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SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

ArtMedia Verlag Freiburg Sommer 2021 30. Ausgabe / 17. Jahrgang

Die Landschaft im Kopf

Im Gespräch: Martin Schmitz – Spaziergangswissenschaftler

P

Spaziergangswissenschaft

klingt greifbar,

umfasst aber weit mehr

als eine Untersuchung der Gehmuster

gemütlicher Spaziergänger.

Professor Dr. Martin

Schmitz publiziert und lehrt

eine Wissenschaft, die nach den

Grundlagen der Landschaftsbetrachtung

fragt. Im Gespräch

mit Fabian Lutz zeigt er

auf, wie vielfältig die Urgründe

seiner Disziplin sind, wie politisch

die Spaziergangswissenschaft

wird und warum Spazieren

selbst doch ganz einfach ist.

Promenadologie

Aus dem Inhalt:

oder

UNIversalis: Herr Schmitz, wann

waren Sie zuletzt spazieren?

Prof. Martin Schmitz: Gestern.

Da bin ich von A nach B gegangen

und – zur Kür – noch eine Runde

mehr. Das ist dann der eigentliche

Spaziergang.

UNIversalis: Machen Sie das häufig

so? Erst der übliche Gang und

dann die Kür?

Martin Schmitz: Das ist doch der

reinste Luxus, zu spazieren und

völlig absichtslos durch die Gegend

zu laufen. So ein Erlebnis kann

man auch nicht einfach wiederholen.

Jeder Spaziergang ist ein

Unikat. Man kann zwar immer

die gleiche Strecke gehen, dabei

aber immer wieder neue Dinge sehen.

Muße begegnen3

Pharmageddon: Christoph

Höhtkers Dystopie 5

Wann ist Unterricht an

Schulen erfolgreich? 6

Rosengarten des

Widerstands8

Im Gespräch: Dr. Detlef Lienau,

neuer Leiter der Evang.

Erwachsenenbildung9

NS-Projekt „Gau Oberrhein“10

Gender Studies: Eine

Beilage von Studierenden13

Professor Dr. Martin Schmitz

UNIversalis: Ein offenes Experiment

also?

Martin Schmitz: Ja, Sie können

aber auch zum Beispiel immer

nur geradeaus gehen oder sich die

Strecke auswürfeln. Oder sie holen

sich die Tiefbaupläne der Berliner

Wasserwerke und folgen den

Leitungen oberirdisch. Das sind

Konzepte, mit denen Sie sich Räume

und Landschaften erschließen

können. Auch Stadtführungen sind

ein Konzept, bei dem Menschen

bestimmte Elemente einer Umgebung

gezeigt und andere wiederum

nicht gezeigt werden. Unser

Spazierengehen bedeutet zunächst,

sich jenseits dieser, auch professionellen

Konzepte zu bewegen, also

einfach mal loszulaufen.

UNIversalis: Eine „Kunst des Spazierens“

gibt es also nicht? Kann

man „besser“ oder „schlechter“,

vielleicht auch aufmerksamer spazieren?

Martin Schmitz: Es gibt nur eine

Regel: Gehen!

UNIversalis: Ist das nicht überfordernd?

Ich habe den Eindruck,

dass Menschen, zumindest heutzutage,

lieber zweckgerichtet oder

geführt durch die Welt gehen.

Martin Schmitz: Stadtrundfahrten

führen zu den Postkartenmotiven

und werden von Touristen

gerne angenommen. Das ist dann

nur ein kleiner Ausschnitt einer Realität.

Interessant ist, in der eigenen

Stadt einmal solche touristischen

Angebote wahrzunehmen. Heute

werden so viele Vorstellungen von

Landschaften und Städten durch

die Massenmedien vermittelt wie

nie zuvor. Schauen Sie sich zum

Beispiel mal Zeitschriften wie die

Landlust an. Das Magazin richtet

sich nicht an Bauern, sondern an

Menschen, die meistens in Metropolen

wohnen, in Gegenden, wo

ich mich frage, ob das noch Stadt

oder schon Land ist. Es gibt Dutzende

solcher Zeitschriften. Hier

werden Vorstellungen von „Natur“

oder „Gesundheit“ vermittelt, in

einer Zeit, wo es die Trennung von

Stadt und Land gar nicht mehr gibt

– und eine idyllische Landschaft

vielerorts auch nicht mehr.

UNIversalis: Also keine idyllischen

Ferien auf dem Bauernhof?

Martin Schmitz: Ferien auf dem

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Bauernhof bedeutet heute eher, mit

50.000 Mastschweinen zu frühstücken.

Die Landwirtschaft ist

industrialisiert, die Landschaft mit

Logistikzentren, Serverparks und

Verkehrsinfrastukturen bestückt.

UNIversalis: So ist aber keine Illusion

aufrechtzuerhalten, oder? Die

Leute müssen mit ihrer „Landlust“

ja enttäuscht werden.

Martin Schmitz: Die Illusion

wird aufrechterhalten, indem sie

gebaut wird. Gehen wir einmal

zurück in die Stadt zum Thema

„Autofreie Innenstadt“. Damit soll

die neue Unwirtlichkeit der Städte

bekämpft werden. Das aber führt

genau in die falsche Richtung. Die

autofreie Innenstadt ist eine Insel.

Die verdrängten Fahrzeuge zum

Beispiel führen zur Verelendung

der Randbereiche wie in allen

Städten mit Fußgängerzonen. Die

verschiedenen Verkehrsmittel wie

Auto, Fahrrad, Straßenbahn und

Fußverkehr müssen integriert werden.

Die „Pop-up-Radwege“ sind

nur ein Provisorium. Aber es ist ein

böses Problem: Wie installiere ich

vier Verkehrsarten getrennt voneinander

auf der existierenden Fläche

einer Stadt. Das geht gar nicht.

UNIversalis: Was sind „Pop-up-

Radwege“?

Martin Schmitz: Das sind abgetrennte

Bereiche nur für Fahrradfahrer,

die entweder entsprechend

gepinselt oder mit rotweißen Verkehrsstangen

abgegrenzt sind. Ich

kann mir nicht vorstellen, dass die

Foto: Doris Spiekermann-Klaas, der Tagesspiegel

Städte in Zukunft so aussehen.

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Spaziergang in der Natur bestehen

auch in den Köpfen der Menschen.

Etwa im Bild des alten Mannes, der

ruhig und mit Gehstock die Allee

entlangspaziert. Oder hat das wieder

ausgedient?

Martin Schmitz: Landschaft ist

ein kollektives Bildungsgut. Ein

Forschungsschwerpunkt der Promenadologie

ist, wie Landschaft

gelernt wird. Wir sehen ja nur

das, was wir gelernt haben zu sehen.

Kinder spielen mit leeren Getränkedosen,

die Erwachsenden

sprechen von „typisch Nordhessen“

und der erste Mensch auf dem

Mond vom Grand Canyon. Dafür

hätte er übrigens nicht so weit fliegen

müssen. Jede Generation entwickelt

in den Köpfen eine eigene

Konstruktion von Landschaft. Anhand

der Kunst- und Literaturgeschichte,

durch Sprache und Bilder

lassen sich diese Konstruktionen

nachverfolgen. Die spannende Frage

ist: In welcher Phase befinden

wir uns heute?

UNIversalis: Eine wirklich spannende

Frage. Was meinen Sie?

Martin Schmitz: In unserer Gegenwart

konnten noch nie zuvor

so viele Menschen so preiswert

um die Welt reisen, noch nie zuvor

gab es eine größere Mobilität. Das

geht in den 1980er Jahren richtig

los und findet etwa sichtbaren Ausdruck

im finnischen Saunen hinter

asiatischen Torbögen in Freizeitbädern.

Ohne die vermehrten Weltspaziergänge

per Billigflug wären

die nicht lesbar. Es gibt also einen

Zusammenhang von Mobilität und

Gestaltung. An der Türkischen Riviera

gibt es eine Hotelanlage in

Gestalt eines Amsterdamer Straßenzugs

mit der Gracht als Swimmingpool

oder zwischen Frankfurt

Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France


2 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

Der Spaziergang durch das städtische

Verkehrsnetz (2021)

und Würzburg eine künstliche altfränkische

Stadt als Factory-Outlet-Center.

Dort fährt man in die

Tiefgarage und geht in historischen

Kulissen shoppen.

