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SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
ArtMedia Verlag Freiburg Sommer 2021 30. Ausgabe / 17. Jahrgang
Die Landschaft im Kopf
Im Gespräch: Martin Schmitz – Spaziergangswissenschaftler
P
Spaziergangswissenschaft
klingt greifbar,
umfasst aber weit mehr
als eine Untersuchung der Gehmuster
gemütlicher Spaziergänger.
Professor Dr. Martin
Schmitz publiziert und lehrt
eine Wissenschaft, die nach den
Grundlagen der Landschaftsbetrachtung
fragt. Im Gespräch
mit Fabian Lutz zeigt er
auf, wie vielfältig die Urgründe
seiner Disziplin sind, wie politisch
die Spaziergangswissenschaft
wird und warum Spazieren
selbst doch ganz einfach ist.
Promenadologie
Aus dem Inhalt:
oder
UNIversalis: Herr Schmitz, wann
waren Sie zuletzt spazieren?
Prof. Martin Schmitz: Gestern.
Da bin ich von A nach B gegangen
und – zur Kür – noch eine Runde
mehr. Das ist dann der eigentliche
Spaziergang.
UNIversalis: Machen Sie das häufig
so? Erst der übliche Gang und
dann die Kür?
Martin Schmitz: Das ist doch der
reinste Luxus, zu spazieren und
völlig absichtslos durch die Gegend
zu laufen. So ein Erlebnis kann
man auch nicht einfach wiederholen.
Jeder Spaziergang ist ein
Unikat. Man kann zwar immer
die gleiche Strecke gehen, dabei
aber immer wieder neue Dinge sehen.
Muße begegnen3
Pharmageddon: Christoph
Höhtkers Dystopie 5
Wann ist Unterricht an
Schulen erfolgreich? 6
Rosengarten des
Widerstands8
Im Gespräch: Dr. Detlef Lienau,
neuer Leiter der Evang.
Erwachsenenbildung9
NS-Projekt „Gau Oberrhein“10
Gender Studies: Eine
Beilage von Studierenden13
Professor Dr. Martin Schmitz
UNIversalis: Ein offenes Experiment
also?
Martin Schmitz: Ja, Sie können
aber auch zum Beispiel immer
nur geradeaus gehen oder sich die
Strecke auswürfeln. Oder sie holen
sich die Tiefbaupläne der Berliner
Wasserwerke und folgen den
Leitungen oberirdisch. Das sind
Konzepte, mit denen Sie sich Räume
und Landschaften erschließen
können. Auch Stadtführungen sind
ein Konzept, bei dem Menschen
bestimmte Elemente einer Umgebung
gezeigt und andere wiederum
nicht gezeigt werden. Unser
Spazierengehen bedeutet zunächst,
sich jenseits dieser, auch professionellen
Konzepte zu bewegen, also
einfach mal loszulaufen.
UNIversalis: Eine „Kunst des Spazierens“
gibt es also nicht? Kann
man „besser“ oder „schlechter“,
vielleicht auch aufmerksamer spazieren?
Martin Schmitz: Es gibt nur eine
Regel: Gehen!
UNIversalis: Ist das nicht überfordernd?
Ich habe den Eindruck,
dass Menschen, zumindest heutzutage,
lieber zweckgerichtet oder
geführt durch die Welt gehen.
Martin Schmitz: Stadtrundfahrten
führen zu den Postkartenmotiven
und werden von Touristen
gerne angenommen. Das ist dann
nur ein kleiner Ausschnitt einer Realität.
Interessant ist, in der eigenen
Stadt einmal solche touristischen
Angebote wahrzunehmen. Heute
werden so viele Vorstellungen von
Landschaften und Städten durch
die Massenmedien vermittelt wie
nie zuvor. Schauen Sie sich zum
Beispiel mal Zeitschriften wie die
Landlust an. Das Magazin richtet
sich nicht an Bauern, sondern an
Menschen, die meistens in Metropolen
wohnen, in Gegenden, wo
ich mich frage, ob das noch Stadt
oder schon Land ist. Es gibt Dutzende
solcher Zeitschriften. Hier
werden Vorstellungen von „Natur“
oder „Gesundheit“ vermittelt, in
einer Zeit, wo es die Trennung von
Stadt und Land gar nicht mehr gibt
– und eine idyllische Landschaft
vielerorts auch nicht mehr.
UNIversalis: Also keine idyllischen
Ferien auf dem Bauernhof?
Martin Schmitz: Ferien auf dem
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Bauernhof bedeutet heute eher, mit
50.000 Mastschweinen zu frühstücken.
Die Landwirtschaft ist
industrialisiert, die Landschaft mit
Logistikzentren, Serverparks und
Verkehrsinfrastukturen bestückt.
UNIversalis: So ist aber keine Illusion
aufrechtzuerhalten, oder? Die
Leute müssen mit ihrer „Landlust“
ja enttäuscht werden.
Martin Schmitz: Die Illusion
wird aufrechterhalten, indem sie
gebaut wird. Gehen wir einmal
zurück in die Stadt zum Thema
„Autofreie Innenstadt“. Damit soll
die neue Unwirtlichkeit der Städte
bekämpft werden. Das aber führt
genau in die falsche Richtung. Die
autofreie Innenstadt ist eine Insel.
Die verdrängten Fahrzeuge zum
Beispiel führen zur Verelendung
der Randbereiche wie in allen
Städten mit Fußgängerzonen. Die
verschiedenen Verkehrsmittel wie
Auto, Fahrrad, Straßenbahn und
Fußverkehr müssen integriert werden.
Die „Pop-up-Radwege“ sind
nur ein Provisorium. Aber es ist ein
böses Problem: Wie installiere ich
vier Verkehrsarten getrennt voneinander
auf der existierenden Fläche
einer Stadt. Das geht gar nicht.
UNIversalis: Was sind „Pop-up-
Radwege“?
Martin Schmitz: Das sind abgetrennte
Bereiche nur für Fahrradfahrer,
die entweder entsprechend
gepinselt oder mit rotweißen Verkehrsstangen
abgegrenzt sind. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass die
Foto: Doris Spiekermann-Klaas, der Tagesspiegel
Städte in Zukunft so aussehen.
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Spaziergang in der Natur bestehen
auch in den Köpfen der Menschen.
Etwa im Bild des alten Mannes, der
ruhig und mit Gehstock die Allee
entlangspaziert. Oder hat das wieder
ausgedient?
Martin Schmitz: Landschaft ist
ein kollektives Bildungsgut. Ein
Forschungsschwerpunkt der Promenadologie
ist, wie Landschaft
gelernt wird. Wir sehen ja nur
das, was wir gelernt haben zu sehen.
Kinder spielen mit leeren Getränkedosen,
die Erwachsenden
sprechen von „typisch Nordhessen“
und der erste Mensch auf dem
Mond vom Grand Canyon. Dafür
hätte er übrigens nicht so weit fliegen
müssen. Jede Generation entwickelt
in den Köpfen eine eigene
Konstruktion von Landschaft. Anhand
der Kunst- und Literaturgeschichte,
durch Sprache und Bilder
lassen sich diese Konstruktionen
nachverfolgen. Die spannende Frage
ist: In welcher Phase befinden
wir uns heute?
UNIversalis: Eine wirklich spannende
Frage. Was meinen Sie?
Martin Schmitz: In unserer Gegenwart
konnten noch nie zuvor
so viele Menschen so preiswert
um die Welt reisen, noch nie zuvor
gab es eine größere Mobilität. Das
geht in den 1980er Jahren richtig
los und findet etwa sichtbaren Ausdruck
im finnischen Saunen hinter
asiatischen Torbögen in Freizeitbädern.
Ohne die vermehrten Weltspaziergänge
per Billigflug wären
die nicht lesbar. Es gibt also einen
Zusammenhang von Mobilität und
Gestaltung. An der Türkischen Riviera
gibt es eine Hotelanlage in
Gestalt eines Amsterdamer Straßenzugs
mit der Gracht als Swimmingpool
oder zwischen Frankfurt
Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France
2 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
Der Spaziergang durch das städtische
Verkehrsnetz (2021)
und Würzburg eine künstliche altfränkische
Stadt als Factory-Outlet-Center.
Dort fährt man in die
Tiefgarage und geht in historischen
Kulissen shoppen.
UNIversalis: Frisch erbaute historische
Kulissen sind aber Teil vieler
größerer Städte.
Martin Schmitz: Ja, sie sind jetzt
Teil der „alltäglichen“ Stadtplanung
wie die neue Frankfurter Altstadt
zwischen Dom und Römer.
Dort befinden sich neue Häuser, die
alt wirken und Nachbauten tatsächlicher
alter Häuser. Um die Dresdener
Frauenkirche herum passiert
Ähnliches. Neubauten erhalten barocke
Fassaden. Ist das nur für den
Tourismus? Rettet das eventuell
eine Stadtstruktur? Macht es eine
Stadt wieder bewohnbar? Wie wird
die nächste Generation die Frage
nach echt oder falsch beantworten?
UNIversalis: Corona-Zeit ist die
Zeit der Spaziergänge und des
Wiedererkundens eigener Landschaften.
Das müsste doch auch
ein Thema sein, das Sie interessiert.
Martin Schmitz: Corona bedeutet
einen massiven Eingriff in die gesamte
Mobilität. Keine Flüge mehr,
Homeoffice oder Verödung der Innenstädte.
Wohin also? Einige finden
es im Harz wieder schön. Oder
sie entdecken ihren eigenen Kiez
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zum ersten Mal in der Mittagspause
im heimischen Büro, nachdem
sie sich auf Mallorca immer besser
ausgekannt haben. Interessant ist
auch, dass die U-Bahnzüge kürzer
wurden und die Menschen beengter
sitzen mussten.
UNIversalis: Ihre Wissenschaft,
die Promenadologie verbindet
verschiedene Disziplinen, etwa
Architektur, Kunst oder Geografie,
aber auch wahrnehmungspsychologische
Ansätze. Woher kommt
dieser breite Zuschnitt?
Martin Schmitz: Der Schweizer
Soziologe Lucius Burckhardt hat
dieses Nebenfach in den 1980er
Jahren im Fachbereich Architektur,
Stadtplanung und Landschaftsplanung
an der Universität
Kassel entwickelt. Er hatte bereits
als Student Anfang der 1950er Jahre
den Abriss gotischer Häuser und
den Bau einer breiten Straße durch
die Altstadt von Basel verhindert.
Als einer von wenigen begriff er
den autogerechten Umbau seiner
Heimatstadt als Zerstörung und
beschäftigte sich seit dieser Zeit
mit der Gestaltung und Planung
unserer Städte und Landschaften
in einer Demokratie. So wurde er
zu einem Vordenker der Städtebaukritik
der ‘68er Generation, die
den autogerechten Umbau in ganz
Europa trotz Protest nicht verhindern
konnte. Als in den 1980er
Jahren fast alle Autobahnen gebaut
waren und Charterflüge immer
preiswerter wurden, untersuchte
Burckhardt die enorm angestiegene
Mobilität, die Auswirkungen
auf die Wahrnehmung und die
Rückkopplungen auf das Planen
und Bauen. Eine bessere Bezeichnung
für seine Forschung als „Spaziergangswissenschaft“
hätte sich
Lucius Burckhardt allerdings nicht
ausdenken können. Sie macht neugierig
und: jeder Mensch kann spazierengehen.
Vor allem aber würde
eine existierende akademische
Disziplin nicht ausreichen, um das
Tätigkeitsfeld des Soziologen, wie
sich Burckhardt selbst am liebsten
bezeichnete, abzudecken. Burckhardt
meinte einmal: „Wir nennen
solche Forschung mangels eines
besseren Begriffes Kunst.“
UNIversalis: So breit Ihr Forschungsfeld
gefasst ist, so breit
dürfte auch das Interesse der Öffentlichkeit
an Ihrer Arbeit sein –
ist das so?
Martin Schmitz: Seitdem ich
2004, nach dem Tod von Lucius
Burckhardt, mehrere Bücher von
ihm herausgegeben habe, toure
ich mit Vorträgen durch Europa
und erhalte viel Feedback. Ich
bekomme Einladungen von der
RWK · 09/20 · Foto: peterheck.de
TU München, der ETH Zürich
oder der Akademie in Wien, von
Studenten und Studentinnen aus
Weimar, vom Bürgerverein in Bad
Dürkheim, dem Kultusministerium,
komme aber auch ins Prättigau
in der Schweiz, weil bei denen
kein Schnee mehr liegt und sie
sich fragen, wie sie nun ihre Landschaft
nutzen können. Auch der
PACT Zollverein, Initiator, Motor
und Bühne für wegweisende Entwicklungen
in den Bereichen Tanz,
Performance, Theater, Medien und
Bildende Kunst, war interessiert.
UNIversalis: Kommen wir noch
einmal auf Lucius Burckhardt zurück.
In welchem zeitlichen Kontext
sehen Sie seine Ansätze verwurzelt?
Martin Schmitz: Lucius Burckhardt
und seine Frau Annemarie
Burckhardt begannen mit dem
großen Thema der Nachkriegszeit,
dem autogerechten Umbau
ganz Europas. Dieses Problem existierte
zuvor gar nicht, und somit
gab es auch keine Fachleute für
die Integration der individuellen
Verkehrsmittel in eine bestehende
Stadt. Dennoch begann der Umbau
an vielen Orten und brachte
die heftigen Proteste der ‘68er Generation,
die nicht viel verhindern
konnten und in der grasgedeckten
Doppelgarage endeten. Die Kinder
fressen ihre Revolution. Wohnen,
Planen, Bauen, Grünen nannte Lucius
Burckhardt eine seiner ersten
Textsammlungen von 1985.
UNIversalis: Eigentlich fast überflüssig
zu erwähnen, wie politisch
dieser tiefgreifende Blick auf gesellschaftliche
Zusammenhänge ist.
Martin Schmitz: Wir selber bauen
unsere Stadt lautete 1953 der
Titel eines Büchleins von Lucius
Burckhardt, übrigens mit einem
Vorwort von Max Frisch. Es folgen
Fragestellungen wie „Wer plant die
Planung?“, „Warum ist Landschaft
schön?“ oder Formeln wie „Design
ist unsichtbar“ oder „Der minimale
Eingriff“. Seine gesamte Forschung
versammelte Lucius Burckhardt in
den 1980er Jahren unter dem Begriff
„Spaziergangswissenschaft“.
Aus unterschiedlichen fachlichen
und beruflichen Perspektiven −
ziologe interessierte ihn, wie wir
durch Beschlüsse und Eingriffe die
Umwelt beeinflussen und wie die
Veränderungen auf uns zurückwirken.
Oder anders gesagt: Sein Thema
waren die Vorrausetzungen für
Architektur und Gestaltung sowie
deren Folgen.
UNIversalis: Vielen Dank für das
Gespräch!
Professor Dr. Martin Schmitz, geboren
1956, studierte Architektur,
Stadt- und Landschaftsplanung bei
Lucius Burckhardt an der Universität
Kassel.
1983 veröffentlichte er das Buch
Über die Kultur der Imbißbude.
Neben seiner wissenschaftlichen
Arbeit und seiner Tätigkeit als
Kurator (Zusammenarbeiten mit
der documenta in Kassel und dem
Kunstkollektiv „Die Tödliche Doris“)
ist Martin Schmitz seit 1989
Verleger von Büchern zu Themen
in Architektur, Kunst, Film, Design,
Musik, Theater und Literatur.
Seit 2013 ist Martin Schmitz
Professor an der Kunsthochschule
Kassel.
als Wissenschaftler, Journalist
oder Professor − analysierte er die
sichtbaren und unsichtbaren Teile
unserer menschgemachten Umgebungen
– Städte und Landschaften,
Politik und Gesellschaft. Als So- Der Spaziergang als verinnerlichtes Idyll bei Auguste Renoir (1875)
Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 3
Muße begehen
Ein neues Literaturmuseum in Baden-Baden soll Mußeräume eröffnen. Eine Begegnung mit dem
Gegenstand und der Erfahrung Muße
Das Gartenhaus der Stadtbibliothek Baden-Baden (rechts) als Kernbereich des Muße-Literaturmuseums
Foto Stadtbibliothek, Muße-Literaturmuseum Baden-Baden
W
ir gehen spazieren. Wir
sitzen in der Sonne.
Wir fühlen uns inspiriert,
erhalten Raum,
Zeit für unsere Gedanken. All
das assoziiert man gemeinhin
mit Muße. Seit 2013 beschäftigt
sich ein interdisziplinär angelegter
Sonderforschungsbereich
mit diesem Begriff. In seiner Abschlussphase
im Jahr 2021 steht
nun ein Transferprojekt, das den
Forschungsbegriff „Muße“ auch
außerhalb und dauerhaft in der
Kulturlandschaft platzieren soll:
Das Muße-Literaturmuseum Baden-Baden.
Fabian Lutz hat mit
der Kuratorin Elisabeth Cheauré
gesprochen.
„Mit dem Begriff ‚Museum‘ wird
– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR
grundsätzlich auch Muße verbunden.
Nach meiner Erfahrung funktionieren
einige Museen allerdings
nicht immer als Mußeraum.“ Professor
Dr. Elisabeth Cheauré ist
stellvertretende Sprecherin des Sonderforschungsbereichs
Muße an der
Universität Freiburg und zusammen
mit Dr. Regine Nohejl Kuratorin der
Dauerausstellung des im Herbst eröffnenden
Muße-Literaturmuseums
Baden-Baden. Als Slavistinnen sind
sich die beiden nicht nur wissenschaftlich
nahe. 2018–2019 veranstalteten
sie bereits zusammen die
Ausstellung Russland in Europa
‒ Europa in Russland. 200 Jahre
Ivan Turgenev, ebenfalls in Baden-
Baden. Eine Erfahrung, von der das
neue Literaturmuseum nur profitieren
kann. Im Gespräch äußert
sich Cheauré zufrieden über das
Feedback, das sie für ihre Ausstellungskonzeption
2018–2019 erhielt:
„Wir hatten Gäste, die einige Male
in die Ausstellung gekommen sind,
weil sie sich dort so wohl und angeregt
gefühlt haben. Einige haben
geäußert, dass sie total die Zeit vergessen
hätten. Sie hätten sich in das
Lesen so vertieft, dass sie um sich
herum alles vergessen hätten. Das
ist, was Muße, zumindest im einfachen,
populärwissenschaftlichen
Sinne bedeutet: Dass man sich in
Raum und Zeit verliert, indem man
beide Dimensionen anders wahrnimmt.“
Faktoren, die nicht für jedes
Museum gelten. Schmerzende
Rücken, Präsentationen auf grauen
Texttafeln und schreiende, gelangweilte
Kinder. So wird das Museum
eben nicht zum Mußeraum.
Für Elisabeth Cheauré, Regine
Nohejl und ihr Team stellt sich eine
doppelte Herausforderung. Nicht
nur wollen die Kennerinnen der
Mußeerfahrung ein solches Museumsleiden
für ihre Besucher*innen
vermeiden, auch haben sie sich
mit der Literatur einen besonders
schwierigen Gegenstand herausgesucht.
Denn Literatur scheint
zunächst nach zweidimensionalen
Leseflächen, Texttafeln zu verlangen,
der „gewohnten ‚Blattware‘“,
wie Cheauré bemerkt. Wobei dabei
schnell ein wesentliches Element
vergessen wird, fügt sie hinzu,
nämlich die betrachtende Person:
„Gedruckte oder ausgestellte Texte
werden nicht automatisch zu Literatur.
Literatur im eigentlichen Sinne
entsteht erst im Prozess des Lesens.
Das ist anders als bei einem ausgestellten
Gemälde, bei dem meine
Sinne gleich angesprochen sind und
ich meiner Fantasie freien Lauf lassen
kann. Literatur funktioniert nur
durch den aktiven Wahrnehmungsakt
des Lesens. Und dafür braucht
es die lesende Person.“ Dass die
angemessene Präsentation von Literatur
zu wahrhaften Mußeerfahrungen
im Museum führen kann,
hat die Ausstellung zum Schriftsteller
Turgenev gezeigt. Ein genauer
Blick auf ein mußefreundliches
Design, also der genaue Blick auf
die Besucher*innen, scheint dabei
unabdinglich für ein erfolgreiches
Muße-Projekt – gerade jenseits des
akademischen Blicks.
Muße als Gegenstand. Muße als
Erfahrung
Verortet in und an der Stadtbibliothek
Baden-Baden versteht sich
das Muße-Literaturmuseum nicht
nur als Erweiterung eines Wissensraums,
sondern auch als eigenständiger
Muße-Raum. Mit einem
Kernbereich, bestehend aus sieben
Räumen, die im Gartenhaus und Lesecafé
der Stadtbibliothek gelegen
sind und die Geschichte Baden-
Badens im Spiegel der Literatur
erzählen, erstrecken sich einzelne,
thematische Stationen des Museums
bis in den Bibliotheksraum hinein.
„Historisch gesehen, in der Antike,
wurden Bibliothek und Museum als
Einheit betrachtet. Denken Sie etwa
an das Museion und die Bibliothek
von Alexandria. Mit unserem Literaturmuseum
wollen wir diese Idee
modern interpretieren.“ Gelangen
Besucher*innen etwa in die Bibliotheksabteilung
der Reiseführer oder
Krimis, gibt eine dort angesetzte
Station des Literaturmuseums interessante
Kontexte. „Wir schaffen
Museumsinseln innerhalb der Bibliothek.
Dabei versuchen wir, immer
wieder eine thematische Nähe zu
den Themenbereichen in der Bibliothek
zu bieten.“
Ein interessanter Kontext ist nicht
zuletzt Baden-Baden selbst, das im
Vielseitig
ist einfach.
sparkasse-freiburg.de
Blick der Literatur zum Gegenstand
der Dauerausstellung wird.
Viele deutschsprachige und internationale
Autor*innen sind über
die Jahrhunderte mit der Kurstadt
verbunden gewesen. Manche als
(Kur-)Gäste, andere als dauerhafte
Einwohner*innen, alle vereint in ihrem
Verlangen nach schöner Land-
contouno ü18 –
so flexibel wie das
Leben.
Mit dem kostenfreien Girokonto
für junge Leute bis 25 sind Sie
entspannt in allen Situationen
unterwegs.
4 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
schaft, Ruhe, Erholung, aber auch
dem aufreibenden Glücksspiel.
„Wenn man etwa im 19. Jahrhundert
durch die Lichtentaler Allee
spazierte, war es – wie heute – nicht
unwahrscheinlich, Muße zu erleben.
Aber im Baden-Baden, zumindest
des 19. Jahrhunderts, gibt es eben
auch die Kehrseite, die absolute
Nicht-Muße.“ Ein berühmtes Zeugnis
dafür gibt Fjodor Dostojewskis
Roman Der Spieler (1867). Der
spielsüchtige Dostojewski war ein
gern gesehener Gast in den Kasinos
Baden-Badens. Elisabeth Cheauré
beschreibt anschaulich, welcher
Stress innerhalb der Kasinos geherrscht
haben musste. Der Roman
legt davon eindrucksvoll Zeugnis
ab. Stress, Sorge, Nicht-Muße kann
es aber auch an den idyllischen Orten
Baden-Badens geben. Der Gang
durch die Lichtentaler Allee kann
auch zur unangenehmen Erfahrung
werden. Erschien man dort nicht
standesgemäß gekleidet, war das
Gefühl, sozial diskreditiert zu sein
vorherrschend. „Für viele Menschen
war das Bestehenkönnen in
einer mondänen Gesellschaft mit
großer Anspannung verbunden, vor
allem, wenn man nicht die finanziellen
Mittel hatte.“ Idylle nur für
den, der sie sich leisten kann. „In
Baden-Baden können wir die Pole
von Muße und Nicht-Muße mit allen
Zwischentönen sehen. Dieses
Spannungsverhältnis schlägt sich
auch in den literarischen Texten
vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
nieder. Deshalb ist Baden-
Baden als Museumsort so reizvoll.“
Wer eine bloße selbstherrliche Verklärung
des Kurorts im Spiegel
der Literatur erwartet, kann in der
Ausstellung durchaus überrascht
werden.
Anspannung und Sorge sollen
nicht für die Mußeerfahrung im
Dr. Elisabeth Cheauré
Museum gelten. Muße soll schließlich
nicht nur Gegenstand des Muße-Literaturmuseums
sein, sondern
auch zur Museumserfahrung selbst
werden. Um die Besucher*innen
des Museums als Gestaltende ihrer
Muße dabei entsprechend zu
fördern, nutzt Cheauré das Prinzip
„maximaler Freiheit“ und Sinnesvielfalt.
„Unsere Besucher und Besucherinnen
sollen im Museum die
Freiheit haben, das zu tun, wozu
sie Lust haben. Im Museumsraum
sollen sie selbst wählen können, ob
sie zuerst zu Hörstationen, zu einer
Informationstafel oder zu Filmen
Foto: Privat
gehen wollen. Vielleicht wollen sie
auch zuerst in einem Buch lesen.
Dazu sollen verschiedene Sinne aktiviert
werden. Unsere Gäste sollen
Ausstellungsobjekte nicht nur sehen,
sondern auch riechen, hören,
anfassen können. So kann eine andere
Form von Zugang zu Literatur
geschaffen werden.“
Ehepartner Dostojewski
Kinder sind echte Stresstests für
Museen. Gerade für Literaturmuseen
kann es als echte Leistung gelten,
auch die Kleinen unterhalten zu
können. Und auch wenn Elisabeth
Dr. Regine Nohejl
Foto: Privat
Cheauré betont, dass das Muße-Literaturmuseum
kein Kindermuseum
wird, soll das interaktive und intermediale
Programm auch jüngere
Besucher*innen ansprechen. Ein
Highlight dürften hier die eigens
produzierten Filme zu Literaturgrößen
wie dem besagten Dostojewski
sein. „Die Filme, die wir zeigen,
probiere ich zum Beispiel nicht
nur mit Kolleginnen und Kollegen,
Freunden und Freundinnen, sondern
auch immer mit meinen Enkelkindern
aus und das funktioniert
auch. Sie verstehen meist sofort,
worum es darin geht. Auch die Hörstationen
und das Bildmaterial eignen
sich für kleinere Besucher. Zudem
haben wir Spiele, sodass auch
haptische Zugänge möglich sind.“
Das Prinzip maximaler Freiheit ist
schließlich etwas, das gerade besondere
Entdeckernaturen wie Kinder
anspricht. Aber auch darüber hinaus
sind Besucher*innen gefragt,
auf Entdeckungsreise zu gehen, sich
von ihrer Fantasie, Muße führen zu
lassen. Eine kindliche Neugier dürfte
beim Museumsbesuch nicht schaden
– falsche Hemmungen sollte
man nicht haben.
Aber zum Schluss zurück zu
Dostojewski, der mit seiner Ehefrau
Anna G. Dostojewskaja einige
Zeit in Baden-Baden verbrachte.
Zu ihren Erlebnissen hält das Literaturmuseum
einen animierten
Kurzfilm bereit. Besonders ist nicht
nur das Format Film zur Darstellung
literarischer Stadtreflexionen,
sondern auch der Blickwinkel.
Statt die bekannte Perspektive des
männlichen Schriftstellers zu bedienen,
gibt der Film der Perspektive
der Ehefrau Platz. „Anna Dostojewskaja
muss nach ihrer Heirat
mit Dostojewski erfahren, dass sie
nun Frau eines süchtigen Glücksspielers
ist. In ihrem Tagebuch
beschreibt sie die Erfahrungen mit
Dostojewski sehr eindrücklich.“
Baden-Baden als Ort der Nicht-Muße
wird im Muße-Literaturmuseum
auch aus weiblicher Perspektive
greifbar. Elisabeth Cheauré betont,
dass man viele Texte unter Gender-
Gesichtspunkten integriert hätte.
So wolle man gerade vergessene
Frauenfiguren wieder ins Licht der
Öffentlichkeit rücken.
Die Dauerausstellung Muße-Literaturmuseum
Baden-Baden öffnet
im Herbst. Genaue Öffnungszeiten
und einzelne Veranstaltungen werden
noch angekündigt. Das Museum
ist ein Kooperationsprojekt
des Sonderforschungsbereichs
1015 „Muße“, des Internationalen
Graduiertenkollegs 1956 „Kulturtransfer.
Freiburg – Moskau“
und des Zwetajewa-Zentrums für
russische Kultur, die alle an die
Universität Freiburg angeschlossen
sind. Das Museum wird von
Elisabeth Cheauré und Regine
Nohejl in enger Kooperation mit
der Stadtbibliothek Baden-Baden
konzipiert und geplant. Weitere Infos
auf der Website des SFB Muße:
www.sfb1015.uni-freiburg.de
Fabian Lutz
1921 – 2021: Das Studierendenwerk Freiburg feiert
sein 100-jähriges Bestehen
„Seit 100 Jahren an eurer Seite“
– so könnte man die Arbeit des
heutigen Studierendenwerks und
die seiner Vorgängerinstitutionen
beschreiben. In diesem Jahr wird
nun Geburtstag gefeiert. Mit einer
historischen Ausstellung,
vielen Veranstaltungen und zahlreichen
Angeboten und Vergünstigungen
für Studierende.
Soziale Förderung und Betreuung
der Studierenden standen immer
im Zentrum der Arbeit der Studierendenwerke
bzw. ihrer Vorgängerinstitutionen.
Heute haben die
Studierendenwerke den gesetzlichen
Auftrag, den Studierenden
optimale Voraussetzungen zu bieten
und sie darin zu unterstützen,
dass ihr Studium unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft gelingt.
Doch von der Gründung der „Freiburger
Studentenhilfe“ im Jahr
1921 bis zum heutigen Studierendenwerk
war es ein langer Weg:
Er führte von der frühen Selbsthilfeorganisation
„Studentenhilfe“ der
20er Jahre über das nationalsozialistische
„Reichsstudentenwerk“
zum „Studentenwerk e.V.“ der
Nachkriegszeit und schließlich zur
heutigen Anstalt des öffentlichen
Rechts.
Zum 100-jährigen Jubiläum wird
nun die wechselvolle Geschichte
des Studierendenwerks Freiburg in
einer historischen Ausstellung erfahrbar
gemacht. Die Ausstellung
ermöglicht interessante Einblicke
in das Leben und die soziale Situation
der Freiburger Studierenden
im Rahmen der historischen
Verhältnisse. Daneben wird die
Entwicklung der Förder- und Unterstützungsleistungen
durch das
Studierendenwerk (bzw. die Vorgänger-Institutionen)
über die vergangenen
zehn Dekaden gezeigt.
Und natürlich wird auch ein Blick
in die Zukunft geworfen und auf die
Ziele, die das Studierendenwerk in
den kommenden Jahren verfolgt.
Die Ausstellung soll ab 6. Mai
2021 in der Universitätsbibliothek
Freiburg zu sehen sein, begleitend
erscheint eine Festschrift mit vielen
Fotos und Illustrationen aus den
vergangenen hundert Jahren.
