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tennisnetMAGAZIN 2021 Deutschland

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087<br />

Es ist ein Frühlingstag vor vielen Jahren,<br />

an dem man mit Boris Becker in seiner<br />

Münchner Firmenzentrale verabredet<br />

ist. Der Reporter sitzt erwartungsfroh im<br />

Intercity, als kurz hinter Nürnberg das<br />

Handy summt; ein Becker-Vertrauter ist etwas aufgeregt<br />

am Apparat: Becker sei kurzfristig etwas bei diesem Termin<br />

dazwischengeraten, ob man nicht umdisponieren und zum<br />

Flughafen kommen könne. Nun gut, dann eben ein Interview<br />

am Flughafen, denkt der Reporter und stimmt zu. Doch der<br />

Becker-Mann ist noch nicht ganz fertig mit seiner Last-<br />

Minute-Botschaft: Nein, am Flughafen sei das Ganze nicht<br />

wirklich geplant – Becker müsse unbedingt nach Mallorca, und<br />

wenn das Interview zustande kommen solle, müsse man eben<br />

möglichst mitfliegen.<br />

Und so geschieht es, dass der Reporter in der nächsten<br />

Stunde mit dunklem Anzug, Hemd und Krawatte in einem<br />

Privatjet Richtung Ferieninsel sitzt. Und am Nachmittag dieses<br />

Tages in der Stierkampfarena ein Tennismatch zusammen<br />

mit Becker anschaut und in der Hochglanz montur in<br />

gleißender Sonne brütet. „Alles gut?“, fragt Becker den<br />

Reporter damals in der Ehrenloge grinsend. Klar, alles<br />

gut, wenigstens im Nachhinein. Schließlich steht Becker<br />

irgendwann am Abend auch noch für das längste Interview<br />

überhaupt zur Verfügung – stundenlang gibt er Einblicke in<br />

seine Karriere, in sein Privatleben. Er spricht über Frau und<br />

Kinder, über den gerade erst verstorbenen Vater, über den<br />

schwierigen Start ins Wirtschaftsleben als Chef der Firma<br />

Becker und Co. Kurz vor Mitternacht – der Reporter schleppt<br />

sich im hoffnungslos verschwitzten Business-Dress ins<br />

Hotel – kommt ihm unwillkürlich ein Satz Beckers in den<br />

Sinn. Ein Satz, der wie kein zweiter für Beckers Leben<br />

und Laufbahn steht, für den Umgang mit der Welt um ihn<br />

herum, für diesen Tag zwischen München und Mallorca<br />

natürlich auch. Dieser Satz lautet: „Bei mir<br />

weiß man nie, was kommt.“<br />

Dieser Satz war an jenem Tag und<br />

darüber hinaus keineswegs einfach leichthin<br />

dahergesagt. Er hatte immer einen<br />

ganz harten inhaltlichen Kern. Denn wann<br />

immer man mit Becker sprach in mehr als<br />

30 Jahren der journalistischen Begleitung,<br />

dann ging es sehr oft um Beckers Verwandlungen,<br />

die Brüche in seinem Leben. Um<br />

einen Becker, der auf der Flucht war; auf<br />

der Flucht, festgelegt oder vereinnahmt zu werden. Becker<br />

war ja auch nie nur ein einziger Becker, sondern ganz viele<br />

Beckers. Er war im Übrigen auch derjenige, der sich gegen<br />

die allzu innige öffentliche Umarmung auflehnte. Und der<br />

sich später übers Kreuz legte mit <strong>Deutschland</strong>, mit allen,<br />

die meinten, ihm jeden Tag Ratschläge geben zu müssen –<br />

ob es nun zunächst um seine Karriere ging oder später um<br />

Geschäfte oder Familien angelegenheiten. „Ich bin niemandem<br />

etwas schuldig. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt“, sagte<br />

Bei Boris Becker<br />

weiß man nie,<br />

was kommt.<br />

Becker. Und fügte hinzu: „In <strong>Deutschland</strong><br />

glauben viele immer noch, dass<br />

ich der 17-jährige Bursche bin, der<br />

Wimbledon gewonnen hat.“<br />

IN EIN ANDERES UNIVERSUM<br />

GESCHLEUDERT<br />

Fast alles, was in seinem Leben<br />

passierte, hatte indes mit Wimbledon<br />

zu tun. Mit diesem 7. Juli 1985, an<br />

dem er den Matchball gegen den Südafrikaner<br />

Kevin Curren verwandelte<br />

und zum (bis heute) jüngsten Turniersieger<br />

in der Geschichte wurde. Von<br />

einer Sekunde zur anderen sei er „in<br />

ein anderes Universum geschleudert<br />

worden“, sagt Becker. „Ich wollte<br />

natürlich immer ein großer Sieger sein.<br />

Aber was es bedeutet, Wimbledon-<br />

EIN LEGITIMER<br />

NACHFOLGER? Das<br />

Verhältnis zwischen<br />

Alexander Zverev<br />

und Boris Becker ist<br />

herausragend gut.<br />

sieger zu sein, wusste ich nicht.“ Es begann dann ein Leben<br />

ohne Beispiel, ein Leben, das vor allem auch davon geprägt<br />

war, dass Becker gegen den Strom schwamm. Gegen die<br />

Erwartungen. Gegen die deutsche Wunschvorstellung, wie<br />

er als Idol sein sollte. Noch immer klingt diese Wut durch –<br />

als Becker etwa rund um seinen 50. Geburtstag losdonnerte:<br />

„Ich war nie euer Boris. Und ich bin nicht euer Boris!“<br />

Das Verrückte an Becker ist auch dies: In all den Aufgeregtheiten,<br />

in all dem Wirbel und allen Wirren seines<br />

Lebens ist er sich doch auch treu geblieben – als jemand, der<br />

sich nicht greifen lässt und sich auch nicht greifen lassen<br />

will. So war es ja tatsächlich auch in aller Regelmäßigkeit<br />

in den Jahren, in denen er über die Kontinente und durch<br />

die Zeitzonen jettete. Und es war eben jene buchstäbliche<br />

Unfassbarkeit, die seine Magie ausmachte: das Schwanken<br />

zwischen den Extremen, manchmal in einem<br />

Spiel, manchmal über ganze Jahre. Becker<br />

konnte Spiele drehen, die verloren schienen,<br />

und Spiele verlieren, die er eigentlich schon<br />

gewonnen hatte. Er fesselte die ganze Nation<br />

vor dem Fernseher, war ein Phänomen; in<br />

seiner Zeit einer der mitreißendsten Tennisspieler<br />

und bewegendsten Einzelsportler<br />

überhaupt. Er war größer als sein Sport.<br />

Wie blickt er heute auf diese Zeit<br />

zurück? „Es war ein Leben ständig am Limit.<br />

Ein verrücktes Leben. Ich hatte mit 20 schon mehr erlebt<br />

als andere mit 100 Jahren“, sagt Becker. Es war allerdings<br />

auch so, dass Becker nicht leben konnte ohne die Strahlen<br />

des Scheinwerferlichts. Mit dem, was er selbst „Öffentlichkeit“<br />

nannte, verband ihn immer eine Hassliebe. Er genoss<br />

seine Bekanntheit, seine Popularität, und er verfluchte sie<br />

im nächsten Moment. Und daran hat sich auch nicht viel<br />

ge ändert in all den Jahren bis jetzt – an Becker und am<br />

Thema Becker war nie ein Mangel.

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