung<br />

Anfang der 1980er-Jahre waren es hauptsächlich französische und italienische Feministinnen,<br />

die die Theoriediskussionen in der Schweiz prägten. Dabei reichte die Spannweite<br />

von Gleichheitsfeministinnen wie Simone de Beauvoir bis hin zu Verfechterinnen<br />

der Differenz-These. Diese, mit Luce Irigaray oder Hélène Cixous vorwiegend von<br />

Philosophinnen und Literaturwissenschaftlerinnen angeführte Analyse, ging von einer<br />

spezifisch weiblichen Identität und auch Sprache aus. Sie hielten Gleichstellung innerhalb<br />

eines patriarchalen Systems für unmöglich und somit für nicht erstrebenswert und<br />

forderten neue, «weibliche» Gesellschaftsformen bis hin zu unterschiedlichen Rechtssystemen<br />

für Männer und Frauen. Während die französischen Vertreterinnen des Differenzfeminismus<br />

eher theoretische Debatten führten, stellten Frauen rund um die Mailänder<br />

Libreria delle donne mit dem Konzept des «affidamento» (Anvertrauen, Vertrauen)<br />

die Beziehung zwischen Frauen als Quelle ihrer Freiheit ins Zentrum ihrer Analyse und<br />

Praxis: Frauen sollten sich in allem, was ihr Leben bestimmt, auf andere Frauen beziehen;<br />

jeder Frau ihre Mentorin oder ihr weibliches Vorbild. Die Ungleichheit nicht nur<br />

zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter Frauen war ein zentraler Teil des<br />

affidamento: Autoritäten und Kompetenzen sollten anerkannt und in einer zwanglosen,<br />

auf Vertrauen basierenden Beziehung zum Wohle aller beteiligten Frauen genutzt<br />

werden. Ab Mitte der 1980er-Jahre waren es zunehmend Wissenschaftlerinnen aus dem<br />

anglophonen Raum, die die feministische Debatte auch in der Schweiz bestimmten. Im<br />

Zentrum stand wie bei Simone de Beauvoir die Beschaffenheit des sozialen Geschlechts,<br />

das in der feministischen Theoriebildung seit Mitte der 1970er-Jahre als «gender» analytisch<br />

vom biologischen Geschlecht («sex») getrennt wurde. In der Geschichtswissenschaft<br />

hatte die Historikerin Joan Wallach Scott mit ihrem 1986 veröffentlichten und<br />

seither vielrezipierten Aufsatz «Gender: A Useful Category of Historical Analysis»,<br />

aufbauend auf dieser Prämisse, einen neuen Forschungsansatz, die Geschlechtergeschichte,<br />

initiiert: Geschlecht («gender»), so Scott, sei ein konstitutives Element sozialer<br />

Beziehungen, das auf wahrgenommenen Differenzen zwischen den Geschlechtern («sex»)<br />

beruhe und über welches zugleich Machtbeziehungen gekennzeichnet und manifestiert<br />

werden. Scotts Artikel hatte auch die Geschlechterforschung in der Schweiz stark be einflusst.<br />

Dabei inspirierten sich feministische Wissenschaft und Bewegung gegenseitig:<br />

Be reits in den 1970er-Jahren schlossen sich Studentinnen und Wissenschaftlerinnen<br />

disziplinen- und kantonsübergreifend zu feministischen Netzwerken zusammen. 1983<br />

wurde der Verein Feministische Wissenschaft Schweiz / Association suisse Femmes<br />

Fé minisme Recherche (FemWiss) gegründet. Geschichtsstudentinnen organisierten<br />

erste freie Tutorate zu <strong>Frauengeschichte</strong>; 1980 leitete die Professorin Beatrix Mesmer<br />

das erste frauengeschichtliche Seminar am Historischen Institut Bern und im Herbst<br />

1983 wurde ebenfalls in Bern das erste Historikerinnentreffen organisiert. Ein wichtiges<br />

Ereignis nicht zuletzt auch für die Erstausgabe der «<strong>Frauengeschichte</strong>(n)»: An<br />

diesem Treffen fanden die freien Historikerinnen Heidi Witzig und Elisabeth Joris die<br />

notwendigen Unterstützerinnen zur Fertigstellung ihres Buches.<br />

Feministische Wissenschaftlerinnen und Professorinnen wie Beatrix Mesmer (Ge -<br />

schichte, Bern), Regina Wecker (erste Professur für Frauen- und Geschlechtergeschichte,<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Basel), Claudia Honegger (Soziologie, Bern), Andrea Maihofer (Geschlechterforschung,<br />

Basel), Brigitte Studer (Geschichte, Bern), Brigitte Schnegg (Leiterin des Interdisziplinären<br />

Zentrum für Geschlechterforschung, Bern) oder Astrid Deuber-Mankowsky<br />

(Philosophin und Medienwissenschaftlerin, Bochum) prägten Generationen von Studierenden<br />

und Feministinnen sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Akademie. Sie<br />

alle waren Pionierinnen an den Universitäten und trugen massgeblich dazu bei, dass sich<br />

das Feld der feministischen Wissenschaften sowohl in als auch ausserhalb der Schweiz<br />

weitete.<br />

Anfang der 1990er-Jahre sorgte die Philosophin Judith Butler nicht nur innerhalb<br />

feministischer Kreise für Aufsehen: Ebenso wie das soziale unterliege auch das biologische<br />

Geschlecht sprachlichen und kulturellen Codierungssystemen, die es erst hervorbringen.<br />

Gemäss Butler und der mit ihr vertretenen Queer Theory existiert folglich kein<br />

vordiskursiver Körper, kein biologisches Geschlecht per se; die Unterscheidung «sex»<br />

versus «gender» würde obsolet. Zentral an der Queer Theory, die aus der lesbischen und<br />

schwulen Machtkritik entstand, war das radikale Infragestellen und Historisieren der<br />

heterosexuellen Gesellschaftsordnung (Heteronormativität) und der mit ihr eng verknüpften<br />

Zweigeschlechtlichkeit. Beides gelte es als nicht «naturgegebene», sondern ge -<br />

schichtliche, bestimmten Machtverhältnissen dienende Konstrukte zu analysieren. Für<br />

viele Feministinnen, deren Politisierung sich in den 1970er-Jahren stark über den weiblichen<br />

Körper und dessen Funktion (und Ausbeutung) innerhalb der patriarchalen Ge -<br />

sellschaft vollzogen hatte, waren die Thesen Butlers unannehmbar, da sie sich dem<br />

Subjekt des Feminismus (der Frau, dem weiblichen Körper) beraubt sahen. Für andere,<br />

meist jüngere Feministinnen sowie Menschen, die sich in der bipolaren Welt der Zweigeschlechtlichkeit<br />

nicht vertreten sahen, war Butlers Analyse ein Befreiungsschlag: Sie<br />

sahen darin einen Hebel, die patriarchale, heteronormative Ordnung aus den Angeln<br />

zu heben und die Vielfalt von Sexualitäten und Geschlechter sowohl in Theorie als auch<br />

im praktischen Leben entschieden zu erweitern. Wurde mit Bezug auf die Queer<br />

Theory anfangs vor allem die Unidentifizierbarkeit von Menschen gefeiert, also der<br />

Umstand, dass jede geschlechtliche und sexuelle Klassifizierung unterlaufen und so als<br />

Konstrukt entlarvt werden kann, so bezogen sich später Menschen auf dieselbe Theorie,<br />

um sich und ihrer Geschlechts- oder sexuellen Identität jenseits der zweigeschlechtlichen<br />

und heteronormativen Ordnung Sichtbarkeit und politischen Boden zu verleihen.<br />

Ein Umstand, der auch in der Sprache und in einer Vielzahl neuer Schreibweisen<br />

Ausdruck fand. So begann sich ab den 2010er-Jahren in feministischen und akademischen<br />

Kreisen der Asterisk (*) oder der Unterstrich durchzusetzen, um darauf hinzuweisen,<br />

dass mit Frauen* oder Frau_en (resp. Männern* oder Männer_n) auch Menschen<br />

gemeint sind, denen bei Geburt kein weibliches (respektive männliches) Geschlecht<br />

zugeordnet wurde, die sich aber als Frauen* (oder Männer*) identifizieren – und auch<br />

Menschen, die sich innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit nicht identifizieren können.<br />

Abkürzungen wie LGBTQI bezogen sich auf Lesben, Schwule (Gays), bisexuelle, transidente,<br />

queere und intergeschlechtliche Menschen; die Abkürzung FLINT auf Frauen,<br />

Lesben, intergeschlechtliche, nonbinäre und transidente Menschen.<br />

Doch war die Sprache nicht erst seit der Queer Theory ein zentrales Feld feministischer<br />

Auseinandersetzungen. Im anglophonen Raum erlebte sie bereits in den 1970er-<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Jahren neue feministische Aufmerksamkeit; im deutschen Sprachraum, und somit auch<br />

in der Schweiz, setzte die Diskussion zu Beginn der 1980er-Jahre ein. Federführend<br />

wa ren dabei Linguistinnen wie Luise F. Pusch, die das Deutsche als «Männersprache»<br />

entlarvten und Wege suchten, das generische Maskulinum aufzubrechen. Dabei waren<br />

sich die feministischen Linguistinnen bereits in den 1980er-Jahren einig, dass weder das<br />

Binnen-I («ArbeiterInnen»), das seit den 1990er-Jahren sowohl in privaten E-Mails<br />

oder Briefen bis hin zu öffentlichen Texten in der Wissenschaft oder gewisser Medienhäuser<br />

Verwendung fand, noch das generische Femininum (mit «Arbeiterinnen» sind<br />

alle Geschlechter gemeint) das Problem gänzlich lösen könne: Es gebe nur bessere und<br />

weniger gute Lösungen, aber nie endgültige.<br />

Bereits Ende der 1990er-Jahre plädierte Joan Scott für eine Distanzierung zum Begriff<br />

«gender»: Die Reifikation des Begriffes in Debatten wie ökonomischen oder staatlichen<br />

Programmen (Gender-Mainstreaming) während des vergangenen Jahrzehnts habe dazu<br />

geführt, die Dualität von Geschlecht (Mann/Frau) zu verfestigen und physische Körper<br />

mit der Vorstellung einer unveränderbaren Natur gleichzusetzen, anstatt sie weiterhin<br />

als kontingente, historische Produkte zu hinterfragen und untersuchen.<br />

Wie sowohl die Queer Theory als auch die Debatten um Nutzen und Gebrauch von<br />

«gender» als Analysekategorie zeigen, sind Diskussionen um Sprache in feministischen<br />

Bewegungen seit jeher stark verbunden mit der Diskussion um «das Subjekt» des Feminismus.<br />

Debatten, die bereits im 18. Jahrhundert geführt wurden und die, konsequenterweise,<br />

nie zu einem Abschluss kommen können, sondern offenbleiben müssen. So<br />

waren auch in den Vorbereitungen zum grossen feministischen Streikereignis im Jahr<br />

2019 Diskussionen um die Bezeichnung des Streiks keine Nebenschauplätze, sondern<br />

wiesen direkt ins Zentrum feministischer Auseinandersetzungen: Sollte der Streik als<br />

«feministischer Streik», als «Frauenstreik» oder als «Frauen*streik» bezeichnet werden?<br />

Die Frage wurde von lokalen wie politischen Bündnissen unterschiedlich beantwortet.<br />

Einen technikaffineren Weg, um die Naturalisierung von Geschlecht aufzubrechen,<br />

beschritt die US-amerikanische Wissenschaftsphilosophin und Biologin Donna Haraway,<br />

die auch in der Schweiz stark rezipiert wurde. In ihrem «A Cyborg Manifesto»<br />

(<strong>1985</strong>) wandte sie sich gegen jegliche Form der dualen Grenzziehung wie Mensch / Tier,<br />

Mensch-Tier / Maschine, Mann / Frau, primitiv / zivilisiert, das Selbst / das Andere, als<br />

die Stützen patriarchal-kapitalistischer, rassistisch-kolonialer Herrschaftsordnungen.<br />

In der Figur des «Cyborg» sah Haraway einen Weg, um das humane Subjekt der<br />

Moderne und die mit diesem verknüpften bipolaren Machtverhältnisse zu unterwandern.<br />

Ihre posthumanistische Kritik beeinflusst bis heute eine ganze Reihe weiterer<br />

Forschungs- und Politdebatten, wie die Human/Animal-Studies, die Science and Technology<br />

Studies oder die Queer Theory.<br />

Ebenfalls Anfang der 1980er-Jahre schrieben afro-, latino- und asia-amerikanische<br />

Feministinnen wie Audre Lorde, Angela Davis, bell hooks, Cherrie Moraga, Gloria<br />

Anzaldúa oder Chandra Talpade Mohanty von einer rassismuskritischen Seite her der<br />

Differenz das Wort: Sie zeigten, dass das Behaupten eines unreflektierten feministischen<br />

«Wir» Unterschiede zwischen Herkunft, Hautfarbe oder Klasse verschleiert – und letztlich<br />

vor allem eine weisse und mittelständische Vorstellung von «Frau» und «Realität»<br />

reproduziert. Gehört und aufgenommen wurde diese Kritik in der Schweiz anfangs eher<br />

selektiv – obwohl auch hier seit den 1970er-Jahren Migrantinnen und seit den 1980er-<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Jahren Schwarze Frauen klar und deutlich den alltäglichen wie den strukturellen Rassismus<br />

bezüglich (verwehrter) Bürgerinnenrechte, Bildungs- und Arbeitschancen anprangerten.<br />

Ab den 2000er-Jahren wurde unter dem Begriff der Intersektionalität das Ineinandergreifen<br />

unterschiedlicher Diskriminierungskategorien wie Herkunft, Hautfarbe, Ge -<br />

schlecht, Klasse oder Sexualität auch an Schweizer Hochschulen diskutiert. Inspiriert<br />

von Feministinnen, die bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren auf Verschränkungen<br />

von Diskriminierungen hingewiesen hatten, zeigte die afroamerikanische Juristin Kimberlé<br />

Crenshaw, die den Begriff Intersektionalität prägte, dass unterschiedliche Diskriminierungsmechanismen<br />

mit Blick auf deren Verstrickung bekämpft werden müssen.<br />

Etwa zeitgleich forderte die postkoloniale und etwas später die dekoloniale Kritik<br />

in den 2000er-Jahren auch in der Schweiz akademische wie landläufige Selbstverständlichkeiten<br />

heraus: Forschungen zeigten, dass die Schweizer Geschichte und Gegenwart<br />

entgegen der bislang tradierten Erzählung mit der Sklaverei und dem Kolonialismus<br />

direkt verstrickt war und dass die Gewalt des Kolonialismus auch in der Schweiz in<br />

eurozentrischen und rassistischen Denk- und Handlungsmustern weiterwirkte. Postkoloniale<br />

Theoretiker*innen aus Lateinamerika, Indien und den USA wurden nun in<br />

feministischen Kreisen auch ausserhalb der Akademie rege rezipiert. Die Kolonialgeschichte<br />

wurde aus geschlechterhistorischer Sicht analysiert, die geschlechtliche Zweiteilung<br />

in «Mann» und «Frau» als Teil des europäischen, weissen, rassifizierenden<br />

kolonialen Projekts beschrieben. Von besonderer Relevanz für die Schweiz erwiesen<br />

sich die Untersuchungen von Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk zur<br />

Postkolonialen Schweiz, die Studien zur Schweizer Beteiligung an der Sklaverei von<br />

Thomas David, Bouda Etemad, Janick Marina Schaufelbuehl oder Hans Fässler sowie<br />

die Forschung von Jovita dos Santos Pinto oder Noémi Michel zu in der Schweizer<br />

Geschichte und Gesellschaft verankerten Rassismen sowie zum Wirken und der öffentlichen<br />