UNIversalis: Frisch erbaute historische

Kulissen sind aber Teil vieler

größerer Städte.

Martin Schmitz: Ja, sie sind jetzt

Teil der „alltäglichen“ Stadtplanung

wie die neue Frankfurter Altstadt

zwischen Dom und Römer.

Dort befinden sich neue Häuser, die

alt wirken und Nachbauten tatsächlicher

alter Häuser. Um die Dresdener

Frauenkirche herum passiert

Ähnliches. Neubauten erhalten barocke

Fassaden. Ist das nur für den

Tourismus? Rettet das eventuell

eine Stadtstruktur? Macht es eine

Stadt wieder bewohnbar? Wie wird

die nächste Generation die Frage

nach echt oder falsch beantworten?

UNIversalis: Corona-Zeit ist die

Zeit der Spaziergänge und des

Wiedererkundens eigener Landschaften.

Das müsste doch auch

ein Thema sein, das Sie interessiert.

Martin Schmitz: Corona bedeutet

einen massiven Eingriff in die gesamte

Mobilität. Keine Flüge mehr,

Homeoffice oder Verödung der Innenstädte.

Wohin also? Einige finden

es im Harz wieder schön. Oder

sie entdecken ihren eigenen Kiez

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zum ersten Mal in der Mittagspause

im heimischen Büro, nachdem

sie sich auf Mallorca immer besser

ausgekannt haben. Interessant ist

auch, dass die U-Bahnzüge kürzer

wurden und die Menschen beengter

sitzen mussten.

UNIversalis: Ihre Wissenschaft,

die Promenadologie verbindet

verschiedene Disziplinen, etwa

Architektur, Kunst oder Geografie,

aber auch wahrnehmungspsychologische

Ansätze. Woher kommt

dieser breite Zuschnitt?

Martin Schmitz: Der Schweizer

Soziologe Lucius Burckhardt hat

dieses Nebenfach in den 1980er

Jahren im Fachbereich Architektur,

Stadtplanung und Landschaftsplanung

an der Universität

Kassel entwickelt. Er hatte bereits

als Student Anfang der 1950er Jahre

den Abriss gotischer Häuser und

den Bau einer breiten Straße durch

die Altstadt von Basel verhindert.

Als einer von wenigen begriff er

den autogerechten Umbau seiner

Heimatstadt als Zerstörung und

beschäftigte sich seit dieser Zeit

mit der Gestaltung und Planung

unserer Städte und Landschaften

in einer Demokratie. So wurde er

zu einem Vordenker der Städtebaukritik

der ‘68er Generation, die

den autogerechten Umbau in ganz

Europa trotz Protest nicht verhindern

konnte. Als in den 1980er

Jahren fast alle Autobahnen gebaut

waren und Charterflüge immer

preiswerter wurden, untersuchte

Burckhardt die enorm angestiegene

Mobilität, die Auswirkungen

auf die Wahrnehmung und die

Rückkopplungen auf das Planen

und Bauen. Eine bessere Bezeichnung

für seine Forschung als „Spaziergangswissenschaft“

hätte sich

Lucius Burckhardt allerdings nicht

ausdenken können. Sie macht neugierig

und: jeder Mensch kann spazierengehen.

Vor allem aber würde

eine existierende akademische

Disziplin nicht ausreichen, um das

Tätigkeitsfeld des Soziologen, wie

sich Burckhardt selbst am liebsten

bezeichnete, abzudecken. Burckhardt

meinte einmal: „Wir nennen

solche Forschung mangels eines

besseren Begriffes Kunst.“

UNIversalis: So breit Ihr Forschungsfeld

gefasst ist, so breit

dürfte auch das Interesse der Öffentlichkeit

an Ihrer Arbeit sein –

ist das so?

Martin Schmitz: Seitdem ich

2004, nach dem Tod von Lucius

Burckhardt, mehrere Bücher von

ihm herausgegeben habe, toure

ich mit Vorträgen durch Europa

und erhalte viel Feedback. Ich

bekomme Einladungen von der

RWK · 09/20 · Foto: peterheck.de

TU München, der ETH Zürich

oder der Akademie in Wien, von

Studenten und Studentinnen aus

Weimar, vom Bürgerverein in Bad

Dürkheim, dem Kultusministerium,

komme aber auch ins Prättigau

in der Schweiz, weil bei denen

kein Schnee mehr liegt und sie

sich fragen, wie sie nun ihre Landschaft

nutzen können. Auch der

PACT Zollverein, Initiator, Motor

und Bühne für wegweisende Entwicklungen

in den Bereichen Tanz,

Performance, Theater, Medien und

Bildende Kunst, war interessiert.

UNIversalis: Kommen wir noch

einmal auf Lucius Burckhardt zurück.

In welchem zeitlichen Kontext

sehen Sie seine Ansätze verwurzelt?

Martin Schmitz: Lucius Burckhardt

und seine Frau Annemarie

Burckhardt begannen mit dem

großen Thema der Nachkriegszeit,

dem autogerechten Umbau

ganz Europas. Dieses Problem existierte

zuvor gar nicht, und somit

gab es auch keine Fachleute für

die Integration der individuellen

Verkehrsmittel in eine bestehende

Stadt. Dennoch begann der Umbau

an vielen Orten und brachte

die heftigen Proteste der ‘68er Generation,

die nicht viel verhindern

konnten und in der grasgedeckten

Doppelgarage endeten. Die Kinder

fressen ihre Revolution. Wohnen,

Planen, Bauen, Grünen nannte Lucius

Burckhardt eine seiner ersten

Textsammlungen von 1985.

UNIversalis: Eigentlich fast überflüssig

zu erwähnen, wie politisch

dieser tiefgreifende Blick auf gesellschaftliche

Zusammenhänge ist.

Martin Schmitz: Wir selber bauen

unsere Stadt lautete 1953 der

Titel eines Büchleins von Lucius

Burckhardt, übrigens mit einem

Vorwort von Max Frisch. Es folgen

Fragestellungen wie „Wer plant die

Planung?“, „Warum ist Landschaft

schön?“ oder Formeln wie „Design

ist unsichtbar“ oder „Der minimale

Eingriff“. Seine gesamte Forschung

versammelte Lucius Burckhardt in

den 1980er Jahren unter dem Begriff

„Spaziergangswissenschaft“.

Aus unterschiedlichen fachlichen

und beruflichen Perspektiven −

ziologe interessierte ihn, wie wir

durch Beschlüsse und Eingriffe die

Umwelt beeinflussen und wie die

Veränderungen auf uns zurückwirken.

Oder anders gesagt: Sein Thema

waren die Vorrausetzungen für

Architektur und Gestaltung sowie

deren Folgen.

UNIversalis: Vielen Dank für das

Gespräch!

Professor Dr. Martin Schmitz, geboren

1956, studierte Architektur,

Stadt- und Landschaftsplanung bei

Lucius Burckhardt an der Universität

Kassel.

1983 veröffentlichte er das Buch

Über die Kultur der Imbißbude.

Neben seiner wissenschaftlichen

Arbeit und seiner Tätigkeit als

Kurator (Zusammenarbeiten mit

der documenta in Kassel und dem

Kunstkollektiv „Die Tödliche Doris“)

ist Martin Schmitz seit 1989

Verleger von Büchern zu Themen

in Architektur, Kunst, Film, Design,

Musik, Theater und Literatur.

Seit 2013 ist Martin Schmitz

Professor an der Kunsthochschule

Kassel.

als Wissenschaftler, Journalist

oder Professor − analysierte er die

sichtbaren und unsichtbaren Teile

unserer menschgemachten Umgebungen

– Städte und Landschaften,

Politik und Gesellschaft. Als So- Der Spaziergang als verinnerlichtes Idyll bei Auguste Renoir (1875)


Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 3

Muße begehen

Ein neues Literaturmuseum in Baden-Baden soll Mußeräume eröffnen. Eine Begegnung mit dem

Gegenstand und der Erfahrung Muße

Das Gartenhaus der Stadtbibliothek Baden-Baden (rechts) als Kernbereich des Muße-Literaturmuseums

Foto Stadtbibliothek, Muße-Literaturmuseum Baden-Baden

W

ir gehen spazieren. Wir

sitzen in der Sonne.

