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087<br />
Es ist ein Frühlingstag vor vielen Jahren,<br />
an dem man mit Boris Becker in seiner<br />
Münchner Firmenzentrale verabredet<br />
ist. Der Reporter sitzt erwartungsfroh im<br />
Intercity, als kurz hinter Nürnberg das<br />
Handy summt; ein Becker-Vertrauter ist etwas aufgeregt<br />
am Apparat: Becker sei kurzfristig etwas bei diesem Termin<br />
dazwischengeraten, ob man nicht umdisponieren und zum<br />
Flughafen kommen könne. Nun gut, dann eben ein Interview<br />
am Flughafen, denkt der Reporter und stimmt zu. Doch der<br />
Becker-Mann ist noch nicht ganz fertig mit seiner Last-<br />
Minute-Botschaft: Nein, am Flughafen sei das Ganze nicht<br />
wirklich geplant – Becker müsse unbedingt nach Mallorca, und<br />
wenn das Interview zustande kommen solle, müsse man eben<br />
möglichst mitfliegen.<br />
Und so geschieht es, dass der Reporter in der nächsten<br />
Stunde mit dunklem Anzug, Hemd und Krawatte in einem<br />
Privatjet Richtung Ferieninsel sitzt. Und am Nachmittag dieses<br />
Tages in der Stierkampfarena ein Tennismatch zusammen<br />
mit Becker anschaut und in der Hochglanz montur in<br />
gleißender Sonne brütet. „Alles gut?“, fragt Becker den<br />
Reporter damals in der Ehrenloge grinsend. Klar, alles<br />
gut, wenigstens im Nachhinein. Schließlich steht Becker<br />
irgendwann am Abend auch noch für das längste Interview<br />
überhaupt zur Verfügung – stundenlang gibt er Einblicke in<br />
seine Karriere, in sein Privatleben. Er spricht über Frau und<br />
Kinder, über den gerade erst verstorbenen Vater, über den<br />
schwierigen Start ins Wirtschaftsleben als Chef der Firma<br />
Becker und Co. Kurz vor Mitternacht – der Reporter schleppt<br />
sich im hoffnungslos verschwitzten Business-Dress ins<br />
Hotel – kommt ihm unwillkürlich ein Satz Beckers in den<br />
Sinn. Ein Satz, der wie kein zweiter für Beckers Leben<br />
und Laufbahn steht, für den Umgang mit der Welt um ihn<br />
herum, für diesen Tag zwischen München und Mallorca<br />
natürlich auch. Dieser Satz lautet: „Bei mir<br />
weiß man nie, was kommt.“<br />
Dieser Satz war an jenem Tag und<br />
darüber hinaus keineswegs einfach leichthin<br />
dahergesagt. Er hatte immer einen<br />
ganz harten inhaltlichen Kern. Denn wann<br />
immer man mit Becker sprach in mehr als<br />
30 Jahren der journalistischen Begleitung,<br />
dann ging es sehr oft um Beckers Verwandlungen,<br />
die Brüche in seinem Leben. Um<br />
einen Becker, der auf der Flucht war; auf<br />
der Flucht, festgelegt oder vereinnahmt zu werden. Becker<br />
war ja auch nie nur ein einziger Becker, sondern ganz viele<br />
Beckers. Er war im Übrigen auch derjenige, der sich gegen<br />
die allzu innige öffentliche Umarmung auflehnte. Und der<br />
sich später übers Kreuz legte mit <strong>Deutschland</strong>, mit allen,<br />
die meinten, ihm jeden Tag Ratschläge geben zu müssen –<br />
ob es nun zunächst um seine Karriere ging oder später um<br />
Geschäfte oder Familien angelegenheiten. „Ich bin niemandem<br />
etwas schuldig. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt“, sagte<br />
Bei Boris Becker<br />
weiß man nie,<br />
was kommt.<br />
Becker. Und fügte hinzu: „In <strong>Deutschland</strong><br />
glauben viele immer noch, dass<br />
ich der 17-jährige Bursche bin, der<br />
Wimbledon gewonnen hat.“<br />
IN EIN ANDERES UNIVERSUM<br />
GESCHLEUDERT<br />
Fast alles, was in seinem Leben<br />
passierte, hatte indes mit Wimbledon<br />
zu tun. Mit diesem 7. Juli 1985, an<br />
dem er den Matchball gegen den Südafrikaner<br />
Kevin Curren verwandelte<br />
und zum (bis heute) jüngsten Turniersieger<br />
in der Geschichte wurde. Von<br />
einer Sekunde zur anderen sei er „in<br />
ein anderes Universum geschleudert<br />
worden“, sagt Becker. „Ich wollte<br />
natürlich immer ein großer Sieger sein.<br />
Aber was es bedeutet, Wimbledon-<br />
EIN LEGITIMER<br />
NACHFOLGER? Das<br />
Verhältnis zwischen<br />
Alexander Zverev<br />
und Boris Becker ist<br />
herausragend gut.<br />
sieger zu sein, wusste ich nicht.“ Es begann dann ein Leben<br />
ohne Beispiel, ein Leben, das vor allem auch davon geprägt<br />
war, dass Becker gegen den Strom schwamm. Gegen die<br />
Erwartungen. Gegen die deutsche Wunschvorstellung, wie<br />
er als Idol sein sollte. Noch immer klingt diese Wut durch –<br />
als Becker etwa rund um seinen 50. Geburtstag losdonnerte:<br />
„Ich war nie euer Boris. Und ich bin nicht euer Boris!“<br />
Das Verrückte an Becker ist auch dies: In all den Aufgeregtheiten,<br />
in all dem Wirbel und allen Wirren seines<br />
Lebens ist er sich doch auch treu geblieben – als jemand, der<br />
sich nicht greifen lässt und sich auch nicht greifen lassen<br />
will. So war es ja tatsächlich auch in aller Regelmäßigkeit<br />
in den Jahren, in denen er über die Kontinente und durch<br />
die Zeitzonen jettete. Und es war eben jene buchstäbliche<br />
Unfassbarkeit, die seine Magie ausmachte: das Schwanken<br />
zwischen den Extremen, manchmal in einem<br />
Spiel, manchmal über ganze Jahre. Becker<br />
konnte Spiele drehen, die verloren schienen,<br />
und Spiele verlieren, die er eigentlich schon<br />
gewonnen hatte. Er fesselte die ganze Nation<br />
vor dem Fernseher, war ein Phänomen; in<br />
seiner Zeit einer der mitreißendsten Tennisspieler<br />
und bewegendsten Einzelsportler<br />
überhaupt. Er war größer als sein Sport.<br />
Wie blickt er heute auf diese Zeit<br />
zurück? „Es war ein Leben ständig am Limit.<br />
Ein verrücktes Leben. Ich hatte mit 20 schon mehr erlebt<br />
als andere mit 100 Jahren“, sagt Becker. Es war allerdings<br />
auch so, dass Becker nicht leben konnte ohne die Strahlen<br />
des Scheinwerferlichts. Mit dem, was er selbst „Öffentlichkeit“<br />
nannte, verband ihn immer eine Hassliebe. Er genoss<br />
seine Bekanntheit, seine Popularität, und er verfluchte sie<br />
im nächsten Moment. Und daran hat sich auch nicht viel<br />
ge ändert in all den Jahren bis jetzt – an Becker und am<br />
Thema Becker war nie ein Mangel.