Neben der Ausstellung wird der
runde Geburtstag mit einem abwechslungsreichen
Jubiläumsprogramm
gefeiert, das allen Interessierten
offen steht: geplant sind z.B.
Mensa-führungen, Kulturveranstaltungen,
ein Open-Air-Flohmarkt,
ein Sommerfestival im MensaGarten
und die Zwanziger-Jahre-Revue
„CRASH…BANG…BOOM!!!“
des studentischen MONDO Musiktheaters.
Neben den Veranstaltungen gibt
es für die Studierenden spannende
Mitmach-Projekte. Zum Beispiel
einen Fotowettbewerb oder einen
internationalen Kunst-Workshop.
Und es gibt spezielle Jubiläums-
Vergünstigungen, beispielsweise
Gratis-Milchreis-Essen in der
Mensa. Oder die Teilnahme an
Fortbildungen und Seminaren des
Studierendenwerks zum Schnäppchenpreis
von 10 Euro während des
gesamten Jubiläumsjahrs.
Die eigens eingerichtete Website
www.swfr.de/100 (unser Jubiläumshashtag:
#swfr100) informiert
über das Jubiläumsprogramm, hält
aber auch andere interessante, nützliche
oder amüsante Schmankerl bereit.
So kann man etwa die beliebtesten
Mensagerichte nachkochen,
die auf vier Personen heruntergerechnet
im Online-Kochbuch nachzulesen
sind. Oder man erfährt, wie
sich ehemalige Freiburger Studierende
an ihre Studienzeit erinnern.
Übrigens: Alle, die gern selbst ihre
Erinnerungen an ihr
Studium in Freiburg teilen
wollen, sind herzlich
eingeladen, ihre Texte
für die Jubiläums-Website
an das Studierendenwerk
zu schicken
– gerne mit einem Foto
von damals und heute.
Natürlich steht das gesamte
Programm unter
dem Vorbehalt der pandemiebedingten
Einschränkungen.
Sollten
Präsenzveranstaltungen
nicht möglich sein, wird
es, wo möglich, Online-
Varianten geben. Aktuelle
Informationen zu
allen Terminen gibt es
auf der Website www.
swfr.de/100.de
Studierende vor der UB, Freiburg 2017
Studierende vor der Uni um 1955
Freiburg
Foto: Stadtarchiv
Foto: SWFR
Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 5
Pharmageddon
Ein Rundgang durch Christoph Höhtkers wundervolle Dystopie Schlachthof und Ordnung
Z
u Zeiten von Corona wird
die Sehnsucht nach einer
Flucht aus der beschwerlichen
Realität nur größer.
Dass eine solche Flucht keine Probleme
löst, sondern nur verlagert,
wahrscheinlich eher schlimmer
werden lässt, dürfte klar sein. Christoph
Höhtkers jüngst erschienener
Roman Schlachthof und Ordnung
zieht ein ähnliches Fazit, jedoch
mit einem beschwingten Zynismus,
der Laune macht. Ein Versuch,
der Faszination des vergnüglichen
wie abgründigen Romans auf den
Grund zu gehen.
Erfinden wir eine Wunderdroge! Entspannen
soll sie, aber auch aktivieren,
den Geist nicht allzu sehr beeinträchtigen,
nicht zu passiv machen, aber
trotzdem beruhigen. Schön wäre,
sie würde sich an unseren Charakter
anpassen, aber nur die besten Seiten
betonen, die störenden Nebenwirkungen
des Organismus Mensch herunterregulieren.
Am besten sollte die
Droge legal sein, man will ja keinen
Ärger mit Polizei und Justiz. Aber
bitte unbedingt nur auf Rezept, nicht
jedes Kind sollte danach greifen können.
Am besten also eine Arztnei als
Wunderdroge. Ganz seriös. Das wäre
es auch mit dem Wunschprofil. Danke.
Wann wird ausgeliefert?
Lebten wir in der Welt des Romans
Schlachthof und Ordnung müssten
wir nicht lange warten. Im Deutschland
des Jahres 2023 ist das Medikament
Marazepam, Markenname Marom,
auf dem Markt längst etabliert
und bringt einem kleinen, aber überzeugten
Teil der Bevölkerung große
Freuden. Die Konsument*innen,
nein, Patient*innen sind sich einig:
Das „wirkungsvollste, wundervollste
und gefährlichste Benzodiazepin, das
je das Licht der Welt erblickt und intensiviert
hatte“.
Romane handeln oft von besonderen
oder besonders normalen Menschen
und so handelt auch Christoph
Höhtkers viertes Buch von ganz besonders
normalen, in dieser Welt also
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besonders sonderbaren Menschen
– von eben jenen Konsument*innen
der neuen Wunderdroge. Das umfangreiche
und umfangreich miteinander
verzahnte Personal des
Romans ist meist verzaubert, angeregt,
abhängig von Marom und gibt
eine Sicht auf die Welt, die von all
dem Drogenmissbrauch mehr als
nur intensiviert erscheint. Denn leider
weicht Marom in einem Punkt
von unserer Wunderrezeptur ab:
es nimmt seine Konsument*innen
vollends ein, macht sie süchtig und
entlässt sie so schnell nicht mehr. Einen
„Marom-Entzug“ gibt es nicht.
Hinter dieser undenkbaren Phrase
lauert schlichtweg der Tod. Und so
handelt Schlachthof und Ordnung
nur vordergründig von einer gedopten
Gesellschaft, tatsächlich aber ganz
existenziell vom Tod, der hinter jeder
(ausbleibenden) Tabletteneinnahme
lauert. „Eine schwarze Sonne, die den
Beladenen, den Elenden den Weg in
ihr strahlendes Ende wies.“
Die Droge als Realität
Aber ja, machen wir den Check! Wäre
Marazepam unsere Wunderdroge?
Schließlich gibt uns Christoph Höhtkers
Roman einige Dokumente an die
Hand, die zu ergründen versuchen,
warum Marom diese Zaubermedizin
ist, von der alle sprechen. Eingestreut
in eine sprunghafte Romanhandlung,
die von den vielen Protagonist*innen
vorangetragen wird, sind Briefe, Foreneinträge
oder Erlebnisberichte, die
schließlich alle von Marom handeln,
das längst nicht mehr bloß Instrument,
sondern Lebensinhalt seiner
Konsument*innen geworden ist. Ein
Memorandum, das innerhalb des Marom
produzierenden Pharmakonzerns
Winston Pharmaceutics and Medical
Care kursiert, konstatiert das vielfältige
Wirkungsprofil der Droge: Marom
R beruhigt, wirkt angstlösend,
euphorisiert, hilft beim Einschlafen,
politisiert, ist eigentlich alles. Ein
„intelligentes Benzodiazepin“, das
sich den Bedürfnissen des Menschen
anzupassen weiß. Und dazu, das war
uns schließlich wichtig, ist Marazepam
ein Medikament und damit verschreibungspflichtig.
Einen Nachtrag scheint nur die politisierende
Wirkung zu verlangen.
Lesen wir das Memorandum genauer:
„Marom R scheint […] eine erhöhte,
in nicht wenigen Fällen sogar bis in
den pathologischen Bereich gesteigerte
Sensitivität gegenüber politischen
[…] Frage- und Problemstellungen
zu evozieren […].“ Lesen wir
noch genauer, entdecken wir, dass an
die schließende Grußformel des Memorandums
eine Fußnote angehängt
ist, die den ursprünglich angedachten
Tonfall des Memorandums verrät:
„Mit nationalsozialistischem Gruß“.
Hinter dem Memorandum steht nicht
bloß ein skeptischer Pharmazeut,
sondern ein bekennender Nazi: Dr.
Johannes Bindig. Ein Nazi inmitten
eines mächtigen Pharmakonzerns? Es
entbehrt nicht einer gewissen Ironie,
dass Nazi Dr. Bindig vor der pathologisch-politisierenden
Wirkung des
Stoffes Marazepam warnt. Schnelle
Sympathien schafft der Roman so
jedenfalls nicht, vielmehr breitet er
ein unüberschaubares Netz voller
tödlicher Konsequenzen. Oder wie
der fiktive Autor des Buchs schließlich
lamentiert: „Dieses Buch ist ein
Monster. Ein fleischfressender Salat.“
Und Fleisch gibt es inmitten des imaginären
Schlachthofs genug.
Wer nun immer noch Lust auf
die allmächtige Wunderdroge hat
und sich etwas weniger krankhaften
Politeifer wünscht, wird sich in
Christoph Höhtkers Panorama womöglich
an jenen fiktiven Autor des
Buchs halten. Auf „Realitätslevel 0“
des Buchs angesetzt, ist Joachim A.
Gerke zunächst „Empfänger staatlicher
Transferleistungen“, konstatiert
wird auch ein „habitueller Marazepam-Konsum“.
Damit ist Gerke inmitten
der von Marom R zusätzlich
beschleunigten Leistungsgesellschaft
nicht nur mittelloser Außenseiter,
sondern noch dazu von der Droge
selbst abhängig. Den Großteil seines
Erzählstrangs verbringt er als Süchtiger
auf Entzug, wartet vor allem auf
die erlösende Marom-Zufuhr, die ihm
so schnell aber nicht gegönnt wird.
Und weil Warten Muße schafft, kommentiert
Gerke beiläufig die anderen
Erzählstränge des Romans, die ihm
laut eigener Aussage zwar untergeordnet
sind, ihm sich als „Monster“
aber ebenso entziehen wie sich ihm
sein suchtgetriebener Körper entzieht.
Paradoxien tun sich auf und irgendwie
lebt Gerke schließlich nicht
nur innerhalb seiner Schöpfung, sondern
ist eben auch von dem abhängig,
was ihm als Teil der Welt eigentlich
untergeordnet sein sollte. „Ich bin
Bestandteil des Teigs.“ Marom R
erobert nicht nur die Körper seiner
Protagonist*innen, formt den Teig,
sondern auch deren Realität und alle
Realitätslevel, eingeschlossen das
von Joachim A. Gerke. Nach Marom
R kommt nichts mehr. Oder wie Dr.
Ansgar Rappert, Leiter Patente/Lizenzen
bei Winston Pharmaceutics,
formuliert: „Insofern war Winston
eindeutig dysfunktional. Die Firma
bereitete eine Welt vor, in der sie selber
nicht überleben konnte.“
Foto: Alexandra Sonntag
Die Menschen als Schlachtvieh
Schauen wir also, mit wem es im
Roman alles zu Ende geht. Marc
Toirsier, Journalist und Gerke auf der
Realitätsskala eine Stufe untergeordnet,
ist nicht nur begierig, investigative
Reportagen zu schaffen, sondern
ebenso begierig, dem Realitätsprinzip
Marom R zu entkommen. Kurz: Der
Marazepam-Süchtige geht auf Entzug
und protokolliert das. Dafür erhält er
das Ferienhaus des Managers Patrick
Esnèr, der für die französische
Schlachterei-Kette Frères Milaut arbeitet.
Unerhört eigentlich – schließlich
schrieb Toirsier eigentlich einen
kritischen Artikel über den Alltag in
Schlachthäusern und damit auch über
den charismatischen wie perversen
Patrick Esnèr. Aber eine investigative
Arbeit überstrahlt die andere und
am Ende bleibt Marom das leitende
Prinzip für Toirsiers Körper und eben
auch für dessen handelnden Geist.
Journalist Toirsier wird am Ende des
Romans seine Schlachthofreportage
noch einmal aufgreifen und erkennen,
wie sehr sein Entzug mit dem
Erleben einer industriellen Tötung
zusammenhängt. Marom R erfüllt das
tiefe Bedürfnis eines Menschen, wieder
bei sich sein können, ohne Niedertracht,
Angst und Depressionen,
eigentlich ein tierhaftes Bewusstsein,
zumindest eins von grenzenloser Naivität.
Dass der Entzug hingegen in die
grellen Schlachthäuser, zur tödlichen
Rationalität menschlichen Handelns
führt, kann man konsequent nennen.
Nur ist es eine Perspektivfrage.
Tödliche Rationalität gibt es auch
unter dem Einfluss der Droge Marazepam,
sie wird als solche nur nicht
erkannt, vielmehr verklärt. Ein Beispiel
dafür gibt die linksterroristische
Organisation „A.N.N.E.“ („Advanced
Neo Nazi Extermination“), deren
Hauptvertreter im Roman, Thorsten
Kray, nicht nur ein effizienter Nazijäger,
sondern auch chronischer
Marom-Nutzer ist. Seine Opfer, Nazifunktionäre
im Osten Deutschlands,
werden mitleidslos liquidiert. Der fiktive
Wikipedia-Artikel zu A.N.N.E.
konstatiert eine „ungewöhnliche Präzision
und Kaltblütigkeit“, die mit
dem Drogenkonsum der Killer*innen
in Verbindung gebracht wird. Die Nazis
wiederum sehen von Kray nicht
viel. Ein Mann mit Sporttasche, der
schnell und treffsicher schießt und
sich ebenso schnell zurückzieht. Sich
selbst imaginiert Kray als „ziemlich
erfahrenen Frontkämpfer mit etlichen
nationalsozialistischen Skalps am
Gürtel“. Dieses Mal sind es die anderen,
die als Schlachtvieh enden. Es
scheint konsequent, dass sich gerade
der bekennende Nationalsozialist und
Memorandenschreiber Dr. Johannes
Bindig skeptisch gegenüber der Politisierung
durch Marazepam äußert.
Was Thorsten Kray nicht will, ist
ein Angriff auf die Winston Pharmaceutics,
den Urquell seiner geheimnisvollen
Kraft. Einen solchen
Anschlag schlägt ihm die Aktivistin
Dilek Karasu vor, die selbst abhängig
von Marazepam ist. Ihr geplanter Anschlag
auf Winston bedeutet jedoch
eine Kamikazeaktion. Der Angriff
auf den „kommerziell ausgebeuteten
wie ausbeutenden Kern“ scheint ihr
politisch sinnvoll, ein Leben ohne
Marom R ist für sie aber gleichbedeutend
mit dem Tod. Da kann sich
Karasu auch gleich beim Anschlag in
die Luft sprengen.
Alternative Neuroleptic Nonfictional
Entertainment
Dilek Karasu ist nicht nur systemkritische
Attentäterin, sondern auch Mitglied
einer Vereinigung, die sich vor
allem auf Spaß versteht. Die „GRF“
(noch ein Kürzel, das für „Gesellschaft
Rationaler Frauen“ steht) ist
nicht nur eine „semi- bis vollmilitante“,
sondern auch eine „außergewöhnlich
humorvolle Geheimorganisation“.
Humorvoll bleibt eben,
worüber der einzelne Mensch lacht:
In diesem Fall ist es der Weltuntergang,
mit dem die GRF schließlich
liebäugelt. Zumindest für die maromsüchtige
Dilek Karasu ist dieser
gleichbedeutend mit dem Ende der
Herrschaft von Marom.
Bis dahin aber darf gelacht werden.
Schließlich ist Christoph Höhtkers
Roman nicht nur überdreht düster,
sondern auch überdreht lustig. Viele
Fußnoten sabotieren die Aussagen
der Protagonist*innen, ziehen spöttisch
über deren Ideale her und machen
letztlich deren absolute Relativität
in einer Welt deutlich, in der ein
Medikament über Sein und Nicht-
Sein entscheidet. Dass sich in dieser
willkürlichen Welt ein Arbeitsloser
und Süchtiger als großer Geschichtenerzähler
hervortut, mag da nicht
überraschen. Joachim A. Gerke ist
schließlich auch der, der die Relativität
allen Geschehens erkennt und für
den Roman spöttisch skurrile Titel
wie „Pharmageddon“ entwirft.
Besonders souverän erscheinen die
Frauenfiguren des Romans. Gerade
die, freilich ironisch betitelte, „Gesellschaft
Rationaler Frauen“ macht sich
über die durchrationalisierte Welt der
Marom-süchtigen Menschen lustig.
In einem, vermutlich von Dilek Karasu
verfassten Schreiben erscheint das
Kürzel „A.N.N.E.“ als „Alternative
Neuroleptic Nonfictional Entertainment“.
In Karasus spöttischem Blick
wird nicht nur die weltrettende Nazijagd
der eigentlichen A.N.N.E. in
ihrer Bedeutung fragwürdig, sondern
auch deren Realitätsgehalt in einem
Roman, der nicht nur eine Ebene der
Wirklichkeit kennt. Ist nicht alles
vermeintlich Wahre bloß Entertainment?
Dem destruktiven Geschehen
endgültig enthoben bleiben die vielen
lakonisch abgefassten Fußnoten und
die Spötteleien des Joachim A. Gerke.
Er ist der, der als letzter lacht, wenn
sich die Schleuse zum Schlachthaus
schließlich öffnet. Er bleibt auch der
einzige, der seine armselige Existenz
als Suchtkranker unumwunden anerkennt
und seinem abhängigen Körper
ohne Widerstand das Futter genehmigt,
das alles wieder gut macht. Wer
sich mit der Realität Marom vereinigt,
darf ein glückliches Schwein
sein. Ein Schwein, das untergeht und
überlebt.
Christoph Höhtker, „Schlachthof und
Ordnung“, weissbooks 2020.
Fabian Lutz
6 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
Mentoring macht´s möglich!
Unterstützung für den Einstieg als Lehrkraft in die berufliche Schule
W
ie melde ich mich für
den anstehenden Vorbereitungsdienst
an?
Welche Regeln gelten
für das 52-wöchige Betriebspraktikum?
Wie kann ich mich mit ehemaligen
Lehramtsstudierenden
und Lehrkräften von beruflichen
Schulen vernetzen? Wie sieht der
konkrete Arbeitsalltag von Lehrkräften
aus? Welches Schulmaterial
gibt es in meinem Fach?
Fragen über Fragen, welche die Masterstudierenden
der Pädagogischen
Hochschule Freiburg, die im Januar
2022 in den Vorbereitungsdienst an
beruflichen Schulen gehen, derzeit
bewegen. Antworten erhoffen sie
sich vom Mentoring im Höheren
Lehramt an beruflichen Schulen und
haben sich deswegen als Mentees für
die Staffel im Sommersemester 2021
angemeldet.
Start mit Schulung der Mentees
und Auftakt
Mitte März 2021 ging die Sommersemesterstaffel
des Mentorings
mit einer Schulung der Mentees
und der Auftaktveranstaltung an
den Start. Der Rektor der Pädagogischen
Hochschule Freiburg, Prof.
Dr. Ulrich Druwe, Prof. Dr. Andy
Richter, Studiengangleiter und die
Mentoring-Koordinatorin Simone
Judith Fesenmeier begrüßten die
anwesenden Mentor*innen und
Mentees. Es ist das erste Mal, dass
Auftakt des Mentoring im Sommersemester 2021
Masterstudierende der Kooperationsstudiengänge
in gewerblichtechnischen
Fächern für das berufliche
Lehramt der Pädagogischen
Hochschule Freiburg und der Hochschule
für Angewandte Wissenschaften
Offenburg mit Lehrkräften bzw.
Referendar*innen aus beruflichen
Schulen als Mentor*innen vernetzt
werden. Dem Mentoringteam gelang
es, für alle Mentees, die sich dafür
angemeldet hatten, einen passenden
Mentor zu finden.
„Wir wollen junge Menschen für
die Tätigkeit als Berufsschullehrer*innen
begeistern und sie
auf diese Möglichkeit aufmerksam
machen“, so Rektor Ulrich Druwe.
Dies zu erreichen, hat sich die Pädagogische
Hochschule Freiburg
mit dem Projekt „FACE - Berufliches
Lehramt“ zum Ziel gesetzt. Es
wird im Rahmen der gemeinsamen
„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“
von Bund und Ländern aus Mitteln
des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung gefördert. Seit
vielen Jahren werden landes- und
bundesweit händeringend Berufsschullehrkräfte
gesucht. Die Berufschancen
der Studienabgänger*innen
sind also exzellent. Hinzu kommt die
Möglichkeit einer Verbeamtung und
damit eines sicheren Arbeitsplatzes.
Das Mentoring ist Teil dieses Projekts
und unterstützt die angehenden
Lehrkräfte.
Die Bereitschaft von Berufsschullehrer*innen
und Referendar*innen,
die jungen Nachwuchskräfte zu unterstützen,
ist zur Freude der Mentees
sehr hoch. Detlef Sonnabend,
Berufsschullehrer und Fachbereichsleiter
an der Richard-Fehrenbach-
Gewerbeschule in Freiburg und einer
der Mentoren bringt es auf den
Punkt: „Ich möchte mithelfen, mehr
Berufsschullehrkräfte zu gewinnen.“
Er selbst ist nach mehrjähriger Tätigkeit
in der Industrie in den Schuldienst
eingetreten und sieht es als
seine Aufgabe, junge Menschen in
ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Wobei genau unterstützt das Mentoring
die Studierenden?
Das Mentoring will den Masterstudierenden
helfen, sich gezielt auf den
anstehenden Vorbereitungsdienst und
den Berufseinstieg vorzubereiten.
Sie können ein Semester lang ihre
persönlichen Fragen an ihren zugeteilten
Mentor richten und erhalten
dabei persönliche und fachliche Unterstützung.
Auf Wunsch der Mentees
fand gleich zu Beginn der erste
Workshop statt: „Einblicke in den
Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg
Vorbereitungsdienst an beruflichen
Schulen“. Die anwesenden Bachelor-
und Masterstudierenden der Kooperationsstudiengänge
erhielten einen
umfassenden Überblick über die
Anmeldung und den Ablauf des Vorbereitungsdienstes.
Im Juni wird es
einen weiteren Workshop zum Thema
„Umgang mit herausforderndem
Verhalten im Unterricht“ geben.
Wer kann beim Mentoring mitmachen?
Das Mentoring richtet sich explizit an
Studierende der Kooperationsstudiengänge
in gewerblich-technischen Fächern
für das berufliche Lehramt zwischen
der Pädagogischen Hochschule
Freiburg und der Hochschule Offenburg.
Die Studierenden können im
Laufe des Studiums in verschiedenen
Rollen am Mentoring teilnehmen:
als Mentees im 3. Semester, wenn
sie neu an der Pädagogischen Hochschule
starten; als Mentor*innen im
höheren Semester, um die Mentees zu
unterstützen; als Masterstudierende
können sie sich mit Lehrkräften und
Referendar*innen verbinden lassen.
Information zum Mentoring und Anmeldung:
Simone Judith Fesenmeier, M.A.
simone.fesenmeier@ph-freiburg.de
0761 / 682 – 757
www.face-freiburg.de/praxis/mentoring/
Information zu den Kooperationsstudiengängen:
Prof. Dr. Andy Richter
andy.richter@ph-freiburg.de
0761 / 682 - 650
Simone Judith Fesenmeier, M. A., ist
Koordinatorin Mentoring und Marketing
im Projekt „FACE - Berufliches
Lehramt“ an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Wirksamer Fachunterricht
Wann ist Unterricht an Schulen erfolgreich?
D
er Unterricht an unseren
Schulen ist dann erfolgreich,
wenn er alle
Schüler*innen tatsächlich
erreicht. In diesem Fall sprechen wir
von einem wirksamen Unterricht.
In den letzten Jahren tauchte immer
wieder die Frage auf, was Lehrkräfte
können müssen, um ihren Unterricht
wirksam werden zu lassen. Eine Antwort
auf diese Frage ist, wie immer
in der Wissenschaft, nicht ganz einfach.
Über längere Zeit hat man sich
am Mathematikunterricht orientiert.
Zahlreiche Studien zeigten auf, wann
Mathematikunterricht erfolgreich ist
und was die Lehrkräfte dazu beitragen:
Erfolgreiche Lehrkräfte gestalten
ihren Mathematikunterricht so,
dass sich die Schüler*innen zu jedem
Zeitpunkt des Unterrichts durch die
Lehrkraft gut geführt fühlen (effektive
Klassenführung), die Schülerinnen
und Schüler kognitiv aktiviert
sind (kognitive Aktivierung) und sich
von ihrer Lehrkraft unterstützt fühlen
(konstruktive Unterstützung).
Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen
ist nun der Frage
nachgegangen, ob diese drei Faktoren
tatsächlich auch für alle Schulfächer
gemeinsam gelten können. Um dies
herauszufinden, müsste man, ähnlich
wie man das schon vor Jahren für den
Bachelor-Studium
WIRTSCHAFTS-
PSYCHOLOGIE
Mathematikunterricht durchgeführt
hatte, testen, welche Maßnahmen im
Unterricht zu guten Lernergebnissen
führen. „Das war schon für den Mathematikunterricht
eine wichtige, aber
aufwendige Aufgabe“ meint Professor
Markus Wilhelm, Leiter des Instituts
für Fachdidaktik Natur, Mensch, Gesellschaft
(IF NMG) an der Pädagogischen
Hochschule Luzern.
Es wäre ein enormer Aufwand, und
wir bräuchten Jahrzehnte, wollten wir
für alle Schulfächer testen, wie sich
das Handeln von Lehrkräften im Unterricht
tatsächlich auf den Lernerfolg
der Schüler*innen auswirkt. „Aus diesem
Grund haben wir zunächst einen
anderen Weg gewählt“, sagt Professor
Volker Reinhardt, Politikwissenschaftler
und Demokratiedidaktiker
an der Pädagogischen Hochschule
Freiburg. „Bis solche umfangreichen
Forschungsarbeiten erledigt wären –
man stelle sich vor, man müsste dies
für 15-20 Schulfächer durchführen –
wären die Ergebnisse zum Zeitpunkt
ihrer Veröffentlichung wahrscheinlich
bereits veraltet“, erläutert Professor
Markus Rehm, der Lehrkräfte für die
Naturwissenschaften an der Pädagogischen
Hochschule in Heidelberg
ausbildet.
Aus diesen Gründen haben die
drei Fachdidaktiker einen anderen
Welche Rolle spielt der
„Faktor Mensch“ in einer
digitalen Ökonomie?
Wie arbeiten interdisziplinäre
Teams effizient zusammen?
JETZT INFORMIEREN!
hs-offenburg.de/wp
NEU ab
Oktober
2021
Weg eingeschlagen: Für 17 Unterrichtsfächer
haben sie zusammen
mit Kolleg*innen insgesamt 306
Expert*innen nach den empirischen
Wirksamkeitskriterien ihres jeweiligen
Unterrichtsfaches befragt.
Aus den Antworten der Expert*innen
sind 17 Buchbände entstanden: „Jeder
Buchband widmet sich einem
Unterrichtsfach, vom Wirksamen
Englischunterricht, über den Wirksamen
Musikunterricht bis hin zum
Wirksamen Politikunterricht, um nur
drei der bislang 17 ausgewählten Fächer
zu nennen. So dokumentieren die
17 Bände einheitlich über alle Fächer,
was die Wirksamkeit des jeweiligen
Unterrichtsfachs ausmacht“, berichtet
Volker Reinhardt.
Nun können sich erstmals Lehrkräfte
aller Unterrichtsfächer ein umfassendes
Bild davon machen, welche
Metaband
Wirksamkeitskriterien nach der begründeten
Auffassung von Expert/-
innen aus Schulpraxis, Wissenschaft
und Lehrerbildung für ihr jeweiliges
Fach gelten. „Sicher wäre das Testen
der Schülerinnen und Schüler in allen
Fächern eine noch aussagekräftigere
Methode gewesen, um Rückschlüsse
auf die Wirksamkeit des Unterrichtshandeln
ihrer Lehrkräfte zu erhalten“,
merkt Markus Rehm kritisch an.
„Aber die Ergebnisse unserer Metastudie
zeigen dennoch deutlich auf,
welche Wirksamkeitskriterien den
Schulfächern gemeinsam sind und
welche individuell nur für ein, zwei
oder drei Fächer gelten“, berichtet
Markus Wilhelm.
Um einen Überblick über alle Befunde
zu ermöglichen, folgte auf die
17-bändige Buchreihe nun noch ein
Metaband, der die Ergebnisse aller
Fächer zusammenführt, durch komparative
Analysen Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der einzelnen Unterrichtsfächer
mit einem Fokus auf
deren Wirksamkeit herausarbeitet und
die Kernaussagen der umfangreichen
Expert*innenbefragung dokumentiert:
Die Merkmale für einen qualitätsvollen
Mathematikunterricht gelten
nicht für alle Fächer gleich.
Dennoch gibt es keine Wirksamkeitskriterien,
die lediglich für ein einzelnes
Schulfach gelten.
Vielmehr lassen sich bestimmte Fächergruppen
identifizieren, die sich
gemeinsame Wirksamkeitskriterien
teilen, wie zum Beispiel die Fächergruppe
Biologie, Chemie, Physik,
Wirtschaft, Politik und der Sachunterricht.
Es lässt sich aufzeigen, in welchen
Fachgruppen Lehrkräfte voneinander
lernen können: So können Lehrkräfte
für den Chemie- und Physikunterricht
von Kolleg*innen des Fremdsprachenunterrichts
lernen.
Es gibt aber auch Merkmale, die alle
Fächer verbinden: z.B. Üben im Unterricht.
Das ist für alle Schulfächer
wichtig! Aber hier werden unterschiedliche
Schwerpunkte gesetzt:
Lehrkräfte für den Mathematik- sowie
für den Deutschunterricht haben hier
ganz ähnliche Aufgaben, während die
gesellschaftswissenschaftlichen Fächer
gemeinsam mit der Biologie andere
Schwerpunkte für das Üben im
Unterricht setzen.
All dies interpretieren wir als einen
Hinweis auf die Notwendigkeit einer
allgemeinen Fachdidaktik.
Eine allgemeine Fachdidaktik muss
das Verbindende und das Trennende,
also das Transversale über alle Fächer
hinweg herausarbeiten.
Das vorliegende Buch- und Forschungsprojekt
„Wirksamer Fachunterricht“
ist noch nicht abgeschlossen:
Einerseits werden Expert*innen zu
vier weiteren Fächern interviewt und
andererseits wird die begonnene Forschung
an den 306 Expertinnen- und
Experteninterviews vertieft.
Prof. Dr. Volker Reinhardt ist Professor
am Institut für Politik- und
Geschichtswissenschaft der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 7
Reuse, repair, refuse, reduce, recycle!
Pandemie trifft Umweltschutz
Im Gespräch: Prof. Dr. Katja Maaß – Direktorin des Internationalen Zentrums für MINT Bildung
an der Pädagogischen Hochschule Freiburg
Katja Maaß: Die Arbeit auf Augenhöhe
mit Expert*innen und das
Einbringen eigener Ideen sind für
die Schüler*innen essentiell. Und
praxisrelevante und alltagsbezogene
Themen, die generell bei unserer
Arbeit bei ICSE zentral sind,
motivieren enorm. Die im Auftrag
des Umweltbundesamtes und vom
Institut für ökologische Wirtschaftsforschung
(IÖW) durchgeführte
Studie „MINT the gap“ hat beispielsweise
gezeigt, dass das Thema
Umweltschutz bestens dazu dienen
kann, das Interesse junger Menschen
an MINT-Berufen zu wecken. Und
das ist als Internationales Zentrum
für MINT-Bildung natürlich immer
unsere übergeordnete Mission: Wir
wollen Kinder und Jugendliche für
MINT-Fächer begeistern!