Wir fühlen uns inspiriert,

erhalten Raum,

Zeit für unsere Gedanken. All

das assoziiert man gemeinhin

mit Muße. Seit 2013 beschäftigt

sich ein interdisziplinär angelegter

Sonderforschungsbereich

mit diesem Begriff. In seiner Abschlussphase

im Jahr 2021 steht

nun ein Transferprojekt, das den

Forschungsbegriff „Muße“ auch

außerhalb und dauerhaft in der

Kulturlandschaft platzieren soll:

Das Muße-Literaturmuseum Baden-Baden.

Fabian Lutz hat mit

der Kuratorin Elisabeth Cheauré

gesprochen.

„Mit dem Begriff ‚Museum‘ wird

– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR

grundsätzlich auch Muße verbunden.

Nach meiner Erfahrung funktionieren

einige Museen allerdings

nicht immer als Mußeraum.“ Professor

Dr. Elisabeth Cheauré ist

stellvertretende Sprecherin des Sonderforschungsbereichs

Muße an der

Universität Freiburg und zusammen

mit Dr. Regine Nohejl Kuratorin der

Dauerausstellung des im Herbst eröffnenden

Muße-Literaturmuseums

Baden-Baden. Als Slavistinnen sind

sich die beiden nicht nur wissenschaftlich

nahe. 2018–2019 veranstalteten

sie bereits zusammen die

Ausstellung Russland in Europa

‒ Europa in Russland. 200 Jahre

Ivan Turgenev, ebenfalls in Baden-

Baden. Eine Erfahrung, von der das

neue Literaturmuseum nur profitieren

kann. Im Gespräch äußert

sich Cheauré zufrieden über das

Feedback, das sie für ihre Ausstellungskonzeption

2018–2019 erhielt:

„Wir hatten Gäste, die einige Male

in die Ausstellung gekommen sind,

weil sie sich dort so wohl und angeregt

gefühlt haben. Einige haben

geäußert, dass sie total die Zeit vergessen

hätten. Sie hätten sich in das

Lesen so vertieft, dass sie um sich

herum alles vergessen hätten. Das

ist, was Muße, zumindest im einfachen,

populärwissenschaftlichen

Sinne bedeutet: Dass man sich in

Raum und Zeit verliert, indem man

beide Dimensionen anders wahrnimmt.“

Faktoren, die nicht für jedes

Museum gelten. Schmerzende

Rücken, Präsentationen auf grauen

Texttafeln und schreiende, gelangweilte

Kinder. So wird das Museum

eben nicht zum Mußeraum.

Für Elisabeth Cheauré, Regine

Nohejl und ihr Team stellt sich eine

doppelte Herausforderung. Nicht

nur wollen die Kennerinnen der

Mußeerfahrung ein solches Museumsleiden

für ihre Besucher*innen

vermeiden, auch haben sie sich

mit der Literatur einen besonders

schwierigen Gegenstand herausgesucht.

Denn Literatur scheint

zunächst nach zweidimensionalen

Leseflächen, Texttafeln zu verlangen,

der „gewohnten ‚Blattware‘“,

wie Cheauré bemerkt. Wobei dabei

schnell ein wesentliches Element

vergessen wird, fügt sie hinzu,

nämlich die betrachtende Person:

„Gedruckte oder ausgestellte Texte

werden nicht automatisch zu Literatur.

Literatur im eigentlichen Sinne

entsteht erst im Prozess des Lesens.

Das ist anders als bei einem ausgestellten

Gemälde, bei dem meine

Sinne gleich angesprochen sind und

ich meiner Fantasie freien Lauf lassen

kann. Literatur funktioniert nur

durch den aktiven Wahrnehmungsakt

des Lesens. Und dafür braucht

es die lesende Person.“ Dass die

angemessene Präsentation von Literatur

zu wahrhaften Mußeerfahrungen

im Museum führen kann,

hat die Ausstellung zum Schriftsteller

Turgenev gezeigt. Ein genauer

Blick auf ein mußefreundliches

Design, also der genaue Blick auf

die Besucher*innen, scheint dabei

unabdinglich für ein erfolgreiches

Muße-Projekt – gerade jenseits des

akademischen Blicks.

Muße als Gegenstand. Muße als

Erfahrung

Verortet in und an der Stadtbibliothek

Baden-Baden versteht sich

das Muße-Literaturmuseum nicht

nur als Erweiterung eines Wissensraums,

sondern auch als eigenständiger

Muße-Raum. Mit einem

Kernbereich, bestehend aus sieben

Räumen, die im Gartenhaus und Lesecafé

der Stadtbibliothek gelegen

sind und die Geschichte Baden-

Badens im Spiegel der Literatur

erzählen, erstrecken sich einzelne,

thematische Stationen des Museums

bis in den Bibliotheksraum hinein.

„Historisch gesehen, in der Antike,

wurden Bibliothek und Museum als

Einheit betrachtet. Denken Sie etwa

an das Museion und die Bibliothek

von Alexandria. Mit unserem Literaturmuseum

wollen wir diese Idee

modern interpretieren.“ Gelangen

Besucher*innen etwa in die Bibliotheksabteilung

der Reiseführer oder

Krimis, gibt eine dort angesetzte

Station des Literaturmuseums interessante

Kontexte. „Wir schaffen

Museumsinseln innerhalb der Bibliothek.

Dabei versuchen wir, immer

wieder eine thematische Nähe zu

den Themenbereichen in der Bibliothek

zu bieten.“

Ein interessanter Kontext ist nicht

zuletzt Baden-Baden selbst, das im

Vielseitig

ist einfach.

sparkasse-freiburg.de

Blick der Literatur zum Gegenstand

der Dauerausstellung wird.

Viele deutschsprachige und internationale

Autor*innen sind über

die Jahrhunderte mit der Kurstadt

verbunden gewesen. Manche als

(Kur-)Gäste, andere als dauerhafte

Einwohner*innen, alle vereint in ihrem

Verlangen nach schöner Land-

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4 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

schaft, Ruhe, Erholung, aber auch

dem aufreibenden Glücksspiel.

„Wenn man etwa im 19. Jahrhundert

durch die Lichtentaler Allee

spazierte, war es – wie heute – nicht

unwahrscheinlich, Muße zu erleben.

Aber im Baden-Baden, zumindest

des 19. Jahrhunderts, gibt es eben

auch die Kehrseite, die absolute

Nicht-Muße.“ Ein berühmtes Zeugnis

dafür gibt Fjodor Dostojewskis

Roman Der Spieler (1867). Der

spielsüchtige Dostojewski war ein

gern gesehener Gast in den Kasinos

Baden-Badens. Elisabeth Cheauré

beschreibt anschaulich, welcher

Stress innerhalb der Kasinos geherrscht

haben musste. Der Roman

legt davon eindrucksvoll Zeugnis

ab. Stress, Sorge, Nicht-Muße kann

es aber auch an den idyllischen Orten

Baden-Badens geben. Der Gang

durch die Lichtentaler Allee kann

auch zur unangenehmen Erfahrung

werden. Erschien man dort nicht

standesgemäß gekleidet, war das

Gefühl, sozial diskreditiert zu sein

vorherrschend. „Für viele Menschen

war das Bestehenkönnen in

einer mondänen Gesellschaft mit

großer Anspannung verbunden, vor

allem, wenn man nicht die finanziellen

Mittel hatte.“ Idylle nur für

den, der sie sich leisten kann. „In

Baden-Baden können wir die Pole

von Muße und Nicht-Muße mit allen

Zwischentönen sehen. Dieses

Spannungsverhältnis schlägt sich

auch in den literarischen Texten

vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

nieder. Deshalb ist Baden-

Baden als Museumsort so reizvoll.“

Wer eine bloße selbstherrliche Verklärung

des Kurorts im Spiegel

der Literatur erwartet, kann in der

Ausstellung durchaus überrascht

werden.

Anspannung und Sorge sollen

nicht für die Mußeerfahrung im

Dr. Elisabeth Cheauré

Museum gelten. Muße soll schließlich

nicht nur Gegenstand des Muße-Literaturmuseums

sein, sondern

auch zur Museumserfahrung selbst

werden. Um die Besucher*innen

des Museums als Gestaltende ihrer

Muße dabei entsprechend zu

fördern, nutzt Cheauré das Prinzip

„maximaler Freiheit“ und Sinnesvielfalt.