Darstellung Schwarzer Frauen* in der Schweiz – Wissen, das in der Online-Dokumentation<br />

histnoire.ch einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird.<br />

Erneuten Aufwind erhielt ab der Jahrtausendwende die feministische Ökonomie. Im<br />

Unterschied zur Lohn-für-Hausarbeit-Debatte der 1970er-Jahre wurde mit dem aus<br />

dem Englischen übernommenen Begriff «Care» der Fokus geweitet: Nebst der unbezahlten<br />

wurde nun auch die bezahlte Haus- und Erziehungsarbeit betrachtet, ebenso<br />

wie die Pflege-, Sorge- oder Versorgungsarbeit – unabhängig davon, ob die jeweilige<br />

Arbeit privat in Haushalten, über Firmen (Reinigungsinstitute, private Pflege, Agenturen<br />

für Haushaltshilfen) oder staatlich (Schulen, Krippen, Spitäler) organisiert wurde<br />

(vgl. «Verschiebungen in Ausbildung und Arbeit»).<br />

Texte der italo-amerikanischen Aktivistin und Philosophin Silvia Federici, seit den<br />

1970er-Jahren eine zentrale Stimme in der Debatte um die Bezahlung der Hausarbeit,<br />

erhielten weltweit erneut grosse Aufmerksamkeit und regten auch in der Schweiz feministische<br />

Kollektive und Forschende an. Die gesellschaftliche und ökonomische Relevanz<br />

der zum Grossteil von Frauen geleisteten, nicht oder schlecht bezahlten Care-<br />

Arbeit wurde in einer Vielzahl neuer Studien und Statistiken für die Schweiz sichtbar<br />

gemacht. Forschende wie Mascha Madörin, Tove Soiland oder Sarah Schilliger trugen<br />

mit ihren Analysen zur Schweizer Wirtschaft dazu bei, dass die Sorge- und Versorgungsökonomie<br />

auch in der Politik und in den Gewerkschaften an Bedeutung gewann. Dabei<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

kam auch die internationale Dimension der globalen Versorgungskette in den Blick:<br />

Migrantinnen aus dem Osten und Süden Europas führen – oft zu prekären Bedingungen<br />

– Care-Arbeit aus.<br />

Die Corona-Pandemie Anfang der 2020er-Jahre verdeutlichte zwar die Systemrelevanz<br />

der Sorge- und Versorgungsarbeit, doch blieben die Lohn- und Erholungszeit-<br />

Forderungen seitens der in der Pflege-, im Schul- oder Haushaltswesen Tätigen von<br />

Politik und Wirtschaft weitgehend unbeantwortet.<br />

Vielfältige Textproduktion, Performance und Musik<br />

Seit Ende der 1980er-Jahre nahm auch die Zahl der Publikationen von Autorinnen zu,<br />

die an neue feministische Strömungen und Theorien anknüpften. Ob Roman, Erzählung<br />

oder Autobiografie, ob Essay, Blog oder Kolumne, ob Rap oder Spoken Word Performances<br />

– feministische Autorinnen bedienten sich unterschiedlicher Textsorten, um<br />

Klassen- und Migrationserfahrungen zu thematisieren, Fragen nach kultureller Identität<br />

und sexueller Orientierung zu stellen und mit Rassismus und Sexismus zu verknüpfen.<br />

Der 1988 gegründete eFeF-Verlag war der erste explizit feministische Verlag, der<br />

vorwiegend Texte und Sachbücher aus der Schweiz veröffentlichte. Mit der Neuauflage<br />

von Iris von Rotens epochalem Werk «Frauen im Laufgitter» von 1958 gelang es dem<br />

Verlag 1991, die Auseinandersetzung mit der scharfsinnigen Analyse der zu ihrer Zeit<br />

diffamierten Autorin zu lancieren, eine Auseinandersetzung, die <strong>2021</strong> noch andauert.<br />

Liliane Studer, Leiterin des eFef Verlags von 1995 bis 2000, engagierte sich mit Fachkompetenz<br />

für die Sichtbarmachung der kulturellen Produktion unterschiedlichster<br />

Autorinnen anschliessend auch im Limmat und im Dörlemann Verlag. In den vierzig<br />

Jahren von 1980 bis 2020 stieg die Zahl der Autorinnen, die wie Verena Stefan schon<br />

zuvor in ihrem Schreiben ihre feministisch geprägte Gesellschaftskritik mit eigenwilliger<br />

Gestaltungsmacht zum Ausdruck brachten, ausgehend von Laure Wyss und Yvette<br />

Zgraggen über Isolde Schaad und Anne Cuneo bis zu Ruth Schweikert, Christine<br />

Viragh und den Schweizer Literaturpreisträgerinnen der letzten Jahre wie Annette<br />

Hug, Friederike Kretzen und Doris Femminis, um nur einige zu erwähnen.<br />

Nicht wenige wussten persönliche Erfahrungen von Ausgrenzung mit spezifischen<br />

Formen der Diskriminierung und Gewalt, die Mädchen und Frauen häufig erleben, zu<br />

verknüpfen, schon bevor in der Schweiz von Intersektionalität gesprochen wurde:<br />

Mariella Mehr als Kind von Jenischen; Dragica Rajčić, die nach ihrer Migration aus dem<br />

damaligen Jugoslawien in der Schweiz als Putzfrau arbeitete; Aglaja Veteranji als Mitglied<br />

einer aus Rumänien geflohenen und schliesslich in der Schweiz niedergelassenen<br />

Artist*innen-Familie; Melinda Nadj Abonji als Tochter ungarischer Eltern, die mit ihrer<br />

Familie in jungen Jahren aus dem heutigen Serbien in die Schweiz zugewandert war.<br />

Transnational geprägt ist auch die in Paris lebende Autorin Pascale Kramer aus Lausanne,<br />

deren Romane vorwiegend von Familienbeziehungen handeln. Von fragilen Familienbeziehungen<br />

handelt ebenso der komisch-traurige Roman «Immer ist alles schön» der<br />

1983 geborenen Julia Weber. Er macht aus dem Blickwinkel zweier Kinder die zunehmende<br />

soziale Bedrängnis und Aussichtslosigkeit einer jungen Frau und Mutter fühlbar.<br />

Weber ist Mitglied des siebenköpfigen Autorinnenkollektivs RAUF, das sich durch<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Aktionen und Veranstaltungen für mehr Sichtbarkeit von Autorinnen in der Literaturszene<br />

einsetzt.<br />

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts etablierte sich das Essay über den angelsächsischen<br />

Raum hinaus zu einem bevorzugten Mittel pointierter feministischer Stellungsnahmen.<br />

Die nigerianische Autorin Chimanda Ngozi Adichie artikuliert in ihrem Roman «Americanah»<br />

ihre feministische Kritik an US-amerikanischen und europäischen, rassistisch<br />

bedingten Formen der Diskriminierung. Im Essay «We should all be feminists» ruft sie<br />

Frauen auf, sich die Welt nicht von Männern erklären zu lassen. Sie knüpft damit an die<br />

These vom «mansplaining» der Journalistin Rebecca Solnit von 2008 an, dass viele Männer<br />

im Gespräch Frauen deren eigene Erfahrungen erklären. Die 1972 geborene US-<br />

Amerikanerin Andi Zeisler tourte 2017 gemeinsam mit der um vierzehn Jahre jüngeren<br />

englischen Journalistin und Bloggerin Laurie Penny durch die Schweiz. Beide deuteten<br />

das Schimpfwort «Bitch» zum Ausdruck feministischer Widerständigkeit um.<br />

In der Schweiz setzten zunehmend jüngere Feministinnen die in Essays thematisierten<br />

Diskriminierungen in unterschiedlichsten Gefässen in Szene. Die 1967 in der Türkei<br />

geborene Schweizer Autorin Güzin Kar zeigte mit der international erfolgreichen Fernsehserie<br />

«Seitentriebe» ebenso wie mit ihrem «Episodenroman für Paargestörte» mit<br />

Witz die Ungereimtheiten sexueller Befreiung auf. Ebenso bediente sich die zwölf Jahre<br />

jüngere Kolumnistin, Roman- und Theaterautorin Michèle Roten mit wilder Leichtigkeit<br />

verschiedener Genres, um in ihrem Buch «Wie Frau sein» zu schliessen, dass es den<br />

«Feminismus» immer noch braucht. Auch die Kabarettistinnen und Comedians Patti<br />

Basler und Hazel Brugger provozieren mit ihrer feministisch aufgeladenen Satire auf<br />

Bühnen oder im TV, und seit Mitte der 2010er-Jahre seziert die Sozialanthropologin<br />

und Spoken-Word-Artistin Fatima Moumouni im In- und Ausland mit viel Biss die<br />

Schweizerische Gesellschaft und die darin tief verwurzelten Rassismen und Sexismen.<br />

Die Frauenband Les Reines Prochaines (Basel) performt seit ihren Anfängen Ende der<br />

1980er-Jahren mit Ironie und Schalk; die Rapperinnen Big Zis (Zürich) und La Gale<br />

(Genf), die Sängerinnen Steff la Cheffe (Bern) und Danitsa (Genf) sprechen mit Text<br />

und Musik gleichermassen die ältere wie jüngere Generation an. 2020 gelang der 1986<br />

geborenen Soul-Sängerin Priya Ragu, die im Kanton St. Gallen als Tochter tamilischer<br />

Flüchtlinge aufgewachsen war, über einen Mix von englischen Texten mit tamilischem<br />

Einfluss der internationale Durchbruch – ein starkes Zeichen für die kulturelle Artikulation<br />

und Durchsetzungskraft junger Frauen* und ihrer Geschichten in der Schweiz.<br />

Familienstrukturen – Kontinuitäten und Wandel<br />

«Es gibt wenig Grund anzunehmen, Ehe und Familie in ihrer traditionellen Gestalt<br />

könnten und würden als mainstream Modelle für zukünftige Lebensmuster überleben.»<br />

Diese traditionellen Lebensformen seien «in einem Ablösungs- und Auflösungsprozess<br />

begriffen», hielt 1989 der Zürcher Soziologe Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny fest.<br />

Diese Entwicklung schien auf dem Hintergrund der scharfen Kritik an der Kernfamilie<br />

seit dem Aufbruch der 1968er-Jahre und der breiten Akzeptanz des Konkubinats, der<br />

steigenden Zahl der Scheidungen wie der Fortsetzungsfamilien (Patchworkfamilien)<br />

naheliegend. Zwar blieb die Ehe bei Paaren mit Kindern das meistverbreitete Modell<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

des Zusammenlebens, aber das Hausfrau/Ernährer-Modell aus den 1950er-Jahren war<br />

bereits vor der Jahrtausendwende Geschichte. Es wurde jedoch nicht von egalitären<br />

Erwerbs- und Familienmodellen abgelöst. Auch kam es nur in seltenen Fällen zur<br />

Umkehrung der Zuständigkeit – vollzeitlich tätiger Hausmann und vollzeitlich er werbstätige<br />

Mutter – oder zu alternativen Lebensformen wie gemeinschaftlichem Wohnen.<br />

Dennoch: das familiale Zusammenleben wurde vielfältiger und bunter, ohne dass das<br />

Ideal der heterosexuellen Kernfamilie seine hegemoniale Position verlor. Andere Formen<br />

des Zusammenlebens mit Kindern orientierten sich an ihr, was durch ihre abweichende<br />

Benennungen wie «Regenbogenfamilien» und «Patchworkfamilien» deutlich<br />

wurde. Auch das Kinderkriegen zeigte sich nach der Jahrtausendwende vielfältiger:<br />

Adoption von Stiefkindern in Fortsetzungsfamilien, Verwirklichung des Kinderwunsches<br />

durch Samen- oder Eizellgaben, Leih- oder Tragemutterschaft.<br />

Sowohl Kontinuität wie Wandel manifestierten sich seit den 1990er-Jahren in den<br />

sich stärker differenzierenden Statistiken. Gemäss dem vom Bundesrat 2017 als Antwort<br />

auf das Postulat Meier-Schatz herausgegebenen Familienbericht lebten immer<br />

noch gut die Hälfte der Frauen und der Männer zwischen 25 und 80 Jahren mit denselben<br />

Partner*innen, mit denen sie ursprünglich zusammengezogen waren. Praktisch<br />

alle 25- bis 54-jährigen Männer waren erwerbstätig, hauptsächlich vollzeitlich; bei den<br />

Frauen waren es 86 Prozent, davon 60 Prozent in Teilzeit. Das Alter der Mütter bei der<br />

Geburt war im Steigen begriffen, die durchschnittliche Kinderzahl mit 1.54 Kindern<br />

pro Frau etwas tiefer als im EU-Durchschnitt mit 1.58 Kindern, der Anteil an ausserehelichen<br />

Geburten sowie an Ehescheidungen vergleichsweise niedrig. In der bildungsbürgerlichen<br />

Mittelschicht nahm die Zahl der Familien mit drei Kindern zu. Die Scheidungsrate<br />

stieg allgemein von 1970 bis Ende der 1990er-Jahre von 15 Prozent auf gegen<br />

50 Prozent an – parallel dazu stieg auch die Zahl der Fortsetzungsfamilien. Doch seitdem<br />

blieb die absolute Zahl der Scheidungen von Eltern minderjähriger Kinder zehn<br />

Jahre lang relativ konstant, ab 2009 zeigte sich sogar eine rückläufige Tendenz. Die<br />

Scheidung wirkte sich je nach sozialer Klasse unterschiedlich auf die Situation der Fa -<br />

milie aus. Aus der Sozialhilfe für Kinder unter 18 Jahren lässt sich nachweisen, dass das<br />

Armutsrisiko bei den alleinerziehenden Müttern am höchsten war. Allerdings spielten<br />

auch die Erwerbsquote und der strukturell bedingte Ausschluss von Migrant*innen<br />

bezüglich Ausbildungs- und Berufschancen eine zentrale Rolle. Von den Paaren mit<br />

Kindern, die Sozialhilfe bezogen, besassen drei Fünftel keinen Schweizer Pass; mehrheitlich<br />

waren die Mütter nicht erwerbstätig, und auch die Erwerbssituationen der Väter<br />

waren prekär.<br />

Seit Mitte der 1980er-Jahre bis 2020 hat die ausserfamiliale Betreuung der Kinder<br />

ununterbrochen zugenommen. Der Grund liegt vorwiegend in der steigenden Erwerbstätigkeit<br />

der Mütter. 2014 lebten nur noch ein Viertel der Paare nach dem Modell vollzeitliche<br />

Erwerbstätigkeit des Vaters, vollzeitliche Haus- und-Betreuungsarbeit der Mutter.<br />

1970 waren es noch drei Viertel gewesen. 1980 gingen dann bereits rund ein Drittel<br />

aller verheirateten Mütter mit Kindern unter 18 Jahren einem bezahlten Erwerb nach,<br />

2014 stieg der Anteil auf gut 75 Prozent der Mütter mit Kleinkindern bis 6 Jahren und<br />

auf 84 Prozent mit Schulkindern von 7 bis 14 Jahren. Dagegen nahm die Erwerbsquote<br />

der Väter kaum ab und verharrte weitgehend um die 98 Prozent. Obwohl die Männer<br />

zunehmend auch mehr Zeit mit den Kindern verbrachten, einige ihre Erwerbsarbeit auf<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

80 Prozent reduzierten, bedeutete die steigende Erwerbstätigkeit der Mütter für die<br />

meisten einen Mehraufwand, da sie weiterhin den Grossteil der Haus- und Familienarbeit<br />

leisteten. Auch wenn das Stigma der erwerbstätigen «Rabenmutter» schwand,<br />

dominierte weiterhin die Erwartung, dass sich die Mutter fürsorglich um die Kinder zu<br />

kümmern habe. Eine Mutterschaftsversicherung, welche die gleichzeitige Erwartung<br />

der Gesellschaft, dass Frauen baldmöglichst nach der Geburt eines Kindes wieder in den<br />