UNIversalis: Wir bedanken uns für
Ihre Ausführungen.
S
chulen öffnen für Umweltthemen
– und dies
in Zeiten der Pandemie.
Bei der Aktion #freiburgprotectstheplanet
werden
Kleinprojekte zwischen Schulen,
Bürger*innen und Expert*innen
in und um Freiburg rund um die
Themen Abfall und Energie initiiert.
Ein Gespräch mit Prof. Dr.
Katja Maaß, Direktorin des Internationalen
Zentrums für MINT-
Bildung an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg.
UNIversalis: Frau Maaß, von wem
wurde #freiburgprotectstheplanet
ins Leben gerufen?
Katja Maaß: Die Aktion läuft im
Rahmen des internationalen EU-
Projekts MOST (Meaningful open
schooling connects schools to
communities), in dem innovative
Projekte zum Umweltschutz initiiert
werden. In diesem Jahr geht es
dabei konkret um Abfallreduktion
bzw. -vermeidung. Im Jahr 2022
wird das Thema Energie im Fokus
stehen. MOST wird von uns, dem
International Centre for STEM Education
(ICSE, internationales Zentrum
für MINT-Bildung an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg),
koordiniert; vor Ort sind noch die
Stadt Freiburg sowie die Walther-
Rathenau-Gewerbeschule Projektpartnerinnen.
UNIversalis: Es klingt herausfordernd,
ein solches Projekt während
einer weltweiten Pandemie zu starten.
Katja Maaß: Wir haben uns bewusst
dafür entschieden, die Aktion
trotz oder gerade wegen der Pandemie
zum jetzigen Zeitpunkt zu
initiieren. Medizinische Masken am
Straßenrand und Mittagessen to go
aus der Plastikbox sind überall präsent
und Umweltschutz ist dadurch
wichtiger denn je – gleichzeitig sind
wir aber alle von Social Distancing
und Kontaktbeschränkungen betroffen.
MOST kann hier eine tolle Gelegenheit
sein, mit anderen in Kontakt
zu kommen, sich zu vernetzen
und gleichzeitig etwas gegen akute
Umweltprobleme zu unternehmen.
UNIversalis: Wie können wir uns
die Projekte konkret vorstellen?
Katja Maaß: Bei #freiburgprotectstheplanet
können sowohl Familien
als auch Lehrer*innen mit Schulklassen
teilnehmen. Wichtig ist, dass
sich dabei sowohl die Familien als
auch die Klassen jeweils noch mit
anderen Akteur*innen zusammenschließen
– das können zum einen
Expert*innen aus dem Bereich Umweltschutz,
zum anderen aber auch
einfach interessierte Bürger*innen
sein. Nur wenn Menschen aus möglichst
vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen
gemeinsam innerhalb
der Projekte arbeiten, kann auch das
Ziel erreicht werden, dass die Lösungen
bzw. Empfehlungen, die aus
den Projekten resultieren, anschließend
von einer breiten Masse der
Bevölkerung mitgetragen werden.
UNIversalis: Der Mehrwehrt von
MOST ist demzufolge der interdisziplinäre
und multiperspektivische
Ansatz?
Katja Maaß: Genau. Innovative
und spannende Projekte im Bereich
Umweltschutz gibt es viele. Das
Besondere an MOST ist aber, dass
so viele unterschiedliche Menschen
zusammenkommen und ihre Expertise,
Erfahrungen und Ideen einfließen
lassen. Wichtig ist uns, dass
der Austausch partizipatorisch und
gleichberechtigt geschieht: Der ganze
Prozess, bei der Themenfindung
angefangen, geschieht gemeinsam,
was natürlich auch extremes Begeisterungs-
und Motivationspotential
hat.
UNIversalis: Wie geht es nach der
Themenfindung weiter?
Katja Maaß: Nachdem sich die Familie
oder die Lehrkraft mit anderen
Expert*innen vernetzt hat, wenn also
sozusagen die Projektgruppe zusammengefunden
und sich gemeinsam
überlegt hat, an welchem Thema
sie arbeiten möchte, startet das sogenannte
SCP (school-communityproject).
Die Gruppe überlegt sich
innerhalb ihres Arbeitsthemas verschiedene
Handlungsalternativen,
probiert diese selbst aus, stellt Vergleiche
an und erarbeitet anschließend
Lösungsansätze und Empfehlungen,
die zum Schluss verbreitet
werden, um die Projektergebnisse in
der Gesellschaft zu implementieren.
UNIversalis: Die Implementierung
der Handlungsempfehlungen ist also
das eigentliche Ziel der Aktion.
Katja Maaß: Richtig, die Projekte
sollen kein Selbstzweck sein. Wir
wollen möglichst viele Menschen
aus möglichst unterschiedlichen
Bevölkerungsgruppen zu ähnlichen
Aktionen inspirieren, um ein nachhaltiges
und dauerhaftes Um- und
Neudenken der Bevölkerung in Bezug
auf Umweltschutz zu erreichen.
UNIversalis: Können Sie uns ein
Beispiel nennen?
Katja Maaß: Die Reduzierung von
Plastikmüll ist ja beispielsweise
nach wie vor ein zentrales Thema.
Festes Shampoo statt Plastikspender,
Stoffbeutel statt Plastiktüte,
FreiburgCup statt Wegwerfbecher,
Lebensmittel lose und unverpackt
einkaufen – es gibt endlose Möglichkeiten
für Groß und Klein, aktiv
den eigenen Plastikverbrauch zu reduzieren
und anderen auch mitzuteilen,
was sich gut umsetzen lässt und
was schwieriger ist.
UNIversalis: Da entstehen mit Sicherheit
auch viele Anwendungen
für naturwissenschaftliche Themen.
Katja Maaß: Ja, ständig und ganz
nebenbei! Allein beim Thema Coffee-to-go-Becher
verstecken sich
viele MINT-Fächer. Wie viel kostet
eigentlich so ein Becher in der
Herstellung, woraus besteht er, wie
viele solcher Becher landen pro Jahr
in unseren Meeren? Welche ökologische
Bedeutung hat das? Mathematische
Modellierung, chemische
und physikalische Prozesse beim
Recycling, die Bedeutung von Biodiversität
– das alles sind lehrplanrelevante
Themengebiete.
UNIversalis: Die Vernetzung der
school-community-projects untereinander
kann da sicherlich auch
sinnstiftend sein.
Katja Maaß: Umweltschutz und
MINT-Bildung leben von Vielfalt!
Wie man an der vermeintlich simplen
Frage nach einem Wegwerfoder
Mehrwegbecher merkt, treffen
beim Thema Umweltschutz so viele
verschiedene Disziplinen aufeinander.
Und natürlich gehen auch die
Interessen auseinander. Während
die einen einfach nur Müll vermeiden
wollen, stehen zum Beispiel die
Anbieter*innen von Kaffee auch
vor Fragen der Wirtschaftlichkeit
und der Kundengewinnung. Es ist
also nicht immer leicht, Lösungen
zu finden. Daher ist es zum einen
wertvoll, wenn sich SCPs mit ähnlichen
Themen (auch international)
untereinander vernetzen – aber auch,
wenn innerhalb eines SCPs unterschiedliche
Sichtweisen und Expertisen
einfließen.
UNIversalis: Das muss gegenwärtig
vermutlich alles online stattfinden.
Katja Maaß: Ja, die Treffen können
über Online-Konferenztools stattfinden,
was natürlich den großen
Vorteil hat, dass auch Akteur*innen
angefragt werden können, die sonst
aufgrund räumlicher Distanz nicht
teilnehmen könnten. Und die Ergebnisse
der Projekte können und sollen
beispielsweise über Social Media
verbreitet werden. Erfahrungemäß
lassen sich Schüler*innen davon
Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg
auch schnell begeistern und bringen
ganz eigene, kreative und innovative
Strategien mit.
UNIversalis: Das klingt so, als ließen
sich Kinder und Jugendliche
schnell für #freiburgprotectstheplanet
begeistern.
Sprachenkolleg für ausländische Studierende
Das Sprachenkolleg für ausländische
Studierende ist eine Einrichtung der
Erzdiözese Freiburg, an der seit über
50 Das Jahren Sprachenkolleg Deutsch für ausländische für ausländische
Studierende auf ist den eine Niveaus Ein-
Studienbewerber
A1-C1 richtung unterrichtet der Erzdiözese wird. Qualifizierte,
an motivierte der seit über und 50 zugewandte Jahren Deutsch Lehr-
Freiburg,
kräfte für ausländische mit Erfahrung Studienbewerber
und Freude
am auf Beruf den Niveaus unterrichten A1-C1 hier unterrichtet
wird. 150 Studentinnen Qualifizierte, und motivierte Studen-
pro Kurs
etwa
ten und verschiedener zugewandte Nationalitäten, Lehrkräfte mit Religionen
Erfahrung und und Weltanschauungen Freude am Beruf und
bereiten unterrichten diese auf hier die pro Sprachprüfung Kurs etwa
an 150 den Studentinnen Universitäten und (DSH) Studenten oder auf
die verschiedener Aufnahmeprüfung Nationalitäten, an den Studienkolleggionen
und vor. Weltanschauungen Das Sprachenkolleg und ar-
Relibeitet
bereiten eng mit diese dem auf Sprachlehrinstitut
die Sprachprüfung
Albert-Ludwigs-Universität an den Universitäten (DSH) Frei-
der
burg oder zusammen, auf die Aufnahmeprüfung
mit der seit 1973
eine an den Kooperation Studienkollegs besteht. vor. Das
Als Sprachenkolleg Einrichtung mit arbeitet kirchlicher eng Trägerschaft
dem Sprachlehrinstitut gehört im Sprachenkolleg-
der Albert-
mit
neben Ludwigs-Universität dem intensiven Spracherwerb
Freiburg zusammen,
ein ansprechendes mit der seit Freizeit- 1973 eine und
auch
Kulturangebot Kooperation besteht. zum Programm. Bei
schulinternen Als Einrichtung Veranstaltungen mit kirchlicher Trägerschaft
Ausflügen gehört in im die Sprachenkol-
Umgebung,
und
Feiern,
Projekten leg neben und dem öffentlichen intensiven Spracherwerb
auch wie z. ein B. ansprechendes
Konzerten und
Veranstaltungen,
Ausstellungen, Freizeit- und laden Kulturangebot wir zum Kennenlernen
Programm. und Bei Deutschsprechen schulinternen Ver-
ein.
zum
Unser anstaltungen Freizeitangebot und Feiern, findet, Ausflügen sobald
es in die die Pandemielage Umgebung, und Projekten die Hygienevorschriften
öffentlichen Veranstaltungen, erlauben, wieder wie in
und
vollem z. B. Konzerten Umfang statt. und Ausstellungen,
Das Sprachenkolleg
laden befindet wir zum sich Kennenlernen im Freiburger und
Ortsteil Deutschsprechen Littenweiler ein. im Grünen, neben
Das der Sprachenkolleg Thomas-Morus-Burse, befindet und
bietet sich im mit Freiburger Gruppenräumen, Ortsteil Kalli- Lit-
Mehr Infos und Anmeldung: https://
icse.ph-freiburg.de/freiburgprotectstheplanet/
Das Gespräch führte Helga Epp,
Leiterin der Stabsstelle Presse &
Kommunikation an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg
Anzeige
graphieraum, Musikraum, Teeküche,
Tischkicker, Vorführraum und Foyer
Möglichkeiten zur Begegnung außerhaltenweiler
des im Unterrichts. Grünen, neben Wenn der es
die Thomas-Morus-Burse, Coronavorschriften und erfordern, bietet
findet mit Gruppenräumen, unser Unterricht in Kalligraphieraum,
und Musikraum, auf gleichem Teeküche, Niveau
gleichem
Umfang
online Tischkicker, statt. Wenn Vorführraum Präsenzunterricht und Foyer
Möglichkeiten erlaubt ist, zur wird Begegnung er unter
behördlich
Einhaltung außerhalb des eines Unterrichts. bewährten Hygienekonzepts
Das Sprachenkolleg in Kleingruppen wird mit sowohl Abstand
von der gehalten. Erzdiözese Das Sprachenkolleg
als auch vom
wird Land sowohl Baden-Württemberg von der Erzdiözese gefördert.
vom Zusätzlich Land Baden-Württemberg
besteht für Ge-
als
auch
gefördert. flüchtete, Zusätzlich die sich besteht sprachlich für Geflüchtete,
ein Studium die sich in Deutschland sprachlich auf vor-
ein
auf
Studium bereiten in wollen, Deutschland die Möglichkeit,
vorbereiten
wollen, sich um die ein Möglichkeit, Stipendium sich zu um bewerben.
Anfragen zu bewerben. hierzu bitte Anfragen direkt an
ein
Stipendium
hierzu die Direktion. bitte direkt an die Direktion.
Wir Wir freuen freuen uns uns auf auf Ihren Ihren Besuch! Besuch!
Sprachenkolleg für ausländische Studierende
8 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
Rosengarten des Widerstands
Jenny Odell schreibt über das „Nichts tun“ als politischen Akt. Tatsächlich eine echte Herausforderung
D
ie Künstlerin und Autorin
Jenny Odell hat ein
Buch über das „Nichts
tun“ geschrieben. Ein
überraschend politisches Bekenntnis
zum Abseitsstehen und
der aufmerksamen Neuentdeckung
des eigenen Umfelds. Am
Ende wird überdeutlich: Was die
enorme Einflussnahme der Medien
auf unser Bewusstsein am
ehesten bricht, ist der Blick auf
den Boden, auf dem wir stehen.
„Ich ging in dieses Buch hinein und
kam als eine andere heraus. Betrachten
Sie es also nicht als abgeschlossene
Informationsübermittlung,
sondern stattdessen als offenen und
ausgedehnten Essay […]. Es ist weniger
ein Vortrag als die Einladung
zu einem Spaziergang.“ Bücher sind
oft Einladungen in andere Welten,
nur nicht immer im Sinne einer positiven
Erfahrung: Oft stehen Konflikte
im Mittelpunkt, Konflikte, die
unruhig machen, darin aktivieren,
packen, fesseln, einnehmen. Jenny
Odells „Essay“ hingegen lädt zunächst
dazu ein, „Nichts [zu] tun“.
Und doch beschreibt es seinen
Konflikt bereits im Untertitel: „Die
Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie
zu entziehen“. Klingt anstrengend.
Ein Spaziergang durchs
Dickicht also?
Jenny Odells ausgedehnter Spaziergang
beginnt inmitten eines
Parks, dem Morcom Amphitheatre
of Roses in Odells Heimatstadt Oakland,
Kalifornien. Der „Rosengarten“,
wie sie ihn nennt, ist kein quadriertes
Rasenfeld, das man geordnet
abschreiten kann, sondern ein
im besten Sinne unwegsamer Ort.
Der Weg ist unstet, führt zwischen
Pflanzen und Tieren an andere Orte
und durchbricht damit den Alltag,
der uns allzu oft in Routinen verstrickt.
Wer den Rosengarten betritt,
wird zum aufmerksamen Entdecken
aufgefordert. „Nichts tun“ bedeutet
für Jenny Odell keinen Nicht-Zustand,
sondern die Kapazität, aufmerksam
auf sich, seine Umgebung
und damit Natur und Mitmenschen
zuzugehen. Und dieses Zugehen
bedeutet Bewegung, einen Spaziergang
als echte Aktion. Entsprechend
gliedert sich Odells Buch über die
verschiedenen Bewegungsarten, die
das „Nichts tun“ vorgeben kann.
Wir erfahren vom Ausstieg aus dem
Arbeitstrott, vom weit allgemeineren
Ausstieg des Menschen aus der
innerlichen Routine und, wieder
simpler, zu einer Bewegung hin
zum Boden, auf dem der Mensch
in diesem Moment steht. All diese
Bewegungen verlangen Kraft und
Ausdauer. Beides Elemente, die
uns das durchrationalisierte Design
moderner Technologien gerne
ersparen und uns auf diese Weise
einnehmen möchte. „Aufmerksamkeitsökonomie“
erscheint bei Odell
als gezielter Versuch, den Menschen
in moderne, kapitalistische
Arbeitskreisläufe einzubinden und
ihn so von sich selbst, seinen Mitmenschen,
der Natur, kurz, seiner
Umwelt zu isolieren. Dabei benötigt
eine Umwelt, die durch Umweltverschmutzungen
und Menschrechtsverletzungen
geprägt ist, dringend
wertschätzende Aufmerksamkeit.
„Nichts“ als Widerstand
Jenny Odells Analysen moderner
kapitalistischer Wirtschaftsmodelle
dürften vielen Menschen mittlerweile
bekannt vorkommen. Sie bilden
die Folie, vor der sich Odells
kreative Neubesinnung abzeichnet.
Längst bedeutet Teil eines kapitalistischen
Systems zu sein nicht mehr
bloß der tägliche Einkauf oder die
Selbstvermarktung auf dem Arbeitsmarkt.
Bereits die Nutzung von
Online-Plattformen wie Facebook
oder Instagram zur Zurschaustellung
der Marke „Ich“ befeuert kapitalschwere
Konzerne. Und auch
jenseits wirtschaftlicher Analysen
hat das unmittelbare Folgen. Denn
wo die verbrachte Zeit auf Social
Media zu produktiv genutzter Zeit
wird, wird Zeit eine „ökonomische
Ressource, die wir nicht länger guten
Gewissens mit ‚nichts‘ vertun
können. Das bringt keine Rendite;
es ist einfach zu teuer.“ Für Odell
eine grausame Vorstellung. Hier
stößt ihr Appel hervor, Zeit und
auch Raum wieder für unwirtschaftliche,
weniger selbstentfremdende
Formen des Seins zu gewinnen. Ein
nicht kapitalistisch verwertbares
Sein und alle damit verbundenen
Menschen, Räume, Zeiträume ist
politischer Widerstand.
Kehren wir dazu zum Rosengarten
zurück. Was zunächst wie ein
unscheinbares Fleckchen Grün und
damit als Inbegriff unpolitischer
Harmlosigkeit anmutet, kennt
eine Geschichte des Widerstands.
Inmitten der Stadt Oakland gelegen,
ist der Rosengarten findigen
Investor*innen und ihrem Ideal der
Nutzbarmachung jeder Fläche ein
echtes Ärgernis. Nur der vehemente
Widerstand der Anwohner*innen,
um diese Fläche für Muße, Nichtstun,
der Entstehung von Natur beizubehalten,
konnte diesen Park vor der
Zerstörung bewahren. Seine Pflege
wird von Ehrenamtlichen übernommen.
Sie und die Anwohner*innen
vereint ein Bedürfnis nach solchen
Muße-Räumen, die auch Zeiträume
eröffnen, in denen man schlicht erst
einmal mit sich selbst und der Natur
sein kann. Der Park wird zum
Akteur eines Widerstands und fügt
sich damit neben diverse Modelle
und Figuren des widerständigen
„Nichts Tuns“, die Odell auf ihrer
schlaglichthaften Reise vorstellt.
Prominent erscheinen darunter
der alte griechische Philosoph
Diogenes und Herman Melvilles
berühmter Angestellter Bartleby
(eine Figur aus der Kurzgeschichte
Bartleby, der Schreiber). Diogenes
übte frühe Performances der Verweigerung
und brach damit immer
wieder gesellschaftlich-automatisierte
Prozesse auf. Als die Korinther
durch eine Belagerung der
Makedonen bedroht waren und alle
in eiligste Kampfvorbereitungen
verfielen, rollte der alte Weise nur
mit Schwung sein Fass. Auf die
Frage, warum er das tue, antwortete
er nur: „Nur damit ich mir den
Anschein gebe, so geschäftig zu
sein wie ihr anderen.“ Melvilles
Bartleby wiederum erwidert auf die
vielen Arbeitsanfragen, die er als
Anwaltsgehilfe erhält, nur immer
wieder schlicht: „I would prefer not
to.“ Anders als die Generation der
60er proben beide Männer nicht den
Ausstieg aus der durchrationalisierten
Gesellschaft, sondern bleiben in
ihrer Mitte und in einem „permanenten
Zustand der Verweigerung“.
Schnell wird klar, wie radikal ihr
Widerstand wirkt, der im Grunde
nur ein sanftes Zurückweichen ist,
oder, wie Odell es räumlich fasst,
ein Abseitsstehen.
Aufmerksamkeit als Neuentdeckung
Haben wir erst einmal eine kritische
Distanz zu den automatisierenden
Prozessen der Gesellschaft gefunden,
gilt es, die Aufmerksamkeit auf
andere Dinge zu richten. Hier wirkt
der weite, raumgebende Begriff
des „Nichts tun“ äußerst produktiv.
Indem wir ein Gefühl für unsere
Umwelt, die Odell in all ihren Faktoren
als „Bioregion“ bezeichnet,
entwickeln, können wir nicht nur
in aufmerksame Verbindung mit
ihr treten, sondern auch Schäden,
Zerstörungen entdecken. Staudämme,
versiegelte Böden, abgeholzte
Bäume, zerstörte Grabmale von
Ureinwohner*innen, Vertriebene
aufgrund von Gentrifizierung oder
gar Genozid. Der genaue (Rück-)
Blick auf unser Umfeld ist nicht immer
der Blick auf den zauberhaften
Rosengarten, sondern auch auf eine
Umgebung, die durch Verschmutzung
oder Zerstörung geprägt ist.
Eine Homogenisierung solcher
Bereiche durch gedachte wie gelebte
Automatismen blockiert den
Blick auf solche Brüche in Raum
und Zeit. Erst wenn sie erkannt werden,
kann für sie Raum geschaffen
werden. Und dieses Raum-Schaffen
muss wie bei Diogenes, Bartleby
oder dem Rosengarten inmitten
der Stadt, aus der Mitte heraus geschehen.
Deshalb plädiert Jenny
Odell für keine Gesellschaftsflucht,
sondern für eine umsichtige Wiederherstellung
des gemeinsamen
Kontexts, „den wir verloren haben“.
Den Spaziergang sollten wir also
nicht allein unternehmen, sondern
mit unseren Mitmenschen und der
Natur.
Jenny Odell, „Nichts tun. Die Kunst,
sich der Aufmerksamkeitsökonomie
zu entziehen“, C.H. Beck 2021.
Fabian Lutz
Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 9
Pilgern und Postwachstumsökonomie
Im Gespräch: Dr. Detlef Lienau – Neuer Leiter der Evangelischen Erwachsenenbildung
W
ie sehen zeitgemäße
Bildungsprogramme
öffentlicher Einrichtungen
aus? Mit welchem
Profil positioniert sich die
Evangelische Erwachsenenbildung
im Verhältnis zu anderen
Anbietern in der Stadt? Martin
Flashar sprach darüber mit dem
Leiter der EEB Freiburg Dr. Detlef
Lienau.
UNIversalis: Lieber Herr Lienau,
seit wann arbeiten Sie in Freiburg?
Detlef Lienau: Seit zweieinhalb
Jahren leite ich die EEB Freiburg.
UNIversalis: Also die halbe Zeit
unter Pandemie-Bedingungen…
Detlef Lienau: Ich kenne die Stadt
fast nur mit Maske. Für mich lebt
Bildung aber vom direkten Austausch
und davon, an konkrete Orte
gehen zu können – sei es nach Florenz
oder in den Wald. Wie lassen
sich denn im Lockdown öffentliche
Debatten führen?
UNIversalis: Was waren Ihre beruflichen
und persönlichen Stationen
vorher?
Detlef Lienau: Von Haus aus bin
ich Pfarrer, dann kam ich zur Gründung
der christlichen Lebensgemeinschaft
„Kommunität Beuggen“
nach Südbaden, habe von
Religionsunterricht und Erwachsenenbildung
gelebt, in der Schweiz
kirchliche Bildungsarbeit bei „Mission
21“ betrieben – vor allem aber
promoviert und viel publiziert:
religiöse Erfahrung beim Pilgern,
religionssoziologische Aspekte von
Spiritualität… Lernen war schon
immer mein Thema.
UNIversalis: Ein Schwerpunkt bei
Ihnen ist das Pilgern?
Detlef Lienau: Ja, seit 20 Jahren
bin ich mit Gruppen unterwegs.
Menschen entwickeln sich selten
am Schreibtisch, sondern durch Erfahrungen.
Wir lernen von außen
nach innen: In einer irritierendungewohnten
Situation komme ich
aus den Gleisen des Gewohnten
und kann mich neu ausrichten.
Nirgendwo erlebe ich so intensive
persönliche Entwicklungen wie bei
meinen Pilgergruppen. Gelingendes
Leben braucht resonante Weltbezüge,
zwischen Mensch und Welt.
Bloß erkennendes Erschließen,
technisches Bearbeiten oder ökonomischer
Nutzen lassen die Welt
verstummen. Auch einseitiges Bäume-Spüren
oder Waldbaden führen
nicht weiter. Im Pilgern kommen
aktive und pathische Momente zum
Zug. Menschen werden gestärkt.
UNIversalis: Das klingt ein wenig
nach Taizé-Nostalgie und Kirchentags-Romantik
– was hat das mit
dem Lebensalltag junger Menschen
heute zu tun?
Detlef Lienau: Einspruch: Meine
Pilgerwanderungen sind herausfordernd.
Keine Flucht auf Zeit in
die Idylle heiler Natur und Landschaft.
Zwei Wochen mit Rucksack
und täglich 25 km, immer an der
frischen Luft und körperlich aktiv,
da erleben Sie sich anders. Was mir
wichtig dabei ist: Das wird durch
Sinnangebote – Geschichten, Bilder,
Gedanken – vertieft. So wirkt
es im Alltag weiter. Männerpilgern
nach Assisi und eine Nacht allein
im Wald – das machen auch Leute
unter 40.
UNIversalis: Sie stellen – auch in
Veröffentlichungen – einen Zusammenhang
zwischen Pilgern und
Klimaschutz her. Gibt es da mehr
zu sagen als die vordergründige Erkenntnis:
besser zu Fuß zu gehen,
anstatt ins Flugzeug zu steigen?
Detlef Lienau: Technische und
ethische Lösungswege gegen den
Klimawandel sind in ihrer Reichweite
begrenzt. Menschen ändern
ihr Verhalten nur, wenn sich auch
ihre Haltung ändert. Dafür braucht
es ein neues Mensch-Mitwelt-Verhältnis,
das spricht sich auch in der
Ökologie-Bewegung herum. Weder
idyllische Naturverklärung noch
technische Bearbeitung helfen weiter.
Wenn Sie sich beim Pilgern zwei
Wochen in der frischen Luft und in
der Landschaft aufhalten, kommt es
zu Selbstüberschreitungen. In qualitativen
und quantitativen Studien
kann ich zeigen, dass Natur- und
Körpereindrücke zentral für Pilger
sind. Wir brauchen auch Menschen,
die sich der Natur verbunden fühlen
und aus dieser Verbundenheit ökologisch
leben wollen.
Im Herbst haben wir den Postwachstums-Ökonomen
Niko Paech
bei der EEB zu Gast. Auch da geht
es darum, wie eine persönliche
Haltung des Verzichts eine sozioökonomische
Transformation der
Gesellschaft voranbringt.
UNIversalis: Was reizt Sie an der
Einrichtung „Evangelische Erwachsenenbildung“?
Detlef Lienau: Ich genieße viel
konzeptionellen Freiraum bei wenig
ökonomischem Druck, damit
Bildung wirklich am Menschen
orientiert ist. Die EEB kann auch
machen, was sich nicht rechnet,
was keinem Nutzenkalkül unterworfen
ist, aber dem Einzelnen und
der Gesellschaft nachhaltig guttut.
Die Geschichte der Frauenbildung
in Freiburg, Irakische Jesiden, Genderbewusste
Theologie, Anti-Rassismus-Training
und Gewaltfreie
Kommunikation, der Antisemitismusforscher
Wolfgang Benz mit
seinem Vortrag „Vom Vorurteil zur
Gewalt“ – ich finde das lauter wichtige
Themen.
Und wir haben spannende Schwerpunkte:
Männerarbeit, besonders
Wochenenden, bei denen sich Väter
mit ihren Kindern erleben. Familienbildung
von Erziehungsfragen
bis zum gemeinsamen Hüttenbau-
Wochenende. Im Bereich Kunst
organisieren wir jährlich vier Ausstellungen;
neu sind Studienreisen
mit Kindern.
UNIversalis: „Erwachsenenbildung“
klingt nach „60 +“ – haben
Sie im Programm auch Ansprachen
an Jüngere, zum Beispiel Studierende?
Detlef Lienau: Mir ist wichtig, Bildung
nicht zu verzwecken. Nicht
die für Karriere nutzbare Kompetenz
steht im Mittelpunkt, sondern
die Entwicklung der Persönlichkeit
und das Verstehen der Welt über
die eigene Disziplin hinaus. Dafür
nehmen sich manche Menschen
erst nach der Rushhour des Lebens
mit Familie, Berufseinstieg und Eigenheim
die Zeit. Wer besucht mit
30 Jahren einen Hölderlin-Lektürekurs?
Kann ich nachvollziehen
– und doch ist es wichtig, nicht
im Hamsterrad leerzulaufen. Jüngere
Erwachsene haben wir etwa
bei Väter-Kinder-Wochenenden,
Allein-im-Wald-Nächten und beim
Thema ökosoziale Transformation.
UNIversalis: Wie steht die EEB
zur Evangelischen Studierendengemeinde?
Bestehen da Kooperationen?
Detlef Lienau: Gerade im Bereich
ökosoziale Transformation und
Detlef Lienau
Gesellschaft gibt es gute Schnittmengen
mit der ESG. Wir haben
gemeinsam Joachim Gauck zum
Thema Toleranz geladen, was leider
zweimal der Pandemie zum Opfer
gefallen ist. Ich freue mich auch,
dass ich über einen Lehrauftrag an
der Evangelischen Hochschule mit
dieser Lebenswelt im Kontakt bleibe.
Nach wie vor forsche und publiziere
ich gerne wissenschaftlich im
Bereich Religionssoziologie.
UNIversalis: Die EEB ist also in
der hiesigen Bildungslandschaft
gut vernetzt?
Detlef Lienau: Ja, ich sehe die EEB
bestens vernetzt. Mit dem Verbund
„Ökumenische Erwachsenenbildung“
sind wir nach der VHS der
zweitgrößte Träger der Erwachsenenbildung
in Freiburg. Ökumene
ist wichtig, etwa in der Männerarbeit
und auch gemeinsam mit der
Katholischen Akademie. Am 12.