„Unsere Besucher und Besucherinnen

sollen im Museum die

Freiheit haben, das zu tun, wozu

sie Lust haben. Im Museumsraum

sollen sie selbst wählen können, ob

sie zuerst zu Hörstationen, zu einer

Informationstafel oder zu Filmen

Foto: Privat

gehen wollen. Vielleicht wollen sie

auch zuerst in einem Buch lesen.

Dazu sollen verschiedene Sinne aktiviert

werden. Unsere Gäste sollen

Ausstellungsobjekte nicht nur sehen,

sondern auch riechen, hören,

anfassen können. So kann eine andere

Form von Zugang zu Literatur

geschaffen werden.“

Ehepartner Dostojewski

Kinder sind echte Stresstests für

Museen. Gerade für Literaturmuseen

kann es als echte Leistung gelten,

auch die Kleinen unterhalten zu

können. Und auch wenn Elisabeth

Dr. Regine Nohejl

Foto: Privat

Cheauré betont, dass das Muße-Literaturmuseum

kein Kindermuseum

wird, soll das interaktive und intermediale

Programm auch jüngere

Besucher*innen ansprechen. Ein

Highlight dürften hier die eigens

produzierten Filme zu Literaturgrößen

wie dem besagten Dostojewski

sein. „Die Filme, die wir zeigen,

probiere ich zum Beispiel nicht

nur mit Kolleginnen und Kollegen,

Freunden und Freundinnen, sondern

auch immer mit meinen Enkelkindern

aus und das funktioniert

auch. Sie verstehen meist sofort,

worum es darin geht. Auch die Hörstationen

und das Bildmaterial eignen

sich für kleinere Besucher. Zudem

haben wir Spiele, sodass auch

haptische Zugänge möglich sind.“

Das Prinzip maximaler Freiheit ist

schließlich etwas, das gerade besondere

Entdeckernaturen wie Kinder

anspricht. Aber auch darüber hinaus

sind Besucher*innen gefragt,

auf Entdeckungsreise zu gehen, sich

von ihrer Fantasie, Muße führen zu

lassen. Eine kindliche Neugier dürfte

beim Museumsbesuch nicht schaden

– falsche Hemmungen sollte

man nicht haben.

Aber zum Schluss zurück zu

Dostojewski, der mit seiner Ehefrau

Anna G. Dostojewskaja einige

Zeit in Baden-Baden verbrachte.

Zu ihren Erlebnissen hält das Literaturmuseum

einen animierten

Kurzfilm bereit. Besonders ist nicht

nur das Format Film zur Darstellung

literarischer Stadtreflexionen,

sondern auch der Blickwinkel.

Statt die bekannte Perspektive des

männlichen Schriftstellers zu bedienen,

gibt der Film der Perspektive

der Ehefrau Platz. „Anna Dostojewskaja

muss nach ihrer Heirat

mit Dostojewski erfahren, dass sie

nun Frau eines süchtigen Glücksspielers

ist. In ihrem Tagebuch

beschreibt sie die Erfahrungen mit

Dostojewski sehr eindrücklich.“

Baden-Baden als Ort der Nicht-Muße

wird im Muße-Literaturmuseum

auch aus weiblicher Perspektive

greifbar. Elisabeth Cheauré betont,

dass man viele Texte unter Gender-

Gesichtspunkten integriert hätte.

So wolle man gerade vergessene

Frauenfiguren wieder ins Licht der

Öffentlichkeit rücken.

Die Dauerausstellung Muße-Literaturmuseum

Baden-Baden öffnet

im Herbst. Genaue Öffnungszeiten

und einzelne Veranstaltungen werden

noch angekündigt. Das Museum

ist ein Kooperationsprojekt

des Sonderforschungsbereichs

1015 „Muße“, des Internationalen

Graduiertenkollegs 1956 „Kulturtransfer.

Freiburg – Moskau“

und des Zwetajewa-Zentrums für

russische Kultur, die alle an die

Universität Freiburg angeschlossen

sind. Das Museum wird von

Elisabeth Cheauré und Regine

Nohejl in enger Kooperation mit

der Stadtbibliothek Baden-Baden

konzipiert und geplant. Weitere Infos

auf der Website des SFB Muße:

www.sfb1015.uni-freiburg.de

Fabian Lutz

1921 – 2021: Das Studierendenwerk Freiburg feiert

sein 100-jähriges Bestehen

„Seit 100 Jahren an eurer Seite“

– so könnte man die Arbeit des

heutigen Studierendenwerks und

die seiner Vorgängerinstitutionen

beschreiben. In diesem Jahr wird

nun Geburtstag gefeiert. Mit einer

historischen Ausstellung,

vielen Veranstaltungen und zahlreichen

Angeboten und Vergünstigungen

für Studierende.

Soziale Förderung und Betreuung

der Studierenden standen immer

im Zentrum der Arbeit der Studierendenwerke

bzw. ihrer Vorgängerinstitutionen.

Heute haben die

Studierendenwerke den gesetzlichen

Auftrag, den Studierenden

optimale Voraussetzungen zu bieten

und sie darin zu unterstützen,

dass ihr Studium unabhängig von

ihrer sozialen Herkunft gelingt.

Doch von der Gründung der „Freiburger

Studentenhilfe“ im Jahr

1921 bis zum heutigen Studierendenwerk

war es ein langer Weg:

Er führte von der frühen Selbsthilfeorganisation

„Studentenhilfe“ der

20er Jahre über das nationalsozialistische

„Reichsstudentenwerk“

zum „Studentenwerk e.V.“ der

Nachkriegszeit und schließlich zur

heutigen Anstalt des öffentlichen

Rechts.

Zum 100-jährigen Jubiläum wird

nun die wechselvolle Geschichte

des Studierendenwerks Freiburg in

einer historischen Ausstellung erfahrbar

gemacht. Die Ausstellung

ermöglicht interessante Einblicke

in das Leben und die soziale Situation

der Freiburger Studierenden

im Rahmen der historischen

Verhältnisse. Daneben wird die

Entwicklung der Förder- und Unterstützungsleistungen

durch das

Studierendenwerk (bzw. die Vorgänger-Institutionen)

über die vergangenen

zehn Dekaden gezeigt.

Und natürlich wird auch ein Blick

in die Zukunft geworfen und auf die

Ziele, die das Studierendenwerk in

den kommenden Jahren verfolgt.

Die Ausstellung soll ab 6. Mai

2021 in der Universitätsbibliothek

Freiburg zu sehen sein, begleitend

erscheint eine Festschrift mit vielen

Fotos und Illustrationen aus den

vergangenen hundert Jahren.

Neben der Ausstellung wird der

runde Geburtstag mit einem abwechslungsreichen

Jubiläumsprogramm

gefeiert, das allen Interessierten

offen steht: geplant sind z.B.

Mensa-führungen, Kulturveranstaltungen,

ein Open-Air-Flohmarkt,

ein Sommerfestival im MensaGarten

und die Zwanziger-Jahre-Revue

„CRASH…BANG…BOOM!!!“

des studentischen MONDO Musiktheaters.

Neben den Veranstaltungen gibt

es für die Studierenden spannende

Mitmach-Projekte. Zum Beispiel

einen Fotowettbewerb oder einen

internationalen Kunst-Workshop.

Und es gibt spezielle Jubiläums-

Vergünstigungen, beispielsweise

Gratis-Milchreis-Essen in der

Mensa. Oder die Teilnahme an

Fortbildungen und Seminaren des

Studierendenwerks zum Schnäppchenpreis

von 10 Euro während des

gesamten Jubiläumsjahrs.

Die eigens eingerichtete Website

www.swfr.de/100 (unser Jubiläumshashtag:

#swfr100) informiert

über das Jubiläumsprogramm, hält

aber auch andere interessante, nützliche

oder amüsante Schmankerl bereit.

So kann man etwa die beliebtesten

Mensagerichte nachkochen,

die auf vier Personen heruntergerechnet

im Online-Kochbuch nachzulesen

sind. Oder man erfährt, wie

sich ehemalige Freiburger Studierende

an ihre Studienzeit erinnern.

Übrigens: Alle, die gern selbst ihre

Erinnerungen an ihr

Studium in Freiburg teilen

wollen, sind herzlich

eingeladen, ihre Texte

für die Jubiläums-Website

an das Studierendenwerk

zu schicken

– gerne mit einem Foto

von damals und heute.