Beruf einsteigen sollten, wenigstens etwas unterstützt hätte, wurde erst 2004 eingeführt.<br />

Dazu fehlte es noch 2020 an kostengünstigen Einrichtungen zur ausserfamilialen<br />

Betreuung, auch die Unterschiede je nach Region blieben beträchtlich. Ebenso unterschiedlich<br />

blieb die Verbreitung von Tagesschulen, Horten und Kitas.<br />

In der deutschen Schweiz und im Kanton Zürich im Besonderen war die finanzielle<br />

Belastung der Eltern für die ausserfamiliale Betreuung sehr hoch. In der Westschweiz<br />

dagegen war sie bedeutend tiefer, da sich die öffentliche Hand weit stärker an den Kosten<br />

beteiligte. Auch etablierten sich Kindertagesstätten in ländlichen Regionen langsamer<br />

als in urbanem Umfeld. Trotz dieser schwierigen Bedingungen wurden Mitte der<br />

2010er-Jahre drei Viertel der Kinder im Vorschulalter nicht ausschliesslich von den<br />

Eltern betreut. Zwar stieg die Zahl der Krippenplätze insbesondere in den Städten seit<br />

der Jahrtausendwende kontinuierlich an, aber auch hier leisteten noch Mitte der 2010er-<br />

Jahre die Grosseltern, insbesondere die Grossmütter, regelmässig einen bedeutenden<br />

Anteil der familienergänzenden Betreuung – dies jedoch mehr in Familien mit Schweizer<br />

Pass als in migrantischen Familien, da deren Grosseltern oft nicht im Land wohnen.<br />

Fazit: Insgesamt benutzten sechs von zehn Haushalten mit Kindern unter 14 Jahren<br />

familien- und schulergänzende Betreuung: durch Grosseltern, Tagesmütter, Krippen<br />

und Horte, meist in kombinierter Form. Die Betreuung durch eine Nanny war und ist<br />

auch nach 2020 besonders für gutverdienende Familien eine Option. Dennoch blieb der<br />

Anteil der Betreuung von Kindern durch Nannys über die Jahre gering, ihre Arbeitsbedingungen<br />

trotz der Unterstellung unter den nationalen Normalarbeitsvertrag Hauswirtschaft<br />

weitgehend unkontrolliert. Wie viel Betreuungsarbeit seit der Jahrtausendwende<br />

zunehmend auch von Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen übernommen wurde, die<br />

oft dafür eigene Kinder in Heimatländern zurücklassen und deren Lebensbedingungen<br />

noch viel prekärer sind, ist ungeklärt.<br />

Eine einschneidende Erfahrung für viele Familien war der 2020 im Gefolge der Co -<br />

rona-Pandemie ausgerufene Lockdown: Schulen, Kindertagesstätten und Horte wurden<br />

geschlossen, zudem ein Teil der Arbeit ins Homeoffice delegiert. Das Kombinieren<br />

von Erziehung und Homeschooling mit ausserhäuslicher Erwerbstätigkeit oder Be rufstätigkeit<br />

im Homeoffice belastete nach ersten wissenschaftlichen Untersuchungen die<br />

Mütter weit mehr als die Väter, sofern nicht schon vor der Pandemie die Hausarbeit und<br />

Betreuung hälftig geteilt worden war. Zur Entlastung reduzierten nicht wenige der<br />

betroffenen Mütter ihr berufliches Pensum, weit seltener die Väter. So machte die ausserordentliche<br />

Situation der Pandemie bereits vorhandene asymmetrische Strukturen<br />

sichtbarer.<br />

Einen gesellschaftlichen Wertewandel markierte im Dezember desselben Jahres 2020<br />

der Durchbruch der «Ehe für alle». In der Schweizer Bevölkerung – unter den Frauen<br />

weit stärker als unter den Männern – zeigte sich eine verbreitete Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen<br />

Paaren und ihrem Recht auf Kinder. Gegen die Annahme des Gesetzes<br />

582


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

ergriffen Männer aus dem rechtsbürgerlichen Spektrum und Personen aus evangelikalfundamentalistischen<br />

Kreisen das Referendum. Die Angleichung der auf der gleichgeschlechtlichen<br />

Partner*innenschaft basierenden Familie an das herrschende Familienmodell<br />

war aus Menschenrechtsperspektive zu begrüssen, stärkte jedoch zugleich die<br />

bereits kaum mehr angefochtene Position der heterosexuellen Normfamilie. Deshalb<br />

werden die Bestrebungen von Lesben und Schwulen zu heiraten und als Paar Kinder<br />

aufzuziehen, auch als Homonormativität bezeichnet. Dabei ist zu bemerken, dass um -<br />

gekehrt die Registrierung der Partner*innenschaft für heterosexuelle Paare nie vorgesehen<br />

war. Vielmehr avancierten nun in Umkehrung zu früheren Positionen von Lesben<br />

und Feministinnen, welche die Ehe und Familie radikal infrage gestellt hatten, die<br />

queeren Familien zu den «alternativen» Familien – in der Schweiz im Gegensatz zu vielen<br />

anderen Ländern allerdings bis 2020 nur als eingeschriebene Partner*innenschaft<br />

mit Stiefkindadoption. Auch wurden gleichgeschlechtliche Paare 2020 in ihrem Kinderwunsch<br />

gegenüber der heterosexuellen Normfamilie im Bereich der Adoption und dem<br />

Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung weiterhin diskriminiert. Während<br />

in einer heterosexuellen Partnerschaft dem Ehemann der gebärenden Person ab Geburt<br />

die Vaterschaft zugesprochen und somit beiden die Elternschaft zugestanden wird, verwehrte<br />

das Parlament dies gleichgeschlechtlichen Paaren. Als Mutter oder Vater werden<br />

ausschliesslich die leibliche Mutter oder der leibliche Vater anerkannt – dem zweiten<br />

Elternteil blieb nur die ab 2018 gleichgeschlechtlichen Paaren zugestandene Stiefkindadoption.<br />

Die Akzeptanz der Ehe für alle impliziert eine Ausweitung der rechtlichen<br />

Norm auf «Andere». Doch wird das Rechtssystem mit der Normalisierung queerer<br />

Familien gleichwohl herausgefordert: Sei es dadurch, dass Transmänner ihre Kinder<br />

selbst ausgetragen haben, ein Vater also zugleich die «leibliche Mutter» und auch rechtlich<br />

die Mutter ist, sei es, dass durch die ROPA-Methode die Eizelle von einer der zwei<br />

Partnerinnen und der Samen eines anonymen Spenders verwendet, die befruchtete Zelle<br />

aber von der anderen Partnerin ausgetragen wird, beide Frauen also «leibliche Mütter»<br />

des Kindes sind. Da in der Schweiz die Eizellenspende verboten ist, reisen die Frauen<br />

zur Umsetzung dieser Methode ins Ausland, vorwiegend nach Spanien. So wird als<br />

Effekt neuer biotechnischer Verfahren das bis dahin gültige Verständnis, biologische<br />

Elternschaft gehe immer nur von zwei Personen unterschiedlicher Geschlechtsidentität<br />

aus, grundsätzlich in Frage gestellt. «Gender Trouble» im wahrsten Sinn.<br />

Verschiebungen in Ausbildung und Arbeit<br />

Der seit 1981 in der Verfassung garantierte Anspruch auf Gleichstellung in Ausbildung<br />

und Beruf trug zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Frauen bei. Doch<br />

das Tempo der Angleichung verlief gemächlich. Noch im Jahr 1991 hatten nicht einmal<br />

die Hälfte aller Kantone die Ungleichbehandlung von Mädchen und Knaben im Lehrplan<br />

behoben. Bis 2020 bestanden weiterhin Divergenzen zwischen den Ausbildungs- und<br />

Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern, wie die vom Bundesamt für Statistik<br />

zu nehmend geschlechterdifferenziert erhobenen Daten zeigen. 1999 verfügten 12 Prozent<br />

der Männer, aber 21 Prozent der Frauen über keine Ausbildung, die über den<br />

ob ligatorischen Schulabschluss hinausging. Der Anteil der Frauen sank bis 2018 auf<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

13 Prozent, der bereits niedere Anteil der Männer dagegen nur auf 11 Prozent. Bis 2016<br />

überholten zudem die Frauen mit gymnasialen Maturitätsquoten von 25 Prozent die<br />

Quote der Männer von 17 Prozent deutlich und holten nach anfänglicher Untervertretung<br />

auch im Bereich der Berufsmaturität mit 15 Prozent gegen 16 Prozent stark auf.<br />

Diese Entwicklung wirkte sich auf die Zahl der Studierenden an Hochschulen aus, verfügten<br />

doch 1980 lediglich 3.5 Prozent der Frauen gegenüber 9 Prozent der Männer<br />

über einen Erstabschluss an einer Hochschule. Bis 2005 stieg der Anteil beider Ge schlechter<br />

auf rund 15 Prozent, danach überholten die Frauen die Männer. Doch auf den<br />

höchsten Ausbildungsstufen verschob sich das Verhältnis an den Hochschulen wieder<br />

zu Gunsten der Männer: Waren 1980 erst 16 Prozent aller Doktorierten Frauen, stieg<br />

ihr Anteil zwar bis 2017 auf 45 Prozent, aber entgegen dem Geschlechterverhältnis der<br />

Studierenden blieb sie unter der Marke von 50 Prozent. Auf der obersten Stufe der<br />

wissenschaftlichen Karriere, bei der Lehre und der Forschungsleitung, akzentuierte<br />

sich der Gendergap mit bloss 23 Prozent Frauen noch weiter.<br />

Die geschlechterspezifischen Entwicklungen spiegelten sich ebenso bei den Lehrkräften:<br />

je höher die Schulstufe, desto kleiner der Frauenanteil. Auf der Primarstufe<br />

arbeiteten gegen 2020 fast ausschliesslich Frauen*, an den Universitäten blieb das Verhältnis<br />

fast umgekehrt. Erst nach der Jahrtausendwende nahm die Zahl der Frauen im<br />

Lehrkörper der Hochschulen – langsam zwar –, aber dennoch kontinuierlich zu. 1982<br />

trat mit der Experimentalphysikerin Verena Meyer die erste Frau das Amt als Rektorin<br />

einer Schweizer Universität an. Drei Jahre später berief die ETH Zürich mit der Architektin<br />

Flora Ruchat-Roncati erstmals eine Frau als ordentliche Professorin, bis 1990<br />

stieg die Zahl auf drei. An den Fachhochschulen überholten 2008 die Frauen zahlenmässig<br />

die Männer. Dieses Verhältnis war allerdings vorwiegend ein Resultat der starken<br />

Vertretung der Frauen in den Bereichen Pädagogik, Sozialarbeit und Gesundheitswesen,<br />

da diese Ausbildung neu auf die tertiäre Ebene gehoben wurde. Der hohe Frauenanteil<br />

entsprach der Entwicklung in der beruflichen Ausbildung, nach der 2016 weiterhin<br />

sehr viel mehr junge Frauen eine Ausbildung in sozialen und pflegerischen Berufen<br />

wählten als männliche Jugendliche. Gleichzeitig blieben die Unterschiede mit einem<br />

Frauenanteil von lediglich gut 12 Prozent in der Grundausbildung in den Bereichen<br />

technische Berufe, verarbeitendes Gewerbe und Bau gross. Deutlich erwies sich auf der<br />

Tertiärstufe auch der Männerüberhang im Ingenieurswesen, da in den neuen Informatikberufen<br />

der Anteil der jungen Frauen auf allen Stufen nur langsam anstieg.<br />

Wie in der Schwerindustrie Arbeitsplätze von Männern gingen in der Textilindustrie<br />

ein Grossteil der von Frauen besetzten Arbeitsplätze verloren. Doch der starke<br />

Ausbau des 3. Sektors fing diese Verluste für Frauen deutlich mehr auf als für Männer.<br />

Insbesondere die personenbezogenen Dienstleistungen wie die Pflege wurden ausgebaut.<br />

Im Detailhandel – nach dem Bau und dem Gesundheitswesen der drittwichtigste<br />

Beschäftigungsbereich der Schweiz – nahm zwar von 1991 bis 2018 die Zahl der weiblichen<br />

An gestellten ab, aber mit 17 Prozent weit weniger stark als die der männlichen<br />

mit 30 Pro zent. Allerdings beschleunigte sich wegen der steigenden Zahl von Self-<br />

Checkout-Automaten (SCO-Kassen) in den Grossbetrieben der abnehmende Trend<br />

auch bei den weiblichen Beschäftigten seit 2018.<br />

Eine starke Verschiebung in Richtung Angleichung erfolgte in der Erwerbsquote.<br />

Waren 1991 rund 68 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig, stieg<br />

584


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

dieser Anteil bis 2018 auf 80 Prozent, während er bei den Männern nur minim von 92<br />

auf rund 89 Prozent abnahm. Der Anstieg war das Resultat der zunehmenden Teilzeit-<br />

Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kindern im Betreuungsalter (vgl. «Familienstrukturen<br />

– Kontinuitäten und Wandel»). Am höchsten war die Erwerbsquote der Frauen in<br />

hochqualifizierten Berufen, am tiefsten die der Migrantinnen. Doch im Gegensatz zu<br />

den Frauen mit Schweizer Pass arbeiteten Migrantinnen viel häufiger Vollzeit und leisteten<br />

so sogar leicht mehr als die Hälfte der von Frauen insgesamt erbrachten Erwerbsarbeitsstunden.<br />

Die Teilzeiterwerbstätigkeit erwies sich als zweischneidig. Sie entsprach nicht nur<br />

dem Wunsch von Müttern, sondern ebenso der seit den 1980er-Jahren erhobenen neoliberalen<br />

Forderung nach Deregulierung und vermehrter Flexibilität. Diese sollte sich<br />

nach den Bedürfnissen der Unternehmen und nicht der Beschäftigten richten. So fiel<br />

1998 das Nachtarbeitsverbot von Frauen in der Industrie; so waren durch das Outsourcing<br />

von Reinigungsarbeiten insbesondere Frauen, davon viele Migrantinnen, gezwungen,<br />

statt zu rechtlich gut abgesicherten zu weit weniger regulierten Bedingungen zu<br />

arbeiten; so wurden im Detailhandel und im Gastgewerbe die Einsatzpläne vorwiegend<br />

entsprechend den nach Tageszeit generierten Umsatzzahlen geplant. Ob dabei Wünsche<br />

der Angestellten berücksichtigt wurden, hing weitgehend vom Goodwill der Vorgesetzten<br />

ab. Die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten bedeutete zugleich, dass die<br />

Einsatzzeiten ausgedehnt wurden. Diese Flexibilisierung traf die Männer im Gastgewerbe<br />

und Detailhandel weit weniger stark, da vielen eine Teilzeitanstellung der Finanzierung<br />

ihrer Ausbildung diente und nicht der Vereinbarung von Erwerbsmöglichkeiten<br />

und Betreuungspflichten.<br />

Zugleich erhöhte die Flexibilisierung seit den 1990er-Jahren die Arbeitsmarktchancen<br />

gut ausgebildeter Frauen. Zwischen 1991 und 1999 verdreifachte sich der Anteil von<br />

Frauen im höheren Kader auf 10.6 Prozent, um bis 2020 weiterhin anzusteigen. Im<br />

Unterschied zur Situation der Mehrheit der Migrantinnen stieg der Anteil hochqualifizierter<br />

Ausländerinnen in Führungspositionen des privaten Sektors stärker an als<br />

derjenigen der Frauen mit Schweizer Pass. Dennoch blieb der Anteil der Frauen in<br />

Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten börsenkotierter Firmen im internationalen<br />

Vergleich tief. Vor allem die öffentliche Verwaltung und der Service public begannen<br />

zuerst mit dem Abbau von Diskriminierungsmechanismen und mit internen Fördermassnahmen.<br />

Diese Massnahmen wurden seit der 4. UNO-Frauenkonferenz von 1995<br />

in Peking unter dem Stichwort «Gender-Mainstreaming» forciert und zum Teil auch<br />

von bedeutenden Grossunternehmen als Strategie übernommen. Die Wirksamkeit<br />

blieb in der Privatwirtschaft allerdings eher bescheiden. In den Nullerjahren löste der<br />

Begriff «Diversity» das Stichwort Frauenförderung im Personalmanagement global<br />

tätiger Firmen ab. Die Anstellung von Personen, die bezüglich Geschlecht, Ethnie,<br />

sexueller Orientierung und Religion Vielfältigkeit repräsentierten, ermöglichte es, von<br />

positiver Wertschätzung zu sprechen. Es ging nun um Vielfalt und nicht mehr um Machtverhältnisse<br />

und Diskriminierung, die damit aber nicht verschwanden.<br />

Eine Aufweichung, aber kein Ende der Diskriminierung zeigte sich in der Entwicklung<br />

der Frauen- und Männerlöhne. Im Durchschnitt verdiente noch 2020 jede berufstätige<br />

Frau wegen Diskriminierung um die 590 Franken weniger als jeder berufstätige<br />

Mann, insgesamt zehn Milliarden jährlich. Betrug die durchschnittliche Lohndifferenz<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

im privaten Sektor 1994 noch 24 Prozent, verringerte sie sich bis 2006 auf 19 und bis<br />

2018 auf 14 Prozent. Im öffentlichen Sektor war die Differenz weniger ausgeprägt: Sie<br />

sank von 14 Prozent 2006 auf 11 Prozent im Jahre 2018. Analysen für das Jahr 2016 er -<br />

gaben, dass im privaten Sektor rund 43 Prozent des Lohnunterschieds nicht mit objektiven<br />

Faktoren wie Ausbildung oder Dienstjahre zu erklären war, im öffentlichen<br />

Sektor 35 Prozent. Je höher die Hierarchiestufe, umso mehr klafften die Löhne auseinander.<br />

Da allerdings in Sektoren mit hohem Frauenanteil die Löhne besonders tief<br />

waren – der Medianlohn im Bereich Finanzdienstleistungen betrug 9742 Franken, im<br />

Detailhandel 4798 –, waren besonders viele Frauen von der Lohnungleichheit betroffen.<br />

So verfügten 2016 mit einem Anteil von gut 16 Prozent der weiblichen Beschäftigten<br />

immer noch dreimal mehr Frauen als Männer über einen monatlichen Nettolohn<br />

von 4000 Franken und weniger. Ein grosser Teil der Angestellten im Tieflohnbereich<br />

waren Migrantinnen, die nicht mehr vorwiegend als Fabrikarbeiterinnen, sondern mehr<br />

im Detailhandel, im Dienstleistungssektor oder als Hilfskräfte beschäftigt waren.<br />

Abgesehen von hochqualifizierten Fachkräften konnten auch viele Migrantinnen mit<br />

einer qualifizierten Ausbildung aufgrund struktureller Ausschlussmechanismen nicht<br />

eine ihren Kompetenzen entsprechende Stelle finden. Eine andere Situation als im<br />

öffentlichen wie im privaten Sektor zeigte sich in den seit den 1970er-Jahren eröffneten<br />

Betrieben auf kollektiver Basis wie beispielsweise die Genossenschaftsbeiz «Kreuz» in<br />

Solothurn, die Brasserie Lorraine in Bern oder das Restaurant Schwarzer Engel in<br />

St. Gallen. Hier blieben sowohl die Hierarchiestufen als auch die Lohndifferenzen<br />

gering. Die Arbeit hatte für Frauen über die Anfangsjahre hinaus oft einen sehr alltagsbezogenen<br />

und praktisch-emanzipatorischen Charakter, da sie vielfach tragende Positionen<br />

besetzten.<br />

Tiefe Löhne und Teilzeitbeschäftigung wirkten sich gleichermassen negativ auf die<br />

Absicherung der Frauen im Alter aus: Während die Rentenansprüche der Frauen in der<br />

AHV seit dem Splitting und den Betreuungsgutschriften kaum merklich geringer waren<br />

als die der Männer, blieben diese im Bereich der Pensionskassen mit dem Kapitaldeckungsverfahren<br />

markant schlechter. In diesem Bereich hingen die Renten einerseits<br />

von den einbezahlten Beträgen ab, anderseits waren viele Frauen wegen tiefer Einkommen<br />

und geringer Erwerbstätigkeit gar nicht rentenberechtigt. Diese schlechte soziale<br />

Absicherung spiegelt nach wie vor die geringe Gewichtung der unbezahlten Arbeit auf<br />

politischer Ebene.<br />

Unter «Arbeit» wurde auch nach der Jahrtausendwende fast ausschliesslich die<br />

bezahlte «Erwerbsarbeit» subsumiert. Doch ab den 2000er-Jahren stellten feministische<br />

Kreise ausgehend von Analysen der Ökonomin Mascha Madörin dieses Verständnis<br />

mit dem neu eingeführten Begriff «Care» beziehungsweise «Haus- und Sorgearbeit»<br />

zur Debatte. Es ging darum, die vorwiegend von Frauen geleistete unbezahlte Arbeit<br />

sichtbar zu machen, deren Wert in Franken aufzurechnen und aufzuzeigen, dass die<br />

unter diesem Begriff erfassten Tätigkeiten entscheidend sind für das Funktionieren der<br />

Gesellschaft. Die Sichtbarmachung der unbezahlten Arbeit gab der bereits in den<br />

1970er-Jahren von Feministinnen wie der Italienerin Silvia Federici geführten Debatte<br />

um Lohn für Hausarbeit virulenten Auftrieb (vgl. «Theoriedebatten und Forschung in<br />

Bewegung»). Auch die bezahlte Care-Arbeit in Institutionen, ob in der Pflege, der Kinder-<br />

oder der Altenbetreuung leisteten grossmehrheitlich Frauen – zu schlechten Lohn-<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

bedingungen und wenig wertgeschätzt. Dieses Ungleichgewicht veränderte sich bis<br />

2020 kaum, abgesehen davon, dass auch in Privathaushalten mehr bezahlte Arbeit<br />

geleistet wurde, allerdings vorwiegend von Migrantinnen. Auf Grund der von Gewerkschaften<br />

unterstützten Kritik von Migrantinnen an der Ausbeutung in der rund um die<br />

Uhr geleisteten Betagtenbetreuung wurden neue Modelle erprobt, aber auch Einsatzzeiten<br />

und Löhne neu verhandelt.<br />

Dieses Ungleichgewicht wirkte sich in der Corona-Krise aus, Anlass für das feministische<br />

Netzwerk WIDE (Women in Development Europe) in einem Manifest festzuhalten,<br />

dass 69 Prozent aller bezahlten und unbezahlten Arbeit in Stunden gemessen<br />

im Sektor der Sorge- und Versorgungswirtschaft geleistet werde. Da diese Leistungen<br />

unverzichtbar seien, treffe die Corona-Krise Frauen weit heftiger als Männer: durch<br />

höhere Arbeitsbelastung, als Pflegende in den Intensivstationen, als Betreuerinnen in<br />

den Heimen für Betagte, als Angestellte im Detailhandel, aber auch als Mütter zu Hause<br />

während der Schliessung der Schulen, Horte und Krippen. Wegen der ungleichen Verteilung<br />

der Haus- und Betreuungsarbeiten reduzierten weit mehr Frauen als Männer<br />

wegen des Lockdowns den Anteil ihrer bezahlten Erwerbsarbeit, ob sie nun im Homeoffice,<br />

im Spital oder an der Kasse eines Grossverteilers beschäftigt waren. Daher, so<br />

WIDE, gehöre «Sorge- und Versorgungswirtschaft ins Bundeshaus» – Arbeit als Politikum,<br />

weit über das herkömmliche Verständnis von Ökonomie hinaus.<br />

Neuerungen im Recht<br />

Die Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung vom 14. Juni 1981 war ein Meilenstein.<br />

Sie wurde zum wichtigsten Bezugspunkt für Massnahmen zur faktischen Umsetzung<br />

der Gleichstellung sowie weiterer Anpassungen des Rechts. Das gilt auch für das<br />

im Parlament <strong>1985</strong> verabschiedete neue Eherecht, das allerdings nur dank der Frauen<br />

1988 in Kraft trat. Bei der Abstimmung warfen 52 Prozent der Männer ein Nein in die<br />

Urne, dagegen 61 Prozent der Frauen ein Ja: der erste klare Sieg der Frauen seit Einführung<br />

des Frauenstimmrechts. Wie renitent sich Männer gegen die seit 1981 verfassungsmässig<br />

garantierte Gleichstellung zeigen konnten, demonstrierten die Gegner des Frauenstimmrechts<br />

im Kanton Appenzell bis 1990. Es bedurfte der Klage von Theresia Rohner<br />

beim Bundesgericht, damit schliesslich auch in diesem Kanton Frauen auf allen Ebenen<br />

die politischen Rechte zugestanden wurden. Ebenso dauerte es rund ein Jahrzehnt, bis<br />

die 1982 auf Grund des Gleichstellungsartikels eingereichte Lohnklage der Pflegefachfrauen<br />

aus einem Zürcher Stadtspital von allen gerichtlichen Instanzen als rechtmässig<br />

anerkannt wurde.<br />

Bald war klar, dass nur ein Gleichstellungsgesetz die Umsetzung des Verfassungsartikels<br />

garantieren konnte. Auf dem Hintergrund des ersten grossen Frauenstreiks von<br />

1991 unterstützten die meisten eidgenössischen Parlamentarierinnen und breite Kreise<br />

der Frauenbewegung das Gesetz, das 1996 in Kraft trat. Es verbietet explizit jegliche Art<br />

von Diskriminierung im Erwerbsbereich – dazu zählt auch die sexuelle Belästigung am<br />

Arbeitsplatz – und enthält rechtliche Massnahmen zur Durchsetzung der Lohngleichheit<br />

wie beispielsweise die Verbandsklage. Ausserdem verpflichtete sich die Schweiz im<br />

folgenden Jahr mit der Ratifizierung der UNO-Frauenrechtskonvention (CEDAW,<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Committee on the elimination of Discrimination against Women), gegen jegliche Diskriminierung<br />

von Frauen vorzugehen. Schliesslich hielt auch noch das Bundesgericht<br />

in einem Urteil von 2011 den verfassungsmässig verankerten Auftrag des Staates zur<br />

Gleichstellung fest.<br />

Entscheidende Arbeit zur Beseitigung jeglicher Form direkter oder indirekter Diskriminierung<br />

leistete das von der Eidgenössischen Frauenkommission (EFK) initiierte<br />

und 1988 eröffnete Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann<br />

(EBG). Nach seinem Vorbild richteten bis 1996 mehr als ein Dutzend Kantone und<br />

einige grössere Städte Fachstellen für Gleichstellung ein. Doch insbesondere die SVP<br />

forderte seit Anbeginn immer wieder deren Abschaffung. Allgemein gerieten diese<br />

Stellen wegen des von bürgerlichen Parteien vorangetriebenen Spardrucks zunehmend<br />

unter Druck, nicht wenige wurden aufgelöst. In anderen Kantonen wurden der Anlaufstelle<br />

die Ressourcen reduziert oder ohne Aufstockung der Mittel weitere Aufgabenbereiche<br />

wie Jugend, Familie, Behinderte und/oder Migration zugeteilt. Während es in<br />

vielen Deutschschweizer Kantonen immer noch oder wieder an Fachstellen fehlt, wurden<br />

solche in der Romandie und im Tessin seit 1994 flächendeckend eingerichtet.<br />

Auf eidgenössischer Ebene erzeugte der Frauenstreik von 1991 ebenso wie die Protestbewegung<br />

nach der Nichtwahl von Christiane Brunner genügend politischen Druck,<br />

damit die alten Forderungen der 1970er- und 1980er-Jahren nach der Jahrtausendwende<br />

endlich umgesetzt wurden. So sprach sich nach dem Umschwenken der CVP-Frauen<br />

das Parlament in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs für die Fristenlösung aus, die<br />

in der Referendumsabstimmung mit 72 Prozent Ja-Stimmen definitiv angenommen<br />

wurde und trotz mehrfacher Anläufe der Gegenseite kassenpflichtig blieb. Lange erwies<br />

sich auch die insbesondere von Bundesrätin Ruth Dreifuss vorangetriebene soziale<br />

Absicherung der Mutterschaft chancenlos. Erst der von linken und bürgerlichen Politikerinnen<br />

entwickelte Vorschlag, den Müttern über die Erweiterung der Erwerbsersatzordnung<br />

während 14 Wochen nach der Niederkunft 80 Prozent des Lohnes zu garantieren,<br />

fand schliesslich dank der überraschenden Zustimmung des Gewerbeverbands<br />

eine Mehrheit im Parlament und an der Urne. Alle Anläufe zum Elternurlaub blieben<br />

jedoch chancenlos, einzig ein gesetzlich verankerter höchst bescheidener zweiwöchiger<br />

bezahlter Vaterschaftsurlaub trat am 1. Januar <strong>2021</strong> in Kraft.<br />

Das Thema sexualisierte Gewalt verband seit den 1980er-Jahren die neue feministische<br />

Bewegung und die älteren Frauenorganisationen (vgl. «Gewalt an Frauen*»). Der<br />

rechtliche Schutz gegen häusliche Gewalt wurde ausgebaut, ebenso gegen Zwangsheirat<br />

und Genitalverstümmelung. Im Bereich des Zivilrechts ist gemäss dem revidierten<br />

Scheidungsrecht von 2000 die Unterhaltspflicht nicht mehr abhängig von der Frage des<br />

Verschuldens der Scheidung und das während der Ehe erworbene Pensionskassenguthaben<br />

wird geteilt. Das auf Antrag ermöglichte gemeinsame Sorgerecht wurde ab Mitte<br />

2014 gegen den Widerstand von Frauenorganisationen zum Regelfall, der angemessene<br />

Kinderunterhalt im Gefolge neu geregelt und durch Inkassostellen abgesichert. Mehrfache<br />

Anläufe brauchte die Gleichstellung im Namens- und Bürgerrecht. Gemäss dem<br />

neuen Eherecht von 1988 konnte die Ehefrau, sofern sie das wollte, ihren Ledignamen<br />

dem Namen des Ehemanns voranstellen (Doppelname). 2010 erklärte ein Strassburger<br />

Urteil das Schweizer Namensrecht als menschenrechtswidrig. Darauf wurde ein Gesetz<br />

ausgehandelt, das vom Grundsatz ausgeht, dass Frau und Mann beide bei der Heirat<br />

588


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

grundsätzlich ihren jeweiligen angestammten Familiennamen unverändert behalten. Sie<br />

können aber einen gemeinsamen Familiennamen wählen, wenn sie dies wollen. Dies<br />

taten bis 2017 rund 70 Prozent der Ehepaare, und es waren in fast allen Fällen die Ehefrauen,<br />

die ihren ledigen Namen aufgaben.<br />

Grosser Handlungsbedarf zeigte sich in der verfassungsmässig garantierten Lohngleichheit,<br />

auch wenn die durchschnittliche Diskrepanz zwischen Frauen- und Männerlöhnen<br />

in den 1990er-Jahren bis 2020 von rund 30 Prozent auf unter 20 Prozent ab -<br />

nahm; 8 Prozent davon gelten als diskriminierend, weil nicht begründbar. Zwar stiegen<br />

im Gefolge des Gleichstellungsgesetzes die Lohnklagen, allerdings vorwiegend im<br />