Oktober veranstalten wir gemeinsam
einen Studientag zu Gewalt und
Männlichkeit. Auch mit der Christlich-Islamischen
und der Christlich-
Jüdischen Gesellschaft sowie dem
Friedensinstitut der Evangelischen
Hochschule kooperieren wir.
UNIversalis: Wie kann die EEB
dem Zeitgeschehen trotzen, also der
Abwanderung aus den christlichen
Kirchen entgegenwirken?
Detlef Lienau: Das ist gar nicht
meine Aufgabe. Ich verstehe die
EEB als „kulturelle Diakonie“, also
ein kirchliches Engagement für die
Gesellschaft: Einzelnen Angebote
zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit
machen, Beziehungen stärken, Räume
gesellschaftlichen Diskurses anbieten.
Es braucht auch eine Art gesellschaftlicher
Herdenimmunität:
Im öffentlichen Ringen um den Weg
unserer Gesellschaft stärken wir sie
gegen Zersplitterung und Ignoranz.
Christlicher Glaube ist für mich eine
Haltung und eine Ressource, diesen
Diskurs qualifiziert zu führen.
UNIversalis: Sehen Sie produktive
Chancen in der Pandemie-Zeit –
ohne gleich „Corona als Reformator“
zu hypen, wie es kürzlich der
scheidende Evangelische Stadtdekan
Markus Engelhardt in die Debatte
warf und dafür auch Kritik
erhielt?
Detlef Lienau: Wir haben manches
online dazugelernt. Jüngst hatten
wir eine Veranstaltung zum intergenerationellen
familiären Weiterwirken
von Prägungen aus der NS-Zeit.
Da waren Teilnehmende von Berlin
bis Genf dabei. Diese Reichweite
bekamen wir vorher nicht. Digitale
Formate laufen gut, wo es um Wissensfragen
oder Kompetenzerwerb
geht. Beziehung oder Persönlichkeitsentwicklung
braucht aber das
leibhaftige Zusammensein. Ich befürchte,
dass digital Vieles von unserem
ganzheitlichen erlebnis- und
beziehungsorientierten Bildungsanspruch
verlorengeht. Darum haben
wir in der Pandemie auch gezeigt:
Der Bildschirm ist nicht die einzige
Option, wir gehen raus in die Natur.
Der Mensch ist ein leibliches Wesen,
Beziehungen entwickeln sich
in Kopräsenz anders, Gruppendynamiken
sind vor Ort intensiver.
UNIversalis: Welche Visionen haben
Sie mittelfristig?
Detlef Lienau: Mehr als ich umsetzen
kann! Ich arbeite intensiv am
Thema spirituelle Naturerfahrung.
Die dringend nötigen ökologischen
Herausforderungen werden wir
nicht allein mit ethischen Kalkülen
bewältigen, sondern nur über eine
reflektierte Naturverbundenheit.
Weder verkitschte Spiritualität noch
moralisierende Umweltpädagogik
helfen da weiter, sondern indem
Foto: Dorothee Adrian
Natur zur Sinnressource wird.
Im Kunstbereich gehen wir über
den gewohnten Ausstellungsbetrieb
dahin, dass Kunst sich mit anderen
Lebensbereichen kreuzt, im Büro,
im Gottesdienst, nebenbei…
Erwachsenenbildung unterwegs
Christlicher Glaube kommt als Potential
zum Tragen. Und in seiner
reflektierten Form als Theologie erweist
er sich als klärend, Diskurse
anregend, Horizonte weitend. Was
trägt christlicher Glaube zum Umgang
mit der Corona-Pandemie bei,
zur Frage der Geschlechterrollen,
zum Verhältnis von Identität und
Offenheit? Da müssen wir oft noch
unsere theologischen Hausaufgaben
machen. Die drängenden gesellschaftlichen
Fragen wie Klima,
Demokratie und Identität bespielen
wir so, dass wirklich gefragt und
gesucht wird. Menschen hören
dann nicht, was sie eh schon gut
fanden, sondern kommen in einen
gemeinsamen Suchprozess. Evangelische
Erwachsenenbildung als
engagiertes Forum.
UNIversalis: Was sagen Sie abschließend
den Studierenden und
Angehörigen der Freiburger Hochschulen,
die ja das Hauptpublikum
der UNIversalis sind?
Detlef Lienau: Freiburg lebt als
Universitätsstadt von Menschen, für
die Bildung mehr ist als nützliche
Kompetenzen und Karriere-Instrument.
Wir brauchen Menschen, die
sich als Person weiterentwickeln
und Gesellschaft verstehen wollen.
UNIversalis: Lieber Herr Lienau,
wir danken sehr für dieses Gespräch.
Dr. Detlef Lienau, geb. 1967, verheiratet,
3 Kinder, wohnt in St. Peter/Schwarzwald,
Abschlüsse in
Evangelischer Theologie und Interdisziplinären
Studien, Dissertation:
“Religion auf Reisen. Eine empirische
Studie zur religiösen Erfahrung
von Pilgern“ (Herder-Verlag
2015).
Angebote der EEB unter:
https://erwachsenenbildung-freiburg.de/
,
https://www.evangelisch-in-freiburg.de/ueber-uns/erwachsenenbildung-eeb/
Foto: Archiv Flashar
10 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
NS-Projekt „Gau Oberrhein“
I. Akt. Sommer 1940: Vertreibungen aus Elsass-Lothringen
Die Austreibung der jüdischen
und frankophilen Bevölkerung
aus Elsass-Lothringen darf als
Auftakt zu der als Wagner-
Bürckel-Aktion bekannten Abschiebung
gelten, die im Oktober
1940 in Baden, der Pfalz
und dem Saarland fortgesetzt
wird: Ziel war der „judenfreie“
Gau Oberrhein, im Sinne des
von Reichskommissar Heinrich
Himmler initiierten Projekts, das
in „einzudeutschenden“ Annexionsgebieten,
von Polen bis Frankreich,
zwei Millionen Menschen
beraubt hat.
Seit 15. Juni 1940 überschlugen
sich die Ereignisse, die deutsche
Wehrmacht überquerte den Rhein
und besetzte Elsass-Lothringen.
Robert Wagner, seit 1933 badischer
Reichsstatthalter und Gauleiter,
verjagte am 21. Juni diktatorisch
den Präfekten von Colmar; wenig
später zum Chef der Zivilverwaltung
(CdZ) im Elsass ernannt,
strebte er an, das Gebiet zu germanisieren
und auf die Nazis zu polen.
Von Anfang an verbreitete er Angst,
Schrecken und Todesdrohung, wobei
ihm ein skrupelloser Mann behilflich
war: Gustav Adolf Scheel,
lokaler Befehlshaber der Sipo und
des SD (BdS). Dieser verfügte über
wechselnde Einsatzkommandos
(EKS I, II, III), die bei Vertreibung
und Unterdrückung durch das NS-
Regime behilflich waren; diesbezügliche
Details hat der Historiker
Philipp T. Haase erforscht. Fakten
zum Thema bündelt auch Wolfgang
Curilla in seiner Publikation
„Die deutsche Ordnungspolizei im
westlichen Europa 1940-1945“. Im
Juni 1940 erreichen die Polizeibataillone
54 und 55 das Elsass, bereits
am 18. Juni kam es in Colmar
zu antisemitischen Übergriffen,
Wohnungen und Mobiliar werden
beschlagnahmt, wie Dokumente
und Zeitzeugen belegen. Am 1. Juli
1940 werden Juden in Mulhouse
misshandelt, die Synagoge verwüstet.
Am 15./16. Juli findet schließlich
eine massive Ausweisung statt:
Jüdische Personen werden vom
CdZ vorgeladen, müssen rasch packen
und werden auf Lastwagen zu
Sammelstellen in Rouffach, Altkirch
und Schirmeck transportiert;
am nächsten Tag fährt man sie in
die Nähe von Chalon-s-Saône und
jagt sie höhnisch über die Demarkationslinie,
wo sie in der „freien
Zone“ als französische Staatsbürger
Exilrecht hatten. 3.259 Juden
waren davon seit Juni 1940 betroffen,
zudem frankophile Personen
und andere „Volksfeinde“. Ferner
verwehrte man 17.874 Juden, die
wie zehntausende Elsässern seit
Beginn des Zweiten Weltkrieg in
das Landesinnere evakuiert worden
waren, die Rückkehr. Viele
der Betroffenen engagierten sich in
der französischen Résistance, etwa
Georges Loinger und Joseph Weill,
die mit dem Hilfswerk „OSE“ an
der Rettung von rund 5000 Kindern
beteiligt waren.
Einsatzkommandos und Polizeibataillone
Neben den Bataillonen 54 und 55
ist das Reserve-Polizeibataillon 74
in Elsass-Lothringen aktiv, von Juni
bis Oktober in Straßburg stationiert,
unterstellt dem BdO Stuttgart, Generalmajor
Gerhard Winkler. Diese
waren an den Vertreibungen ebenso
beteiligt wie an der gewalttätigen
Einlieferung „feindlicher“ Personen
in das SS-Sicherungslager
Schirmeck-Vorbruck, das die Gauleiter
bereits am 2. August 1940 im
Bündnis mit dem Polizeifunktionär
Gustav A. Scheel eingerichtet
50°
48°
46°
44°
42°
Brest
4° 2° 0°
2°
4° 6° 8° 10°
Küstenzone
(Atlantikwall)
Zutritt eingeschränkt
Lager
Rennes
Paris
B e s e t z t e Z o n e
Bordeaux
ab Juni 1940 deutsche
Militärbesatzung
0 (km)
250
Montoire
0 (mi)
150
https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy-Regime#/media/Datei:
France_map_Lambert-93_with_regions_and_departments-occupation-de.svg
bearbeitet 4/2021
Nordostlinie
Vichy
(de facto Regierungssitz)
U n b e s e t z t e Z o n e
im Nov. 1942 militärisch besetzt
Militärverwaltung
in Belgien und
Nordfrankreich
Verbotene Zone
Marseille
de facto
annektiert
Nancy Straßburg
für deutsche
Besiedelung
vorgesehen
von Italien
besetzte
Zone
Nov. 42 - Sept. 43
(danach deutsch
besetzt)
demilitarisierte
Zone
(50 km)
4° 2° 0°
2°
4° 6° 8° 10°
hatten. Auch SS dürfte im Einsatz
gewesen sein; diesbezüglichen Forschungslücken
geht der Historiker
Heiko Wegmann nach, indem er die
Geschichte der SS in Südbaden eruiert.
Wie Wolfgang Curillas Nachschlagewerk
darlegt, bildeten mehr
als 40.000 deutsche Ordnungspolizisten
nach der Wehrmacht und der
Waffen-SS die zahlenmäßig größte
Besatzungstruppe im westlichen
Europa; von Norwegen bis Frankreich
bewachten sie Transporte in
die Vernichtungslager im Osten,
führten Razzien durch und agierten
gegen den zivilen Widerstand.
Abgerichtet oder hingerichtet
Die Maßnahmen zum „volksdeutschen
Umbau“ von Elsass-Lothringen
nahmen seit Juni 1940 kein
Ende: Vertreibungen, „Arisierung“
Nantes
Gurs
Pau
Caen
La Rochelle
Lourdes
Forschungsliteratur in Auswahl
Honfleur
Périgeux
D E M A R K A
T I
Limoges
Dünkirchen
O N S
Toulouse
Lille
Compiègne
L I N I E
Noé
Le Vernet
Narbonne
Récébédou Carcassonne
Rieucros
von Vermögen, Germanisierung der
Familien- und Ortsnamen, „Umschulung“
von Lehrern und Verwaltungspersonal,
Vereinnahmung der
Universitäten. Es folgte die Pflicht
zum Reichsarbeitsdienst, ab 1942
der zwangsweise Einzug in die
Wehrmacht und in die Waffen-SS.
Etwaige Verweigerungen, antideutsches
Verhalten und Fluchtversuche
wurden mit Sippenhaft bestraft, mit
Erschießung, mit Internierung im
KL Schirmeck oder im KZ Natzweiler-Struthof.
Die NS-Führerschaft wollte Elsass-
Lothringen unter dem Leitmotiv der
Oberrhein-Ideologie mit dem Deutschen
Reich vereinen, wobei sich
ihre völkische Politik zwischen Exklusion
und Vernichtung bewegte,
aber zudem mit profitabler Inklusion
in die „Volksgemeinschaft“
Drancy
Pithiviers
Beaune-la-Rolande
Sperrzone eingeschränkter Zugang
Sète
Rivesaltes
Saint-Cyprien
Mâcon
Lyon
Nordostlinie
Dôle
Chalon-sur-Saône
Nîmes
Genf
Grenoble
Aix-en-Provence
Les Milles
Metz
Luxemburg:
1942 angeschlossen
Toulon
lockte. Die französische Waffenstillstandskommission
konnte gegen
die de-facto-Annexion nichts
mehr ausrichten, protestierte aber
am 3. September 1940 in zwölf
Punkten u.a. gegen: „Die Amtsenthebung
französischer Beamter wie
Präfekten (…), Zusammenschluss
des Elsass mit Lothringen (…);
Grenzverschiebung und Einführung
der deutschen Verwaltung; die
Eingliederung von Post und Eisenbahn
in das deutsche System (…);
die Einführung der Rasse-Gesetzgebung
und damit die Austreibung
der Juden und die Verweigerung
der Rückkehr von Juden und die
Beschlagnahme ihres Vermögens
(…).“
Noch bevor im Oktober 1940 die
südwestdeutschen Juden über die
französische Grenze abgeschoben
• Wolfgang Curilla. Die deutsche Ordnungspolizei im westlichen Europa 1940-1945. F. Schöningh 2020
• René Gutmann. Mémorial de la déportation et de la résistance des juifs du Bas-Rhin. Strasbourg 2005
• Jacky Dreyfus / Daniel Fuks. Le Mémorial des Juifs du Haut-Rhin. Martyrs de la Shoah. Préface Serge
Klarsfeld. Avant-propos Simone Veil. Consistorie Israélite du Haut-Rhin. Jérôme Do Benzinger. 2006
• Jean-Marc Dreyfus. Elsass-Lothringen. In: Gruner, Wolf/Osterloh, Jörg (Hg.). Das „Großdeutsche Reich“
und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Ffm 2010. S. 363ff.
• Serge Klarsfeld. Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944. Fayard 2001
• André Kaspi. Les juifs pendant l’occupation. Ed. Seuil 1991
• Frank Engehausen, Marie Muschalek u.a. (Hg.): Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20.
Jahrhundert. Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Ba-Wü, Bd. 27. Stuttgart 2020
• Philipp T. Haase. Gustav Adolf Scheel. Studentenführer, Gauleiter, Verschwörer. Ein politischer Werdegang.
In: Wolfgang Proske (Hg.). Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Bd.8. Gerstetten 2018
• Lothar Kettenacker. Nationalsozialistische Volkstumspolitik im besetzten Elsass. DVA 1973
• Simon Schwarzfuchs: 15 juillet 1940: La dernière expulsion des Juifs d’Alsace. http:/judaisme.sdv.fr/
histoire
• Léon Strauss. Exil, Exclusion, Extermination. Les Juifs alsaciens en zone libre. Saisons d’Alsace. 1993
• Ludger Syré. Der Führer vom Oberrhein. Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef
der Zivilverwaltung im Elsaß. In: M. Kissener/J. Scholtyseck (Hg.). Die Führer der Provinz. Konstanz 1997
• Jean-Laurent Vonau. Le Gauleiter Wagner. Le bourreau de l’Alsace. Strasbourg 2011
• Jean-Laurent Vonau. Profession bourreau. Struthof Schirmeck. Les gardiens face à leurs juges. 2013
• Krimm, Konrad (Hg.). NS-Kulturpolitik und Gesellschaft am Oberrhein 1940-1944. Thorbecke 2013
• Heiko Wegmann. Zur Geschichte der SS in Freiburg im Breisgau. In: Oberrheinische Studien Bd. 38. 2019
Saarbrücken
Breisach
Colmar Freiburg
Mulhouse
von Italien
besetzte
Zone
Nizza
Basel
Karlsruhe
Baden-Baden
Offenburg
Menton
(von Italien
annektiert)
Bastia
von Italien
besetzte
Zone
(Nov. 42 - Sept. 43)
Ajaccio
50°
48°
46°
44°
42°
wurden, hatten Wagner-Bürckel &
Co. seit Juni 1940 begonnen, den
angestrebten „Gau Oberrhein“ zu
„säubern“. Bei der Festnahme und
Abschiebung am 22. Oktober konnten
sie grenzüberschreitend operieren,
möglicherweise mithilfe des in
Straßburg stationierten Polizeibataillons
74, das als bewaffnete Truppe
auch geeignet war, die Züge zu
begleiten; über den Bahnverkehr im
annektierten Elsass-Lothringen verfügten
die NS-Gauleiter damals ungehindert.
Zudem dürfte das II. Polizei-Wachbataillon
im Wehrkreis
V beteiligt gewesen sein, dessen
Einsatz reichte von Stuttgart und
Karlsruhe über Elsass-Lothringen
bis hin zu Transporten von Drancy
nach Auschwitz, an denen auch
die „Eisenbahnabteilung West“ der
Wehrmacht mitwirkte. Die Zusammenhänge
sind deutlich, Details
bleiben zu erforschen.
Zahlreich sind die Opfer der Shoah
aus Elsass-Lothringen; des Weiteren
werden in dem von den Nazis
in den Vogesen eingerichteten KZ
Natzweiler-Struthof 22.000 Menschen
ermordet, die Gedenkstätte
„Europäisches Zentrum des deportierten
Widerstandskämpfers“
(struthof.fr) und ein Geschichtsmuseum
(memorial-alsace-moselle.
com) thematisieren dies. In puncto
Forschung auf deutscher Seite ist
Lothar Kettenackers Recherche
„Nationalsozialistische Volkstumspolitik
im besetzten Elsass“ (1973)
eine unerlässliche Referenz; doch
bleiben Lücken, vor allem in Bezug
auf die Rolle von Polizei und
Finanzbeamten bei der Enteignung
der jüdischen und frankophilen Bevölkerung.
Wichtige Akten befinden
sich in Straßburger Archiven,
viele Vorgänge im damaligen Annexionsgebiet
wurden jedoch von der
deutschen Rheinseite aus gesteuert,
wo die Akteure ihre Karrieren
starteten und nach 1945 oft fortsetzten.
Die grenzüberschreitende
NS-Unrechtsjustiz beleuchtet eine
Ausstellung im Amtsgericht Freiburg.
Möglicherweise sind Informationsquellen
verloren, aber gewisse
Leerstellen in der Erinnerungspolitik
weisen auf offene Wunden und
bleiben zu thematisieren, um die
deutsch-französische Freundschaft
zu erhalten und zu verbessern.
** Der Begriff Elsass-Lothringen
ist nicht im geografischen, sondern
im historischen Sinne zu verstehen;
er umfasst die Departements
Bas-Rhin, Haut-Rhin u. Moselle,
die 1871 vom Dt. Reich annektiert
worden waren.
Cornelia Frenkel
Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 11
NS-Projekt „Gau Oberrhein“
II. Akt. Oktober 1940: Abschiebung aus Baden, Pfalz und Saarland
Félix Chevrier imKreise einigfer Schützlinge - Rettungshelfer im OSE-Heim „Château Chabannes“ bei Limoges Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“ BG Brändle und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021
„(...) Tausende von französischen
Gendarmen, die im Herbst 1942
die Juden zur Deportation abschleppen
sollten, setzen ihre
Existenz, ja ihr Leben aufs Spiel
und benachrichtigen die Opfer
(…), so dass sie rechtzeitig fliehen
konnten. Hunderte von Bürgermeistern
und Präfekturbeamten
versahen die Verfolgten mit falschen
Papieren und retteten sie
vor dem Untergang. Privatpersonen,
deren Namen immer unbekannt
bleiben werden, nahmen
Gefährdete auf (…).“
Hanna Schramm. Menschen in
Gurs.
„Wer ein Menschenleben rettet,
der rettet die ganze Welt“.
Talmud
Einer der Geretteten, der heute noch in Großbritannien lebt: Leopold
Rosenberg, 1932 Bruchsal Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“
BG Brändle und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021
Sie oder ihre Nachkommen leben an
zahlreichen Orten der Welt, insofern
sie der Shoah entkommen konnten,
viele in Frankreich, der größten
jüdischen Gemeinde Europas,
die unvermeidlich auf Emigration,
Flucht und Deportationen während
der NS-Herrschaft verweist. Eine
differenzierte Auseinandersetzung
mit Frankreich unter der deutschen
Besatzung im Zweiten Weltkrieg
kann sich nicht auf Verbrechen und
Komplizenschaft beschränken, da
gleichzeitig ein Lehrstück an Rettungshilfe
und Widerstand stattfindet
- über 4.000 „Gerechte“ erkennt
Yad Vashem für Frankreich an. Die
„Endlösung der Judenfrage“ war
von den Nazis geplant, wurde hier
jedoch vereitelt. Mindestens 75
Prozent der etwa 320.000 jüdischen
Menschen, die 1940 im Land lebten,
überstanden den NS-Terror, darunter
die Mehrzahl der Kinder. Zivilgesellschaft,
politische Organisationen
und Kirchen trugen dazu bei,
dass sogar die Vichy-Regierung seit
1942 Eichmanns Deportationspläne
verweigerte; die Forschungen von
Beate und Serge Klarsfeld, Jacques
Semlin, Ahlrich Meyer, Arno Lustiger
und Wolfgang Seibold haben
dies seit den 1980er Jahren gezeigt.
Trotzdem werden deren Erkenntnisse
oft ausgeblendet, stattdessen
wird selbstgerecht auf die „Vichy-
Kollaborateure“ gezeigt und groteske
Schuldzuweisungen vorgenommen
(kürzlich z.B. in Katalog und
Ausstellung „Gurs1940“, GHWK,
Hg.), etwa wenn es um die am 22.
Oktober 1940 über die Grenze abgeschobene
jüdische Bevölkerung
aus Baden, Pfalz und Saarland
geht, die von den französischen
Behörden nolens volens im Lager
Gurs interniert wurde. Unpassend
wird das Lager mitunter als KZ
oder AL bezeichnet und summarisch
behauptet, die meisten Internierten
seien in Vernichtungslagern
ermordet worden. Man ignoriert die
Shoah nicht, wenn man anerkennt,
dass in südfranzösischen Lagern
ein Netz von Rettungswerken aktiv
wurde, dem es u. a. gelungen ist,
von den 560 im Oktober 1940 verschleppten
Kindern, 412 zu retten.
Mit der Recherche „Gerettete und
ihre RetterInnen - Jüdische Kinder
im Lager Gurs“ haben Brigitte und
Gerhard Brändle dies dokumentiert.
Ebenfalls zeigt der Historiker Jacques
Semelin im Buch „Das Überleben
von Juden in Frankreich 1940-
1944“: „In der Bilanz der Shoah
fallen zwei Zahlen auf: 90 Prozent
der französischen Juden und fast 60
Prozent der ausländischen Juden
überlebten in Frankreich“. Serge
Klarsfeld bestätigt dies. Neben Dänemark
stellt Frankreich in Hitlers
Europa eine Ausnahme dar, viele
haben den Nazis die Stirn geboten
und dies mit dem Leben bezahlt,
wurden als Geiseln erschossen oder
in KZs verschleppt.
Verfolgt: deportiert oder gerettet
- atemberaubende Lebensläufe
Die Dokumentation „Gerettete und
ihre RetterInnen – Jüdische Kinder
im Lager Gurs. Fluchthilfe tut
not – eine notwendige Erinnerung
nach 80 Jahren“ verleiht 560 Kindern,
darunter 412 Geretteten, eine
Stimme und ein Gesicht, ebenso wie
ihren Retter*innen. Angesichts der
Schicksale, die sich ergeben haben,
nachdem diese Kinder im Oktober
1940 mit Eltern und Verwandten aus
Südwestdeutschland abgeschoben
wurden, ist man entsetzt und darf
sich gleichzeitig wundern. Gurs war
maßlos überfüllt, es bestanden katastrophale
Zustände, viele Internierte
starben. Um Abhilfe zu schaffen,
vereinen sich Rettungswerke im Comité
de Nîmes; in Gurs und anderen
Lagern engagierten sich humanitäre
Organisationen, etwa CIMADE,
AS, OSE, Amitié Chrétienne, EIF,
FFI, Joint, MJS, Quäker, Secours
Suisse, viele Frauen waren beteiligt.
Sie befreiten Kinder aus ihrer desolaten
Lage, versteckten sie in abseits
gelegenen Häusern, in Klöstern, bei
Bauern und in Privathaushalten. Die
Rettungshelfer*innen lebten risikoreich,
mussten oft zu nicht-legalen
Mitteln greifen, besorgten Ausweispapiere,
Lebensmittel, Geld
und begleiteten ihre Schützlinge
auf Fluchtrouten. Werner Liebhold
12 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
Werner Liebhold
Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“ BG Brändle und
Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021
Marianne Cohn (1922-1944) – im Widerstand und als Rettungs-helferin aktiv Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre
RetterInnen.“ BG Bände und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021
etwa (aus Mannheim nach Gurs
verschleppt) wurde 1941 aus dem
Lager geholt und in das OSE-Heim
„Château Chabannes“ gebracht, wo
ihm der Gewerkschafter Félix Chevrier
„falsche“ Papiere vermittelte.
Einige der Geretteten schlossen
sich später der Résistance an, in
der auch RetterInnen tätig waren,
z.B. Marianne Cohn aus Mannheim,
die u.a. Leopold Rosenberg
(*1932 Bruchsal, heute Großbritannien)
zum Überleben verhalf; er
und Schicksalsgenossen (u.a. Fritz
Isenberg aus Lahr, Regina Ettlinger
aus Karlsruhe, Elisabeth Kling) gelangten
durch Marianne Cohn in die
Schweiz. Sie selbst wurde aber 1944
ermordet. Nachdem die Nazis seit
November 1942 ihre Menschenjagd
verschärften, blieb neben den unsicheren
Verstecken in Frankreich
nur die Flucht in die Schweiz, nach
Spanien, in die USA. Frankreich
konnte seit 1940 auch deshalb zur
Falle werden, weil nach der „Konferenz
von Evian“ 1938 kaum mehr
ein Land der Welt Verfolgte aufnehmen
wollte. Zudem hatte § 19 des
Waffenstillstands Vichy verpflichtet,
„sämtliche vom Deutschen
Reich benannten Staatsbürger, die
sich auf französischem Territorium
befanden, auszuliefern.“
Zum Vorgang der Abschiebung
am 22. Oktober 1940
Nach dem militärischen Sieg des
Deutschen Reichs über Frankreich
wurden Elsass-Lothringen de facto
annektiert und den Gauen Baden
und „Saarpfalz“ angeschlossen;
bereits seit Juni 1940 erfolgten
dort Austreibungen. Um den angestrebten
„Gau Oberrhein“ vollends
„judenfrei“ zu machen, erwirkten
Wagner-Bürckel im Oktober die
Abschiebung der südwestdeutschen
Juden, was anfangs „reibungslos“
verlief. Doch die folgenden Komplikationen
zeigten den Nazis,
dass sich Vichy-Frankreich nicht
als Abladeplatz benutzen lässt;
vielmehr protestierte die Waffenstillstandskommission
wiederholt,
dass unter falschen Angaben sieben
Eisenbahnzüge über die Demarkationslinie
befördert worden waren:
Zielort unbestimmt. Die französischen
Behörden hatten nicht die
Macht, dies rückgängig zu machen,
verhinderten aber fortan solches
Einschleusen. Damit geriet die „auf
Vertreibung ausgerichtete Judenpolitik“
der Nazis in eine Sackgasse,
so Christopher Browning; auch der
„Madagaskar-Plan“, den Götz Aly
als „projektive Konfliktüberbrückung“
bezeichnet, war zunichte.
Danach begannen die Nazis drastische
Ghettoisierungen im besetzten
Polen.
Gegen die Selbstgerechtigkeit der
Nachgeborenen
Frankreich stand nach dem Waffenstillstand
seit Juni vor einem Desaster
und war politisch zerrissen;
Zehntausende Menschen flohen aus
dem besetzten Norden Frankreichs
sowie aus den besiegten Benelux-
Staaten in die „freie Zone“, die
zum Überlaufbecken geriet. Das
französische Territorium wurde in
sechs Zonen zerstückelt, abriegelt
und drei Fünftel des Landes besetzt;
zudem griffen die Besatzer zu
einer brutalen ökonomischen Ausbeutung.
Trotz knapper Ressourcen
entsteht Solidarität mit Verfolgten
und der verordnete Antisemitismus
stößt spätestens im Sommer 1942
auf breite Ablehnung. So prangerten
etwa die katholischen Erzbischöfe
in der besetzten Zone, sodann die
Erzbischöfe von Toulouse (Saliège)
und Lyon (Gerlier), in Protestschreiben
an Pétain die Deportationen als
nicht hinnehmbar an – die Schreiben
wurden in Kirchen und über
BBC verlesen. Letztlich weigerte
sich sogar die Vichy-Regierung „an
dem deutschen Plan mitzuwirken,
zwischen September und Oktober
1942 fünfzig Züge zu füllen und
der Gestapo zur Verfügung zu stellen“
(S. Klarsfeld). Zu keiner Zeit
hat Vichy den Vernichtungswillen
der Nazis geteilt, war aber zweifellos
zur Ausgrenzung staatenloser
Juden bereit und „kollaborierte“
nicht zuletzt in der Hoffnung auf
die Rückkehr von Kriegsgefangenen
als nützlicher Idiot. Zum Verständnis
der Vorgänge ist jedoch
das NS-Besatzungsregime im Auge
zu behalten, das 1940 „antisemitische
Sofortmaßnahmen“ ergriff,
bevor Vichy Juden-Statute erließ.
Deutsche Militärverwaltung und
Botschaft betrieben systematisch
Internierungen, ließen aber Verhaftungen
von französischer Polizei
durchführen, zeigt Ahlrich Meyer
in „Täter im Verhör“; so auch bei
den Razzien seit November 1942
in der Südzone. Serge Klarsfeld:
„Ab Frühjahr 1942 stand Frankreich
gänzlich unter der Führung
der deutschen politischen Polizei,
wobei diese natürlich auf die Polizei-
und Verwaltungsstrukturen des
Vichy-Regimes angewiesen war.“
Leider kommt es immer wieder vor,
dass von deutschen Verbrechen abgelenkt
und Verantwortung auf
„Vichy“ projiziert wird, während
gleichzeitig zwanghaft behauptet
wird, die von den Nazis Verfolgten
seien „fast alle ermordet“ worden
– was für Frankreich eben nicht
zutrifft. Statt nekrophile Krokodilstränen
zu vergießen, wäre es
angebracht, dies anzuerkennen und
die Geschichten der Überlebenden
wahrzunehmen. In dieser Hinsicht
bleibt auch die Erinnerungspolitik
auf dem Freiburger Platz der
Alten Synagoge ein irreführendes
Armutszeugnis, das der Korrektur
bedarf.