Natürlich steht das gesamte

Programm unter

dem Vorbehalt der pandemiebedingten

Einschränkungen.

Sollten

Präsenzveranstaltungen

nicht möglich sein, wird

es, wo möglich, Online-

Varianten geben. Aktuelle

Informationen zu

allen Terminen gibt es

auf der Website www.

swfr.de/100.de

Studierende vor der UB, Freiburg 2017

Studierende vor der Uni um 1955

Freiburg

Foto: Stadtarchiv

Foto: SWFR


Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 5

Pharmageddon

Ein Rundgang durch Christoph Höhtkers wundervolle Dystopie Schlachthof und Ordnung

Z

u Zeiten von Corona wird

die Sehnsucht nach einer

Flucht aus der beschwerlichen

Realität nur größer.

Dass eine solche Flucht keine Probleme

löst, sondern nur verlagert,

wahrscheinlich eher schlimmer

werden lässt, dürfte klar sein. Christoph

Höhtkers jüngst erschienener

Roman Schlachthof und Ordnung

zieht ein ähnliches Fazit, jedoch

mit einem beschwingten Zynismus,

der Laune macht. Ein Versuch,

der Faszination des vergnüglichen

wie abgründigen Romans auf den

Grund zu gehen.

Erfinden wir eine Wunderdroge! Entspannen

soll sie, aber auch aktivieren,

den Geist nicht allzu sehr beeinträchtigen,

nicht zu passiv machen, aber

trotzdem beruhigen. Schön wäre,

sie würde sich an unseren Charakter

anpassen, aber nur die besten Seiten

betonen, die störenden Nebenwirkungen

des Organismus Mensch herunterregulieren.

Am besten sollte die

Droge legal sein, man will ja keinen

Ärger mit Polizei und Justiz. Aber

bitte unbedingt nur auf Rezept, nicht

jedes Kind sollte danach greifen können.

Am besten also eine Arztnei als

Wunderdroge. Ganz seriös. Das wäre

es auch mit dem Wunschprofil. Danke.

Wann wird ausgeliefert?

Lebten wir in der Welt des Romans

Schlachthof und Ordnung müssten

wir nicht lange warten. Im Deutschland

des Jahres 2023 ist das Medikament

Marazepam, Markenname Marom,

auf dem Markt längst etabliert

und bringt einem kleinen, aber überzeugten

Teil der Bevölkerung große

Freuden. Die Konsument*innen,

nein, Patient*innen sind sich einig:

Das „wirkungsvollste, wundervollste

und gefährlichste Benzodiazepin, das

je das Licht der Welt erblickt und intensiviert

hatte“.

Romane handeln oft von besonderen

oder besonders normalen Menschen

und so handelt auch Christoph

Höhtkers viertes Buch von ganz besonders

normalen, in dieser Welt also

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besonders sonderbaren Menschen

– von eben jenen Konsument*innen

der neuen Wunderdroge. Das umfangreiche

und umfangreich miteinander

verzahnte Personal des

Romans ist meist verzaubert, angeregt,

abhängig von Marom und gibt

eine Sicht auf die Welt, die von all

dem Drogenmissbrauch mehr als

nur intensiviert erscheint. Denn leider

weicht Marom in einem Punkt

von unserer Wunderrezeptur ab:

es nimmt seine Konsument*innen

vollends ein, macht sie süchtig und

entlässt sie so schnell nicht mehr. Einen

„Marom-Entzug“ gibt es nicht.

Hinter dieser undenkbaren Phrase

lauert schlichtweg der Tod. Und so

handelt Schlachthof und Ordnung

nur vordergründig von einer gedopten

Gesellschaft, tatsächlich aber ganz

existenziell vom Tod, der hinter jeder

(ausbleibenden) Tabletteneinnahme

lauert. „Eine schwarze Sonne, die den

Beladenen, den Elenden den Weg in

ihr strahlendes Ende wies.“

Die Droge als Realität

Aber ja, machen wir den Check! Wäre

Marazepam unsere Wunderdroge?

Schließlich gibt uns Christoph Höhtkers

Roman einige Dokumente an die

Hand, die zu ergründen versuchen,

warum Marom diese Zaubermedizin

ist, von der alle sprechen. Eingestreut

in eine sprunghafte Romanhandlung,

die von den vielen Protagonist*innen

vorangetragen wird, sind Briefe, Foreneinträge

oder Erlebnisberichte, die

schließlich alle von Marom handeln,

das längst nicht mehr bloß Instrument,

sondern Lebensinhalt seiner

Konsument*innen geworden ist. Ein

Memorandum, das innerhalb des Marom

produzierenden Pharmakonzerns

Winston Pharmaceutics and Medical

Care kursiert, konstatiert das vielfältige

Wirkungsprofil der Droge: Marom

R beruhigt, wirkt angstlösend,

euphorisiert, hilft beim Einschlafen,

politisiert, ist eigentlich alles. Ein

„intelligentes Benzodiazepin“, das

sich den Bedürfnissen des Menschen

anzupassen weiß. Und dazu, das war

uns schließlich wichtig, ist Marazepam

ein Medikament und damit verschreibungspflichtig.

Einen Nachtrag scheint nur die politisierende

Wirkung zu verlangen.

Lesen wir das Memorandum genauer:

„Marom R scheint […] eine erhöhte,

in nicht wenigen Fällen sogar bis in

den pathologischen Bereich gesteigerte

Sensitivität gegenüber politischen

[…] Frage- und Problemstellungen

zu evozieren […].“ Lesen wir

noch genauer, entdecken wir, dass an

die schließende Grußformel des Memorandums

eine Fußnote angehängt

ist, die den ursprünglich angedachten

Tonfall des Memorandums verrät:

„Mit nationalsozialistischem Gruß“.

Hinter dem Memorandum steht nicht

bloß ein skeptischer Pharmazeut,

sondern ein bekennender Nazi: Dr.

Johannes Bindig. Ein Nazi inmitten

eines mächtigen Pharmakonzerns? Es

entbehrt nicht einer gewissen Ironie,

dass Nazi Dr. Bindig vor der pathologisch-politisierenden

Wirkung des

Stoffes Marazepam warnt. Schnelle

Sympathien schafft der Roman so

jedenfalls nicht, vielmehr breitet er

ein unüberschaubares Netz voller

tödlicher Konsequenzen. Oder wie

der fiktive Autor des Buchs schließlich

lamentiert: „Dieses Buch ist ein

Monster. Ein fleischfressender Salat.“

Und Fleisch gibt es inmitten des imaginären

Schlachthofs genug.

Wer nun immer noch Lust auf

die allmächtige Wunderdroge hat

und sich etwas weniger krankhaften

Politeifer wünscht, wird sich in

Christoph Höhtkers Panorama womöglich

an jenen fiktiven Autor des

Buchs halten. Auf „Realitätslevel 0“

des Buchs angesetzt, ist Joachim A.

Gerke zunächst „Empfänger staatlicher

Transferleistungen“, konstatiert

wird auch ein „habitueller Marazepam-Konsum“.

Damit ist Gerke inmitten

der von Marom R zusätzlich

beschleunigten Leistungsgesellschaft

nicht nur mittelloser Außenseiter,

sondern noch dazu von der Droge

selbst abhängig. Den Großteil seines

Erzählstrangs verbringt er als Süchtiger

auf Entzug, wartet vor allem auf

die erlösende Marom-Zufuhr, die ihm

so schnell aber nicht gegönnt wird.

Und weil Warten Muße schafft, kommentiert

Gerke beiläufig die anderen

Erzählstränge des Romans, die ihm

laut eigener Aussage zwar untergeordnet

sind, ihm sich als „Monster“

aber ebenso entziehen wie sich ihm

sein suchtgetriebener Körper entzieht.

Paradoxien tun sich auf und irgendwie

lebt Gerke schließlich nicht

nur innerhalb seiner Schöpfung, sondern

ist eben auch von dem abhängig,

was ihm als Teil der Welt eigentlich

untergeordnet sein sollte. „Ich bin

Bestandteil des Teigs.“ Marom R

erobert nicht nur die Körper seiner

Protagonist*innen, formt den Teig,

sondern auch deren Realität und alle

Realitätslevel, eingeschlossen das

von Joachim A. Gerke. Nach Marom

R kommt nichts mehr. Oder wie Dr.