öffentlichen Bereich wie in der Pflege, in der Unterstufe der Schule und bei der Kleinkindererziehung.<br />

Wegen fehlender Lohntransparenz und aus Angst vor Kündigungen<br />

blieben Lohnklagen in der Privatwirtschaft jedoch selten und daher die Lohnunterschiede<br />

auch grösser als im öffentlichen Bereich. Die Lohngleichheitsinitiative, welche<br />

bedeutende Unternehmen in die Pflicht genommen hätte, scheiterte 2018 an einer reinen<br />

Männermehrheit im Ständerat. Dagegen protestierten Frauenorganisationen, feministische<br />

Gruppierungen und Gewerkschaften mit der grossen Demonstration «equal<br />

pay» in Bern. Die von Bundesrätin Sommaruga vorgeschlagene regelmässige Lohnanalyse<br />

für Unternehmen mit mehr als 100 Vollzeitstellen wurde vom Parlament auf eine<br />

reine interne Information ohne Meldepflicht an die Behörden und Sanktionsmöglichkeit<br />

abgeschwächt. Die Quoteninitiative «für eine gerechte Vertretung der Frauen in den<br />

Bundesbehörden» war bereits im März 2000 an der Urne gescheitert. 2014 sprach sich<br />

die EFK für eine gesetzliche Einführung von Geschlechterquoten in börsennotierten<br />

und öffentlichen Unternehmen sowie für Unternehmen mit 250 oder mehr Mitarbeitenden<br />

aus. Der auf dieses Ziel ausgerichtete Vorschlag des Bundesrats zur Revision des<br />

Aktienrechts stiess auf Widerstand im Parlament. Es ist davon auszugehen, dass auch<br />

dieser Vorschlag wegen fehlender Sanktionsmittel nur geringe Wirkung erzeugen wird.<br />

Ein Dauerbrenner blieb die seit den 1990er-Jahren von bürgerlicher Seite immer<br />

wieder geforderte Erhöhung des Frauenrentenalters. Die 10. AHV-Revision (1997)<br />

erhöhte zwar das Frauenrentenalter sukzessive von 62 auf 64 Jahre, wurde jedoch durch<br />

das gleichzeitig eingeführte Splitting der Rentenansprüche eines Ehepaars und einer<br />

Betreuungs- und Erziehungsgutschrift etwas ausgeglichen. Diese erste gesetzliche<br />

Anerkennung der unentgeltlich geleisteten Care-Arbeit war das Resultat der überparteilichen<br />

Zusammenarbeit der beiden Nationalrätinnen Gret Haller (SP) und Lili Nabholz-Haidegger<br />

(FdP). Seitdem scheiterten alle anderen Vorschläge zur Erhöhung des<br />

Rentenalters an der Opposition der Gewerkschaften und vornehmlich der Frauen, da<br />

diese im Bereich der rechtlich geregelten beruflichen Vorsorge über Pensionskassen<br />

weiterhin benachteiligt sind und weiterhin den grössten Teil der unentgeltlichen Arbeit<br />

leisten.<br />

Nur langsam wurde ab den Nullerjahren die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher<br />

Paare abgebaut. Das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft von 2007<br />

ermöglichte homosexuellen Paaren ihre Beziehung rechtlich abzusichern, namentlich<br />

im Erbrecht und in der Sozialversicherung einschliesslich der beruflichen Vorsorge.<br />

Doch wurde ihnen das Recht zu Verfahren der Fortpflanzungsmedizin sowie zur<br />

Adoption verweigert, einzig gut zehn Jahre später die Adoption des Kinds der Partnerin<br />

oder des Partners (Stiefkindadoption) zugebilligt. Erst im Dezember 2020 stimmte<br />

589


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

das Parlament der «Ehe für alle» zu, was den Zugang zur Samenspende für Frauenpaare<br />

impliziert: ein Durchbruch.<br />

Auch der Schutz der Rechte von Migrantinnen verbesserte sich trotz verschiedener<br />

Anläufe seit den 1990er-Jahren nur schleppend. Ihr Aufenthaltsstatus blieb prekär, selbst<br />

wenn ab 2008 frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung getragen wird sowie Op fern<br />

und Zeuginnen* von Menschenhandel der Aufenthalt gewährt werden kann. Ein verbindliches<br />

Recht dazu gibt es jedoch nicht. Ebenso kann seit einer Härtefallregelung im<br />

Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) 2008 Opfern häuslicher Gewalt der Verbleib<br />

in der Schweiz nach Auflösung der familiären Gemeinschaft genehmigt werden, was ein<br />

wichtiger Fortschritt ist, sich in der Praxis aber nach wie vor als zu willkürliche Formulierung<br />

erweist. Da seit 2018 die von der Schweiz ratifizierte Konvention des Europarates<br />

zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt<br />

(Istanbul-Konvention) für alle Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus,<br />

gilt und deren Umsetzung dem EBG obliegt, müsste dieser Schutz für Migrantinnen<br />

zukünftig auch im Recht stärker verankert werden. Doch da (Ehe-)Partnerinnen von<br />

Personen mit Jahres- oder Kurzaufenthaltsbewilligung nach der Auflösung einer Ehe<br />

oder eingetragenen Partnerschaft aufgrund häuslicher Gewalt keinen gesetzlichen An -<br />

spruch auf die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung haben, werden die Bestimmungen<br />

der Istanbul-Konvention nicht vollumfänglich umgesetzt. Die Schweiz hat daher<br />

bei der Ratifikation einen entsprechenden Vorbehalt angebracht.<br />

Dass eine Ratifikation nicht automatisch das Ende der Diskriminierung bedeutet,<br />

zeigen die in regelmässigen Abständen verfassten CEDAW Berichte. Sie begrüssen die<br />

Fortschritte, verweisen aber gleichzeitig immer noch auf markante Lücken, obwohl sie<br />

eher zurückhaltend abgefasst sind. So beurteilte die NGO-Koordination post Beijing,<br />

ein Netzwerk von rund 30 Frauenorganisationen, den 6. Staatenbericht zur Umsetzung<br />

der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von 2018 als zu oberflächlich. So fehle<br />

darin beispielsweise eine Strategie, um die Mehrfachdiskriminierung gerade auch von<br />

Frauen* mit Migrationshintergrund und Frauen* of Colour mit Schweizer Pass sichtbar<br />

zu machen. Sie kritisierte, dass die Angebote der familienergänzenden Kinderbetreuung<br />

zu kostspielig seien, und forderte unter anderem, die negativen Anreize für<br />

doppelverdienende Eltern abzuschaffen. Zum Teil auch aus eben diesem Grunde lancierten<br />

Politikerinnen zusammen mit alliance F zum 50-Jahre-Jubiläum des Frauenstimmrechts<br />

eine Kampagne zur Individualsteuer für alle, was die Steuerlast erwerbstätiger<br />

Ehepaare verringern würde. Damit die dadurch erzeugten Steuerausfälle nicht<br />

durch Kürzung der Mittel für andere Gleichstellungsmassnahmen ausgeglichen werden,<br />

erscheint die weitere Mobilisierung der Frauen unabdingbar.<br />

Sexualität und Körper zwischen Selbst- und Fremdbestimmung<br />

Der straffreie Schwangerschaftsabbruch, seit den 1970er-Jahren sowohl auf der Strasse<br />

als auch über mehrere Volksinitiativen gefordert, blieb bis zur Annahme der Fristenlösung<br />

(2002) für die Frauenbewegung zentrales Thema. Doch ging es im Kampf um die<br />

Selbstbestimmung über den eigenen Körper nicht allein um Abtreibung, sondern auch<br />

um selbstbestimmte Sexualität und um die Gesundheitsversorgung von Frauen* per se.<br />

590


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es nur wenige Gynäkologinnen. Frauen wa -<br />

ren in zentralen Fragen ihrer Gesundheit, auch bezüglich der Verhütungsmethoden,<br />

von der «Expertise» eines meist männlichen Gynäkologen abhängig. Sich aus dieser<br />

patriarchalen Abhängigkeit und, bezüglich der Pharmaindustrie, aus einer kapitalistischen<br />

Logik der Medikalisierung des Frauenkörpers zu befreien, war ein wesentliches<br />

Ziel der Frauengesundheitsbewegung dieser Zeit. So bildeten Selbstuntersuchungsworkshops,<br />

die seit den 1970er-Jahren weltweit praktiziert wurden, eine zentrale Form<br />

der Selbstermächtigung über den eigenen Körper: Frauen untersuchten sich selbst und<br />

gegenseitig in kleinen Gruppen mit Spekulum und Spiegel die Vagina und die Brüste<br />

und tauschten sich zu Fragen bezüglich Sexualität, Verhütung und Gesundheit aus.<br />

Aus solchen Workshops entstanden selbstorganisierte Frauengesundheitszentren. Oft<br />

gestartet als Beratungsstellen (in Zürich die Infra, 1972; in Lugano das Consultorio<br />

delle Donne, 1977), wurden über die 1970er- und 1980er-Jahre in mehreren Städten<br />

Frauengesundheitspraxen eingerichtet, wobei die Genferinnen des Mouvement de<br />

libération des femmes 1978 die erste Frauenpraxis einrichteten, die auch von den Krankenkassen<br />

Anerkennung fand (vgl. «Neue Organisations- und Mobilisierungsformen»).<br />

Aufgrund des entschiedenen Engagements sowohl lokal und autonom organisierter<br />

Frauengruppen als auch internationaler feministischer Netzwerke wurde das Thema<br />

Frauengesundheit von der WHO aufgegriffen – und fand auch Eingang in die Schweizerische<br />

Gesundheitspolitik. 1996 wurde unter dem Titel «Daten für Taten» der erste<br />

Frauengesundheitsbericht für die Schweiz veröffentlicht. Auf Motion der Nationalrätin<br />

Ruth-Gaby Vermot (1998) wurde im Jahr 2000 innerhalb des Bundesamtes für Ge -<br />

sundheit (BAG) der Fachbereich «Gender Health» geschaffen. Nach zehn Jahren wurde<br />

der Fachbereich wieder aufgelöst, der Fokus «Geschlecht und Gesundheit» seither<br />

innerhalb des BAG als Querschnittthema weitergeführt.<br />

Mit Aufkommen der Gentechnologie sowie neuer reproduktiver Technologien wie<br />

die In-vitro-Fertilisation (1978 kam in England das erste per IVF-Verfahren gezeugte<br />

Baby zur Welt), stellten sich für Feministinnen vollkommen neue Fragen, sowohl was<br />

die Frauengesundheit als auch was die Bezugnahme auf den Frauenkörper betraf. Gab<br />

es Feministinnen, beispielsweise in den USA, die das IVF-Verfahren und damit verbundene<br />

Techniken wie das Einfrieren von Embryonen, der Samen- und Eizellen- oder<br />

Em bryotransfer als potenziell emanzipatorisch feierten, da die Kindszeugung von<br />

einem (hetero-)sexuellen Akt entkoppelt wurde, so standen Frauen im deutschsprachigen<br />

Raum den neuen Technologien weit skeptischer gegenüber. Sie sahen darin vielmehr<br />

eine Perfektion patriarchaler Techniken zur Kontrolle des weiblichen Körpers. Und<br />

be züglich der seit Längerem praktizierten diagnostischen Abklärungsverfahren wie<br />

Fruchtwasserpunktation und Ultraschall, mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit,<br />

gar eine neue Form eugenischer Euthanasie. Angeregt durch die kapitalismus-<br />

und patriarchatskritischen Analysen der Ökofeministinnen um Vandana Shiva<br />

und Maria Mies verbanden Feministinnen auch in der Schweiz die Kritik an Gentechnik<br />

(profitorientierte Ausbeutung des Bodens) mit jener an reproduktiven Technologien<br />

(Ausbeutung des Frauenkörpers).<br />

An die breite Öffentlichkeit kam die Debatte um Gen- und Reproduktionstechnologien<br />

<strong>1985</strong>, als die Zeitschrift Beobachter eine Initiative lancierte, die eine schweiz-<br />

591


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

weite Regulierung der neuen Techniken forderte. Unterschiedliche feministische Netzwerke<br />

und Gruppen wie Mutterschaft ohne Zwang (MoZ), die Nationale Organisation<br />

gegen Gen- und Reproduktionstechnologie (Nogerete) oder die Frauengruppe Antígena<br />

formierten sich in dieser Zeit, um ihre feministische Perspektive auf die neuen<br />

Technologien zu formulieren.<br />

Die Auseinandersetzung mit neuen Reproduktionstechnologien schärfte auch den<br />

Blick auf internationale bevölkerungspolitische Eingriffe: Seit den 1960er-Jahren intensivierten<br />

US-amerikanische NGOs und Stiftungen in ehemals kolonisierten Staaten,<br />

gestützt durch UN-Gremien wie die WHO und die Regierungen der jeweiligen Zielländer,<br />

die Durchführung sogenannter «Familienplanungsprogramme». Das erklärte<br />

Ziel: Weniger Menschen auf dem Planeten. Die offen anvisierte Zielgruppe: Frauen aus<br />

armen und ländlichen Verhältnissen und Frauen of Colour.<br />

Die von Feministinnen aus Indien, Südafrika, den USA oder Brasilien initiierte und<br />

über transnationale Netzwerke wie das Feminist International Network of Resistance<br />

to Reproductive and Genetic Engineering (FINRRAGE) organisierte Kritik an dieser<br />

auch deutlich rassistischen Bevölkerungspolitik wurde von feministischen Gruppen<br />

und Netzwerken in der Schweiz aufgenommen – und trug entscheidend dazu bei, dass<br />

auch in der Schweiz verübte bevölkerungspolitische und eugenische Interventionen in<br />

den Fokus der Kritik und ab den 1990er-Jahren auch in den Blick der Forschung gelangten:<br />

Zwangssterilisierungen von als «schwachsinnig» oder «liederlich» gebrandmarkten<br />

Frauen und (weniger) Männer in Psychiatrien; «Eheberatungen» und amtlich verordnete<br />

Zwangssterilisierungen für als «geisteskrank» erklärte, meist schlicht arme Frauen<br />

und Männer. Eine zentrale Figur für die Anfänge der diesbezüglichen Forschung war<br />

die Historikerin und erste Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Regina<br />

Wecker (Basel).<br />

Die weitere Entwicklung und auch die Verwendung von Reproduktionstechnologien<br />

waren nicht aufzuhalten. Die 1997 verworfene Genschutzinitiative (Moratorium<br />

im Tier- und Pflanzenbereich) hatte ursprünglich auch ein Moratorium für Reproduktionstechnologien<br />

vorgesehen – es wurde wieder aus dem Initiativtext gestrichen, da es<br />

nicht mehr als mehrheitsfähig galt. Die Diskussionen um Reproduktionstechnologien<br />

gingen jedoch weiter. Eine bis heute virulent geführte Debatte unter Feministinnen*<br />

dreht sich um die Frage von Recht oder Unrecht der Leihmutterschaft, die in der Schweiz<br />

auch <strong>2021</strong> nicht erlaubt ist.<br />

Stark umstritten war auch über viele Jahre das Thema Pornografie. Pornos, so postulierte<br />

die PorNo-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, waren von Männern für<br />

Männer gemacht und stellten Frauen als passive, hörige Sexobjekte dar. Bereits in den<br />

1980er-Jahren formierte sich jedoch eine internationale feministische Szene, die das<br />

Genre für Frauen* umzudeuten begann und es seither feministisch prägte. Diese neue<br />

Perspektive auf erotische und pornografische Filme und Fotografien stiess auch in der<br />

Schweiz auf wachsendes Interesse. In Bern bildete sich bereits Ende der 1980er-Jahre<br />

eine Gruppe von Frauen, die sich kritisch und mit feministischem Interesse mit erotischen<br />

