Hochgefühle 02 2021
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
HOCHGEFÜHLE – DAS MAGAZIN DES KLAGENFURTER ALPENVEREINS Seite 7<br />
Warum der Lokalmatador Nicolai Užnik (AUT) in seiner<br />
Heimhalle die Konkurrenz alt aussehen ließ und<br />
warum Chefroutensetzer Jacky Godoffe (FRA) im zarten<br />
Alter von 64 Jahren noch auf Topniveau bouldern<br />
kann, erfährt in diesem Artikel eine nähere Analyse.<br />
Nebenbei gibt es noch ein paar Hintergründe, wie<br />
Events in diesen Zeiten überhaupt stattfinden können<br />
und eine Aussicht auf zukünftige Veranstaltungen in<br />
Klagenfurt.<br />
Über Wahrscheinlichkeiten oder<br />
das Problem der Internationalität<br />
Wer bis jetzt geglaubt hat, Wahrscheinlichkeiten wären<br />
ein rein mathematisches Problem ohne praktische<br />
Konsequenzen, wurde wahrscheinlich im letzten<br />
Jahr eines Besseren belehrt.<br />
In diesen Zeiten steht nämlich hinter jeder Aussage,<br />
die vor COVID niemanden auch nur ein müdes Lächeln<br />
entlockt hätte, ein großes Fragezeichen. Machen<br />
wir einen Bewerb? Vielleicht. Können wir die<br />
Zimmerreservierungen bestätigen? Möglich.<br />
Wir befinden uns zur Zeit des Europacups in einem<br />
Stadium der Pandemie, in welchem ein Bundesland<br />
im Lockdown ist, während in einem anderen relativ<br />
normal ein Gasthaus besucht werden kann. Rechnet<br />
man das auf eine internationale Ebene hoch, kann<br />
es vorkommen, dass der Jurypräsident aus England<br />
bis zwei Tage vor dem Bewerb nicht weiß, ob er<br />
überhaupt anreisen kann, weil es nicht sicher ist, ob<br />
Österreich nicht doch noch auf die dortige rote Liste<br />
kommt. Es erfordert ein starkes Nervenkostüm oder<br />
ein riesiges Backup von Officials, um die Wahrscheinlichkeit<br />
zu erhöhen, dass der Bewerb überhaupt stattfinden<br />
kann.<br />
Wenn ein paar AthletInnen ausfallen, weil sie nicht<br />
ausreisen dürfen, ist das zwar bedauerlich, kann aber<br />
nicht das ganze System Europacup zum Einsturz bringen.<br />
Die Freude war also sehr groß, als Jurypräsident<br />
Tim Hatch 3 Tage vor dem Bewerb tatsächlich in Wien<br />
gelandet ist. Durchführungswahrscheinlichkeit: 90 %.<br />
Besonderes Kopfzerbrechen hat uns das Routensetzerteam<br />
bereitet: Chefroutensetzer Jacky Godoffe<br />
(FRA) brachte ein Team von 8 Routensetzern aus 5<br />
Nationen mit, die alle unterschiedlichen Einreisebestimmungen<br />
unterlagen. Entgegen allen Erwartungen<br />
war 5 Tage vor dem Bewerb das Team vollzählig und<br />
gesund vor Ort. Um die Durchführung nicht im letzten<br />
Moment zu gefährden, wurden alle, die an den<br />
Vorbereitungen beteiligt waren, jeden Tag getestet.<br />
Durchführungswahrscheinlichkeit: 96 %.<br />
Spitzensportveranstaltung oder<br />
Spitzensportverantwortung?<br />
Spitzensportveranstaltungen erforden im Moment ein<br />
besonderes Maß an Fingerspitzengefühl und Verantwortung.<br />
Für viele ist es schwer verständlich, dass<br />
SportlerInnen an Wettkämpfen teilnehmen wollen,<br />
während andere das eigene Haus nicht verlassen<br />
dürfen. Für einen großen Teil der AthletInnen ist das<br />
Bouldern ihr Hauptberuf und auch Haupteinnahmequelle.<br />
Es ist daher nachvollziehbar, dass Bewerbe<br />