Ansgar Rappert, Leiter Patente/Lizenzen

bei Winston Pharmaceutics,

formuliert: „Insofern war Winston

eindeutig dysfunktional. Die Firma

bereitete eine Welt vor, in der sie selber

nicht überleben konnte.“

Foto: Alexandra Sonntag

Die Menschen als Schlachtvieh

Schauen wir also, mit wem es im

Roman alles zu Ende geht. Marc

Toirsier, Journalist und Gerke auf der

Realitätsskala eine Stufe untergeordnet,

ist nicht nur begierig, investigative

Reportagen zu schaffen, sondern

ebenso begierig, dem Realitätsprinzip

Marom R zu entkommen. Kurz: Der

Marazepam-Süchtige geht auf Entzug

und protokolliert das. Dafür erhält er

das Ferienhaus des Managers Patrick

Esnèr, der für die französische

Schlachterei-Kette Frères Milaut arbeitet.

Unerhört eigentlich – schließlich

schrieb Toirsier eigentlich einen

kritischen Artikel über den Alltag in

Schlachthäusern und damit auch über

den charismatischen wie perversen

Patrick Esnèr. Aber eine investigative

Arbeit überstrahlt die andere und

am Ende bleibt Marom das leitende

Prinzip für Toirsiers Körper und eben

auch für dessen handelnden Geist.

Journalist Toirsier wird am Ende des

Romans seine Schlachthofreportage

noch einmal aufgreifen und erkennen,

wie sehr sein Entzug mit dem

Erleben einer industriellen Tötung

zusammenhängt. Marom R erfüllt das

tiefe Bedürfnis eines Menschen, wieder

bei sich sein können, ohne Niedertracht,

Angst und Depressionen,

eigentlich ein tierhaftes Bewusstsein,

zumindest eins von grenzenloser Naivität.

Dass der Entzug hingegen in die

grellen Schlachthäuser, zur tödlichen

Rationalität menschlichen Handelns

führt, kann man konsequent nennen.

Nur ist es eine Perspektivfrage.

Tödliche Rationalität gibt es auch

unter dem Einfluss der Droge Marazepam,

sie wird als solche nur nicht

erkannt, vielmehr verklärt. Ein Beispiel

dafür gibt die linksterroristische

Organisation „A.N.N.E.“ („Advanced

Neo Nazi Extermination“), deren

Hauptvertreter im Roman, Thorsten

Kray, nicht nur ein effizienter Nazijäger,

sondern auch chronischer

Marom-Nutzer ist. Seine Opfer, Nazifunktionäre

im Osten Deutschlands,

werden mitleidslos liquidiert. Der fiktive

Wikipedia-Artikel zu A.N.N.E.

konstatiert eine „ungewöhnliche Präzision

und Kaltblütigkeit“, die mit

dem Drogenkonsum der Killer*innen

in Verbindung gebracht wird. Die Nazis

wiederum sehen von Kray nicht

viel. Ein Mann mit Sporttasche, der

schnell und treffsicher schießt und

sich ebenso schnell zurückzieht. Sich

selbst imaginiert Kray als „ziemlich

erfahrenen Frontkämpfer mit etlichen

nationalsozialistischen Skalps am

Gürtel“. Dieses Mal sind es die anderen,

die als Schlachtvieh enden. Es

scheint konsequent, dass sich gerade

der bekennende Nationalsozialist und

Memorandenschreiber Dr. Johannes

Bindig skeptisch gegenüber der Politisierung

durch Marazepam äußert.

Was Thorsten Kray nicht will, ist

ein Angriff auf die Winston Pharmaceutics,

den Urquell seiner geheimnisvollen

Kraft. Einen solchen

Anschlag schlägt ihm die Aktivistin

Dilek Karasu vor, die selbst abhängig

von Marazepam ist. Ihr geplanter Anschlag

auf Winston bedeutet jedoch

eine Kamikazeaktion. Der Angriff

auf den „kommerziell ausgebeuteten

wie ausbeutenden Kern“ scheint ihr

politisch sinnvoll, ein Leben ohne

Marom R ist für sie aber gleichbedeutend

mit dem Tod. Da kann sich

Karasu auch gleich beim Anschlag in

die Luft sprengen.

Alternative Neuroleptic Nonfictional

Entertainment

Dilek Karasu ist nicht nur systemkritische

Attentäterin, sondern auch Mitglied

einer Vereinigung, die sich vor

allem auf Spaß versteht. Die „GRF“

(noch ein Kürzel, das für „Gesellschaft

Rationaler Frauen“ steht) ist

nicht nur eine „semi- bis vollmilitante“,

sondern auch eine „außergewöhnlich

humorvolle Geheimorganisation“.

Humorvoll bleibt eben,

worüber der einzelne Mensch lacht:

In diesem Fall ist es der Weltuntergang,

mit dem die GRF schließlich

liebäugelt. Zumindest für die maromsüchtige

Dilek Karasu ist dieser

gleichbedeutend mit dem Ende der

Herrschaft von Marom.

Bis dahin aber darf gelacht werden.

Schließlich ist Christoph Höhtkers

Roman nicht nur überdreht düster,

sondern auch überdreht lustig. Viele

Fußnoten sabotieren die Aussagen

der Protagonist*innen, ziehen spöttisch

über deren Ideale her und machen

letztlich deren absolute Relativität

in einer Welt deutlich, in der ein

Medikament über Sein und Nicht-

Sein entscheidet. Dass sich in dieser

willkürlichen Welt ein Arbeitsloser

und Süchtiger als großer Geschichtenerzähler

hervortut, mag da nicht

überraschen. Joachim A. Gerke ist

schließlich auch der, der die Relativität

allen Geschehens erkennt und für

den Roman spöttisch skurrile Titel

wie „Pharmageddon“ entwirft.

Besonders souverän erscheinen die

Frauenfiguren des Romans. Gerade

die, freilich ironisch betitelte, „Gesellschaft

Rationaler Frauen“ macht sich

über die durchrationalisierte Welt der

Marom-süchtigen Menschen lustig.

In einem, vermutlich von Dilek Karasu

verfassten Schreiben erscheint das

Kürzel „A.N.N.E.“ als „Alternative

Neuroleptic Nonfictional Entertainment“.

In Karasus spöttischem Blick

wird nicht nur die weltrettende Nazijagd

der eigentlichen A.N.N.E. in

ihrer Bedeutung fragwürdig, sondern

auch deren Realitätsgehalt in einem

Roman, der nicht nur eine Ebene der

Wirklichkeit kennt. Ist nicht alles

vermeintlich Wahre bloß Entertainment?

Dem destruktiven Geschehen

endgültig enthoben bleiben die vielen

lakonisch abgefassten Fußnoten und

die Spötteleien des Joachim A. Gerke.

Er ist der, der als letzter lacht, wenn

sich die Schleuse zum Schlachthaus

schließlich öffnet. Er bleibt auch der

einzige, der seine armselige Existenz

als Suchtkranker unumwunden anerkennt

und seinem abhängigen Körper

ohne Widerstand das Futter genehmigt,

das alles wieder gut macht. Wer

sich mit der Realität Marom vereinigt,

darf ein glückliches Schwein

sein. Ein Schwein, das untergeht und

überlebt.

Christoph Höhtker, „Schlachthof und

Ordnung“, weissbooks 2020.

Fabian Lutz


6 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

Mentoring macht´s möglich!

Unterstützung für den Einstieg als Lehrkraft in die berufliche Schule

W

ie melde ich mich für

den anstehenden Vorbereitungsdienst

an?

Welche Regeln gelten

für das 52-wöchige Betriebspraktikum?

Wie kann ich mich mit ehemaligen

Lehramtsstudierenden

und Lehrkräften von beruflichen

Schulen vernetzen? Wie sieht der

konkrete Arbeitsalltag von Lehrkräften

aus? Welches Schulmaterial

gibt es in meinem Fach?

Fragen über Fragen, welche die Masterstudierenden

der Pädagogischen

Hochschule Freiburg, die im Januar

2022 in den Vorbereitungsdienst an

beruflichen Schulen gehen, derzeit

bewegen. Antworten erhoffen sie

sich vom Mentoring im Höheren

Lehramt an beruflichen Schulen und

haben sich deswegen als Mentees für

die Staffel im Sommersemester 2021

angemeldet.