Filmen und Pornos befasste. 2013 wurden in Zürich die ersten «Porny Days»<br />

durchgeführt, 2019 startete das queer-feministische Pornofestival «Schamlos!» in der<br />

Berner Reitschule. Vorangetrieben wurde die sexpositive, feministische Umdeutung<br />

von einer wachsenden, lesbischen und queer-feministischen Subkultur, die nicht<br />

592


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

zuletzt dank der seit Ende der 1990er-Jahre auch im deutschen Sprachraum angekommenen<br />

Queer Theory Auftrieb erhielt. Transidente, intersexuelle und non-binäre Menschen,<br />

Drag Queens und Kings, Lesben, Schwule oder Bisexuelle deuteten mit der<br />

Selbstbezeichnung «Queer» nicht nur ein altes Schimpfwort selbstbewusst um, sondern<br />

fanden unter dieser neue, auch stark körperbezogene Ausdrucksformen, die die<br />

Vielfalt unterschiedlicher Körper, Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten jenseits der<br />

Zweigeschlechtlichkeit und Heteronorm als widerständige Kraft feierten. Eine Kraft,<br />

die auch zu neuen Organisationen, wie beispielsweise der Milchjugend führte: eine<br />

Organisation für lesbische, schwule, bi-, trans-, inter- und asexuelle Jugendliche, die<br />

entschlossen «falschsexuelle Welten» gestalten und so die Welt queerpolitisch verändern<br />

möchten.<br />

Ähnlich heftig wie über Pornografie wurde seit der Jahrtausendwende über Prostitution<br />

diskutiert. Seit 1942 war Prostitution als bezahlter Geschlechtsverkehr zwischen<br />

Mann und Frau auf Bundesebene legal; mit Revision des Sexualstrafrechts von 1992<br />

wurde auch bezahlter Sex zwischen Gleichgeschlechtlichen entkriminalisiert. Auf kantonaler<br />

und Gemeinde-Ebene existierten jedoch unterschiedliche Regeln. Frauen im<br />

Sexgewerbe, zu einem Grossteil Migrantinnen, sahen sich mit einer Unzahl an verschiedenen<br />

arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeiten und Hürden konfrontiert.<br />

Unter Frauen und Frauenorganisationen, die sich des Themas Prostitution annehmen,<br />

bestehen bis heute zwei sich gegenüberstehende Lager: Auf der einen Seite die Abolitionistinnen,<br />

die Prostitution sowohl als Ausdruck als auch als Instrument patriarchaler<br />

Gewalt gegen Frauen deuten, Sexarbeitende primär als Opfer von Menschenhandel<br />

und/oder sozialer und ökonomischer Zwänge betrachten. Sie fordern Gesetze, die das<br />

ganze Gewerbe oder die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen gegen Geld<br />

(Kriminalisierung der Freier) verbieten. Auf der anderen Seite Organisationen, die für<br />

eine Entstigmatisierung der Sexarbeit und die Selbstbestimmung der Sexarbeitenden<br />

eintreten. Sie fordern die Anerkennung der Prostitution als Arbeit und somit Schutz<br />

und Rechtssicherheit für Sexarbeiter*innen. Jedes weitere Verbot, so deren Position,<br />

führe die Sexarbeit in die Illegalität – und somit zu noch prekäreren Arbeits- und Le -<br />

bensumständen der Sexarbeiter*innen.<br />

Dieser zweite Standpunkt fand in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch unter<br />

jüngeren Feministinnen* wachsende Unterstützung. Entschieden vertreten und an die<br />

Öffentlichkeit getragen wurde er jedoch bereits seit Mitte der 1970er-Jahre von Sexarbeiterinnen<br />

selber, die sich über Landesgrenzen hinweg vernetzten und öffentlich für<br />

ihre Arbeit, ihre Rechte und ihre Selbstbestimmung einstanden. Die Genfer Prostituierte<br />

Grisélidis Réal war eine der Protagonistinnen dieser transnationalen Prostituiertenbewegung.<br />

Zusammen mit anderen Sexarbeiterinnen und einer Gruppe feministischer<br />

Sozialarbeiterinnen gründete sie 1982 die Fachstelle Aspasie, die sich seither<br />

gegen die Marginalisierung und für die Interessenvertretung und Unterstützung von<br />

Sexarbeitenden in der Schweiz einsetzt. In den darauffolgenden Jahren entstanden<br />

mehrere Organisationen in der Schweiz, die sich für die Selbstbestimmung und für<br />

die Rechte von Prostituierten einsetzen, Ende der 1990er-Jahre schlossen sich diese im<br />

Verein ProCoRe zusammen. Ebenfalls in Genf wurde 2012 die erste Gewerkschaft<br />

für Sexarbeiter*innen gegründet, das Syndicat des travailleuses et travailleurs du sexe<br />

(STTS).<br />

593


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Aus Perspektive dieser Organisationen wurde im Januar <strong>2021</strong> ein Meilenstein er -<br />

reicht: Das Bundesgericht gab einer Sexarbeiterin recht, die gegen einen Kunden An -<br />

klage erhob, da er für ihre von ihm entgegengenommenen Dienste keinen Lohn zahlen<br />

wollte. Bis zu diesem Tag galt Sexarbeit zwar als legales Gewerbe, die Arbeit aber auch<br />

als «sittenwidrig» und somit vertragsrechtlich nicht bindend – weshalb Sexarbeiter*innen<br />

das Bezahlen ihres Lohnes juristisch nicht einfordern konnten. Der Bundesgerichtsentscheid<br />

vom Januar <strong>2021</strong> hob die Sittenwidrigkeit auf.<br />

Gewalt an Frauen*<br />

Es war und ist das grosse Verdienst autonom organisierter Frauen*gruppen, dass sexuelle,<br />

psychische und physische Gewalt an Frauen*, insbesondere auch häusliche Gewalt,<br />

heute in der Öffentlichkeit ein Thema ist. 1987 existierten bereits in dreizehn Schweizer<br />

Städten Frauenhäuser für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder; im Laufe der<br />

1980er-Jahre wurden mehrere Nottelefonstellen für vergewaltigte Frauen eingerichtet;<br />

1994 öffnete in Zürich das erste Mädchenhaus der Schweiz seine Tore, das Mädchen*<br />

und jungen Frauen* Schutz vor innerfamiliärer Gewalt bietet. Ebenfalls gegen Ende der<br />

1980er-Jahre wurde von Frauen aus der autonomen feministischen Bewegung der Verein<br />

Wen-Do Zürich gegründet, der seither Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungstrainings<br />

von Frauen* für Frauen* und Mädchen* anbietet. Mittlerweile gibt es in<br />

sechs Deutschschweizer Städten Wen-Do-Vereine.<br />

Das Engagement gegen Gewalt an Frauen zeichnete sich auch auf rechtlicher Ebene<br />

ab. Im Parlament trieben Frauen von links bis rechts entsprechende Gesetze voran: Die<br />

Revision des Strafrechts von 1992, trotz starkem Widerstand bürgerlicher Parlamentarier<br />

durchgebracht, ahndete endlich auch Vergewaltigung innerhalb der Ehe, sofern das<br />

Opfer einen Antrag stellte. Mit Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes 1996 wurde<br />

sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz explizit sanktioniert. Bezüglich der innerfamiliären<br />

Gewalt brauchte es jedoch nochmals zwölf Jahre des beharrlichen feministischen<br />

Drucks, bis 2004 sowohl Nötigung und Vergewaltigung als auch einfache Körperverletzung<br />

oder Drohung in der Ehe und Partnerschaft als Offizialdelikte anerkannt wurden.<br />

2007 folgte das eidgenössische Gewaltschutzgesetz, das Opfer von häuslicher Ge -<br />

walt und von Stalking stärker schützte (vgl. «Neuerungen im Recht»).<br />

Mit Gründung des Fraueninformationszentrums Dritte Welt FIZ (heute Fachstelle<br />

Frauenhandel und Frauenmigration FIZ) <strong>1985</strong> in Zürich wurde ein weiterer Schwerpunkt<br />

gelegt: der Schutz gewaltbetroffener Migrantinnen. Das Kollektiv bestand aus<br />

Frauen mit und solchen ohne Migrationsgeschichte. Im Zentrum der Arbeit des FIZ<br />

standen anfangs die Lebensumstände von Frauen in und aus der Dominikanischen<br />

Republik, die in der Schweiz als Cabaret-Tänzerinnen arbeiteten, sowie Frauen aus den<br />

Philippinen, die einen Schweizer heirateten. Dabei lag der Fokus auf den Themen Frauenhandel<br />

und Sexgewerbe, und beides wurde miteinander verknüpft. Ein Fokus, der für<br />

die Migrantinnen im Team seine Schwierigkeit hatte: Mit diesem Schwerpunkt drohe,<br />

so ihre Kritik, dass Migrantinnen pauschal als «gehandelten Frauen» die Opferrolle<br />

zugewiesen würde und so die Lebensrealitäten vieler Migrantinnen in der Schweiz nicht<br />

erkannt blieben. Auch aus dieser Kritik heraus entwickelte sich die FIZ über die Jahre<br />

594


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

zur Fachstelle für von Ausbeutung und Gewalt betroffene Migrantinnen* in der Schweiz,<br />

nach wie vor hingegen mit dem Fokus auf Frauenhandel und Sexarbeit von Frauen*.<br />

Die Hürden und Fragen, mit denen Migrantinnen in der Schweiz konfrontiert<br />

waren, wurden zu einem Grossteil von autonom organisierten Migrantinnenvereinen<br />

aufgefangen und thematisiert. Der «Kongress ausländischer und schweizerischer<br />

Frauen gegen Frauenunterdrückung, Rassismus und ausländerfeindliche Politik», der<br />

<strong>1985</strong> in Zürich stattfand und von Migrantinnen und Schweizerinnen – auch aus dem<br />

Umfeld der FIZ – gemeinsam organisiert wurde, sollte den Kampf der Migrantinnen<br />

mit jenem der Schweizerinnen verbinden. Der Kongress förderte zutage, inwieweit<br />

Migrantinnen zusätzlicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind, sei es bei der<br />

Arbeit, bei den Ausbildungschancen oder auch im Gesundheitswesen. Die meisten der<br />

Forderungen, die am Kongress verabschiedet wurden, sind bis heute nicht erfüllt:<br />

«Recht auf Einbürgerung für in der Schweiz geborene Kinder», «Abschaffung aller<br />

diskriminierenden Verfahren bei der Einbürgerung», «gleiche Arbeitsbedingungen für<br />

Schweizerinnen und Ausländerinnen» oder «Recht auf Einbürgerung für Frauen unabhängig<br />

von ihren Ehemännern». Auf Druck unterschiedlicher Frauen- und Menschenrechtsorganisationen<br />

wurde die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe 1998<br />

im Asylgesetz verankert. Die eher schwammige Formulierung, dass diesen «Rechnung<br />

zu tragen sei» führte hingegen auch hier in der Praxis zu einer nach wie vor äusserst<br />

dürftigen und willkürlichen Umsetzung dieses Rechts.<br />

Gegen die strukturell rassistische, oft auch sexualisierte Gewalt begannen sich auch<br />

Schwarze Frauen in der Schweiz zu organisieren: Im Sommer 1988 veranstalteten die<br />

Sozialpädagogin Zeedah Meierhofer-Mangeli und die Psychologin Carmel Fröhlicher-<br />

Stines erste Treffen für Schwarze Frauen in Zürich. Dazu motiviert hatte sie Audre<br />

Lorde, international bekannte Autorin und Dozentin, Lesben- und Civil-Rights-Aktivistin<br />

aus den USA. Lorde wurde von Brigit Keller, Studienleiterin der Paulus-Akademie,<br />

zu einer Lesung eingeladen. Verblüfft über die kleine Anzahl Schwarzer Frauen im<br />

Publikum, forderte Lorde Meierhofer-Mangeli und Fröhlicher-Stines dazu auf,<br />

Schwarze Frauen in der Schweiz zusammenzubringen, um sich gegenseitig zu stärken.<br />

Aus den ersten Treffen Schwarzer Frauen in Zürich ging 1990 die Organisation Women<br />

of Black Heritage hervor, kurze Zeit darauf wurde der Treffpunkt Schwarzer Frauen<br />

gegründet. Bücher über den Treffpunkt in Zürich und über Schwarze Frauen in Biel<br />

zeigen, wie sich Schwarze Frauen in der Schweiz organisierten. Und das Engagement<br />

ging weiter: Eine jüngere Generation Schwarzer Frauen*, darunter auch Töchter* der<br />

ersten Treffpunkt-Initiantinnen, errichtete Anfang der 2010er-Jahre in der Deutschschweiz<br />

ein Netzwerk Schwarzfeministischer Frauen, seit 2016 ist das Netzwerk unter<br />

dem Namen Bla*Sh – Black She – aktiv. Die Aktivistinnen* leisten in unzähligen, oft<br />

unbezahlten Stunden antirassistische und antisexistische Basisarbeit: an Diskussionsveranstaltungen<br />

oder Workshops, an kulturellen Events, in den Medien oder auch mit<br />

Studien zu Rassismus in Schul- und Kinderbüchern der Schweiz.<br />

In den 2000er-Jahren entwickelte sich das Internet zu einem wichtigen Ort des politischen<br />

Handelns und der Vernetzung, auch bezüglich Gewalt gegen Frauen*. 2016<br />

lancierte eine Gruppe von Feministinnen rund um die Journalistin Anne-Sophie Keller<br />

und die Soziologin Franziska Schutzbach auf Twitter den Hashtag #SchweizerAufschrei:<br />

Frauen* und solidarische Männer* waren angehalten, ihre Erfahrungen mit<br />

595


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

sexueller und sexistischer Gewalt an Frauen* über diesen Hashtag zu teilen. Drei Jahre<br />

zuvor wurde in Deutschland bereits eine ähnliche Initiative (#aufschrei) lanciert. Beide<br />

Hashtags provozierten eine breite öffentliche Diskussion über alltäglichen Sexismus<br />

und sexuelle Gewalt, die Frauen erlebten. Eine Diskussion, die sich 2017 mit den New-<br />

York-Times-Enthüllungen um den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein<br />

innert kürzester Zeit global ausweitete: Schauspielerinnen und ehemalige Mitarbeiterinnen<br />

Weinsteins beschuldigten diesen der sexuellen Übergriffe und der Vergewaltigung.<br />

Kurz darauf forderte die Schauspielerin Alyssa Milano Frauen dazu auf, unter<br />

dem Hashtag #MeToo ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu teilen. 24 Stunden später<br />

waren es bereits über 10 Millionen Tweets zum Thema. Weltweit. Der Slogan «Me<br />

too» ging auf die US-amerikanische Civil-Rights-Aktivistin Tarana Burke zurück. Sie<br />

rief 2006 afroamerikanische Frauen und Mädchen dazu auf, ihre Erlebnisse sexueller<br />

Gewalt öffentlich auf einer Webseite zu teilen. Die Publizität, die der Slogan zehn Jahre<br />

später erreichte, lag zum einen an der Bekanntheit der Stars aus dem Show Business,<br />

zum anderen an der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz Sozialer Medien.<br />

Doch spielte sich der Aktivismus längst nicht nur im Internet ab. Ein Beispiel hierfür<br />

ist die Ni-una-menos-Bewegung, die im Jahr 2015 in Argentinien ihren Anfang nahm.<br />

Der Slogan «ni una menos, vivas nos queremos!» – «nicht eine weniger, lebend wollen<br />

wir uns!» ging um die Welt. Und erreichte auch die Schweiz: Kurz nach dem Frauen*streik<br />