für ihre Berufsausübung essentiell sind, noch dazu,<br />
wo Olympia theoretisch<br />
vor der Türe<br />
steht und Wettkämpfe<br />
als Vorbereitung dafür eher<br />
rar gesät sind.<br />
Trotzdem sind wir als Veranstalter in einer<br />
besonderen Verantwortung: Ein positiver Fall oder<br />
gar ein Cluster wären ein Albtraum quer über alle<br />
Disziplinen hinweg. Um erst gar nicht in diese Lage<br />
zu kommen, sind ein ausgeklügeltes Präventionskonzept,<br />
welches vom Dachverband AustriaClimbing<br />
entwickelt wurde, sowie eine enge Zusammenarbeit<br />
mit den Behörden in Klagenfurt essentiell.<br />
Dazu gehört unter anderem auch, dass alle Personen,<br />
die am Tag des Bewerbs anwesend sind, noch vor<br />
Ort (in einem Zelt im Freien) getestet werden, was<br />
eine logistische Herausforderung sein kann, wenn<br />
über 200 Menschen in kurzer Zeit wissen wollen, ob<br />
sie denn teilnehmen können. Besonders spannend ist<br />
es dann, wenn nach österreichischer Verordnung bei<br />
einem positiven Antigentest gleich das gesamte Team<br />
ausfällt, auch wenn alle anderen negativ gestestet<br />
wurden, weil sie Kontaktpersonen waren. Bei einer<br />
Fehlerwahrscheinlichkeit von 10% dieser Tests kann<br />
man auch einfach Pech haben. Glücklicherweise waren<br />
alle Tests negativ. Das Testen war sozusagen die<br />
Challenge vor der Challenge und alle Teams waren<br />
sichtlich erleichtert, starten zu dürfen.<br />
Die Legende – Chefroutensetzer<br />
Jacky Godoffe<br />
In Kletterkreisen gibt es ein paar Namen, die von einer<br />
geheimnisvollen Aura begleitet sind: Wolfgang Güllich<br />
(erste 9a), John Gill („Erfinder“ des Boulderns) oder<br />
Nikolai Užnik<br />
eben Jacky Godoffe (Autor, Shaper, Boulderlegende).<br />
Im Gegensatz zu ersteren erfreut sich Jacky noch<br />
immer bester Gesundheit und schraubt als Chefroutensetzer<br />
noch Finalboulder auf hohem Niveau. Und<br />
das mit 64! In körperlich vergleichbar fordernden Berufen<br />
sind viele in diesem Alter bereits seit Jahren in<br />
Rente ...<br />
Die Routensetzer nämlich haben die körperlich anstrengendste<br />
Arbeit bei einem Bewerb: Sie müssen<br />
alle Boulder bauen, testen, abbauen, wegtragen und<br />
dann in kürzester Zeit wieder in die Wand schrauben,<br />
wenn sie für die entsprechenden Klassen benötigt<br />
werden. Der Routenbau erfordert logistische Fähigkeiten<br />
ebenso wie organisatorische: Es gilt nicht nur,<br />
gut kletterbare Boulder zu bauen! Die Anforderungen<br />
sind mittlerweile extrem hoch geworden: Der Boulder<br />
darf kein reiner Fitnesstest sein (keine Aneinanderreihungen<br />
bestimmter maximalkräftiger Züge), soll<br />
abwechslungsreich zum Bouldern, spannend zum<br />
Zuschauen und natürlich auch noch optisch sowie<br />
ästhetisch ansprechend fürs Auge sein. Das alles<br />
unter einen Hut zu bringen, erfordert vor allem langjährige<br />
Erfahrung. Hier dürfte Jacky der erfahrenste<br />
Routenbauer der Welt sein ...<br />
Während des Wettkampfes hocken die Routenbauer<br />
in einem Winkel und hoffen, dass sie die Schwierigkeiten<br />
gut getroffen haben, um dann in den Pausen<br />
binnen kürzester Zeit die ganze Wand umzuschrau-