Cornelia Frenkel
Jüdische Kinder im Lager Gurs:
Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung
GERETTETE
UND IHRE
RETTERINNEN
●●● Gerettete und Ihre Retterinnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs.
Fluchthilfe tut not - eine notwendige Erinnerung nach 80 Jahren“. Brigitte
und Gerhard Brändle in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Religionsgemeinschaft
Karlsruhe (IRG). Die rund 200 Seiten umfassende Dokumentation
kann als PDF bezogen werden: info@irg-baden.de
Forschungsliteratur in Auswahl
● Bernhard Brunner. Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und
die Justiz der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2004
● Regina M. Delacor. Attentate und Repressionen. Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS-Terrors
im besetzten Frankreich 1941/42. Stuttgart 2000
● Christopher Browning. Die Entfesselung der „Endlösung“. Berlin 2003
● Ruth Fivaz-Silbermann. La fuite en Suisse. Les Juifs à la frontière franco-suisse durant les années de „la
solution finale“. Mémorial de la Shoah. 1448 S. Calmann-Lévy 2020
● Serge Klarsfeld. Vichy-Auschwitz. La „solution finale“ de la question juive en France. Fayard 1983
● Claude Laharie. Le camp de Gurs 1939-1945. 2. Auflage. Pau 1993
● Arno Lustiger. Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. 2011
● Ahlrich Meyer. Täter im Verhör. „Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich 1940-1944“. 2005
● Wolfgang Seibel. Besatzung, Kollaboration und Massenverbrechen. Die „Endlösung der Judenfrage“ in
Frankreich, 1940-1944. 2012
● Jacques Semelin. Das Überleben von Juden in Frankreich 1940-1944. Vorwort von Serge Klarsfeld. Aus
dem Frz. von Susanne Wittek. Wallstein Verlag 2018
● Teschner, Gerhard J. Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940.
Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten. 2002
SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
IMPRESSUM
Herausgeber:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Auerstr. 2 • 79108 Freiburg
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e-mail: redaktion@kulturjoker.de
Redaktionsleitung
(V.i.S.d.P):
Christel Jockers
Autoren dieser Ausgabe:
Helga Epp
Dr. Martin Flashar
Dr. Cornelia Frenkel
Elisabeth Jockers
Fabian Lutz
u.a.
Satz/Gestaltung:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Druck:
Rheinpfalz Verlag und Druckerei
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen
Der Nachdruck von Texten und den vom
Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher
Genehmigung des Verlags.
Ausgabe 1 Sommersemester 2021
Eine Beilage von Master-Student*innen der Albert-Ludwigs-Universität
„Eine weniger aufgeregte Politisierung des
Faches“
Im Gespräch: Die Soziolog*innen Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky und Prof. Dr. Stefan Hirschauer
D
ie Gender Studies sind,
seitdem es die ersten
akademischen Angebote
zu Beginn der 2000er
gab, ein umstrittener Studiengang,
der immer wieder für politische
Diskurse herhalten muss.
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky
ist Lehrstuhlinhaberin für
Allgemeine Soziologie und Gender
Studies am Institut für Soziologie
der Ludwig-Maximilians-
Universität München und gilt,
gemeinsam mit Prof. Dr. Stefan
Hischauer, seinerseits Professor
für Soziologie und Gender Studies
an der Johannes Gutenberg
Universität Mainz, zu den führenden
Expert*innen des Forschungsfeldes.
Elisabeth Jockers
sprach mit ihnen über Zukunftsperspektiven,
Überpolitisierung
und Selbstwahrnehmung der Gender
Studies.
UNIversalis: Was hat Sie damals
dazu bewegt, sich dem Forschungsfeld
der Geschlechterforschung zu
widmen?
Hirschauer: Gender Studies ist
bis heute im Wesentlichen Frauenforschung.
Und während meines
Studiums war Feminismus der
hegemoniale Zeitgeist unter den
Studierenden. Damit konnte man
sich großartig vom männlich dominierten
Lehrkörper abgrenzen, von
den ‚alten Kerlen‘ sozusagen. An
der Bielefelder Universität, an der
ich damals studierte, war der Feminismus
im Vergleich auch noch
besonders radikal. Vor diesem Hintergrund
und mit diesen politischen
Überzeugungen habe ich studiert
und letztendlich auch ein ‚Aha-Erlebnis‘
gehabt, das ich im Übrigen
jeder Studierenden wünsche, ob Soziologie
oder Gender Studies: einen
Text finden, bei dem der intellektuelle
Groschen fällt. Das war bei mir
die Studie von Harold Garfinkel
über den Geschlechtswechsel von
‚Agnes‘. Da habe ich gemerkt, Donnerwetter,
das Thema gibt’s ja gar
nicht bei den Feminist*innen, denen
ich politisch anhänge. Das war für
mich ein gedanklicher Trigger zu
überlegen, dass man wissenschaftlich
auch über die Geschlechterunterscheidung
selbst nachdenken
kann, ohne sie als politisches Instrument
oder zur politischen Selbstbeschreibung
zu verwenden.
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky Foto: transcript verlag Prof. Dr. Stefan Hirschauer Foto: Johannes Gutenberg Universität Mainz
Villa: Ich habe Mitte/Ende der 90er
Jahre in Bochum an der Ruhr-Universität
studiert. Im Wesentlichen
habe ich mich dort mit Texten befasst,
die dem deutschsprachigen
Konstruktivismus angehörten. Texte
von Angelika Wetterer, Carol Hagemann-White,
Stefan Hirschauer
und anderen, die sehr soziologisch
waren, individuelle Handlungsfreiheiten
und Praxisstrukturen thematisierten
und mir dadurch die Lust
vermittelt haben, mich mit diesen
Themen auseinanderzusetzen. Natürlich
habe ich auch viel Judith
Butler gelesen, das war sehr umstritten
Mitte der 90er, als ich über
Bourdieu und Butler eine theorievergleichende
Diplom-Arbeit geschrieben
habe. Ich wollte einen
ähnlichen Standpunkt einnehmen,
den Stefan gerade beschrieben hat,
nur gegenüber den ‚alten Damen‘.
Ich habe viel zu Butler gearbeitet,
das war für einige gestandene Professorinnen,
z.B. am Graduiertenkolleg
an dem ich war, ziemlich
schlimm, fast wie der Sargnagel der
Frauenforschung.
UNIversalis: Wie haben Sie die
Entwicklung des Studiengangs Gender
Studies in den 2000ern erlebt?
Villa: Ich glaube es ist falsch, wenn
man von dem Studiengang spricht.
Es gibt in Deutschland einige, gar
nicht so viele, verschiedene Master
der Gender Studies und die sind sehr
unterschiedlich. Insofern ist es interessant,
erstmal die Entwicklungen
aufzufächern. Das war immer sehr
unterschiedlich. Da ist Berlin echt
ein anderer Planet als der Rest der
Republik. Und auch an anderen Orten,
sei es Köln, Bochum, Bielefeld
oder Frankfurt/M, sind die Gender
Studies je sehr spezifisch. Das ist
bei anderen Studiengängen vielleicht
ähnlich, aber für die Gender
Studies ist das nochmal sehr speziell,
weil es auch politisch bis heute
eine sehr verstrickte Geschichte ist.
Hirschauer: Das sehe ich wie
Paula. Man muss wirklich überlegen,
an welchem Standort wir uns
befinden. Aber eine Entwicklung
hat es natürlich gegeben. Das ist
einerseits die Professionalisierung
des Forschungsfeldes, andererseits
das Heranwachsen der Interdisziplinarität.
Die ursprünglich vielleicht
vier bis fünf Kernfächer der
Gender Studies, würde heute eine
Liste von vielleicht zwei Dutzend
werden. Das macht die Sache nicht
nur heterogen, dass man sagt ‚ach,
wie schön bunt ist das‘, das macht
sie auch problematisch heterogen.
Denn die Frage ist natürlich, inwiefern
all diese verschiedenen Fächer
noch intellektuell zusammenfinden
können. Das macht mich der Interdisziplinarität
gegenüber kritisch,
gleichzeitig erweitert sie aber auch
unglaublich den Horizont. Insofern
würde ich das Studiengebiet Studierenden
wirklich ans Herz legen, es
ist fast ein Studium generale. Nur,
dass man sich dabei auf die Geschlechterdifferenz
konzentrieren
soll. Einen Bachelor der Gender
Studies finde ich persönlich hochgradig
problematisch, denn zu einer
wissenschaftlichen Ausbildung
gehört einfach Disziplin, die von
Historiker*innen, Soziolog*innen
oder Linguistinnen mit jeweils eigenen
Gütekriterien definiert wird.
Villa: Das sehe ich auch so. Aber
das ist das, was in Deutschland, sowohl
im Forschungsfeld selbst als
auch von außen nicht hinreichend
verstanden wird. Die spezifische
Perspektive von ‚Studies‘. Das ist
im englischsprachigen Raum viel
besser institutionell gebettet. Ich
würde das auch immer dahingehend
verteidigen, dass die Gender Studies
nun mal ‚Studies‘ sind und keine
Disziplin. Das macht sie inhaltlich
oft interessanter und flexibel, das
macht sie aber auch prekärer, gerade
institutionell.
UNIversalis: Die Gender Studies
stehen immer wieder in der Kritik,
mehr politisches Sprachrohr als
wissenschaftliches Fach zu sein.
Auch Sie, Prof. Hirschauer, haben
in der Vergangenheit eine Überpolitisierung
des Forschungsfeldes
kritisiert. Sind die Gender Studies
wirklich überpolitisiert? Und
wie politisch dürfen Inhalte und
Forschungs -Aspekte eines Studiums
überhaupt sein?
Villa: Ja, da haben Sie jetzt die
richtigen Zwei zusammengebracht
(Gelächter).
Hirschauer: Für meine Begriffe
haben die Gender Studies eine
Professionalisierung durchlaufen.
Insofern stimmt die Richtung. Ich
hoffe aber, dass wir da noch nicht
am Ende angekommen sind. Die
Forschungsinhalte eines sozialwissenschaftlichen
Studiums werden
immer politisch sein. Aber auch immer
kulturell. Wie sollte das anders
gehen? Die Frage ist, ob die Inhalte
eines Studiums primär zur politischen
Meinungsbildung beitragen.
Das sollte allgemein der Aufenthalt
an einer Universität, aber nicht die
Lehre. Für meine Begriffe sind die
Akzente hier immer noch flächendeckend
falsch gesetzt. Die Trennung
von politischer Haltung und
Forschung ist bis heute definitiv
nicht gelungen.
Villa: Ich würde das zum Teil
auch so sagen und glaube, dass es
in den Gender Studies, aber auch
in anderen Fächern, wie z.B. der
Soziologie, eine Verwechslung
dahingehend gibt, dass Wissenschaft
immer politisch ist, weil sie
gesellschaftliche Praxis darstellt
und ein Teil von Institutionen und
Geschichte ist. Die Verwechslung
besteht für mich darin, dass die
Einsicht in ‚Teil von sozialer und
politischer Praxis‘ sein eng geführt
wird auf Lehre und Forschen als
politischen Aktivismus. Angesichts
aktueller politischer Dynamiken
in der Bundesrepublik, aber auch
international, ist es enorm wichtig
geworden, uns eben nicht so politisieren
zu lassen. Und da hat im
Feld der Gender Studies teilweise
fast eine Deprofessionalisierung
stattgefunden. Durch die Fixierung
auf das praktische, quasi individu-
14 Gender-Studies Sommer 2021
elle ‚doinggender‘ unterschreitet
das Feld manchmal den eigenen
Forschungsstand, es vergisst, dass
Geschlechtlichkeit eine soziale,
eine gesellschaftliche, eine auch
historisch gewordene, diskursiv
und institutionell verfasste Struktur
ist, die uns Menschen eben nicht
allein individuell frei verfügrbar
ist. Da geht es dann um Haltungsfragen
und Voluntarismus. Es gibt
derzeit eine starke Reduktion auf
das Individuelle, was mich als
Soziologin besonders befremdet.
Was aber auch nicht total falsch ist,
denn ‚gender‘ ist auch – mit Betonung
auf auch – konkrete Praxis.
Andererseits, und das ist m.E. das
Gros, gibt es heute in den Gender
Stuides normal-wissenschaftliche
Studien, Empirie und Forschung,
die nicht zu skandalisieren ist und
dadurch weniger Aufmerksamkeit
bekommt. Politisch unauffällige,
solide, wichtige, komplexe, kleinteilige
‚Normalforschung‘.
Hirschauer: Diese normale Geschlechterforschung
findet nach
meiner Wahrnehmung zu einem
großen Teil außerhalb der Gender
Studies statt und ist nach den eigenen
Maßstäben der Gender Studies
eher uninteressant, da sie nicht
politisierbar ist. Oder, und da wird
es interessanter, weil sie politisch
nicht genehm ist. Wenn man darüber
nachdenkt, was ein politisch
interessantes Seminar ist, könnte
man etwas wie „Diskriminierung
von Homosexuellen“ nennen. Aber
ist das auch wissenschaftlich interessant?
Man weiß schon viel über
die Diskriminierung von Minderheiten.
Was ist z.B. mit den ökonomischen
Vorteilen kinderloser
Homosexueller? Oder der Frauenfeindlichkeit
Schwuler? Was weiß
man über die Geschlechterstereotypen
von Feminist_innen? Über
die Nachteile des Mannseins?
Oder die Geschlechterstereotypen
von Trans-Menschen? Man könnte
auch ein Seminar über Männer als
Opfer häuslicher Gewalt oder sexueller
Übergriffe machen. Unter
27-jährigen sind diese Übergriffe
fast geschlechtsneutral geworden,
weiß die Kriminologie. Das sind
alles keine unpolitischen Themen,
aber es sind politisch unbequeme
Themen. Aber genau deshalb versprechen
sie interessantes, neues
wissenschaftliches Wissen. Dass
sie unbequem erscheinen, verweist
darauf, dass die Gender Studies bis
heute hauptsächlich feministische
Frauenforschung sind. Politisch ist
mir das sympathisch, wissenschaftlich
ist es langweilig. Das macht
die Gender Studies politisch auch
so angreifbar, beispielsweise in der
Schlammschlacht, die die AfD und
ähnliche führen.
UNIversalis: Hat die Forschung
der Gender Studies in diesem Sinne
Angst davor, Minderheiten auf die
Füße zu treten?
Villa: Ich glaube es gibt sehr viele
richtige Ansichten und Behutsamkeiten,
die aber manchmal zu falschen
Praxen führen. Wichtig ist,
dass es auch hier kein unschuldiges
Sprechen gibt. Vieles ist richtig
und erscheint harmlos, ist am Ende
aber doch ideologisch. Aus dieser
oft richtigen Einsicht, gibt es dann
diskursive Verklemmungen. Aber
ich kann darüber nur spekulieren.
Hirschauer: Also ich kann darüber
mehr als nur spekulieren. Wie sehr
dieses Fach politisch angegriffen
wird, ist bei den Studierenden ein
hot topic. Ich denke dafür gibt es
zwei Erklärungen.
Die Gender Studies sind ein Sündenbock
für die Politik von Rechts,
weil sie die Botschaft überbringen,
dass Gender, die kulturelle Existenzweise
der Zweigeschlechtlichkeit
erodiert. Homosexuelle dürfen
heiraten, Rollenbilder verschieben
sich und die starke Stellung der
Biologie, als Wissenschaft, die die
2018: Proteste in Ungarn gegen Eingriffe in die Lehre Foto: dpa
Zweigeschlechtlichkeit definiert,
ist zusammengebrochen. Das heißt
die Geschlechterdifferenz wird
in den Köpfen der Menschen zunehmend
genderisiert. Damit wird
Gender eine kulturelle Tatsache.
Dabei gibt es Gewinner*innen
und Verlierer*innen. Zu den
Verlierer*innen gehören traditionale
Milieus, die ihren Lebensstil
anderen nicht mehr vorschreiben
können.
Villa: Das ist genau die These, die
ich in einigen Texten formuliert
habe! Ich glaube das wird in den
Gender Studies, und da fasse ich
mir an die eigene Nase, teilweise
gar nicht so gesehen. Und das haben
die AfD oder ‚besorgte Eltern‘
schon richtig verstanden. Traditionale
Geschlechterrollen lösen
sich auf, manche machen daraus
politische Erregung. Und statt mit
politischer Empörung zu reagieren,
könnten die Gender Studies auch
sagen ‚Haben wir gut gemacht –
und da gibt es was zu Verstehen‘.
Hirschauer: Genau, das ist die
zweite Seite. Aber es ist nicht nur
die politische Reaktion der Gender
Studies, sondern sie sind in ihrer
großen Mehrheit eine entschlossene
politische Partei in einem
Kulturkampf. Deshalb laden sie
als Wissenschaft zu völlig berechtigter
Kritik ein. Wie vor 50 Jahren
auf dem Höhepunkt der zweiten
Frauenbewegung positioniert sich
das Fach als kritische Gegenwissenschaft.
Wo sich andere Wissenschaften
um Parteilosigkeit
bemühen, finden in den Gender
Studies Fraktionskämpfe zwischen
unterschiedlichen Varianten
des Feminismus statt. Konservative,
an denen man sich in der Diskussion
reiben könnte, findet man
eher außerhalb des Faches. Dieser
Diversitätsmangel innerhalb der
Personalstruktur hat natürlich auch
Einfluss auf die Themenwahl der
Forschung. Das Fach sieht, peinlicherweise,
bis heute genauso geschlechtshomogen
aus, wie die androzentrische
Wissenschaft, die es
mit Recht kritisiert hat. Und diese
beiden Mechanismen, der Sündenbock
auf der einen Seite und die
politische Schlammschlacht auf
der anderen Seite, sind die Zwickmühle,
in der wir uns momentan
befinden.
In meinen Augen müssen die Gender
Studies sich stattdessen fragen,
was wir intellektuell Neues
und Interessantes bieten können.
Villa: Ich würde dir da widersprechen,
Stefan. Ich neige dazu, Autor_innen
zu umarmen, die sich
selbst vielleicht nicht den Gender
Studies zuschreiben würden, andererseits
aber den Blick der deutschsprachigen
Geschlechterforschung
erweitern. Ich denke dabei an diverse
Auseinandersetzungen, z.B.
das Feld New Materialisms, beeinflusst
durch Queer und andere
Studies, die genau diese Binarität
aufbrechen. Dazu gehört auch die
Intersektionalitätsdebatte, die die
alte Frage nach komplexen sozialen
Verhältnissen neu stellt. In
meinen Augen gab es in den letzten
Jahren viel empirische Auseinandersetzung,
die sich in Forschungsprojekten
oder auch Sammelbänden
widerspiegelt. Insofern
gibt es einen Streit.
Hirschauer: Ich sehe keinen Widerspruch
darin. Es gibt selbstverständlich
Forschung, Streit und Publikation.
Sonst wären die Gender
Studies überhaupt keine Wissenschaft.
Aber handelt es sich dabei
um produktiven und intellektuell
interessanten Streit? Dieses Kriterium
hochzuhängen fällt in den
Gender Studies schwer, weil die
politische Obsession im Vordergrund
steht. Zum Beispiel der Intersektionalitätsansatz,
den ich persönlich
als uninteressant empfinde,
beruht auf einem politischen Bündnis
dreier sozialer Bewegungen in
den USA. Der Grundgedanke der
Kreuzung verschiedener sozialer
Ungleichheiten ist interessant,
die Herangehensweise aber nicht.
Die Frage, die sich andere wissenschaftliche
Disziplinen permanent
stellen, nämlich wo ist neues Wissen
herzubekommen, stellt sich in
den Gender Studies nicht drängend
genug, weil man sich so stark politisch
begreift.
Villa: Aber das, was du jetzt sagst,
die Frage nach interessant und uninteressant,
die Suche nach mehr
Wissen passiert in den Gender
Studies. Die Frage der Intersektionalität
hast du vielleicht für dich
beantwortet, aber diese Antwort ist
ja nicht die Diskussion und kann
damit nicht ad acta gelegt werden.
Ob das jetzt aus der Geschichte,
der Rechtswissenschaft, Biologie
oder Philosophie kommt, ist erstmal
kein pro oder contra Kriterium.
Sondern inwiefern ist das interessant
für, in meinem Fall, eine
sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung
mit empirischer und
sozialer Wirklichkeit.
Hirschauer: Dem stimme ich zu.
Es ist egal, aus welchem Fach das
kommt. Nicht egal ist die Frage, ob
der intellektuelle Streit der Gender
Studies die Chance hat, interessanter
zu werden. Das scheint mir
bislang nicht gelungen zu sein.
Deshalb wird das Feld von außen
als derartig politisch und ideologisch
wahrgenommen.
Villa: Das sehe ich anders, zumindest
nicht in dieser Schärfe.
UNIversalis: Könnte eine ausgeprägte
Wissenschaftskommunikation
dazu beitragen, dieses Problem
zu lösen?
Villa: Dieses Argument höre ich
schon so lange. Man müsse besser
kommunizieren, mehr erklären.
Gehen Sie mal auf jede Homepage
der Zentren für Gender Studies.
Ich kenne kein Feld, das ein so
zugängliches Begriffsglossar hat.
An Wissenschaftskommunikation
mangelt es diesem Feld nicht. Ich
persönlich glaube inzwischen, dass
wir das alle viel zu viel gemacht
haben und es dazu beiträgt, diese
permanente Delegitimierung in
Gang zu halten.
Hirschauer: Da möchte ich etwas
weniger skeptisch sein, Paula. Das
würde ja bedeuten, dass wir an dieser
Stelle schmollen und das darf
nicht passieren. Die Wissenschaftskommunikation
hat ihre Grenzen.
Aber sie ist extrem wichtig, um
den Elitismus zu bändigen, der gerade
in den Gender Studies steckt.
Es ist ein moralischer Elitismus,
den niemand besser verkörpert als
Judith Butler. Und dann gibt es erhebliche
Anschlussprobleme in der
öffentlichen Kommunikation, da
Menschen in ihrer Alltagssprache
vollkommen anders mit der Geschlechterunterscheidung
umgehen.
Es ist also nach wie vor nötig.
Auf der anderen Seite gibt es Grenzen
der Wissenschaftskommunikation,
die auch vollkommen in Ordnung
sind, da Gender in der Gesellschaft
längst viel mehr stattfindet.
Wir müssen da also gar nicht mehr
so viel tun. So ein Begriff wie ‚Geschlechterrolle‘
ist fast schon Geschichte.
Was die Gender Studies
stattdessen tun müssten, ist was
ganz anderes. Sie müssen Abstand
nehmen von den sozial bewegten
gesellschaftlichen Milieus, die
sich über diese Frage in die Haare
kriegen. Die konservativen Milieus
fühlen sich von einer neuen kulturellen
Hegemonie bedroht. Man
muss nur in Parteiprogramme gucken,
Feminismus ist überall. Die
Gender Studies dürfen sich nicht
auf eine Seite schlagen, auch wenn
das vielleicht unser aller politische
Überzeugung ist. Vielmehr müssen
wir Dialoge herstellen.
Villa: Für das Feld insgesamt sehe
ich das auch so. Aber man darf
nicht vergessen, dass das Einzelne
schon tun. Bei uns in München
zum Beispiel. Wr haben Diskussionen
mit dem konservativen Aufbruch
in der CSU geführt, ich war
bei Burschenschaften, in Rotary
Clubs, bei der Rüstungsindustrie,
in zig Kontexten; ich spreche mit
quasi allen, auch und gern eigeninitiativ,
auch sehr viel via Social
Media. Erst vergangene Woche
haben wir über die Verwechslung
von Anti-Genderismus und Anti-
Feminismus gesprochen, was für
mich ein symptomatisches Phänomen
ist und nicht nur einem rechten
Spektrum zugeordnet werden
kann. Es gibt auch in linken und
feministischen Milieus eine starke
Abwehr gegenüber Gender als Begriff,
gegenüber Queer und Intersektionalität.
Das wird im Feld zu
wenig wahrgenommen.
UNIversalis: Werfen wir einen
Blick in die klassischen und sozialen
Medien, dann können wir
in letzter Zeit immer häufiger das
Thema „Sprache und Gender“
entdecken. Diskutiert wird über
den Genderstern sowie Sinn und
Unsinn dahinter. Wie sehr beeinflusst
Sprache unser Verhältnis zu
Geschlecht und Geschlechterstereotypen?
Hirschauer: Der Einfluss der
Sprache, und das sehen alle Sozial-
und Kulturwissenschaften
so, ist erheblich. In meinen Augen
nur nicht so erheblich, wie
Lingustinnen meinen. Auch der
Kulturkampf um das Sternchen
überschätzt sich selbst in seiner
Bedeutung. Auf der einen Seite
steuern sprachliche Kategorien unsere
Wahrnehmung und ein androzentrischer
Begriff wie ‚der Kunde
einer Sparkasse‘ wird tatsächlich
zuerst mit Männern assoziiert. Andererseits
kann man mit der Sprache
nicht so viel verändern, wie
Sprachpolitiker*innen das hoffen.
Es ist eine elementarische soziologische
Skepsis, die ich da anmelden
muss. Dabei handelt es sich um
eine offene Frage, ob die Politisierung
der Sprache einen effektiven
sozialen Wandel befördert oder ob
sie nur eine inklusivere Höflichkeit
unter den Menschen etabliert und
die Bewahrung des schönen sozialen
Scheins befeuert. Wäre auch
schön, ist aber viel weniger als
die Veränderung der ganzen Welt
durch Gendersternchen.
Es gibt auch super Beispiele für
gelungene Sprachpolitik, darunter
die Abschaffung des ‚Fräuleins‘
in den 70er Jahren, die die Gesellschaft
von dem Zwang befreit hat,
Frauen danach zu unterscheiden,
ob sie verheiratet sind oder nicht.
Das Gendersternchen ist hier für
mich ein negatives Beispiel, weil
es im Versuch Androzentrismen
zu überwinden, die Sprache selbst
viel zu sehr genderisiert. In unserer
Mainzer Forschungsgruppe suchen
wir nach anderen Möglichkeiten,
diesen Dramatisierungseffekt zu
unterbinden. Eine Patentlösung
wird es aber nicht geben.
Villa: Soziologisch finde ich das
Thema sehr interessant, weil es
widerspiegelt, wie individualisiert
und reduziert unser Umgang mit
Gesellschaftlichkeit ist. Die Idee
der Verfügbarkeit, der individuellen
Sichtbarkeit und Selbstbestimmung
in Bezug auf die Geschlechtlichkeit
ist bestimmt stellvertretend
dafür, wie sich unsere
Gesellschaft heute selbst wahrnimmt.
Hirschauer: Die Frage ist, ob man
noch mit Leuten reden kann, die
z.B. einen Satz formulieren wie
‚Gebt endlich den Weibern mehr
Macht!‘ und damit eine Vokabel
‚Weiber‘ nutzen, die uns zwar
nicht mehr richtig gut gefällt, aber
inhaltlich etwas ausdrücken, um
das es eigentlich geht. Und wenn
dort der Dialog unterbrochen wird,
haben wir eine elitäre, moralische
Blase, die sich so nicht mehr innerhalb
der Gesellschaft vermitteln
lässt. Das ist das Risiko einer
hochgezogenen Sprachpolitik.
Villa: Es kommt natürlich völlig
auf den Kontext an. Wir, die
Gesellschaft, sind uns momentan
unserer Sprache sehr bewusst, in
verschiedenen Milieus aber unterschiedlich
moralisiert und politisiert.
Aber grundsätzlich würde ich
sagen, dass das ein ethischer Zivilisationsfortschritt
ist. Und darin
gibt es, was mich hochgradig irritiert,
ein Begehren nach fast schon
autoritärer Einheit, indem man sagt
‚so und nur so muss/kann gesprochen
werden‘.
UNIversalis: Ein Blick in die Zukunft:
Welche Entwicklung wünschen
Sie sich für die Gender Studies?
Villa: Um es grundsätzlich zu sagen,
eine größere Auseinandersetzung
mit naturwissenschaftlichen
Themen und eine stärkere Hinwendung
gegenüber der Frage, wie wir
innerhalb der Gesellschaft den Verlust
der Naturontologie verhandeln.
Aber auch, und das kommt hinzu,
welchen Einfluss neue Medien auf
das Verhältnis zu Geschlecht und
Körperlichkeit haben. Um den aktuellen
Diskurs aufzugreifen, wünsche
ich mir für die Gender Studies
eine weniger aufgeregte Politisierung
des Faches.
Hirschauer: Mein Wunsch wäre,
dass die Gender Studies auf dem
Wege ihrer weiteren Professionalisierung
ihre Loyalitäten gegenüber
sozialen Bewegungen in den Griff
kriegen. Das würde die Themenpalette
diverser machen, auch im
Hinblick auf Geschlechter. Die
personelle Diversität zu erhöhen
wäre außerdem ein wesentlicher
Entwicklungsschritt und auf diesem
Weg, das ist meine Hoffnung,
auch politisch und moralisch auszunüchtern.
Ich persönlich sehe die
Zukunft der Gender Studies definitiv
in den Post Gender Studies,
weshalb wir in Mainz, gemeinsam
mit 18 Kolleg_innen, einen
Sonderforschungsbereich für eine
breiter angelegte Differenzierungsforschung
beantragt haben, für die
die Geschlechter nur ein Fall von
Humandifferenzierung sind.
UNIversalis: Wir danken Ihnen für
das Gespräch!
Sommer 2021 Gender-Studies 15
Jahrhundertelange Ausgrenzung des
Weiblichen
Noch immer sind Frauen sowohl in naturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern als auch medizinischen
Testverfahren dramatisch unterrepräsentiert
D
ie Geschichte des neuzeitlichen
Wissens ist nicht
nur eine Geschichte der
Erkenntnisgewinnung,
sondern auch eine Geschichte der
Macht. Unsere Gesellschaft und
Wissenschaft sind gleichermaßen
geprägt von einer jahrhundertelangen
Ausgrenzung und Entmachtung
des Weiblichen. Zwar gab es bereits
vor über hundert Jahren Wissenschaftlerinnen,
die ihren männlichen
Kollegen mit nichts nachstanden,
doch wissenschaftliche oder journalistische
Publikationen von weiblichen
Wissenschaftlerinnen findet
man recht selten. Woran das liegt?