Start mit Schulung der Mentees

und Auftakt

Mitte März 2021 ging die Sommersemesterstaffel

des Mentorings

mit einer Schulung der Mentees

und der Auftaktveranstaltung an

den Start. Der Rektor der Pädagogischen

Hochschule Freiburg, Prof.

Dr. Ulrich Druwe, Prof. Dr. Andy

Richter, Studiengangleiter und die

Mentoring-Koordinatorin Simone

Judith Fesenmeier begrüßten die

anwesenden Mentor*innen und

Mentees. Es ist das erste Mal, dass

Auftakt des Mentoring im Sommersemester 2021

Masterstudierende der Kooperationsstudiengänge

in gewerblichtechnischen

Fächern für das berufliche

Lehramt der Pädagogischen

Hochschule Freiburg und der Hochschule

für Angewandte Wissenschaften

Offenburg mit Lehrkräften bzw.

Referendar*innen aus beruflichen

Schulen als Mentor*innen vernetzt

werden. Dem Mentoringteam gelang

es, für alle Mentees, die sich dafür

angemeldet hatten, einen passenden

Mentor zu finden.

„Wir wollen junge Menschen für

die Tätigkeit als Berufsschullehrer*innen

begeistern und sie

auf diese Möglichkeit aufmerksam

machen“, so Rektor Ulrich Druwe.

Dies zu erreichen, hat sich die Pädagogische

Hochschule Freiburg

mit dem Projekt „FACE - Berufliches

Lehramt“ zum Ziel gesetzt. Es

wird im Rahmen der gemeinsamen

„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“

von Bund und Ländern aus Mitteln

des Bundesministeriums für Bildung

und Forschung gefördert. Seit

vielen Jahren werden landes- und

bundesweit händeringend Berufsschullehrkräfte

gesucht. Die Berufschancen

der Studienabgänger*innen

sind also exzellent. Hinzu kommt die

Möglichkeit einer Verbeamtung und

damit eines sicheren Arbeitsplatzes.

Das Mentoring ist Teil dieses Projekts

und unterstützt die angehenden

Lehrkräfte.

Die Bereitschaft von Berufsschullehrer*innen

und Referendar*innen,

die jungen Nachwuchskräfte zu unterstützen,

ist zur Freude der Mentees

sehr hoch. Detlef Sonnabend,

Berufsschullehrer und Fachbereichsleiter

an der Richard-Fehrenbach-

Gewerbeschule in Freiburg und einer

der Mentoren bringt es auf den

Punkt: „Ich möchte mithelfen, mehr

Berufsschullehrkräfte zu gewinnen.“

Er selbst ist nach mehrjähriger Tätigkeit

in der Industrie in den Schuldienst

eingetreten und sieht es als

seine Aufgabe, junge Menschen in

ihrer Entwicklung zu unterstützen.

Wobei genau unterstützt das Mentoring

die Studierenden?

Das Mentoring will den Masterstudierenden

helfen, sich gezielt auf den

anstehenden Vorbereitungsdienst und

den Berufseinstieg vorzubereiten.

Sie können ein Semester lang ihre

persönlichen Fragen an ihren zugeteilten

Mentor richten und erhalten

dabei persönliche und fachliche Unterstützung.

Auf Wunsch der Mentees

fand gleich zu Beginn der erste

Workshop statt: „Einblicke in den

Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg

Vorbereitungsdienst an beruflichen

Schulen“. Die anwesenden Bachelor-

und Masterstudierenden der Kooperationsstudiengänge

erhielten einen

umfassenden Überblick über die

Anmeldung und den Ablauf des Vorbereitungsdienstes.

Im Juni wird es

einen weiteren Workshop zum Thema

„Umgang mit herausforderndem

Verhalten im Unterricht“ geben.

Wer kann beim Mentoring mitmachen?

Das Mentoring richtet sich explizit an

Studierende der Kooperationsstudiengänge

in gewerblich-technischen Fächern

für das berufliche Lehramt zwischen

der Pädagogischen Hochschule

Freiburg und der Hochschule Offenburg.

Die Studierenden können im

Laufe des Studiums in verschiedenen

Rollen am Mentoring teilnehmen:

als Mentees im 3. Semester, wenn

sie neu an der Pädagogischen Hochschule

starten; als Mentor*innen im

höheren Semester, um die Mentees zu

unterstützen; als Masterstudierende

können sie sich mit Lehrkräften und

Referendar*innen verbinden lassen.

Information zum Mentoring und Anmeldung:

Simone Judith Fesenmeier, M.A.

simone.fesenmeier@ph-freiburg.de

0761 / 682 – 757

www.face-freiburg.de/praxis/mentoring/

Information zu den Kooperationsstudiengängen:

Prof. Dr. Andy Richter

andy.richter@ph-freiburg.de

0761 / 682 - 650

Simone Judith Fesenmeier, M. A., ist

Koordinatorin Mentoring und Marketing

im Projekt „FACE - Berufliches

Lehramt“ an der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

Wirksamer Fachunterricht

Wann ist Unterricht an Schulen erfolgreich?

D

er Unterricht an unseren

Schulen ist dann erfolgreich,

wenn er alle

Schüler*innen tatsächlich

erreicht. In diesem Fall sprechen wir

von einem wirksamen Unterricht.

In den letzten Jahren tauchte immer

wieder die Frage auf, was Lehrkräfte

können müssen, um ihren Unterricht

wirksam werden zu lassen. Eine Antwort

auf diese Frage ist, wie immer

in der Wissenschaft, nicht ganz einfach.

Über längere Zeit hat man sich

am Mathematikunterricht orientiert.

Zahlreiche Studien zeigten auf, wann

Mathematikunterricht erfolgreich ist

und was die Lehrkräfte dazu beitragen:

Erfolgreiche Lehrkräfte gestalten

ihren Mathematikunterricht so,

dass sich die Schüler*innen zu jedem

Zeitpunkt des Unterrichts durch die

Lehrkraft gut geführt fühlen (effektive

Klassenführung), die Schülerinnen

und Schüler kognitiv aktiviert

sind (kognitive Aktivierung) und sich

von ihrer Lehrkraft unterstützt fühlen

(konstruktive Unterstützung).

Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen

ist nun der Frage

nachgegangen, ob diese drei Faktoren

tatsächlich auch für alle Schulfächer

gemeinsam gelten können. Um dies

herauszufinden, müsste man, ähnlich

wie man das schon vor Jahren für den

Bachelor-Studium

WIRTSCHAFTS-

PSYCHOLOGIE

Mathematikunterricht durchgeführt

hatte, testen, welche Maßnahmen im

Unterricht zu guten Lernergebnissen

führen. „Das war schon für den Mathematikunterricht

eine wichtige, aber

aufwendige Aufgabe“ meint Professor

Markus Wilhelm, Leiter des Instituts

für Fachdidaktik Natur, Mensch, Gesellschaft

(IF NMG) an der Pädagogischen

Hochschule Luzern.

Es wäre ein enormer Aufwand, und

wir bräuchten Jahrzehnte, wollten wir

für alle Schulfächer testen, wie sich

das Handeln von Lehrkräften im Unterricht

tatsächlich auf den Lernerfolg

der Schüler*innen auswirkt. „Aus diesem

Grund haben wir zunächst einen

anderen Weg gewählt“, sagt Professor

Volker Reinhardt, Politikwissenschaftler

und Demokratiedidaktiker

an der Pädagogischen Hochschule

Freiburg. „Bis solche umfangreichen

Forschungsarbeiten erledigt wären –

man stelle sich vor, man müsste dies

für 15-20 Schulfächer durchführen –

wären die Ergebnisse zum Zeitpunkt

ihrer Veröffentlichung wahrscheinlich

bereits veraltet“, erläutert Professor

Markus Rehm, der Lehrkräfte für die

Naturwissenschaften an der Pädagogischen

Hochschule in Heidelberg

ausbildet.

Aus diesen Gründen haben die

drei Fachdidaktiker einen anderen

Welche Rolle spielt der

„Faktor Mensch“ in einer

digitalen Ökonomie?

Wie arbeiten interdisziplinäre

Teams effizient zusammen?