2019 wurde der Zürcher Helvetiaplatz von Aktivistinnen* in Ni-Una-Menos-<br />

Platz umbenannt. Hier protestieren seither Frauen* gegen Femizide in der Schweiz.<br />

Durchschnittlich jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau von einem Mann<br />

ermordet, jede Woche wird ein Mordversuch an einer Frau begangen. Die Ni-unamenos-Bewegung<br />

trug massgeblich dazu bei, dass diese Zahlen auch in den Medien<br />

publik gemacht wurden – und dass nicht mehr bloss von «Familiendrama» die Rede ist,<br />

sondern Femizid beim Namen genannt wird. Dabei handelt es sich um einen seit Mitte<br />

der 1970er-Jahre von Feministinnen geprägter Begriff, der verdeutlichen soll, dass<br />

Frauen* ermordet werden, weil sie Frauen* sind.<br />

Wenige Monate nach dem feministischen Streik ging eine Protestperformance des<br />

chilenisch-feministischen Kollektivs Las Tesis viral: «un violador en tu camino» – «ein<br />

Vergewaltiger in deinem Weg». Eine der Hauptaussagen der Perfomance lautet: «Y la<br />

culpa no era mía, ni dónde estaba, ni cómo vestía. El violador eres tú!» – «Und die Schuld<br />

war nicht meine, egal wo ich war, egal was ich trug. Der Vergewaltiger bist Du!» Lanciert<br />

wurde die Performance in Santiago de Chile am 25. November, dem internationalen Tag<br />

gegen Gewalt an Frauen*. Wenige Tage später waren es bereits Tausende von Frauen*,<br />

die die Performance allein in Chile wiederholten. Und kurz darauf wurde sie von wiederum<br />

Tausenden von Frauen* auf unterschiedlichen Kontinenten nachgeahmt: Von<br />

Kolumbien, Mexiko und Bolivien über Spanien, Frankreich, Schweiz, Deutschland,<br />

Türkei bis nach Indien.<br />

Die Message ist klar: Frauen* weltweit wissen um die strukturelle und direkte Ge -<br />

walt, der sie täglich ausgesetzt sind, weil sie Frauen* sind. Und sie nehmen diese Gewalt<br />

nicht wehrlos und ohne Anklage hin. Sie organisieren sich dagegen, auch über Landesund<br />

Meeresgrenzen hinweg.<br />

596


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Neue Organisations- und Mobilisierungsformen:<br />

Von Frauenräumen über den Frauenstreik 1991 zum Frauen*streik 2019 –<br />

und weiter …<br />

Was die Frauenbewegung über die Jahrhunderte hinweg ausmacht, sind die internationalen<br />

Bezüge. Diese waren auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert<br />

zentral. In Genf organisierten während der 1980er-Jahre Frauen der MLF, des Dispensaire<br />

des femmes und die Lesbengruppe Vanille/Fraise internationale Tagungen und<br />

Treffen zur Gesundheit von Frauen und dem Empowerment von Lesben. Das Mobilisierungspotenzial<br />

der Genferinnen war enorm: Dank gesammelter Gelder für Reisekosten<br />

kamen jeweils 500 bis 600 Frauen aus mehreren Kontinenten in Genf zusammen.<br />

Die 1980er-Jahre waren die Jahre der Frauenräume: von Frauenbuchläden über Mi -<br />

grantinnentreffs, Radioredaktionen und Zeitschriften bis zur Besetzung ganzer Häuser.<br />

Im jurassischen Damvant wurde gar ein feministisches Bildungszentrum und Ferienhaus<br />

gegründet, die Villa Kassandra, in der 1987 bis Mitte der 1990er-Jahre unzählige<br />

Workshops, Diskussionsveranstaltungen oder Frauenuniversitäten stattfanden. Auch<br />

Lesben traten ab den 1980er-Jahren mit verschiedensten Projekten zunehmend selbstbewusst<br />

auf (vgl. auch «Diskussionen in der Neuen Frauenbewegung»; «Eine eigene<br />

Frauenwelt»). Am zweiten landesweiten Lesbentreffen in Bern im Dezember 1989 wurde<br />

die Lesbenorganisation LOS gegründet.<br />

Die während der 1980er-Jahre entstandene Vielzahl an autonomen Frauenprojekten<br />

– in der Deutschschweiz stark geprägt von der «Jugendbewegung» – hatte für viele<br />

Frauen der ausserparlamentarischen Bewegung auch eine Kehrseite: Sie vermissten den<br />

gemeinsamen politischen Nenner und nahmen die Vielfalt in internen, auch über Zeitschriften<br />

vermittelten Diskussionen als «Zersplitterung» wahr. Um dem entgegenzuwirken,<br />

wurden ab Mitte der 1980er-Jahre in Zürich, Bern oder Basel nach deutschem Vorbild<br />

Weiberräte gegründet: Sie sollten gruppen- und organisationenübergreifend die<br />

Kräfte bündeln. Es fehlte ihnen aber an einem gemeinsamen politischen Ziel, und die<br />

Meinungen schieden sich auch an der Frage, ob feministische Politik in Institutionen,<br />

Parteien und Parlamenten möglich sei – eine Frage, die vor allem Feministinnen in der<br />

Deutschschweiz stark beschäftigte. Dieser Frage positiv gegenüber stand eine Gruppe<br />

von Feministinnen und Gewerkschafterinnen, die 1986 die Organisation Frauen macht<br />

Politik! (FraP!) gründeten: 1987 wurde mit Christine Goll die erste FraP!-Frau in den<br />

Zürcher Kantonsrat gewählt.<br />

Als sich Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre autonome Frauenorganisationen<br />

wie die FBB, die OFRA oder die marxistische MLF aufzulösen begannen, waren es<br />

in der ausserparlamentarischen Bewegung vor allem Frauenstrukturen Schwarzer, türkischer,<br />

kurdischer oder lateinamerikanischer Frauen respektive Frauengruppen mit<br />

internationalen Bezügen, die sich zunehmend lautstark in die öffentliche Debatte zu<br />

Frauenrechten im Allgemeinen und Rechte für Migrantinnen und geflüchtete Frauen<br />

im Besonderen einbrachten: Der Treffpunkt Schwarzer Frauen in Zürich, das Netzwerk<br />

lateinamerikanischer Frauen Nosotras, die FEMIA, ein Begegnungsort für Migrantinnen<br />

und geflüchtete Frauen, oder der Frauenrat für Aussenpolitik (FrAu). 1990<br />

von friedens-, migrations- und menschenrechtspolitisch engagierten Feministinnen ge -<br />

gründet, stiess FrAu über mehrere Veranstaltungen (FrAu-Forum) differenzierte Aus-<br />

597


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

einandersetzungen um die Auswirkungen von Globalisierung und Neoliberalismus an,<br />

die auch in der von ihnen mitbegründeten feministischen Zeitschrift Olympe weiterentwickelt<br />

wurden.<br />

Dass sich Institution und Bewegung trotz Befürchtungen nicht ausschlossen, sondern<br />

im Gegenteil auch in den Jahrzehnten darauf stets gegenseitig bedingten, zeigten<br />

gleich mehrere gewichtige Ereignisse der 1990er-Jahre. Erstes fulminantes Beispiel war<br />

der Frauenstreik vom 14. Juni 1991, dem bis dahin grössten Streikereignis seit dem Landesstreik<br />

von 1918. Angestossen wurde er von Arbeiterinnen aus der Uhrenindustrie<br />

des Vallée de Joux: Die Frauen waren entsetzt über die frappant tieferen Löhne, die sie<br />

verglichen mit ihren männlichen Arbeitskollegen erhielten – und setzten sich zur Wehr.<br />

Liliane Valceschini, Präzisionsarbeiterin in der Uhrenindustrie und Tochter aus einer<br />

italienisch-schweizerischen Familie überzeugte die damalige Sekretärin des Schweizerischen<br />

Metall- und Uhrenarbeiterverbands (SMUV), Christiane Brunner, von der Idee,<br />

für den 14. Juni 1991, just 10 Jahre nach Inkrafttreten des Gleichstellungsartikels in der<br />

Verfassung, zu einem landesweiten Frauenstreik aufzurufen. Nach dem Motto «Wenn<br />

Frau will, steht alles still!» gingen am 14. Juni 1991 landesweit hunderttausende Frauen<br />

auf die Strasse, um ihrem Unmut über das uneingelöste Versprechen der Gleichstellung<br />

mit vielfältigen, dezentralen Aktionen Luft zu machen: von Platzbesetzungen über De -<br />

monstrationen, von Strassentheater über Standaktionen zu kollektivem Mittagessenkochen,<br />

von Versammlungen in den Betrieben über verlängerte Pausen bis zur kompletten<br />

Arbeitsniederlegung – sei es bei der Hausarbeit oder der Erwerbsarbeit. Von<br />

Kündigungsdrohungen seitens Arbeitgebenden liessen sich die Frauen nicht aufhalten.<br />

In Bern stürmten Tausende von Frauen mit Trillerpfeifen und Transparenten den abgeriegelten<br />

Bundesplatz, auf dem nationale wie internationale Prominenz zur eidgenössischen<br />

700-Jahre-Feier hätte empfangen werden sollen. Der Anlass endete in einem<br />

violett-bunten Protestchaos.<br />

Zwei Jahre später rollte bereits die nächste feministische Protestwelle über die<br />

Schweiz. Anfang 1993 ernannte die SP die Gewerkschafterin Christiane Brunner, die<br />

den Frauenstreik 1991 entschieden mitgetragen hatte, zur Bundesratskandidatin für den<br />

vakant gewordenen SP-Sitz. Eine bis dato beispielslose sexistische Kampagne seitens<br />

bürgerlicher Politiker und Medien begleitete ihre Kandidatur. Die Kampagne zeigte<br />

Wirkung: Statt der offiziellen SP-Kandidatin und ausgewiesenen Feministin Christiane<br />

Brunner wählte das männlich-bürgerlich dominierte Parlament am 3. März 1993 Francis<br />

Matthey in den Bundesrat. Diese misogyne Machtdemonstration liessen sich Frauen<br />

nicht gefallen. Noch am gleichen Tag gab es einen grossen Aufruhr auf dem Bundesplatz:<br />

Farbbeutel klatschten an die Bundeshausfassade, die Polizei antwortete mit Gummischrot<br />

und Tränengas. Frauen und Männer drohten mit Steuerboykott, sollte die sexistische<br />

Nichtwahl keine politischen Konsequenzen haben. Mathey sah sich gezwungen,<br />

auf sein Amt zu verzichten. Eine Woche darauf wurde erneut gewählt. Auf Druck von<br />

Mathey wurde nebst Christiane Brunner eine zweite Frau aufgestellt: die Gewerkschafterin<br />

und Wirtschaftswissenschaftlerin Ruth Dreifuss. Die beiden Frauen hatten das<br />

Politspiel längst durchschaut und gaben sich von Anbeginn als «Schwestern»: Egal, wer<br />

von beiden das Rennen machen würde, die gegenseitige Unterstützung sei jeder gewiss.<br />

Am 10. März 1993, dem Tag der Wahl, versammelten sich wiederum über 10 000 De -<br />

monstrierende vor dem Bundeshaus, um ihre Solidarität mit Christiane Brunner zu<br />

598


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

bekunden. Ruth Dreifuss, die das Rennen machte, wusste, dass ihre Wahl kein ungebrochener<br />

Sieg für die Frauen war. Gefragt nach den Gründen zu ihren ungleich besseren<br />

Wahlchancen, meinte sie gegenüber dem Fernsehen in staatsfrauischer Grandezza: «Ich<br />

beruhige die Leute, weil ich etwas biederer aussehe (…) und ich entspreche vielleicht<br />

genau dem, was man von einer Frau in der Politik erwartet: ledig, keine Familie, so<br />

etwas zwischen Mann und Frau, die das alles geopfert hat und dadurch vielleicht einen<br />

Anspruch hat auf Anerkennung – und beides ist für mich sehr schockierend.»<br />

Dreifuss wusste exakt wovon sie sprach: Vor ihr und Christiane Brunner hatten erst<br />

zwei Frauen für den Bundesrat kandidiert. Im Dezember 1983 war die SP-Frau Lilian<br />

Uchtenhagen am bürgerlichen Männermehr gescheitert. Auch ihre Kandidatur wurde<br />

begleitet von frauenverachtenden Medienberichten. Eine Feministin und Wirtschaftsexpertin<br />

aus bürgerlich-liberalem Elternhaus schien vielen Männern nicht geheuer.<br />

Gewählt wurde an ihrer statt der wiederum von der Partei nicht offiziell aufgestellte<br />

SP-Mann Otto Stich. Ein Jahr später, im Oktober 1984, wurde mit Elisabeth Kopp die<br />

erste Frau in den Bundesrat gewählt. Bereits nach einer ersten Amtszeit, im Januar 1989,<br />

sah sich die FDP-Frau gezwungen zurückzutreten: Ihr Ehemann war mit Anschuldigungen<br />

der Geldwäscherei konfrontiert, die Bundesrätin selbst mit Amtsgeheimnisverletzung.<br />

Einen Monat später schon sprach sie das Bundesgericht von diesem Vorwurf<br />

frei. Doch die Frau war bereits fallengelassen worden.<br />

Anfang der 2000er-Jahre war es erneut eine Frau, deren Amtszeit frühzeitig beendet<br />

wurde: Angeheizt von einem deutlichen Stimmenzuwachs bei den Nationalratswahlen<br />

trat die SVP an, die sogenannte «Zauberformel» zu sprengen und auf Kosten der CVP<br />

einen zweiten Bundesratssitz zu erzwingen. Ihr Ziel: Ruth Metzler, damals mit Micheline<br />

Calmy-Rey eine von zwei Frauen im Bundesrat, aus dem Amt zu befördern und an<br />

ihrer Statt den Milliardär und SVP-Chefideologen Christoph Blocher zum Bundesrat<br />

zu machen. Wieder ging das männlich-rechtsbürgerliche Politspiel auf: Christoph Blocher<br />

und der ebenfalls rechtskonservative Hans-Rudolf Merz (FDP) waren die neuen<br />

Bundesräte, Ruth Metzler Altbundesrätin. Einmal mehr gingen zehntausende Frauen*<br />

auf die Strasse. Zu einer Demo in Bern aufgerufen hatte ein kleines Bündnis von Frauen*<br />

aus der ausserparlamentarischen Linken. Es kamen 15 0000 Menschen aus unterschiedlichsten<br />

Gruppen, Organisationen und Parteien, um ihrer Wut und Empörung über die<br />

Abwahl der Bundesrätin – und über die Wahl zweier ausgewiesener Antifeministen<br />

Luft zu machen.<br />

Themen wie politische Mitsprache, Gewalt gegen Frauen sowie Gleichstellung in<br />

Recht und Arbeit mobilisierten Frauen* und Feministinnen* zwischen 1980 und <strong>2021</strong><br />

über Partei- und Organisationsgrenzen hinweg. Sie wurden zunehmend auch von feministischen<br />

NGOs auf internationaler Bühne angegangen. Wichtiger Bezugspunkt für<br />

feministische Organisationen in der Schweiz war die vierte UNO-Weltfrauenkonferenz<br />

in Peking (Beijing, 1995), an der über 30 000 Frauen teilnahmen und eine ausgefeilte und<br />

weitreichende Aktionsplattform für die weltweite Geschlechtergerechtigkeit verabschiedeten<br />

– unter anderem auch zur Anerkennung unterschiedlicher Sexualitäten oder<br />

der Sorge- und Versorgungsarbeit. Rund 30 Frauen aus der Schweiz reisten nach Peking<br />

und gründeten im Nachgang die NGO-Koordination post Beijing, die auch nach 2020<br />

weiterhin aktiv ist, mit dem Ziel, die Aktionsplattform auch in der Schweiz umzusetzen.<br />