Seit jeher werden Arbeitsbereiche
als „weiblich“ deklariert, insbesondere
wenn es um Zuarbeit, Recherche
und Co geht. Ein interessantes
Beispiel aus der Geschichte der
Wissenschaft ist das Projekt „Carte
du Ciel“, das 1887 vom Pariser
Observatorium unter dem Direktor
Ernest Mouchez ins Leben gerufen,
aber niemals beendet wurde. Mit
dem Aufkommen der Fotografie erkannten
die Wissenschaftler*innen
die großen Möglichkeiten hinter
der neuen Technologie, der Plan:
der Himmel sollte mit 22.000 Fotoplatten
(je 2°×2°) abgedeckt und
damit die Position von etwa einer
Million Sterne bestimmt und eine
fotografische Himmelskarte erstellt
werden. Tatsächlich wurde der
Großteil der später in Katalogen publizierten
Himmelskörperbilder von
Frauen gesammelt, darunter übrigens
auch Nonnen. Die zugehörigen
Kataloge und weitere Publikationen
wurden aber nur unter männlichen
Namen veröffentlicht, während die
weiblichen Mitarbeitenden für die
Öffentlichkeit vollkommen ausgeklammert
wurden. Ein Projekt, das
sinnbildlich für die Ausgrenzung
von Frauen aus der Wissenschaft
steht, selbst dann, wenn sie für einen
großen Teil der Erkenntnisgewinnung
verantwortlich sind.
Auch heute sind noch immer wenige
Frauen in naturwissenschaftlichen
Arbeitsfeldern tätig. An der technischen
Fakultät in Freiburg sind lediglich
18 Prozent der Studierenden
Frauen, noch geringer fällt nur die
Zahl unter den Doktorandinnen und
Professorinnen aus.
Jungs=blau, Mädchen=rosa
Mit dem Slogan „Weil Männer
nach Höherem streben“ wirbt der
Kinderspielzeughersteller Lego für
ein Baggerfahrzeug und ist damit
nicht der einzige große Konzern,
der bereits in Spielwarengeschäften
Geschlechterrollen formt und reproduziert.
Für Mädchen gibt es Parfüm
zum selber machen, Barbies und
Spielzeugpuppen mit rosa Kleidchen
und utopisch dünnen Beinen.
Für Jungs schnittige Rennfahrzeuge,
kleine Spielzeugmotoren zum selber
tüfteln und strategische Kriegsspiele.
Die Rollen sind schon für
Kinder klar verteilt. Da ist es kaum
verwunderlich, dass geschlechtsspezifische
Stereotype auch in der
Welt der Erwachsenen fortgeführt
werden, sei es auf dem Arbeitsmarkt
oder in den privaten Haushalten.
Wissenschaftler*innen weltweit erkennen
in diesem Zusammenhang
einen technologischen Determinismus
und fordern einen neutralen
Rekurs in Bezug auf technologische
Entwicklungen, angefangen bei der
Entwicklung von Video spielen, wo
Frauen mit übergroßen Brüsten und
gesundheitlich bedenklich schmaler
Taille körperspezifische Stereotype
reproduzieren, bis hin zu Künstlichen
Intelligenzen und Haushaltsrobotern,
die, wie sollte es anders
sein, mit überwiegend femininen
Merkmalen sowie Stimmen auftreten.
Ein interessantes Werk hierzu
ist übrigens das „Cyborg Manifesto“
der US-amerikanischen Biologin
und Wissenschaftstheoretikerin
Donna J. Haraway, in dem sie einen
Blick auf das Potenzial und die Gefahren
technischer Entwicklungen in
Hinblick auf Körper und Geschlecht
wirft.
Ach, das wird doch alles nicht so
tragisch sein! Falsch gedacht, denn
Kognitionswissenschaftler*innen
geben seit geraumer Zeit zu bedenken,
dass Stereotype aktiv die Performance
beeinflussen. Sogenannte
„Stereotype Threats“ sind mitunter
dafür verantwortlich, dass Mädchen
bis heute durch Film, Fernsehen und
Umwelt das Bild vermittelt bekommen,
nicht ausreichend geeignet für
Naturwissenschaften oder Mathematik
zu sein und es genau diese
permanent reproduzierte Annahme
ist, die die Performance von Schülerinnen
in naturwissenschaftlichen
Fächern vermindert.
Gender in der Medizin
Es hat in der Medizin eine lange
Tradition, den (cis-)männlichen
Körper als Norm zu betrachten. In
dem Werk „Complaints & Disorders
– The Sexual Politics of Sickness“
von Barbara Ehrenreich und
Deirdre English aus den 1970er
Jahren, stellen die Autor*innen fest,
dass insbesondere die Medizin des
19. Jahrhunderts von sozialen und
moralischen Vorstellungen beeinflusst
wurde.So galten Krankheiten
im Allgemeinen als feminin und
führten sogar zu einer dramatischen
Romantisierung der kranken Frau,
die durch schickliche Nervenzusammenbrüche
und Schwächeanfälle
zum Ausdruck kam.
Auch der Ausschluss von Frauen aus
der Bildungs- und Arbeitswelt wurde
durch Mediziner begründet, die
behaupteten, dass eine zu hohe Inanspruchnahme
des weiblichen Gehirns,
beispielsweise durch höhere
Bildung, negative Einflüsse auf den
Uterus und die Gebärfähigkeit habe.
Heute ist es die Medizin, die das soziale
und moralische Verhalten beeinflusst
und der eine Art modernes
Urvertrauen entgegengebracht wird,
basiert sie doch auf Rationalität und
reinen Fakten. Aber auf welchem
Weg gewinnen Wissenschaft und
Medizin ihre Erkenntnisse über den
menschlichen Körper und die Geschlechter?
Wie bereits zu Anfang erwähnt, ist
es der (cis-)männliche Körper, der
in medizinischer Hinsicht als Norm
betrachtet wird. Alle Abweichungen
davon werden als atypisch innerhalb
der Medizin ignoriert. Abgesehen
von Geschlechtsmerkmalen wird
auf weitere Unterschiede innerhalb
der Geschlechter also kaum eingegangen,
da sie in der medizinischen
Forschung noch immer dramatisch
unterrepräsentiert sind. Menschen,
die weder der weiblichen noch
männlichen Norm entsprechen,
werden in Entwicklungsverfahren
vollkommen ignoriert und als Behinderung
und/oder Krankheit beiseite
geschoben. Dieses Handeln im
wissenschaftlichen Kontext führt
dazu, dass Frauen – ursprünglich
zum Schutz von möglicherweise
Schwangeren – in der Regel nicht
Teil des Testprozesses für neue Behandlungsweisen
und Medikamente
werden. Diese werden stattdessen
mehrheitlich an männlichen Tieren
und später männlichen Probanden
getestet. Zusätzlich wird dieses Vorgehen
durch Hormonschwankungen
begründet, die Tests an Frauen angeblich
erschweren sollen, da die
Ergebnisse unterschiedlich ausfallen
können. Dass diese Hormonschwankungen
innerhalb des weiblichen
Körpers natürlich auch die
Wirkungsweise eines Medikaments
beeinflussen können, wird dabei
ausgeklammert und Durchschnittswerte
von männlichen Probanden
ohne Zwischenschritt auf den weiblichen
Körper übertragen. Und das
mit teils dramatischen Folgen, denn
Männer und Frauen unterscheiden
sich in „Prädisposition, Inzidenz,
Entstehung, Symptomatologie, Entwicklung
und Behandlungschancen
vieler Krankheiten“ (Gadebusch
Das Adjektiv „cis“ bezeichnet die Übereinstimmung
von Geschlechtsidentität und dem Geschlecht, das einer
Person bei der Geburt zugewiesen wurde.
Bondio, S. 12) maßgeblich. Durch
diese Diskrepanz sind nicht nur
viele Medikamente unzureichend
für Frauen erprobt, auch Diagnosen
fallen falsch aus und können im
schlimmsten Fall zum Tod führen.
Wussten Sie, dass sich ein Herzinfarkt
bei Frauen nicht zwangsläufig
durch Schmerzen in der Brust oder
dem linken Arm äußert? Und dass
Frauen über 60 häufiger an einer
Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben
als an Brustkrebs? Denn was oft als
Männerkrankheit betitelt wird, basiert
lediglich auf unzureichender
Forschung und mangelnder Aufklärung,
die das Leben von Frauen
direkt bedroht.
Frauen, die von einem Herzinfarkt
betroffen sind, klagen über Schmerzen
im Oberbauch, Übelkeit, Rücken-
und Nackenschmerzen sowie
Schmerzen im Kiefer- oder Halsbereich.
Durch mangelnde Aufklärung
gehen betroffene Frauen meist viel
zu spät in die Notfallaufnahme und
auch Ärzte registrieren die Symptome
noch immer viel zu häufig
nicht als Notfall. In Deutschland
müssen jedes Jahr knapp 222.600
Frauen und fast doppelt so viele
Männer aufgrund einer sogenannten
ischämischen Herzkrankheit stationär
behandelt werden. Und obwohl
die Zahl der betroffenen Frauen
niedriger ist, sterben noch immer
mehr Frauen als Männer an den Folgen
eines Herzinfarkts, nämlich 43
Prozent gegenüber 37 Prozent.
Genderforschende in der Medizin
versuchen diese Probleme zu
beheben, indem sie in der Forschung
konkret auf das Geschlecht
der erkrankten Person eingehen.
Wissenschaftler*innen fordern eine
ausgewogene Repräsentation weiblicher
und männlicher Probanden in
der Medikamentenforschung und die
Aufhebung der Norm „Mann“, um
Frauen besser vor Erkrankungen,
medikamentösen Nebenwirkungen
und sogar dem Tod durch Spätfolgen
schützen zu können.
Kritisch zu betrachten ist hierbei die
rein biologische Untersuchungsweise
der Gendermedizin. Innerhalb der
Forschung dieser Disziplin werden
ausschließlich biologische Unterschiede
und Merkmale zwischen
Mann und Frau untersucht, soziale
Einflüsse werden dagegen vollkommen
ignoriert. Somit fallen das soziale
Geschlecht und die dramatischen
Auswirkungen von kulturellen, historischen
und gesellschaftlichen
Normzwängen weg. Die soziale
Konstruktion von Geschlecht, auferlegt
durch kulturelle Normen und reproduziert
durch soziale und gesellschaftliche
Mechanismen, gilt in den
Gender Studies als wegweisendes
Fundament moderner Theorien und
kann in den Naturwissenschaften
neue Erkenntnisse liefern, besonders
in Hinblick auf eine ausgewogene
Gesundheitspolitik.
Stigmatisierende Rollenbilder von
Männlichkeit und Weiblichkeit wirken
sich direkt auf die Handlungsmacht,
das Auftreten und die Gesundheit
weiblicher, männlicher und
diverser Personen aus. Mit Sätzen
wie „Echte Männer kennen keinen
Schmerz“, „Sei kein Weichei“ oder
die Verlagerung der Verhütungsvorsorge
auf die Frau, nimmt die
Rollenverteilung der Geschlechter
aktiven Einfluss auf die Gesundheit
der Betroffenen.
Dies wirkt sich zum Beispiel auch
auf die Inanspruchnahme von Vorsorgeangeboten
aus. Während
Frauen regelmäßige Besuche beim
Gynäkologen ausdrücklich empfohlen
werden, unterliegt der Gang
zum Urologen für den Mann noch
immer einer gesellschaftlichen
Tabuisierung. Noch immer vollkommen
ausgeklammert werden
beispielsweise Transpersonen oder
nicht-binäre Menschen, die aus dem
Raster des vorherrschenden Mann-
Frau-Bildes fallen und auch in der
In der Vergangenheit wurde Lego des Öfteren wegen sexistischem Marketing kritisiert
Ein Foto der Frauen, die für das Projekt „Carte du Ciel“ Bilder der Himmelskörper
sammelten
Foto: Vatican Observatory
Gendermedizin nicht ausreichend
repräsentiert sind.
Eine zeitgemäße Erweiterung der
Gendermedizin könnte eine Form
der individualisierten Medizin sein.
Hierbei arbeiten Forscher*innen an
maßgeschneiderten Präventionsprogrammen
und Behandlungsmöglichkeiten,
die die Bedürfnisse des Individuums
verfolgen und nicht nur mit
Durchschnittswerten, männlicher
oder weiblicher Natur, arbeiten.
Elisabeth Jockers
Quellen:
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki
Katsari, „Gender-Medizin:
Krankheit und Geschlecht in Zeiten
der individualisierten Medizin“,
transcript Verlag, 2014
Barbara Ehrenreich, Deirdre English,
„Complaints & Disorders –
The Sexual Politics of Sickness“,2.
Auflage, The Feminist Press at
CUNY, 2011
Foto: promo
16 Gender-Studies Sommer 2021
Gender Studies in Deutschland
Frauenforschung
Frauenforschung in unterschiedlichen
Disziplinen unter dem
Motto „von Frauen für Frauen“
Ziel = Androzentrismus (Fokus
auf den Mann und vermeintlich
männliche Normen wie
beispielsweise Rationalität) innerhalb
der Wissenschaften aufzeigen
und dem eine weibliche
Perspektive entgegenstellen
Chicana Feminism
Entsteht als Abgrenzung zu weißem
Feminismus und Chicano
Bewegungen, die beide nicht auf
die mehrdimensionale Unterdrückung
der Chicanas eingehen
. Beginnende intersektionale
Perspektive
Doing gender
Geschlechter- statt Frauenforschung
Prozesse statt Strukturen
„Menschen haben also kein Geschlecht,
sondern machen es“ Degele
2008
. Das Konzept ‚Frau‘ an sich wird
hinterfragt
Kritik an weißem Feminismus von
Frauen der Mittelschicht
. „Sister Outsider“ von Audre Lorde
erscheint 1984
„Under Western Eyes“ von Chandra
Talpade Mohanty erscheint 1984
. Es gibt nicht ‚die Frau‘ und auch
nicht ‚ die dritte Welt Frau‘
„Can the Subaltern Speak?“ von Gayatri
Chakravorty Spivak erscheint
1988
. Feministische Perspektive in der
Postkolonialen Theorie
Linguistic turn
Frankfurt a.M.:
erster Lehrstuhl der Frauenforschung
in Deutschland
1960er 1970er 1980er 1987
1990er
Strukturorientierte
Gesellschaftskritik
Beispielsweise Verhältnis von
Erwerbs- und Hausarbeit, diskriminierende
Gesetzgebung
Trennung von sex und gender
Sex= biologisches, anatomisches
Geschlecht
Gender= Geschlechtsidentität,
soziale und kulturelle Dimension
von Geschlecht
Patriarchat
Black Feminism
Combahee River Collective wird
in den USA gegründet: Das Kollektiv
macht darauf aufmerksam,
dass es nicht nur entweder Rassismus
oder Sexismus gibt, sondern
sich diese Unterdrückungsmechanismen
in einem Subjekt
vereinen können.
Das Kollektiv versteht es als unabdingbares
Ziel, den Kapitalismus
zu überwinden, wenn Freiheit
für alle Menschen erreicht
werden soll
. Intersektionale Perspektive
1976 erscheint „Sexualität und
Wahrheit“ von Michel Foucault
. Wissen über Sex wird als
Macht über und Normierung von
Sexualität erfasst
Cultural turn
Doing difference
Prozesse im Fokus
Vergeschlechtlichung statt
Geschlecht
Rassifizierung statt Rasse
Queer Studies in den
Wissenschaften
Institutionalisierungsschub in den
Geschlechtswissenschaften
„Das Unbehagen der Geschlechter“
von Judith Butler erscheint 1990
. Geschlecht wird performativ hervorgebracht
1997
Institutionalisierung der Gender
Studies an der Humboldt Universität
in Berlin
Zentrales Anliegen der Queer
Studies:
„Sexualität ihrer vermeintlichen
Natürlichkeit zu berauben und
sie als ganz und gar von Machtverhältnissen
durchsetztes, kulturelles
Produkt sichtbar zu machen“
Jagose 2005
Sommer 2021 Gender-Studies 17
Entwicklung interdisziplinärer Forschung
Heteronormativität
Diskurstheoretischer Feminismus
. Ziel: Begriffe und Theorien,
mit denen Wissenschaft betrieben
wird, kritisch hinterfragen
und dekonstruieren
Michel Foucault: Macht ist produktiv
. Schon was als mächtig angesehen
wird ist männlich geprägt
(Mary Beard 2017)
Intersektionalität
Verwobene Diskriminierungsprozesse
im Vordergrund
Zu den Kategorisierungen sex,
race and class rücken weitere wie
Ableism, Religion und Ageism
in den Fokus
Gender in MINT (Mathematik-,
Informatik-, Natur- und Technikwissenschaften)
gewinnt an
Wichtigkeit
Deutschlandweit
104
Frauenforschungsprofessuren
„The Transfeminist Manifesto“
von Emi Koyama erscheint 2001
2001 Gender Studies als
Magister Nebenfach an der
Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg
Universität Konstanz (2015)
Goethe-Universität Frankfurt
a. M. (2015)
Universität zu Köln (2017)
Freie Universität Berlin (2019)
Universität Regensburg:
Studiengang wird im WS
2021/2022 eingestellt
1996 1997 2000er 2005 2010er 2015 2020er
erster Studiengang der
Gender Studies in
Deutschland:
Humbold Universität Berlin
Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg
Ruhr-Universität Bochum
(2005)
Christian-Alberechts-Universität
zu Kiel (2005)
Universität Bielefeld (2007)
Universität Paderborn (2009)
Ludwig-Maximilians-Universität
München (2009)
Intersektionalität
Kritik an Abkehr von Begriffen wie
‚der Frau‘, da dadurch politisches Potential
verloren geht
Ausdifferenzierung der Gender Studies
New Materialism
Körper als materiell wirkmächtige
Entitäten wurden in den Gender Studies
zu lange vernachlässigt und deren
Erforschung und Definition anderen
Wissenschaften überlassenrer weiteren
Professionalisierung ihre Loyalitäten
gegenüber sozialen Bewegungen
in den Griff kriegen. Das würde die
Themenpalette diverser machen, auch
im Hinblick auf Geschlechter. Die
personelle Diversität zu erhöhen
2011 Gender Studies Master an der
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
als eigenständiger Master
Das Besondere an den Gender Studies
in Freiburg sind die beiden Säulen
Gender Studies in den Geistes-, Sozial-
und Kulturwissenschaften sowie
Gender Studies in den Mathematik-,
Informatik-, Natur- und Technikwissenschaften.
Postcolonial turn / Dekolonialisierung
der Wissenschaft
Foto: Pauline Link
18 Gender-Studies Sommer 2021
Aktiv kollektive Denkweisen und Perspektiven
verändern und gestalten
Chancengleichheit als Grundprinzip der Gender Studies: Verschiedene Lebensrealitäten prägen
unterschiedliche Perspektiven
E
mma DeGraffenreid arbeitete
in den 1970ern für den
amerikanischen Großkonzern
General Motors. Als
sie und weitere Schwarze 1 Frauen
von ihrem Arbeitgeber entlassen
wurden, reichte Emma gemeinsam
mit vier anderen Schwarzen Frauen,
Klage gegen den Autohersteller ein.
Zusammen legten sie Beweise für
die Diskriminierung von Schwarzen
Frauen durch den ehemaligen
Arbeitgeber vor. Das zuständige
Gericht urteilte zu Gunsten von General
Motors mit der Begründung:
„Die Klägerinnen konnten keine
Urteile nennen, die festgestellt
hätten, dass Schwarze Frauen eine
besondere Gruppe darstellen, die
gegen Diskriminierung zu schützen
ist.“ (zitiert in Crenshaw, 2013, S.
38). Das Gericht bezog sich damit
zum einen auf die Anti-Diskriminierungsgesetzte
der 1940er bis 1960er
Jahre, welche vor allem Schwarze
Menschen vor Diskriminierung am
Arbeitsplatz, Wohnungsmarkt und
im öffentlichen Raum schützen
sollten. Sie beziehen sich jedoch
nur auf eine Art der Diskriminierung,
vornehmlich Rassismus. Da
General Motors jedoch nur Schwarze
Frauen entlassen hatte und nicht
Schwarze Männer, konnte es sich in
diesem Falle nicht um rassistische
Diskriminierung handeln. Auch eine
geschlechtliche Diskriminierung
konnte laut Gericht nicht erkannt
werden, da General Motors sehr
wohl Frauen beschäftigte, wenn
auch weiße 2 . Ein weiterer Fakt ist,
dass die Klägerinnen sich auf zwei
Arten erlebter Diskriminierung bezogen:
Sexismus und Rassismus.
Bis dato hatte es so eine Perspektive
1 Schwarz wird in diesem Artikel
großgeschrieben „um zu verdeutlichen, dass
es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster
handelt und keine reelle ‚Eigenschaft‘
die auf die Farbe der Haut zurückzuführen
ist“ (Amnesty International 2017).
2 weiß wird klein und kursiv
geschrieben, da ‚Weißsein‘ ebenso wie
‚Schwarzsein‘ keine biologische Eigenschaft
und keine reelle Hautfarbe, sondern
eine politische und soziale Konstruktion“ ist
(Amnesty International 2017).
öffentlich nicht gegeben. Demnach
lag laut des gerichtlichen Urteils
keine Diskriminierung von Seiten
des Konzerns General Motors vor.
Dieses Fallbeispiel ist inzwischen
zum Paradebeispiel der Intersektionalität,
also der Mehrebenendiskriminierung,
geworden. Die Juristin
und Wissenschaftlerin Kimberlé
W. Crenshaw rief den Begriff „Intersectionality“
Ende der 1980er ins
Leben. In ihrem Text „Die Intersektion
von „Rasse” und Geschlecht
demarginalisieren: Eine Schwarze
feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht
der feministischen
Theorie und der antirassistischen
Politik“ vergleicht sie Intersektionalität
mit einer Straßenkreuzung.
Kommt es an dieser Kreuzung zu
einem Unfall, kann dieser aus einer
Richtung oder aus mehreren Richtungen
entstehen (Crenshaw, 2013).
Genauso geschieht es in der Diskriminierung.
Sie kann auf einer Ebene
stattfinden, aber auch auf mehreren
gleichzeitig, wie in dem Beispiel
der Aktivistin Emma DeGraffenreid.
Die Schwarzen Frauen erfahren
Diskriminierung auf der Ebene
des Rassismus sowie des Sexismus.
Was diese Situation so verzwickt
macht, ist, dass sich diese Diskriminierungsebenen
nur gegen eine
bestimmte Gruppe von Menschen
richten. Dies hat auch das Gericht
damals aufgezeigt, ohne jedoch auf
das eigentliche Problem einzugehen.
Sie schlossen Rassismus und
Sexismus als Diskriminierungsebenen
aus, da Schwarze Männer
und weiße Frauen nicht betroffen
waren, obwohl diese Menschen den
Zielgruppen entsprochen hätten.
Kombiniert man Rassismus
und Sexismus
aber in diesem Fall,
sind diese Diskriminierungsformen
ganz
klar gegen eine Gruppe
gerichtet: Schwarze
Frauen.
Was ist Intersektionalität?
Intersektionalität bedeutet die
Mehrfachdiskriminierung von Menschen.
Als Basis dazu dienen die
Lebens-umstände wie Klasse, Ethnizität,
Gender aber auch Alter, Sexualität,
Körper und Ableismus. All
diese Kategorien (und viele mehr)
repräsentieren Straßen, welche in
dem Individuum zusammentreffen
und als Angriffsflächen genutzt
werden können. Intersektionalität
ist dementsprechend ein großes,
kompliziertes Wort für eine alltägliche
Sache, denn Diskriminierung
passiert immer wieder und überall.
Der Eine erfährt Diskriminierung
aufgrund von Hautfarbe und Sexualität,
die Nächste aufgrund von
Geschlecht und ihres Körpers. Die
dritte Person wird auf ihre körperliche
Behinderung und Geschlecht
reduziert.
Gleichzeitig kann das Konzept der
Intersektionalität auch zweckentfremdet
werden und als Privilegien-
Check dienen. So kann jede*r sich
selbst die Frage stellen, wie betroffen
man von struktureller Diskriminierung
ist oder eben nicht.
Ich bin eine weiße Frau und kann
in meinem Leben Rassismus nicht
ausgesetzt sein. Das bedeutet nicht,
dass weiße Menschen Diskriminierung
aufgrund ihrer Hautfarbe nicht
erfahren können. Es ist jedoch problematisch,
diese als Rassismus
auszulegen, auch wenn sie auf den
ersten Moment genauso erscheinen
mag. Rassismus hat eine lange,
grausame Geschichte, welche von
weißen Menschen dominiert ist.
Rassismus ist das Werkzeug weißer
Menschen, um die eigene Vorherrschaft
zu sichern und zu legitimieren.
Diskriminierung von weißen
Menschen auf Basis der Hautfarbe,
kann entsprechend nicht als Rassismus
bezeichnet werden. Diskriminierung
weißer Menschen kann
aber im Kontext des kulturellen
Erbes von Rassismus und dessen
Ausmaßen stattfinden. Wenn eine
weiße Person in bestimmten Regionen
nicht willkommen ist und
entsprechend behandelt wird, liegt
dies sehr wahrscheinlich an der
örtlichen Geschichte oder den persönlichen
Erfahrungen in diesem
Zusammenhang. Diskriminierende
Erfahrungen aufgrund weißer Hautfarbe
als Rassismus zu bezeichnen,
würde diesem Konzept einen Teil
seiner Gewichtigkeit nehmen und
weiße Menschen aus einen Teil ihrer
Verantwortung entlassen.
Weiter im Privilegien-Check stehe
ich als Frau wiederum durch
patriarchale Strukturen unter dem
Mann. Körperliche Diskriminierung,
beispielsweise durch starke
Abweichung des Schönheitsideals
oder körperlicher Behinderung,
erfahre ich auch nicht. Zudem bin
ich als Studierende aus dem Bildungsbürgertum
innerhalb der
Klassengesellschaft privilegiert.
Bell Hooks, afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin,
setzt sich
vor allem mit Themenfeldern wie
Feminismus, Antirassismus und
Klassismus auseinander. In ihrem
Buch „Die Bedeutung von Klasse“
nimmt sie die Verschränkungen der
Kategorien Ethnizität und Klasse
unter die Lupe. Anhand ihrer eigenen
Geschichte erklärt sie, wie
sich diese Verschränkung in ihrem
eigenen Leben bemerkbar gemacht
hat: „In Herrn Porters Haus wurden
wir uns alle zunehmend der Bedeutung
von Geld bewusst. Über
die Probleme mit Geld, und was es
bedeutete, genug davon für alles zu
haben, was benötigt und gewünscht
wurde, wurde noch immer nicht in
Bezug auf Klasse gesprochen. Wie
für die meisten Schwarzen Leute in
unserem Viertel, hatten Geldprobleme
auch für uns, mehr als alles
andere, mit ethnischer Zugehörigkeit
und der Tatsache zu tun, dass
die weißen Leute die guten Jobs –
jene mit guter Bezahlung – für sich
behielten. Obwohl unser Vater mit
seinem Job ein anständiges Gehalt
verdiente, bedeutete diese rassistische
Apartheid, dass er niemals
das Gehalt eines weißen Mannes
verdienen würde, auch wenn er
die gleiche Arbeit verrichtete. Als
Schwarzer Mann im rassistischen
Süden konnte er sich glücklich
schätzen, dass er überhaupt einen
Job mit regelmäßigem Einkommen
hatte“ (Hooks, 2000, S. 30).
Struktureller Rassismus
Je länger ich darüber nachdenke,
desto länger wird die Liste meiner
Privilegien. Eines davon sticht für
mich heraus und begleitet mich
schon länger. Es ist die Tatsache,
dass ich weiß bin und die damit
verbundenen Privilegien innehabe.
Im Jahr 2020 hat die globale Rassismusdebatte
neue Wellen geschlagen.
Ausgelöst wurden diese durch
die Todesfälle von Goerge Floyd
und Brianna Taylor sowie die Empörung
über die wiederholte rassistische
Polizeigewalt gegenüber BI-
POC (Black, Indigenous, People of
Color), welche sich in diesen Taten
widerspiegelte. Die Anschläge in
Halle (2019) und in Hanau (2020),
bei denen in Deutschland erst kürzlich
rassistisch und antisemitisch
motiviert getötet wurde, reihen sich
ein in die Geschichte rassistischer
Gewalt in Deutschland.
Auch rassistische Strukturen innerhalb
der deutschen Polizei wurden
vermehrt aufgedeckt. Die Liste ist
lang. Und doch bleibt die Diskussion
stets dieselbe: Weiße Menschen
begeben sich in Verteidigungsposition,
in Schreckstarre und versuchen
abzublocken. Ein prominentes
Beispiel aus Deutschland war die
Reaktion des Innenministers Horst
Seehofer, welcher die rassistischen
Strukturen in der Polizei bestritt
und als Schikanierung auslegte
(Vooren, 2020, S. 2). Inzwischen
hat sich Seehofer auf Kritik hin neu
positioniert und einer Studie in der
Polizei zugestimmt, welche sich
mit der „Motivation, Einstellung
und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten
– MEGAVO“ befasst
(DHPol, 2020). Auf den ersten
Blick fokussiert sich diese Studie
auf Gewalt, welche Polizeibeamte
erfahren. Das steht im Gegensatz zu
einer Rassismusstudie, die sich mit
den Problematiken in den eigenen
Reihen beschäftigt. Auf den zweiten
Blick sind die Thematiken durchaus
vorhanden, da die Berufsmotivation
und ihr zeitlicher Verlauf unter
Beamten untersucht wird, als auch
die Auswirkungen des Arbeitsalltags
(ebd.). Das Thema Rassismus
wird aber auch hier eher indirekt
thematisiert. Wie die Journalistin
Frieda Thurm für Zeit Online es zusammenfasst:
„In drei Jahren sollen
die Ergebnisse vorliegen. Dann
wird es darauf ankommen, dass
die Ergebnisse zum Rassismus in
der Polizei nicht versteckt werden
zwischen enschuldigenden Worten
über die Belastung der Beamten, so
wie es gerade im Forschungsauftrag
geschehen ist.“ (Thurm, 2020).
Es bleibt also abzuwarten ob die
Schritte nach vorne unternommen
werden. Was all diese erwähnten
Ereignisse jedoch gemein haben,
ist der strukturelle Rassismus.
Black Lives Matter (BLM) hat im
Jahr 2020 als Anti-Rassismus-Bewegung
viel Zustimmung und große
Aufmerksamkeit erfahren. Die Anti-Rassismus-Bewegung
ist jedoch
viel älter, genau wie die Debatte um
das Thema. Black Lives Matter entstand
im Jahr 2013 als Reaktion auf
den getöteten Trayvon Martin. Der
damals 17-jährige wurde auf dem
Rückweg vom Einkaufen von dem
Bürgerwehrschützen George Zimmerman
erschossen, welcher durch
die Nachbarschaft patrouillierte.
Dieser Tod löste eine große Kontroverse
um rassistische Gewalt aus.
Trayvon Martin war zum Zeitpunkt
seines Todes unbewaffnet, George
Zimmerman berief sich jedoch auf
Notwehr und wurde im Laufe des
Prozesses in Florida vom Gericht
freigesprochen (Zeit Online, 2013).
Es gab weitere Ungereimtheiten in
dem Fall. Zimmerman wurde erst
nach 45 Tagen in Haft genommen,
dann auf Kaution wieder freigelassen
und tauchte zwischendurch unter
(ebd.). Das Muster hat sich über
Sommer 2021 Gender-Studies 19
Symbolisierung der gesellschaftlichen Ungleichheiten
Foto: Promo
die Jahre bis heute nicht verändert.
People of Color werden getötet! Es
ist auffällig, wie wenige von den
Verantwortlichen selbst vor Gericht
einstehen oder mit Konsequenzen
rechnen müssen.
Wichtig ist es zu begreifen, dass
Rassismus so in unsere Gesellschaft
eingegliedert ist, dass er
normalisiert ist. Das bedeutet, dass
wir Menschen in einem System aufwachsen
und leben, welches um die
Ideologie des weißen (männlichen)
Privilegs aufgebaut ist. Der ideale
Mensch in dieser Gesellschaft ist
also männlich, weiß, heterosexuell
und cis-gender (die Übereinstimmung
von dem Geburtengeschlecht
und der Geschlechtsidentität). Von
diesem Ideal ausgehend, werden
menschliche Eigenschaften zu Angriffsflächen
für Diskriminierung.
So ein Menschenbild entsteht über
die Zeit und ist stark geprägt von
der Geschichte. Gleichzeitig ist Intersektionalität
real und prägt die
Gesellschaft, wird aber nicht von
allen Menschen geteilt. Hier wird
die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen
Strukturen und
der Gesellschaft deutlich. Gesellschaftliche
Strukturen beeinflussen
die Menschen, welche in der Gesellschaft
leben, genauso wirken
sich Veränderung im Handeln und
Denken der Menschen auf diese
Grundlagen aus. Das bedeutet,
der Mensch kann aktiv kollektive
Denkweisen und Perspektiven verändern
und gestalten.
Was bedeutet „kritisches Weißsein“?
Im Feld des Rassismus findet das
durch die Reflektion und das kritische
Hinterfragen der eigenen
Person und der eigenen Privilegien
statt. Da hier weiße Menschen in
der Verantwortung stehen, ist es
ihre Aufgabe, sich gegen Rassismus
stark zu machen. Critical Whiteness
oder kritisches Weißsein wird diese
Perspektive genannt. Sie setzt sich
damit auseinander, dass Weißsein
eine soziale Norm ist, welche in ih-
rer Normalität unsichtbar wird
(Nayak, 2007). Damit gemeint ist,
dass Weißsein immer nur durch
das Aufzeigen von Andersartigkeit
oder Nicht-Weißem existiert. Otherization
wird dieser Prozess auch
genannt. Ein einfaches Beispiel
ist das Aufzeigen von „anderen“
Hautfarben. Diese wird immer hervorgehoben,
sobald sie nicht der
Norm entspricht. Das hat zum einen
zur Folge, dass Menschen auf
ihre Hautfarbe und damit einhergehende
Stigmatisierungen reduziert
werden. Zum anderen werden sie
dadurch sofort aus der Norm ausgegrenzt.
Weiße Menschen werden
nicht auf ihre Hautfarbe reduziert,
sondern als Individuen mit Persönlichkeiten
wahrgenommen. Allein
das ist ein Privileg, welches weiße
Menschen anderen verwehren, solange
sie sich nicht mit sich, ihrem
Weißsein und den damit verknüpften
Privilegien auseinandersetzten.
Eine kleine Übung
Eine einfache Übung für jeden
Menschen ist es zu versuchen zehn
People of Color aufzuzählen, die
in der Wissenschaft arbeiten, Journalismus
betreiben oder Bücher
schreiben. Nehmen Sie sich eines
ihrer Interessenfelder vor und versuchen
Sie sich an dieser Aufgabe,
das Ergebnis wird für sich sprechen.
Es ist erschreckend, wie wenig weiße
Menschen sich ihrer Privilegien,
aber auch des Ausmaßes der weißen
Dominanz bewusst sind. Diese
Übung gilt nicht nur für Rassismus,
oder das Hinterfragen des Weißseins.
Man kann diese Aufgabe mit
jeder Intersektionalitätskategorie
machen und auf das Ergebnis gespannt
sein.
Happyland - Das Vergehen der
Anderen
Rassismus und vor allem auch Anti-Semitismus
sind keine fremden
Begriffe, sie werden in der Schule
gelehrt und sind gesellschaftlich
immer eine Thematik. Die Begegnung
mit dem Themenbereich findet
leider häufig nur in Form von
Theorie und schulischen Beispielen
statt. Es hat lange gedauert bis mir
in alltäglichen Situationen aufgezeigt
wurde, wie Rassismus, ähnlich
wie Sexismus und die klare
Geschlechterdichotomie und -stereotypen,
allgegenwärtig ist. Erst vor
kurzem war ich mit meiner Familie
auf einem Campingplatz spazieren.
Uns begegnete die Konföderierten-
Flagge, welche im Wind munter
vor sich hin flatterte. Diese rote
Flagge mit einem blauen diagonal
angeordneten Kreuz, gefüllt mit
weißen Sternen, ist ein Symbol des
Rassismus. Sie entstammt aus dem
amerikanischen Bürgerkrieg des 19.
Jahrhunderts und stand für die Südstaaten,
welche bekanntlich für die
Erhaltung der Sklaverei in den Bürgerkrieg
zogen (Klein 2020). Die
Flagge gilt in rechten Szenen als
Erkennungszeichen (Wrusch 2020).
Die Autorin und Rassismus Expertin
Tupoka Ogette bezeichnet
die Welt, in welcher Rassimus für
die Menschen nur ein abstraktes
Konzept ist, mit dem sie meinen
nichts zu tun zu haben, als Happyland.
„Happyland ist eine Welt, in
der Rassismus das Vergehen der
Anderen ist. In Happyland wissen
alle Bewohner*innen, dass Rassismus
etwas Grundschlechtes ist.“ Ich
habe lange Zeit in Happyland gelebt
und ich bin froh, nicht mehr Teil
dieser Realität zu sein. Falls Sie nun
inspiriert sind, lege ich ihnen nahe
sich mit einer der folgenden Kontroversen
auseinanderzusetzten:
Schauen Sie nach Hanau! Schauen
Sie auf die WDR Sendung „Die
letzte Instanz“. Es wird sich lohnen!
Julia Dannhäuser
Amnesty International. (2017, 28.
Februar). Glossar für diskriminierungssensible
Sprache. Zugriff 20
Januar 2021, fromhttps://www.
amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuerdiskriminierungssensible-sprache
Crenshaw, K.W. (2013). Die Intersektion
von „Rasse” und Geschlecht
demarginalisieren: Eine Schwarze
feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht,
der feministischen
Theorie und der antirassistischen
Politik. In: Lutz et al. Fokus Intersektionalität
Bewegungen und
Verortungen eines vielschichtigen
Konzeptes. Wiesbaden.
DHPol. (2020, 1. Dezember). Motivation,
Einstellung und Gewalt im
Alltag von Polizeivollzugbeamten -
MEGAVO [PDF]. BMI.
Hooks, B. (2000). Die Bedeutung
von Klasse. Unrast Verlag.
Klein, O. (2020, July 18). Verbot
durch das Pentagon - Warum ist
diese Flagge rassistisch? Zdf. Zugegriffen
13. Januar 2021 https://
www.zdf.de/nachrichten/politik/
konfoederiertenflagge-rassismus-100.html
Nayak, A. (2007). Critical whiteness
studies. Sociology Compass,
1(2), 737-755.
Thurm, F. (8. Dezember 2020). Die
Rassismusstudie, die nicht so heißen
darf. Zeit Online. Zugegriffen 01.
März 2020 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/
horst-seehofer-rassismus-polizeistudie-rechtsextremismus?utm_
referrer=https%3A%2F%2Fwww.
bing.com%2Fsearch%3Fpc%3DC
OSP%26ptag%3DD022420-N99
Buch Cover
„Die Bedeutung von Klasse“
Unrast Verlag
Protestsymbol der BLM Bewegung
97A74DCDF78DC%26form%3D
CONBDF%26conlogo%3DCT33
35043%26q%3Dthurm%2520202
0%2520kommentar%2520rassism
usstudie%2520polizei
Vooren, C. (2020, 10. Juli). NSU 2.0
– Ein Fall für Horst Seehofer. ZEIT
ONLINE. Zugegriffen 29. Dezember
2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/
nsu-2-0-polizei-hessen-drohungenjanine-wissler-politikerin-rechtsextremismus/seite-2
Wrusch, P. (2020, July 6). Südstaaten-Flagge
in Brandenburg:
Die Fahnen hoch.taz. Zugegriffen
13. Januar 2021, https://taz.de/
Foto: Promo
Buch Cover „Exit Racism“
Unrast Verlag
Suedstaaten-Flagge-in-Brandenburg/!5209939/
Zeit Online. (2013, July 14). Urteil
in den USA: Freispruch für Todesschützen
im Trayvon-Martin-Prozess.
Zeit Online. Zugegriffen 13.
Januar 2021https://www.zeit.de/
politik/ausland/2013-07/Trayvon-
Martin-prozess-freispruch
820 Gender-Studies Sommer 2021
Die Gender Studies dekolonisieren
Der Kolonialismus wirkt nach: Auch die Gender Studies müssen sich reflektieren
A
lice Hasters, Tupoka Ogette,
Hengameh Yaghoobifarah,
Max Czollek, Emilia
Roig – nur fünf Namen in
einer Reihe von großartigen Menschen,
die sich auf unverzichtbare
Weise zu Rassismus und anderen
ismen wie Sexismus und Klassismus
äußern. Wir haben das Glück
diese und weitere unermüdliche
Stimmen in Büchern, Podcasts und
Social Media Beiträgen zu hören
und deren umfangreiches Wissen
in – auch für nicht betroffene
Menschen – verständnisgerechten
Happen vor uns zu haben. Doch
wieso ist die Arbeit dieser Menschen
nach wie vor so aktuell, wo
doch viel von dem Gesagten bereits
seit Jahrzehnten, wenn nicht seit
Jahrhunderten immer und immer
wieder wiederholt wird? Die Antwort
auf diese Frage lässt sich mit
einem Wort zusammenfassen: Kolonialität.
Was es damit auf sich hat,
wieso Kolonialgeschichte so wichtig
für Deutschland und Europa ist
und was das alles mit den Gender
Studies zu tun hat, möchte ich im
folgenden Artikel aufzeigen.
Kolumbus, die Amerikas und Europas
Position im Weltmarkt
Alles beginnt mit der sogenannten
‚Entdeckung‘ der Amerikas. 1492
landet Christoph Kolumbus versehentlich
in der Karibik und ‚entdeckt‘
damit erstmals die Amerikas
mit europäischen Augen– nicht,
dass es für die dortige Bevölkerung
einer Entdeckung bedurft hätte, um
sich ihrer Existenz zu vergewissern.
Doch eben jene Bevölkerung steht
auch nicht im Augenmerk Kolumbus‘:
In der Peripherie gelegen hat
das Europa des 15. Jahrhunderts
nicht viel an Bodenschätzen zu
bieten, ist allerdings mehr als erpicht
darauf am asiatischen Handel
teilzuhaben um beispielsweise an
Gewürze zur Halt- und Genießbarmachung
von Nahrungsmitteln zu
kommen. Der mit der ‚Entdeckung‘
der Amerikas einhergehenden
‚Fund‘ von Bodenschätzen liefert
die benötigte Tauschware für die begehrten
Güter Asiens. Und so bedienen
sich europäische Königshäuser
gewaltvoll an dem reich gedeckten
Tisch natürlicher Ressourcen Amerikas
– und sichern Europa einen
Platz im Welthandel: Mithilfe amerikanischer
Bodenschätze und einer
ausbeuterischen Plantagenökonomie
– ausgetragen auf den Rücken
versklavter afrikanischer Menschen
– arbeitet sich Westeuropa von einer
Randerscheinung zunächst zu
einem der Hauptakteure des Weltmarkts
und schließlich – profitierend
von der durch Bevölkerungsanstieg
bedingten Wirtschaftskrise
der asiatischen Imperien – zu dessen
Zentrum.
Doch durch die europäischen Kolonisierenden
werden die Amerikas
nicht nur ihrer Schätze beraubt. Die
Schiffe bringen dem Kontinent auch
etwas: nämlich vermeintlich normative
Vorstellungen über die richtige
Religion, über heteronormativer
Weiblichkeit und Männlichkeit,
über den Aufbau einer ‚zivilisierten‘
Gesellschaft und allgemein
Wertevorstellungen darüber, was
eine richtige – aber eben auch eine
falsche – Lebensweise angeht. Und
die Deutungshoheit darüber hat?
Richtig. Europa. Um Land für sich
beanspruchen zu können, werden
der amerikanischen Bevölkerung –
sowie später auch in Asien und Afrika
– die Fähigkeit zur Ausbildung
von sozialen und politischen Organisationsformen
sowie ein Konzept
kollektiver Besitzverständnisse
abgesprochen. Sämtliche Vorstellungen,
die sich nicht mit den europäischen
decken werden als falsch
oder ‚unzivilisiert‘ konzipiert womit
auch die Fähigkeit ‚der Anderen‘ eigenes
territoriales Land zu pflegen
nicht gegeben erscheint. Aus dieser
Überzeugung heraus wird das ‚vorgefundene‘
Land als frei verfügbar
verstanden – und unter den europäischen
Kolonialmächten aufgeteilt.
Diese Enteignung, Unterdrückung
und Unmündigmachung der lokalen
Bevölkerung wird dabei unter
einer sogenannten ‚Zivilisationsmission‘
im Gedankenkonstrukt der
Europäer*Innen so dargestellt, als
würde den dort lebenden Menschen
ein Gefallen getan, indem ihnen die
richtige Art und Weise Mensch zu
sein gezeigt wird.
Kolonialität im öffentlichen Kulturraum:
Raubgut in der Hauptstadt
Wer nun denkt, dass Kolumbus und
der Kolonialismus, für den seine
Person sinnbildlich steht, nun bereits
seit mehr als einem halben
Jahrtausend in der Vergangenheit
liegen, dem sei in Erinnerung gerufen,
dass europäische Kolonien
bis ins 20. Jahrhundert existierten.
Und Inselstaaten wie beispielsweise
Martinique oder Guadeloupe stehen
nach wie vor unter europäischer
Vorherrschaft. Letztere werden nun
aber Exklaven oder Überseegebiete
genannt. Um die Machtstruktur zu
erfassen, die auch nach wie vor in
Zeiten besteht, in denen es keine
koloniale Verwaltung im Sinne des
Kolonialismus mehr gibt, eignet
sich der Begriff der Kolonialität.
Und diese Machtstruktur durchzieht
nach wie vor sämtliche unserer Lebensbereiche,
wie anhand eines prominenten
Beispiels aus der Hauptstadt
deutlich wird: dem Berliner
Humboldt Forum.
Die Pläne des Humboldt Forums
stehen seitdem sie existieren in
reger Kritik. Da wäre zum einen
die Kritik an der kostspieligen
Rekonstruktion des historischen
Berliner Stadtschlosses, dem Ort
des Humboldtforums, das in den
Augen vieler Berliner*Innen eine
rückwärtsgewandte Kulturpolitik
repräsentiert., die Berlin als postmigrantischem
Gesellschaftsraum
nicht gerecht wird. Oder auch die
kritische Frage nach der Namenswahl,
warum die nicht-europäischen
Kunstartefakte unter dem Namen
eines preußischen Forschers aus
der Kolonialzeit ausgestellt werden.
Hauptsächlich aber steht die
Ausstellung gestohlener Kunst aus
ehemals kolonisierten Gebieten im
Zentrum der Kritik. Die Exponate
des Humboldt Forums bestehen fast
gänzlich aus kolonialer Raubkunst
und gehen auf eine blutige Vergangenheit
und ein Machtverhältnis
zwischen Kolonisator*Innen und
Kolonisierten zurück. Auf der Seite
des Humboldt Forums entsteht
der Eindruck, als hege das Museum
einen offenen und reflektierten
Umgang mit den Kritikpunkten.
Die Überschrift „Kolonialismus und
Kolonialität“ auf der Website lässt
vermuten, dass sich das Forum – zumindest
hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit
– mit der Problematik
seiner gestohlenen Exponate auseinandergesetzt
zu haben scheint.
Irritierend dann die Formulierung
des Generalintendanten des Forums
Hartmut Dorgerloh in einem offiziellen
Statement:
„Die postkoloniale Debatte, die
schon seit vielen Jahren von verschiedenen
Akteuren der Zivilgesellschaft
vorangetrieben wurde, ist
nicht zuletzt auch durch die Debatten
um das Humboldt Forum in der
Mitte der Gesellschaft angelangt.“
Dorgerlohs Formulierung auf ein
anderes Beispiel übertragen klingt,
als würde die Polizei ihr Racial Profiling
verteidigen, da dadurch die
Debatte um Rassismus in der Mitte
der Gesellschaft angelangt sei. Die
Frage danach, warum die Exponate
trotz eines Bewusstseins darüber,
dass sie ihren Herkunftsgesellschaften
gewaltvoll entrissen wurden,
nach wie vor in deutschem Besitz
und bald in Berlin Mitte zu begutachten
sind – und nicht an eben jene
Herkunftsgesellschaften zurückgegeben
werden –, wird seitens des
Humboldt Forums nicht überzeugend
geklärt – liegt ihre Antwort
doch eben genau an den allgegenwärtig
herrschenden Machtstrukturen
der Kolonialität, die nach wie
vor unsere Gegenwart prägt.
Die EU als Projekt der Kolonialmächte
Nicht nur in Sachen Kunstgeschichte
ermangelt es der kollektiven europäischen
Erinnerungskultur an
einem Bewusstsein für ihre von
Kolonialismus geprägte Vergangenheit
– und von Kolonialität geprägte
Gegenwart. Auch auf politischer
Ebene sind die Auswirkungen der
Kolonialgeschichte längst nicht im
Bewusstsein von Europäer*Innen
angekommen – dabei sind diese
konstitutiv für die heutige EU, die
als Projekt der damaligen Kolonialmächte
zu verstehen ist. Sichtbar
wird die EU als das Erbe der
Staaten, die die Welt aufteilten,
wenn in Erinnerung gerufen wird,
dass 60% der heutigen EU-Grenzen
durch Kolonialpolitik gezogen
wurden. Die Mitgliedsstaaten von
2002 besaßen dank kolonialer Besitztümer
in den 1930ern knapp ¾
aller Landfläche der Welt und fast
50% der bewohnten Landfläche
außerhalb Kontinental-Europas.
Und auch nach wie vor verfügen
einige zentraleuropäische Länder
wie Frankreich über Exklaven und
Überseegebiete fernab von Kontinental-Europa.
Doch nicht nur in Sachen territorialer
Grenzziehung ist die EU von ihrer
kolonialen Herrschaftsgeschichte
geprägt. Die EU als Staatenbund
wurde nicht etwa auf sozialen oder
solidarischen Grundpfeilern gebaut,
sondern war von Beginn an ein Zusammenschluss
von Ländern, die
ihre gemeinsamen wirtschaftlichen
Interessen – entgegen der Interessen
anderer – durchsetzen wollten. Die
kapitalistische Logik, die diesem
Zusammenschluss eingeschrieben
ist, hat sich allerdings nicht in einem
luftleeren Raum begründet, sondern
geht einher mit der aufklärerischen
Konstruktion des ‚superioren weißen
Mannes‘ als Gegenpol zu einer
rassifizierten Konstruktion von dem
inferioren Anderen auf Grund von
Hautfarbe und Herkunft.
Die aus dieser Konstruktion hervorgehenden
Dualismen, die sich durch
sämtliche Lebensbereiche ziehen
(superior/inferior, weiß/schwarz,
zivilisiert/barbarisch, gut/schlecht,
usw.), bilden die Grundannahme
einer kolonialen Logik und damit
die Basis des Eurozentrismus oder
auch Okzidentalismus: Die Vorstellung,
Europa stelle den Gipfel einer
unumgänglichen, ‚natürlichen‘
Ordnung dar. Diese führt zu einem
Denken, in dem Westeuropa mit seiner
Bevölkerung die Norm darstellt,
anhand derer alles andere gemessen
wird.
Die Reproduktion der okzidentalen
Norm innerhalb der akademischen
Sphäre
Diese Grundüberzeugung des Okzidentalismus
wird unter anderem
auch in der wissenschaftlichen
Sphäre reproduziert. Auch die Arbeitsteilung
in den Geistes-, Sozial-
und Kulturwissenschaften folgt
einer kolonialen Logik, wenn innerhalb
dieser unterschiedliche Weltregionen
als Forschungsbereich
unterschiedlicher Disziplinen nach
dem Schema modern/traditionell
entsprechend soziologisch/ethnologisch
kategorisiert werden:
Diese disziplinäre Arbeitsteilung
ist einerseits das Produkt einer kolonialen
Weltordnung – hier der sich
selbst als „modern“ bezeichnende
„Westen“, dort der als rückständig
geltende kolonisierte „Rest“ der
Welt – und reproduziert diese Logik
zugleich durch ihre institutionelle
Stabilisierung bis heute (Santos
2017: 7)
Doch nicht nur die disziplinäre Arbeitsteilung
an sich, sondern auch
die Art und Weise der Wissensvermittlung
innerhalb unterschiedlichster
Disziplinen reproduziert und festigt
die koloniale Matrix und die
damit einhergehenden Kategorisierungen
von Menschen, was anhand
des folgenden Beispiels aus dem
akademischen Alltag deutlich wird:
Mein Partner studiert Sport auf
Lehramt an einer deutschen Universität.
In einer sogenannten Unterrichtspraktischen
Übung sollten
zwei Kommiliton*innen zeigen,
wie sie einer neunten Klasse die
Sportart Intercrosse näherbringen
würden. Da der Ursprung des Lacrosse
in einem indigenen Volk der
Amerikas liegt, hatten die Studierenden
den Einfall, Lippenstifte
zur Gesichtsbemalung mitzubringen
– und eine Schulstunde lang
‚In*ianer‘ zu spielen.
Am Ende der Stunde gab es eine
Evaluationsrunde, innerhalb derer
mein Freund Bedenken hinsichtlich
der Repräsentation indigener
Menschen und der damit einhergehenden
Reproduktion von stereotypen
Bildern im Kontext der
Übung äußerte. Dieser Kritik wurde
seitens des Dozenten mit folgenden
Argumenten begegnet: Es müsse
nicht jede Modeerscheinung mitgemacht
werden; Kinder hätten Spaß
an dieser Art von Spiel; Er habe nie
von einer betroffenen Person gehört,
die ‚so etwas‘ störe. Die Gruppe aus
circa 15 Lehramtsstudierenden und
einem Dozenten einigte sich auf
die in ihren Augen einzig zulässige
Kritik, dass der Aufbau der Stunde
wohl eher für jüngere Schüler*innen
geeignet sei. Diese Situation, in der
eine kritische, anti-rassistische Haltung
von einem weißen, cis-männlichen,
mittelständigen Hochschuldozenten
fortgeschrittenen Alters
als Modeerscheinung abgewertet
wird, steht nicht nur stellvertretend
für den Rückstand in Sachen
Dekolonialisierung an deutschen
Hochschulen, sondern auch für die
Ignoranz, die akademische Autoritäten
gegenüber marginalisierten
Gruppen an den Tag legen.
Das Problem mit der kulturellen
Aneignung
Das Beispiel zeigt deutlich: Was
für die einen eine karnevaleske
‚Verkleidung‘, ist für andere ein
respektloser, diskreditierender
und gewaltvoller Umgang mit der
Geschichte nicht-weißer, nichteuropäischer
Gesellschaften. Diese
Kritik wird unter der Bezeichnung
der ‚kulturellen Aneignung‘ erfasst.
Kulturelle Aneignung beschreibt
eine hegemoniale Praxis, durch die
sich Menschen der Dominanzkultur
Elemente von unterdrückten Kulturkreisen
aneignen – im Sportunterricht
ist es die ‚Verkleidung‘ durch
Gesichtsbemalung, in Sachen Frisuren
sind es Cornrows und Dreadlocks,
bei Feierlichkeiten das Holi-
Festival, um nur einige Beispiele
zu nennen. Kulturelle Aneignung
ist deshalb höchst problematisch,
da die angeeigneten Elemente oft
zentrale Bestandteile von Kulturräumen
sind, die gerade wegen
ihrer Andersartigkeit als ‚falsch‘
oder ‚unzivilisiert‘ angesehen werden.
Dabei wird die ‚angeeignete
Kultur‘ meist stark vereinfacht:
Die wenigsten von uns haben sich
wohl schon einmal damit auseinandergesetzt,
welche lokalen Gemeinschaften
Gesichtsbemalungen
vornehmen und welche Bedeutung
dieser zukommt, welche Symbolik
Cornrows für Schwarze Menschen
mit sich tragen und was deren Geschichte
im Kontext von Sklavenhandel
ist. Platt gesagt: Sich Striche
ins Gesicht zu malen, gilt an weißen
Foto: Pauline Link
Sommer 2021 Gender-Studies 21
Menschen als Spaß, während sie an
einer indigenen Person als rückständig,
traditionell und unmodern eingeordnet
würden. Wenn solch ein
Verhalten nicht zumindest für Irritation
sorgt, wird das herrschende
Machtgefälle, das dem zugrunde
liegt, nicht nur verschleiert, sondern
reproduziert. Es geht in diesem
Beispiel nicht darum mit dem
Finger auf Personen zu zeigen, die
sich der Problematik hinter diesem
Unterrichtsentwurf nicht bewusst
sind, sondern aufzuzeigen, wie
unauffällig und normalisiert rassistische
Strukturen, die sich über
Jahrhunderte hinweg in unserem
Denken eingenistet haben, zum
Ausdruck kommen.
Die Wirkmächtigkeit kolonialer
Sprache
Neben der hegemonialen Praxis
der kulturellen Aneignung möchte
ich das Beispiel der Sportstunde
nutzen, um die Problematik in Sachen
Begriffswahl in den Fokus zu
stellen. Die Studierenden sprechen
in ihrer Übung von In*ianern. Der
Stern, den ich in meiner Schreibweise
des Wortes verwende, mag
für Irritation sorgen. Soll er auch.
Denn der Begriff In*ianer ist
nicht etwa von damit bezeichneten
Menschen selbstgewählt, sondern
wurde indigenen Völkern der
Amerikas durch die europäischen
Kolonisator*Innen aufgezwängt.
Aufgezwängt von Menschen, die
ihnen alles wegnahmen, ihre Arbeitskraft
missbrauchten, Genozide
an ihnen begingen, bis heute ihr
Land besetzen und sich niemals die
Mühe machten einzelne Gemeinschaften
zu unterscheiden, sondern
alle ‚anderen‘ unter einem Sammelbegriff
zusammenfassen. Einem
Sammelbegriff, der ironischerweise
auf dem Irrtum Kolumbus beruhte,
endlich eine Meeresroute nach Indien
gefunden zu haben. Wir maßen
uns an, Menschen einen Begriff zuzuschreiben,
der auf einem offen
bekannten Fehler beruht und sehen
es nicht einmal für nötig, diesen zu
korrigieren?
Doch neben der semantischen Bezeichnung
ist vor allem das Bild,
das durch diese getragen wird, problematisch.
Indigene Personen werden
als ‚die Anderen‘ konstruiert,
mystisch aufgeladen und als die unzivilisierten,
aber mit der Natur verbundenen
Fremden gezeichnet. Edward
Said bezeichnet diese Praxis
in seinem bekannten Werk „Orientalismus“
(1978) als Othering. Dies
ist eine philologische Praxis, durch
die das aus westlicher Sicht ‚Andere‘
erforscht und zum Objekt des
Wissens gemacht wird. Das westliche
Subjekt, von dem ausgehend
diese Forschung angestellt wird,
verkörpert hier implizit die Norm –
und hat somit sowohl Deutungshoheit
als auch Handlungsmacht inne.
Von diesem Subjekt abgegrenzt
wird das zu erforschende ‚Andere‘
als solches vorausgesetzt, bevor die
Forschung überhaupt stattfindet.
Daraus entsteht ein asymmetrischer
Diskurs aus hegemonial-westlicher
Perspektive, durch welchen dieses
‚Andere‘ erst produziert wird. Damit
stehen sich Kolonisierte und
Kolonisierende in einem dichotomen
Machtgefüge gegenüber, in
dem immer klar ist wer über wen
sprechen kann.
Das Benannte und das Unbenannte
In ihrem Buch „Sprache und
Sein“ (2020), imaginiert Kübra
Gümüşay ein Museum, in dem die
Welt dargestellt wird. In diesem
Museum existieren zwei Kategorien
von Menschen, die Benannten
und die Unbenannten. „Die Unbenannten
sind Menschen, deren
Existenz nicht hinterfragt wird.
Sie sind der Standard. Die Norm.
Der Maßstab.“ Die Unbenannten
sind gleichzeitig auch die Benennenden.
Die Benannten „sind zuerst
einfach nur Menschen, die auf
irgendeine Weise von der Norm
der Unbenannten abweichen. Nicht
vorhergesehen. Fremd. Anders.
Manchmal auch einfach nur ungewohnt.
Unvertraut. Sie erzeugen
Irritationen. Sie sind nicht selbstverständlich“.
Die Unbenannten
können in unserer aktuellen Realität
– an der sich in den letzten Jahrhunderten
in diesem Aspekt nichts
geändert zu haben scheint – als
weiße, heterosexuelle, christliche
Cis-Männer der Mittelklasse beschrieben
werden. Sie entscheiden
was der positiven Seite der Medaille
der Moderne zugerechnet wird
und was nicht.
Doch natürlich gibt es sehr viele
verschiedene miteinander verbundene
Ebenen von Privilegiertheit
und Diskriminierung. Diese können
auch innerhalb marginalisierter
Kategorien wie zum Beispiel
‚den Frauen‘ zu Unterscheidungen
und Hierarchisierungen führen.
Die Figur der ‚Dritte-Welt-Frau‘ –
wie sie problematischerweise auch
in vielen Feminismen existiert –
stellt ein Beispiel im Bereich der
Benannten dar. Die sogenannte
‚Dritte-Welt-Frau‘ wird abgegrenzt
von der Norm der Unbenannten:
in diesem Fall der weißen, heterosexuellen,
christlichen Cis-Frau
der Mittelklasse, welche parallel
zum weißen, europäischen Mann,
als Spitze der Entwicklung der
Menschheit angesehen wird. Die
von dieser Norm abweichenden
Verortungen führen im Beispiel
der ‚Dritte-Welt-Frau‘ dazu, dass
diese als untergeordnetes Subjekt
konzipiert wird. Ein konzeptioneller
Missstand der auch in den
Gender Studies übersehen oder
bewusst ignoriert wurde und nach
wie vor wird.