Ebenfalls im Zuge Beijings entstanden war das internationale Netzwerk Marche<br />

599


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

mondiale des femmes, das im Jahr 2000 eine erste, vorwiegend via Internet koordinierte,<br />

weltweite und mehrmonatige feministischen Mobilisierung (8. März – 17. Oktober<br />

2000) organisierte, an der sich auch in der Schweiz über 200 Gruppen und Organisationen<br />

beteiligten.<br />

Doch lief die internationale Vernetzung auch in den 2000er-Jahren nicht nur über<br />

etablierte NGO-Strukturen: Feministische und emanzipatorische Kämpfe, weit entfernt<br />

von der Schweiz wie beispielsweise jene der Kurd*innen in Rojava, wurden von<br />

linken Organisationen und Gruppen aufgegriffen, Solidaritätskomitees gegründet und<br />

direkte Unterstützungs- und Austauschprogramme organisiert. Ebenfalls über Landes-<br />

und Kontinentalgrenzen hinweg vernetzt opponierten autonome Frauengruppen<br />

und Bleiberechtskollektive gegen die Praxis der europäischen und schweizerischen<br />

Asylpolitik.<br />

Die nach der Jahrtausendwende – inspiriert von der US-amerikanischen Riot-Grrrl-<br />

Bewegung – auch in europäischen Städten von jungen Feministinnen* organisierten<br />

Ladyfests entwickelten die Elemente und Netzwerke einer queer-feministischen Subkultur<br />

weiter, die stark zur Sichtbarkeit und zum selbstbewussten Auftreten von<br />

FLINTs beitrug (vgl. «Theoriedebatten und Forschung in Bewegung»).<br />

Mit der GrossmütterRevolution begann sich auch eine ältere Generation von<br />

Frauen* in den 2010er-Jahren als Bewegung zu formieren, die sich seither landesweit<br />

politisch einsetzt: für mehr Zeit und Respekt für die Sorge- und Versorgungsarbeit von<br />

Kindern und Enkelkindern, für eine gerechte und lebenstragende Altersvorsorge, für<br />

die Klimagerechtigkeit – und nicht zuletzt für eine gründliche Revision der weit verbreiteten<br />

Vorstellung, dass ältere Menschen, insbesondere Frauen*, keine aktiven Mitglieder<br />

der Gesellschaft mehr seien. Die KlimaSeniorinnen gingen gar mit einer Beschwerde<br />

bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Der Bund setze<br />

sich ungenügend dafür ein, den vom Klimawandel besonders betroffenen älteren<br />

Frauen* das Recht auf Leben und Gesundheit zu sichern. Der EGMR verpflichtete die<br />

Schweiz dazu, sich mit der Beschwerde zu befassen und ihm bis im Juli <strong>2021</strong> eine Stellungnahme<br />

zukommen zu lassen.<br />

Das Mobilisierungspotential für feministische Aktionen wuchs über die ab den<br />

2000er-Jahren rege genutzten Kanäle wie Facebook, Twitter und diverse Chat-Dienste<br />

rasant an. So zeichneten sich die 2010er-Jahre in der Schweiz durch mehrere nationale<br />

wie internationale feministische Vernetzungsplattformen aus, die im Jahr 2019 in einer<br />

zuvor noch nie erreichten feministischen Mobilisierung gipfelte: den Frauen*Streik /<br />

feministischen Streik 2019.<br />

Ein schockierendes Ereignis war die US-Präsidenten-Wahl vom November 2016:<br />

Mit Donald Trump wurde ein weisser Mann an die Spitze einer Weltmacht gewählt, der<br />

mit frauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Äusserungen auffiel. Millionen<br />

von Menschen weltweit reagierten mit Empörung und Wut, Frauen* strickten aus Protest<br />

pinke Pussy Hats und trugen sie auf den vielen, seit der Amtseinführung Trumps<br />

weltweit stattfindenden Women’s Marches – auch in Zürich gingen am 18. März rund<br />

15 0000 Menschen auf die Strasse. Als ein Jahr später im Oktober 2017 der Hashtag<br />

MeToo viral ging, stiess dieser Aufruf, die Täter sexistischer Gewalt an den Pranger zu<br />

stellen, auch in der Schweiz auf fruchtbaren Boden.<br />

Zeitgleich zu diesen Debatten wurde, stark vorangetrieben von Netzwerken wie<br />

600


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

WIDE Switzerland und Forscherinnen wie Mascha Madörin, Nadia Baghdadi oder<br />

Brigitte Schnegg unter dem Begriff «Care» die Haus- und Sorgearbeit respektive die<br />

schlecht bis unbezahlte Arbeit von Frauen erneut aufs Tapet gebracht (vgl. Verschiebungen<br />

in Ausbildung und Arbeit»). Eine 2017 veröffentlichte Studie zur Lohnungleichheit<br />

in der Schweiz zeigte klar, dass erwerbstätige Frauen auch nach 36 Jahren Gleichstellungsartikel<br />

in der Verfassung durchschnittlich noch immer über 18 Prozent weniger<br />

verdienten als ihre Kollegen. Justizministerin Simonetta Sommaruga wollte per Änderung<br />

im Gleichstellungsgesetz Firmen dazu verpflichten, interne Lohndiskriminierungen<br />

zu untersuchen. Sommarugas Vorstoss hatte die Unterstützung der Frauenorganisationen<br />

und Frauenfraktionen der Parteien von links bis bürgerlich. Im Februar 2018<br />

wurde die Vorlage von einer reinen Männermehrheit im Ständerat abgeschmettert. Die<br />

wütende Antwort kam postwendend – und gipfelte im September 2018 in einer überwältigenden<br />

Demonstration zu Lohngleichheit in Bern: Über 20 0000 Menschen gingen<br />

auf die Strasse, unterstützt nicht nur von Gewerkschaften, sondern mitorganisiert von<br />

der bürgerlichen Business and Professional Women BPW. Ein erster Vorgeschmack auf<br />

das, was am 14. Juni 2019 über die Schweiz rollen sollte.<br />

Angetrieben von diesen eklatanten Ungerechtigkeiten und beflügelt vom ersten fe -<br />

ministischen Generalstreik in Spanien (8. März 2018), von feministischen Massenmobilisierungen<br />

gegen Femizide in Argentinien, gegen das Abtreibungsverbot und Gewalt<br />

an Frauen* in Polen, Irland Nigeria und Brasilien, wo im Oktober 2018 mit Bolsonaro<br />

erneut ein ultrarechter und sexistischer Staatspräsident an die Macht kam, vom internationalen<br />

Twitter-Protest #MeToo sowie den weltweiten Klima-Streiks, hatte sich die<br />

Idee zu einem feministischen Streik in der Schweiz im Jahr 2018 bereits in Tausenden<br />

von Köpfen festgesetzt. In allen Ecken des Landes kamen Feministinnen* in regionalen<br />

Gruppen zusammen, vielerorts kräftig unterstützt von Gewerkschaften, vielerorts auch<br />

autonom organisiert – aber überall über Partei-, Organisations- und Berufsgrenzen hinweg.<br />

Was die Schweiz am 14. Juni 2019 erlebte, war die bislang grösste und vielfältigste<br />

Streik- und Protestaktion in der Geschichte des Bundesstaates.<br />

Mehr als eine halbe Million Frauen*, Lesben, queere, intergeschlechtliche, nonbinäre<br />

und transidente Menschen ohne und mit Schweizer Pass besetzten Plätze, füllten<br />

die Strassen und Pärke von Städten und Dörfern, organisierten feministische Brunches,<br />

Strassentheater, Streikposten, Demonstrationen mit Zehntausenden von Menschen,<br />

legten Verkehrsknotenpunkte lahm, hängten violette Fahnen und Transparente von<br />

Häusern, Brücken und Kirchtürmen. Solidarische Männer* organisierten Kinderhütedienste<br />

und Essen, leisteten logistische und propagandistische Mitarbeit und unterstützten<br />

so den Streik auf vielfältige Weise.<br />

Auch wenn das Thema Arbeit und Lohngleichheit in vielen der zum Streiktag veröffentlichten<br />

Manifeste dominierte, gingen die Forderungen weit darüber hinaus:<br />

Schluss mit jeglicher Diskriminierung in der Arbeits- und Ausbildungswelt; Renten,<br />

die ein würdevolles Leben ermöglichen; eine echte Anerkennung frauen*spezifischer<br />

Fluchtgründe; Zugang zu allen Bürger*innenrechten für Migrant*innen; ein klares<br />

Statement gegen frauen*spezifische Folter; für die Anerkennung, Aufwertung und Aufteilung<br />

von Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeiten und der damit verbundenen<br />

psychischen Belastungen; echte Ausbildungs- und Berufschancen für geflüchtete Menschen;<br />

ein Ende der Restrukturierungen im Care-Sektor, für eine ausreichende, öffent-<br />

601


Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

liche Finanzierung aller Care-Arbeit; für Klimagerechtigkeit; für eine emanzipative<br />

Bildung an Grund- und Hochschulen; gegen strukturelle und alltägliche rassistische,<br />

sexistische, homophobe und transphobe Gewalt; Recht auf Asyl und Bleiberecht für<br />

Menschen in Not und Lebensgefahr.<br />

Der Frauen*streik 2019 wirkte breit nach: Die entstandenen regionalen und nationalen<br />

Bündnisse tauschen sich seither zu feministischen Themen aus, organisieren Sessionen,<br />

Kampagnen und Demonstrationen. Das Thema Femizid wurde von den Medien<br />

aufgegriffen und nicht mehr bloss als «Beziehungsdelikt» entpolitisiert und verharmlost.<br />

Unter dem Namen Eidgenössische Kommission dini Mueter bildete sich eine neue<br />

Bewegung, getragen von Müttern*, die sich auf lokaler und nationaler Ebene für mehr<br />

Zeit, Geld und Respekt für die Betreuung von Kindern einsetzt. Forderungen, die<br />

bereits im Jahr 2017 dazu geführt hatten, dass sich Fachpersonen aus dem Bereich der<br />

ausserfamliären Kinderbetreuung zur Gruppe Trotzphase zusammenschlossen – und<br />

mit dem Streik von 2019 an grosser Sicht- und Hörbarkeit gewannen. Traditionelle<br />

Frauenorganisationen wie der Katholische oder Evangelische Frauenbund manifestierten<br />

ihre solidarische Haltung verstärkt nach aussen. Ermuntert auch von der Aktion<br />

«Helvetia ruft» von alliance F unter dem Co-Präsidium der Nationalrätinnen Maja Graf<br />

(Grüne) und Kathrin Bertschy (Grünliberale) stellten sich bei den nationalen Parlamentswahlen<br />

im Herbst 2019 600 Frauen mehr zur Wahl als im Wahljahr davor (2015);<br />

der Frauenanteil im Nationalrat stieg auf 42 Prozent, so hoch wie noch nie – ein Erfolg,<br />

der jedoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass im Ständerat bloss 12 der 46<br />

Sitze an Frauen gingen. Im Januar <strong>2021</strong> zeichnete das Branchenmagazin «Schweizer<br />

Journalist» die Schweizer Journalist*innen des Jahres 2020 aus, bis auf eine Auszeichnung<br />

gingen alle an Frauen*. Zwei Monate später, im März <strong>2021</strong>, wandten sich 78 Journalistinnen<br />

der Tamedia-Redaktionen in einem offenen Brief an die Chefetagen: Sie<br />

prangerten darin sowohl strukturellen (von der fehlenden Förderung über das direkte<br />

Ausbremsen von Redaktorinnen bis hin zur Lohndiskriminierung) als auch im Redaktionsalltag<br />

erlebten verbalen Sexismus an und forderten die leitenden Köpfe dazu auf,<br />

das Problem von Grund auf anzugehen. Bereits am feministischen Streik 2019 hatte sich<br />

ein Bündnis von Journalistinnen* mit dem Vorhaben zu Wort gemeldet, solchen Missständen<br />

ein Ende zu bereiten.<br />

Doch war auch der Frauen*streik nicht diskriminierungsfrei: An mehreren Orten<br />

wurden Streik-Aktivistinnen*, die aus religiösen Motiven ein Kopftuch trugen, von<br />

anderen rassistisch beleidigt. Die Vorfälle waren eine Vorahnung auf das, was sich im<br />

Hinblick auf die Abstimmung um ein landesweites «Burkaverbot» abzeichnen sollte:<br />

Das Egerkinger Komitee, ein Männerbündnis aus SVP- und EDU-Mitgliedern, hatte<br />

die Initiative für ein Verhüllungsverbot lanciert. Eine Initiative, die auch unter Feministinnen*<br />

heftig umstritten war: Grenzten sich die einen klar gegen die Initiative ab, weil<br />

sie sie im schweizerischen Kontext als rein islamophobes und neokoloniales Votum<br />

betrachteten, die Muslimas* jegliche freie Entscheidung über ihre Lebensgestaltung<br />

absprach, und weil sie in der Initiative auch einen Nährboden für weitere islamophobe<br />

Gewalt sahen – vor allem gegen Frauen* –, sahen andere im «Verhüllungsverbot» einen<br />

wichtigen Schritt, um sich auch in der Schweiz gegen eine spezifische politische und in<br />

ihren Augen frauen*feindliche Richtung des Islam und für die Freiheit von Frauen*<br />

auszusprechen. In beiden Lagern gab es muslimische ebenso wie linke oder bürgerliche<br />

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Die Jahre <strong>1985</strong> bis <strong>2021</strong><br />

Stimmen. Die Initianten hatten Erfolg: Am 7. März <strong>2021</strong> sagten 51 Prozent der Stimmberechtigten<br />

Ja zu einem Verhüllungsverbot. Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen<br />

Körper und das eigene Auftreten – ein jahrzehntealtes feministisches Anliegen –<br />

wurde für Muslimas* in der Schweiz ausgehebelt.<br />

Die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 durch einen<br />

weissen Polizisten in den USA brachte auch in der Schweiz Tausende von Menschen auf<br />

die Strasse. Es waren zum Grossteil Schwarze Frauen*, die vor Kameras, in Radiostationen<br />

und Zeitungen dem Schweizer Medienpublikum klarmachten: Rassismus ist ein<br />

in der Schweiz tief verwurzeltes, alltägliches und strukturelles Problem. In der gesamten<br />

Gesellschaft – auch in linken und feministischen Bündnissen.<br />

Die Auswertung der Volksabstimmungen von 2020 zeigt, dass Frauen*, ob als einzelne<br />

oder in Gruppen und Verbänden organisiert, über alle sozialen Zugehörigkeiten<br />

hinaus, Sorge für die anderen stark gewichten: So waren sie mit 57 Prozent Ja-Stimmen<br />

im Gegensatz zu den mehrheitlich ablehnenden Stimmen der Männer entscheidend für<br />

die Zustimmung des Volks zur Konzernverantwortungsinitiative, die nur am Ständemehr<br />

scheiterte. Schon 1994 gaben Frauen den Ausschlag für die erleichterte Einbürgerung<br />

wie für die Verankerung der Rassismus-Strafnorm, beides Vorlagen, welche Männer<br />

mehrheitlich abgelehnt hatten.<br />

Die von Frauen* geleistete Sorge für Mitmenschen, ob klein oder gross, ob als Er -<br />

werbsarbeit oder im solidarischen Sinne, wurde unter dem Stichwort «Care» zu einem<br />

der Hauptmotive für den feministischen Streik <strong>2021</strong> erklärt. Auch die vielfältige Erinnerung<br />

an «50 Jahre Frauenstimmrecht» hat die Kraft und das Mobilisierungspotential<br />

der verschiedensten Gruppen und Organisationen in ihrer ganzen Bandbreite gezeigt.<br />

All dies sind Ausdrücke feministischer Solidarität, die für die Zukunft auf eine bessere<br />

Welt hoffen lassen.<br />

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