Ein weiterer Mechanismus von
Rassismen, den ich am Beispiel
der Verwendung der kollektiven
Zuschreibung In*ianer bereits angerissen
habe, ist die Entindividualisierung
betroffener Personen.
Gümüşay formuliert:
Wir betrachten sie durch die Augen
der Unbenannten: gesichtslose Wesen,
Bestandteile eines Kollektivs.
Jede ihrer Äußerungen, jede ihrer
Handlungen wird auf das Kollektiv
zurückgeführt, Individualität wird
ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten,
die sie betrachten, erscheint
das als normal, obwohl für
sie selbst Individualität die Grundlage
ihres Seins ist.
Als eigenständiges Individuum
und nicht als Repräsentant*in einer
Gruppierung (eingeordnet in diese
durch die Unbenannten) wahrgenommen
zu werden ist nicht selbstverständlich
und wird für Subjekte
umso schwieriger, je mehr intersektionale
Unterdrückungsmechanismen
in der jeweiligen individuellen
Situation zusammenspielen.
Was hat all das mit den Gender
Studies zu tun? Intersektionalität
und Gender Studies
Das Konzept der Intersektionalität
geht zurück auf Kimberlé Crenshaw,
eine US-amerikanische An-
wältin und Bürgerrechtsaktivistin.
Anhand der Intersektionalität versucht
Crenshaw die Verwobenheit
unterschiedlicher Unterdrückungsund
Diskriminierungsparameter zu
fassen. Diesem Konzept wird in
den Gender Studies – bestenfalls
– Rechnung getragen. Die Gender
Studies befassen sich in ihren Forschungsbereichen
mit sämtlichen
Arten von Unterdrückungsstrukturen
und Machtmechanismen.
Dahinter steht die Annahme das
Geschlecht als Parameter fungiert,
anhand dessen sich Diskriminierungsstrukturen
manifestieren. Geschlecht
kann in dieser Funktion nie
allein, sondern stets situativ in Korrespondenz
mit weitern Parametern
gedacht werden. Es besteht ein Unterschied
darin, ob man auf Grund
dessen systematische Unterdrückung
erfährt, weil man eine Frau
ist, oder weil man eine Schwarze
Frau aus der Arbeiter*innenklasse
ist. Wie der Zeitstrahl der Geschichte
der Gender Studies zeigt (siehe
Abbildung), handelt es sich bei diesem
interdisziplinären Studiengang
um einen Forschungsbereich, der
eben gerade dieser Multidimensionalität
von Unterdrückungsmechanismen
gerecht zu werden versucht.
In dieser Hinsicht werden auch koloniale
Strukturen zum Gegenstand
der Gender Studies gemacht. Gender
Studies zu studieren bedeutet
nicht automatisch, dass sämtliche
uns allen inhärenten Rassismen direkt
sichtbar gemacht oder gar verlernt
würden. Die Gender Studies
müssen wie alle anderen Wissenschaften
auch dekolonisiert werden.
Allerdings wird gerade aus den Reihen
der Gender Studies heraus eine
Wissenschaftskritik formuliert, die
nach einer Dekolonialisierung fordert.
Machtmechanismen geht und
zweitens die Gender Studies als
Disziplin eine Wissenschaftskritik
anstreben. Dr. Maisha-Maureen
Auma, Professorin für Kindheit und
Differenz äußert sich diesbezüglich
in einem Interview mit dem Tagesspiegel:
„Die Lage ist schlecht. Nehmen
wir das hyperdiverse Berlin als
Beispiel. Die Zusammensetzung
des wissenschaftlichen Personals
an Berliner Hochschulen kann die
postmigrantische Realität der Stadt
nicht im Mindesten abbilden“. Es
geht also zum einen darum, wer
Wissen produziert und zum anderen,
was eigentlich als Wissen gilt.
Beide Faktoren hängen mit der Kolonisierung
weiter Teile der Welt
Buch Cover „Why we matter“
Aufbau Verlag
Koloniale Matrix, die die koloniale Macht konstituiert
und der damit verbundenen Vorherrschaft
Europas zusammen.
Was tun?
Maisha Aumas Vorschlag in einem
Interview mit dem tagesspiegel
aus dem Dezember 2020, ist eine
intersektionale Sichtweise sowie
„die Dekonstruktion gesellschaftlicher
Grenzziehungen. Ich plädiere
deshalb für die gleichzeitige
Anwendung mehrerer Strategien,
die einander sowohl widersprechen
als auch kritisch ergänzen können.
Mal müssen Gruppengrenzen bewusst
gezogen werden, um gemeinsame
Erfahrungen von Entwertung
und Dehumanisierung sichtbar zu
machen. Ein anderes Mal müssen
die gesellschaftlichen Grenzen dekonstruiert
werden, um die Logik
des Eingeteilt-Werdens zu durchkreuzen.
Was wir brauchen, ist eine
spannungsreiche Zusammenarbeit
verschiedener Gerechtigkeitsparadigmen:
‚Empowerment‘, ‚Dekonstruktion‘
und ‚Normalisierung‘“.
Ansatz Perspektivenumkehr
Für die Gender Studies bedeutet
dies Begrifflichkeiten und Konzepte
auf Eurozentrismus hin zu untersuchen
und Lebensrealitäten zu situieren.
Nina Degele, Professorin für
Soziologie und Gender Studies in
Freiburg bringt es auf den Punkt:
Wichtig ist „das Eigene so zu verfremden,
dass man darin ebenfalls
etwas Erklärungsbedürftiges sieht.
Warum beispielsweise fällt uns in
Buch Cover „Sprache und Sein“
Hanser Literarturverlage
Bezug auf die Unterdrückung von
Frauen das Kopftuch als passendes
Symbol auf, Stöckelschuhe aber
nicht?“
Diese Frage stellte sich auch Manuela
Boatcă, Professorin für Makrosoziologie
in Freiburg, und gestaltete
demnach unter dem Motto der
Perspektivenumkehr die Vorlesung
„Globaler und lokaler Wandel“.
Mit Perspektivenumkehr gemeint
ist „der konsequente Versuch, die
Geschichte und die Gegenwart aus
der Perspektive derjenigen darzustellen,
die aus der Geschichte
ausgeschlossen wurden und deren
Belange nie oder sehr spät als
legitimen Gegenstand sozialwissenschaftlicher
Theorie angesehen
wurden. Also die Perspektive derer
in den Vordergrund zu stellen, die
als nicht-europäisch, nicht-westlich,
nicht-weiß oder nicht-christlich rassisiert
oder diskriminiert wurden.
Das würde zum Beispiel heißen,
die Geschichte der französischen
Revolution nicht ohne die der haitianischen
Revolution zu erzählen,
durch die der erste dekolonisierte
Staat und die erste schwarze Republik
weltweit entstanden sind; oder
die demographische, wirtschaftliche
und kulturelle Bedeutung der
Verschleppung und Versklavung
von Millionen Afrikaner*innen an
den Anfang einer jeden Geschichte
der Globalisierung zu setzen“.
Auf meine Frage, ob Manuela
Boatcă erstaunt sei, dass die Inhalte
Illusrtation: Louise Link
ihrer Vorlesung für die meisten Studierenden
neu sind antwortet sie:
„Überrascht war ich nicht, diese
Rückmeldung bekomme ich jedes
Jahr von einzelnen Studierenden per
E-Mail oder in den Evaluationen.
Aber diese wiederholte Antwort
gleich von mehreren Studierenden
verschiedener Jahrgänge auf einmal
zu hören, machte mir diesmal
deutlich, wie wichtig es ist, in einer
B.A.-Soziologie Vorlesung Inhalte
zu vermitteln – von der Geschichte
des europäischen Handels mit Versklavten
bis hin zu den EU-Grenzen
in Südamerika und der Karibik
– die streng genommen nicht der
Soziologie entstammen und zum
Teil viel früher, also in der Schule,
hätten vermittelt werden sollen,
um rassistische und koloniale
Strukturen realistisch verstehen zu
können. Denn bevor sie verstanden
werden, können sie nicht bekämpft
werden.
Die Stimmen und Perspektiven der
eingangs erwähnten Aktivist*innen
und Autor*innen sind leider überhaupt
nicht überholt, sondern weiterhin
von unglaublicher Wichtigkeit,
im Studiengang der Gender
Studies, in allen anderen Studiengängen
und überall sonst.
Louise Link
Buch Cover „Gender/ Quuer Studies“
W.F. UTB Verlag
10 22 Gender-Studies Sommer 2021
Eingebürgerte Tendenz: Problemgruppe
Mann
Männerforschung nach dem Leitsatz: Gender Studies ist für alle da! Die Entselbstverständlichung des
männlichen Klischees
Symbolisch für das gesellschaftliche Männerideal Foto: Promo
D
ie „man box“: „Meine
Tochter konnte weinend
zu mir kommen, es spielte
keine Rolle, worüber
sie weinte. Sie durfte auf meinen
Schoß, sich ankuscheln, wurde getröstet
und wusste, dass das alles
ist, was zählt. Ihr Bruder war nur
wenig älter. Wenn ich ihn weinen
hörte, war es, als würde ein Alarm
klingeln. Ich gab dem Jungen etwa
30 Sekunden. Das bedeutet, wenn
er dann bei mir war, sagte ich bereits
Dinge wie: Warum weinst du?
Nimm den Kopf hoch! Sieh mich
an! Erklär mir, was los ist! Sag,
was passiert ist! Ich kann dich nicht
verstehen, wenn du weinst. Und
aus Frustration über meine Rolle
und Verantwortung, ihn zu einem
Mann zu erziehen, hörte ich mich
Sachen sagen wie: Geh einfach in
dein Zimmer! Geh in dein Zimmer!
Setz dich hin, reiß dich zusammen
und komm wieder, wenn du mit mir
wie ein Mann sprechen kannst! Er
war 5 Jahre alt“ (Pickert, 2020, S.
57).
Dieses Beispiel stammt aus dem
Buch „Prinzessinenjungs“ von Nils
Pickert und soll veranschaulichen,
wie Jungen zu Männern erzogen
werden und was das in den westlichen
Gesellschaften bedeutet. Der
folgende Text gibt einen kleinen
Einblick in die Männerforschung
und wird solche Beispiele eingehen.
Doch noch eine Sache vorne weg:
Da ich selbst als Frau nicht von Eigen-erfahrung
berichten kann, habe
in meinem männlichen Freundesund
Bekanntenkreis zu diesem Thema
befragt. Einleitend reflektieren
sie ihre Kindheitserinnerungen, die
sie auf ihr Geschlecht aufmerksam
gemacht haben. Ein Freund erinnert
sich an eine Kindergartenfreundin,
die im erklärte, dass sie kein Junge
sei und zum Beweis ihre Genitalien
vorzeigte. „Das nackte Spielen im
Planschbecken und die Beobachtung,
dass der weibliche Körper sich
von meinem (schon im Kleinkindalter)
unterschied.“ berichtet ein anderer.
Wieder andere können sich
nicht an klare Momente erinnern,
eher an ein Gefühl und das Sozialverhalten,
was ihnen gegenüber an
den Tag gelegt wurde. Die Realisierung,
dass Jungen und Mädchen
unterschiedlich sind, ist immer früh
verankert. Das eigene Geschlecht
und die damit einhergehenden Erwartungen
werden schon früh kommuniziert,
sei es verbal oder durch
soziale Verhaltensweisen. So werden
schon erste Stereotypen bedient
und ein Habitus für einen ‚Jungen‘
charakterisiert.
Entstanden ist die sogenannte Männerforschung
im Zuge des Feminismus,
welcher die patriarchalen
Strukturen nicht nur für Frauen in
Frage stellte, sondern gleichzeitig
auch Männer dazu ermutigte die
eigene gesellschaftliche Position zu
hinterfragen. Herr Böhnisch, Professor
für Sozialpädagogik und Sozialisation
der Lebensalter, schreibt,
dass durch Veränderungen „in den
politischen Machtverhältnissen, in
der Hierarchie der Arbeitsbeziehungen
und in den emotionalen Beziehungsverhältnissen“
(Böhnisch
2012, S.1) die Machtdominanz
von Männern nicht mehr selbstverständlich
ist. Das öffnet den Raum
für verschiedene Arten von Männlichkeiten,
welche heute ausgelebt
werden können abweichend des
früheren Stereotyps. Trotz dieser
Fortschritte sind Männlichkeit und
Weiblichkeit gesellschaftlich weiterhin
als Gegenpole angeordnet
und werden entsprechend in ihrer
Definition meist im Gegensatz zu
einander dargestellt. Diese Beziehung
zwischen Maskulinität und
Femininität ist bedeutend, da sich
dadurch ein Rahmen um die Konzepte
bildet. Die Frage was „männlich
sein“ beinhaltet, wird oft mit
„nicht weiblich“ beantwortet. So
einfach ist es in der Realität nicht,
aber diese Diskussion gibt einen
guten Einblick darüber, wie Männlichkeit
und Weiblichkeit, aber auch
Männer und Frauen gehandhabt
werden.
Männlichkeit ist nicht gleich
Mann
Jeder Mensch hat maskuline und
feminine Züge in sich, die auch
unabhängig vom Geschlecht ausgeprägter
sein können. So gibt es feminine
Männer, maskuline Frauen
und alles dazwischen.
Trotzdem gibt es Stereotype, welche
um Männlichkeit kreisen und
versuchen typische Eigenschaften
auszumachen. „Ein Mann zu sein,
heißt sich im Klaren zu sein was
man will. Nicht viel zu quatschen,
sondern Taten sprechen lassen, einen
kühlen Kopf bewahren zu können,
seine Emotionen zu kennen
(ich sage absichtlich nicht „kontrollieren“),
belastbar zu sein, aber
zu seinen Schwächen zu stehen,
stolz darauf zu sein ein Mann zu
sein.“ beschreibt ein Freund. Werte
wie Rationalität, Unabhängigkeit,
Stabilität, Verantwortung und
mentale als auch körperliche Stärke
wurden genannt.„Auch wenn ich in
einer Beziehung bin, in der von mir
nicht explizit verlangt wird, stark
zu sein oder eine Versorgerrolle zu
übernehmen, ist es mir wichtig, erfolgreich
zu sein und eine gewisse
Stärke und Toughness auszustrahlen“
berichtet ein Anderer. Es zeigt
sich, dass solche Werte weiterhin
von Männern erwartet werden. Einige
Wertvorstellungen haben sich
erweitert und sind nicht mehr so
gradlinig, doch dazu später mehr.
In diesen Beschreibungen bezüglich
Männlichkeit, wurde von den
Personen oft zwischen der gesellschaftlich
vorherrschenden Vorstellung
und der eigenen Definition von
Männlichkeit differenziert. Dies
verdeutlicht, wie komplex, prägend
und gesellschaftlich bedeutend
Männlichkeiten sind.
Was macht den Mann zum
Mann?
Weltweit gibt es verschiedenste Gesellschaftsordnungen,
aber patriarchale
Strukturen dominieren. Dieser
Umstand bedeutet zum einen, dass
Männer einen Vorteil gegenüber
dem Rest der Gesellschaft haben.
Zum anderen ist es Fakt, dass diese
Gesellschaftsordnung nicht allen
Männern entspricht und sich heute
an einem Idealbild orientiert, dem
gerecht zu werden schwer bis unmöglich
ist. Mann in einem Patriarchat
zu sein scheint eventuell ein
größeres Privileg, als es letztendlich
ist.
Die Soziologin Raewyn Connell
zeigt vier verschiedene Männlichkeiten
auf – hegemoniale Männlichkeit,
untergeordnete Männlichkeit,
komplizenhafte Männlichkeit und
Marginalisierung (Connell, 2012).
Diese sind geprägt durch verschiedene
gesellschaftliche Aspekte und
auch hier ist Intersektionalität das
Stichwort. Eigenschaften wie Ethnizität,
Geschlecht, Klasse, Sexualität
und vieles mehr, haben einen großen
Einfluss auf den sozialen Status
in der Gesellschaft und dadurch
auch auf Männlichkeiten. Wichtig
ist, dass Männlichkeiten immer im
Rahmen der sozialkulturellen Normen
stehen, also dem was im Kontext
der Gesellschaft als Normalität
angesehen wird. Die hegemoniale
Männlichkeit bezieht sich auf das
ideale Stereotyp, welches gesellschaftlich
als das ultimative Ziel für
Männlichkeit ausgelegt wird. In der
untergeordneten Männlichkeit befindet
sich die Gruppe, die sich der
hegemonialen Männlichkeit nicht
zugehörig fühlt oder ihr nicht entspricht.
Marginalisierte Männlichkeit
bezieht sich auf die Menschen,
die Marginalisierung in der Gesellschaft
erfahren. Der Unterschied
zwischen Unterordnung und Marginalisierung
ist nicht immer klar,
da sie häufig Hand in Hand gehen,
sich aber nicht bedingen müssen.
Und die letzte Kategorie der komplizenhaften
Männlichkeit bezieht
sich auf die profitable Position von
Männern, welche durch die hegemoniale
Männlichkeit entsteht. Es
handelt sich hierbei um die Gruppe
von Männern, die von der gesellschaftlichen
Position des Mannes
im Patriarchat profitieren, sich aber
nicht mit den eigenen Privilegien
auseinandersetzten und so diese Privilegien
nur für sich beanspruchen.
Was bedeutet das für Männer in
unserer Gesellschaft?
Es zeigt sich, dass der Anspruch an
Geschlecht, in diesem Fall an Männern,
von der Sozialgesellschaft
geformt wird. Die Dokumentation
„The mask you live in“ (Sei ein
Mann!) von Jennifer Siebel-Newsom
(2015) gibt einen Einblick in
die US-amerikanischen Umstände.
Schon von klein auf werden Jungen
damit konfrontiert, was es bedeutet
ein Mann zu sein und männlich
zu wirken. Die Quintessenz lautet
immer wieder: nicht wie Mädchen
sein, nicht weiblich, nicht feminin.
Jungen wird beigebracht, dass es
von ihnen nicht erwünscht ist, Emotionen
zu zeigen. Der Pädagoge und
Aktivist Tony Porter berichtet, wie
Jungen im Alter von fünf Jahren
schon ganz genau wissen, nicht in
der Öffentlichkeit weinen zu dürfen.
In dem Alter gelingt es ihnen noch
nicht unbedingt, aber sie sind sich
des Anspruches bewusst. Bis sie
zehn Jahr alt sind, haben sie sich
das Weinen in der Öffentlichkeit
abtrainiert. Falls es einen Zwölfjährigen
geben sollte, der dies noch
nicht perfektioniert hat, gibt es, laut
Tony Porter, aus gesellschaftlicher
Perspektive ein Problem. Dann ist
etwas falsch mit ihm.
Sommer 2021 Gender-Studies 23
Die Psychologin Dr. Judy Chu berichtet
von einem anderen Fall den
sie das Mean Team nennt. Sie begleitete
eine Gruppe von Kindern,
welche neu in den Kindergarten
starteten. Anfangs gab es Kontakt
zwischen den Jungen und den
Mädchen innerhalb die Kindergartengruppen,
doch schnell teilte
sich die Gruppe nach Geschlecht
auf. Innerhalb der Jungengruppe
entstand eine Hierarchie, die durch
Regeln gestaltet war: sei gemein zu
den Mädchen, halte dich nicht mit
ihnen auf, spiel nicht mit ihnen etc.
Wurden diese Regeln gebrochen,
wurde der Junge in der Hierarchie
hinuntergestuft oder gar ganz
ausgestoßen. Ein Junge berichtete
Dr. Chu, dass er im Geheimen die
Mädchen mochte und mit ihnen
befreundet war, jedoch die anderen
Jungen davon nichts mitbekommen
durften. Dieser Fall bestätigt, dass
Jungen in einem System groß werden,
welches ihnen beibringt, dass
Mädchen anders sind. Sie werden
abgwertet, genau wie Femininität,
welche in den Jungen selbst nicht
gedultet wird. Um ein echter Junge
und schließlich ein echter Mann zu
sein, muss möglichst viel Abstand
zu Weiblichkeit entwickelt werden.
Dieser Umstand nennt sich patriarchale
Dividende.
„Mit diesem Begriff ist die allen
Männern gleichsam kulturgenetisch
eingeschriebene, in der Entwicklungsdynamik
des Kindes- und Jugendalters
immer wieder aktivierte
und eingeübte Haltung gemeint,
dass der Mann „im Grunde“ doch
der Frau überlegen sei, egal ob das
der Überprüfung durch die soziale
Wirklichkeit standhält“ (Böhnisch
2012, S. 1). Hiernach ist dieser
Grundsatz tief in uns verankert
und wird durch unser Handeln und
durch Erziehung an die nächsten
Generationen weitergegeben. Auch
wenn es oberflächlich nicht auftritt,
wird „diese männliche Dividende
in kritischen Lebenssituationen
quer durch alle Schichten aktiviert“
(ebd). Die männliche Dividende ist
nicht allgegenwärtig und unveränderbar,
es wird nur in prekären Lebenslagen
darauf zugegriffen und
kann entsprechend durch aktives
Reflektieren und bewusstes Handeln
verändert werden.
Rocktage à la Pickert
In „Prinzessinenjungs“, erschienen
2020, schreibt Nils Pickert über
seine eigenen Erfahrungen als Junge,
Mann und Vater, als auch die
Erfahrungen seiner Kinder. Auf
dem Titelbild des Buches sind er
und sein Sohn von hinten zu sehen.
Sein Sohn trägt ein rosa Kleid und
schaut lächelnd zu ihm auf. Pickert
erwidert seinen Blick, trägt einen
roten Rock und zusammen laufen
sie Hand in Hand. Die Geschichte
dahinter ist folgende. Pickerts Sohn
trägt von klein auf gerne farbenfrohe
Röcke und Kleider. Für den Jungen
war das selbstverständlich, da seine
große Schwester auch gerne Röcke
und Kleider trug. Zusätzlich wurde
dies in dem gewohnten Berliner
Umfeld nicht kritisch beäugt. Mit
dem Umzug in eine Kleinstadt, änderten
sich die Reaktionen auf den
Jungen. „Er wurde angestarrt, ausgegrenzt
und verächtlich gemacht.
Er wurde als schwul beschimpft.
Als „Mädchen“, „Schwuchtel“ und
„Missgeburt“. Sowohl von Kindern
als auch von Erwachsenen. Er war
ein kleiner 5-jähriger Junge, der
überhaupt nicht verstand, was daran
falsch sein sollte, ein Mädchen
zu sein. Seine Schwester war ein
Mädchen. Seine Schwester war toll.
Aber die Feindseligkeit, den zur
Schau gestellten Ekel und die plötzlich
ersterbenden Gespräche, wenn
er irgendwo hinzutrat – all das registrierte
er.“ beschreibt Pickert die
Situation. In Unterstützung zieht er
sich auch einen Rock an und begleitet
seinen Sohn an sogenannten
Rocktagen. Die Leute schauen
nun weniger auf den Jungen und
mehr auf ihn. Auch er bekommt
Kommentare, wie sich „vernünftig
anzuziehen“ und eine Frau läuft tatsächlich
gegen eine Straßenlaterne,
weil sie so beschäftigt ist zu starren.
Als das Foto und die Geschichte
in die Medien kommen, sorgen
diese international für Aufsehen.
Neben viel Zuspruch kommt auch
viel Kritik; häufig in Form tiefster
Empörung, welche durch Beleidigungen
und Beschimpfungen geäußert
werden. Das Bild von Vater
und Sohn in Rock und Kleid provozierte
so viel Aufruhr und bestätigt,
dass Maskulinität und Männlichkeit
so stark durch die Abgrenzung alles
Weiblichen definiert ist, dass es
Jungen und Männer in ihrem Alltag
einschränkt und mit Werkzeugen
wie Degradierung und Ausgrenzung
versucht alles in Schach zu halten,
was dieses Männlichkeitsbild zum
Wackeln bringt.
Was steckt hinter der Maske?
Diese Maskerade zieht sich durch.
Wie die Dokumentation „The mask
you live in“ berichtet, haben Jungen
im Alter von 12 – 14 Jahren gelernt
nicht in der Öffentlichkeit zu
weinen, aber können durch Freundschaften
und Familie den Austausch
von Gefühlen und Unterstützung
erfahren. Das ändert sich rapide
zwischen 15 und 19 Jahren. Viele
Jungen hören auf über Gefühle zu
sprechen, entkoppeln sich von anderen,
entlernen Verbindungen einzugehen
und verlieren das Vokabular
für Emotionen. Es wird von
der Angst erzählt, sich verletzlich
zu machen, wenn weiterhin über
Gefühle gesprochen wird, weil
diese Informationen später gegen
die eigene Person genutzt werden
könnten. Viele fangen an sich allein
und isoliert zu fühlen. Wenn es zu
Körperkontakt oder Komplimenten
kommt, wird oft ein „no homo“ hinterhergeworfen,
um die eigene Position
klarzustellen. In demselben
Alter steigt auch die Selbstmordrate
in den USA unter Jungen schnell an.
War sie zuvor dreimal so hoch wie
die der Mädchen, steigt sie auf das
Fünfache und im Alter von 20-24
Jahren auf das Siebenfache (Siebel-
Newsom 2015). Laut dem Psychologen
Dr. William Pollack steigt die
Rate der Depression und des Selbstmords
unter den Jugendlichen, wird
jedoch bei Jungen seltener erkannt,
da sie die typischen Symptome erst
später aufzeigen. Zuerst werden sie
laut, aggressiv und verhalten sich
auffällig. Dieses Verhalten wird
jedoch als maskulin oder männlich
stereotypisiert und somit nicht als
Warnzeichen wahrgenommen. Die
typischen Symptome, wie sich zurückziehen,
stiller werden, nicht
antworten, welche Mädchen von
vornherein zeigen, kommen erst
später dazu. Zusätzlich sind sie
selten in der Lage über ihre Emotionen
zu sprechen. Gekoppelt mit
gesellschaftlichen Umständen, welche
wenig Raum für Hilfsangebote
für Männer in Bezug auf mentale
Unterstützung bieten, ist es umso
schwieriger sich Hilfe zu holen. In
der Liste der Todesursachen unter
Männern steht Selbstmord weltweit
an zweiter Stelle und unter den 15
bis 29 Jahre alten Männern an erster
Stelle (Van Sabben& Paulsen-
Becejac 2018, Bilsker& White
2011). Die Forschung ist noch nicht
so weit, aber die Indizien für eine
Verbindung zwischen den Auswirkungen
der Rahmung von Männlichkeit
und dem erhöhten Selbstmordrisiko
sind da.
Zusammengefasst ist das nur ein
Bruchteil der Aspekte mit denen
sich die Männerforschung beschäftigt.
Auch hier zeigt sich aber, dass
die Ungleichgewichtung der Geschlechter
alle beeinflusst, egal ob
Mann, Frau, Trans, Non-Binär oder
Divers. Männlichkeit und Maskulinität
in dem vorangegangenen
Kontext lassen wenig Spielraum
für abweichende Verhaltensmuster.
Die Folgen sind zahlreich und für
viele Menschen vielleicht nicht auf
den ersten Blick sichtbar. Doch bei
genauerem Hinschauen zeigt sich
im eigenen Verhalten, im sozialen
Umfeld, Sozialen Medien, Film
und Fernsehen und vielen mehr,
was für die einen möglich ist und
für den anderen nicht. Weil Männer
inzwischen Gehör finden und
über diesen Missstand gesprochen
wird, ändert sich langsam auch die
Wahrnehmung der Männlichkeit.
Mittlerweile ist es nicht mehr eine
Männlichkeit, der alle hinterher
eifern, denn es gibt verschiedene
Formen sich auszudrücken und am
Ende ist diese genauso individuell
wie jede*r von uns. Wie anfangs
erwähnt, wurde in den Erzählungen
aus meinem Freundeskreis häufig
zwischen den Erwartungen, was es
bedeutet ein Mann zu sein, welche
gesellschaftlich oder sozial an sie
herangetragen wurden und der eigenen
Perspektive auf diese Erwartungen
differenziert. Neben Werten
wie Rationalität, Unabhängigkeit,
Stabilität, Verantwortung und (körperlicher)
Stärke, wurden mir im
Zusammenhang mit Männlichkeit
auch Fürsorge, Liebe, Respekt,
Güte und Schwächen eingestehen
genannt. Zudem wurde auf die
Diversität von Mannsein aufmerksam
gemacht. Ein Freund bemerkt:
„Mein heutiger Freundeskreis besteht
aus Männern, mit unterschiedlichen
kulturellen und sozialen Hintergründen,
deswegen gibt es auch
keine einheitlichen Vorstellungen
oder Anrufungen, was Männlichkeit
bedeutet in diesem Kontext.“
Das starre Männerbild aus dem
20. Jahrhundert hat sich verändert.
Wie Böhnisch es in seinem Text
„Männerforschung: Entwicklung,
Themen, Stand der Diskussion“
(2012) ausdrückt, zeigt sich, „dass
sich die hegemoniale Männlichkeit
‚flexibilisiert‘ hat und ‚ihre Ränder
unscharf‘ geworden sind“. Sie ist
immer noch in Teilen präsent und
prägend, aber es ist ein Freiraum
entstanden der Jungen und Männern
die Chance gibt, über die klaren
Rollenbilder hinaus ihre Identität zu
verwirklichen. So wird es möglich,
dass Mann sich die Verantwortung
der Erwerbsarbeit teilen kann, dass
er die Familie anders und näher erleben
kann, dass ein Raum entstehen
darf, welcher auch Männer als
Opfer von Gewalt anerkennt etc.“
All diese Dinge stehen noch am
Anfang. Es gibt noch viel in diese
Richtung zu tun. „Allerdings muss
die Männerforschung aufpassen,
dass sie in Zukunft nicht die inzwischen
schon fast eingebürgerte
Tendenz, Männer ausschließlich als
Problemgruppe zu sehen, verstärkt“
(ebd.).
Julia Dannhäuser
Bilsker, D., & White, J. (2011). The
silent epidemic of male suicide.
British ColumbiaMedical Journal,
53(10).
Böhnisch, L. (2012). Männerforschung:
Entwicklung, Themen,
Stand der Diskussion. Bpbhttps://
www.bpb.de/apuz/144853/maennerforschung-entwicklung-themenstand-der-diskussion
Connell, R. W. (2012) Der gemachte
Mann. Konstruktion und Krise
von Männlichkeit, in: Bergmann, F.,
Schössler, F. & Schreck, B. Gender
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www.duden.de/rechtschreibung/
Patriarchat
Pickert, N. (2020). Prinzessinenjungs.
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Platt, S. (2017). Suicide in men:
what is the problem?. Trends in
Urology & Men‘s Health,8(4),
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Siebel-Newsom, J. (2015). The
Mask You Live In.
Van Sabben, E., & Paulsen-Becejac,
L. (2018). An enquiry into young
men at risk of suicidein the UK.
Nursing children and young people,
30(4).
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