JETZT INFORMIEREN!

hs-offenburg.de/wp

NEU ab

Oktober

2021

Weg eingeschlagen: Für 17 Unterrichtsfächer

haben sie zusammen

mit Kolleg*innen insgesamt 306

Expert*innen nach den empirischen

Wirksamkeitskriterien ihres jeweiligen

Unterrichtsfaches befragt.

Aus den Antworten der Expert*innen

sind 17 Buchbände entstanden: „Jeder

Buchband widmet sich einem

Unterrichtsfach, vom Wirksamen

Englischunterricht, über den Wirksamen

Musikunterricht bis hin zum

Wirksamen Politikunterricht, um nur

drei der bislang 17 ausgewählten Fächer

zu nennen. So dokumentieren die

17 Bände einheitlich über alle Fächer,

was die Wirksamkeit des jeweiligen

Unterrichtsfachs ausmacht“, berichtet

Volker Reinhardt.

Nun können sich erstmals Lehrkräfte

aller Unterrichtsfächer ein umfassendes

Bild davon machen, welche

Metaband

Wirksamkeitskriterien nach der begründeten

Auffassung von Expert/-

innen aus Schulpraxis, Wissenschaft

und Lehrerbildung für ihr jeweiliges

Fach gelten. „Sicher wäre das Testen

der Schülerinnen und Schüler in allen

Fächern eine noch aussagekräftigere

Methode gewesen, um Rückschlüsse

auf die Wirksamkeit des Unterrichtshandeln

ihrer Lehrkräfte zu erhalten“,

merkt Markus Rehm kritisch an.

„Aber die Ergebnisse unserer Metastudie

zeigen dennoch deutlich auf,

welche Wirksamkeitskriterien den

Schulfächern gemeinsam sind und

welche individuell nur für ein, zwei

oder drei Fächer gelten“, berichtet

Markus Wilhelm.

Um einen Überblick über alle Befunde

zu ermöglichen, folgte auf die

17-bändige Buchreihe nun noch ein

Metaband, der die Ergebnisse aller

Fächer zusammenführt, durch komparative

Analysen Unterschiede und

Gemeinsamkeiten der einzelnen Unterrichtsfächer

mit einem Fokus auf

deren Wirksamkeit herausarbeitet und

die Kernaussagen der umfangreichen

Expert*innenbefragung dokumentiert:

Die Merkmale für einen qualitätsvollen

Mathematikunterricht gelten

nicht für alle Fächer gleich.

Dennoch gibt es keine Wirksamkeitskriterien,

die lediglich für ein einzelnes

Schulfach gelten.

Vielmehr lassen sich bestimmte Fächergruppen

identifizieren, die sich

gemeinsame Wirksamkeitskriterien

teilen, wie zum Beispiel die Fächergruppe

Biologie, Chemie, Physik,

Wirtschaft, Politik und der Sachunterricht.

Es lässt sich aufzeigen, in welchen

Fachgruppen Lehrkräfte voneinander

lernen können: So können Lehrkräfte

für den Chemie- und Physikunterricht

von Kolleg*innen des Fremdsprachenunterrichts

lernen.

Es gibt aber auch Merkmale, die alle

Fächer verbinden: z.B. Üben im Unterricht.

Das ist für alle Schulfächer

wichtig! Aber hier werden unterschiedliche

Schwerpunkte gesetzt:

Lehrkräfte für den Mathematik- sowie

für den Deutschunterricht haben hier

ganz ähnliche Aufgaben, während die

gesellschaftswissenschaftlichen Fächer

gemeinsam mit der Biologie andere

Schwerpunkte für das Üben im

Unterricht setzen.

All dies interpretieren wir als einen

Hinweis auf die Notwendigkeit einer

allgemeinen Fachdidaktik.

Eine allgemeine Fachdidaktik muss

das Verbindende und das Trennende,

also das Transversale über alle Fächer

hinweg herausarbeiten.

Das vorliegende Buch- und Forschungsprojekt

„Wirksamer Fachunterricht“

ist noch nicht abgeschlossen:

Einerseits werden Expert*innen zu

vier weiteren Fächern interviewt und

andererseits wird die begonnene Forschung

an den 306 Expertinnen- und

Experteninterviews vertieft.

Prof. Dr. Volker Reinhardt ist Professor

am Institut für Politik- und

Geschichtswissenschaft der Pädagogischen

Hochschule Freiburg


Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 7

Reuse, repair, refuse, reduce, recycle!

Pandemie trifft Umweltschutz

Im Gespräch: Prof. Dr. Katja Maaß – Direktorin des Internationalen Zentrums für MINT Bildung

an der Pädagogischen Hochschule Freiburg

Katja Maaß: Die Arbeit auf Augenhöhe

mit Expert*innen und das

Einbringen eigener Ideen sind für

die Schüler*innen essentiell. Und

praxisrelevante und alltagsbezogene

Themen, die generell bei unserer

Arbeit bei ICSE zentral sind,

motivieren enorm. Die im Auftrag

des Umweltbundesamtes und vom

Institut für ökologische Wirtschaftsforschung

(IÖW) durchgeführte

Studie „MINT the gap“ hat beispielsweise

gezeigt, dass das Thema

Umweltschutz bestens dazu dienen

kann, das Interesse junger Menschen

an MINT-Berufen zu wecken. Und

das ist als Internationales Zentrum

für MINT-Bildung natürlich immer

unsere übergeordnete Mission: Wir

wollen Kinder und Jugendliche für

MINT-Fächer begeistern!

UNIversalis: Wir bedanken uns für

Ihre Ausführungen.

S

chulen öffnen für Umweltthemen

– und dies

in Zeiten der Pandemie.

Bei der Aktion #freiburgprotectstheplanet

werden

Kleinprojekte zwischen Schulen,

Bürger*innen und Expert*innen

in und um Freiburg rund um die

Themen Abfall und Energie initiiert.

Ein Gespräch mit Prof. Dr.

Katja Maaß, Direktorin des Internationalen

Zentrums für MINT-

Bildung an der Pädagogischen

Hochschule Freiburg.

UNIversalis: Frau Maaß, von wem

wurde #freiburgprotectstheplanet

ins Leben gerufen?

Katja Maaß: Die Aktion läuft im

Rahmen des internationalen EU-

Projekts MOST (Meaningful open

schooling connects schools to

communities), in dem innovative

Projekte zum Umweltschutz initiiert

werden. In diesem Jahr geht es

dabei konkret um Abfallreduktion

bzw. -vermeidung. Im Jahr 2022

wird das Thema Energie im Fokus

stehen. MOST wird von uns, dem

International Centre for STEM Education

(ICSE, internationales Zentrum

für MINT-Bildung an der Pädagogischen

Hochschule Freiburg),

koordiniert; vor Ort sind noch die

Stadt Freiburg sowie die Walther-

Rathenau-Gewerbeschule Projektpartnerinnen.

UNIversalis: Es klingt herausfordernd,

ein solches Projekt während

einer weltweiten Pandemie zu starten.

Katja Maaß: Wir haben uns bewusst

dafür entschieden, die Aktion

trotz oder gerade wegen der Pandemie

zum jetzigen Zeitpunkt zu

initiieren. Medizinische Masken am

Straßenrand und Mittagessen to go

aus der Plastikbox sind überall präsent

und Umweltschutz ist dadurch

wichtiger denn je – gleichzeitig sind

wir aber alle von Social Distancing

und Kontaktbeschränkungen betroffen.

MOST kann hier eine tolle Gelegenheit

sein, mit anderen in Kontakt

zu kommen, sich zu vernetzen

und gleichzeitig etwas gegen akute

Umweltprobleme zu unternehmen.

UNIversalis: Wie können wir uns

die Projekte konkret vorstellen?

Katja Maaß: Bei #freiburgprotectstheplanet

können sowohl Familien

als auch Lehrer*innen mit Schulklassen

teilnehmen. Wichtig ist, dass

sich dabei sowohl die Familien als

auch die Klassen jeweils noch mit

anderen Akteur*innen zusammenschließen

– das können zum einen

Expert*innen aus dem Bereich Umweltschutz,

zum anderen aber auch

einfach interessierte Bürger*innen

sein. Nur wenn Menschen aus möglichst

vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen

gemeinsam innerhalb

der Projekte arbeiten, kann auch das

Ziel erreicht werden, dass die Lösungen

bzw. Empfehlungen, die aus

den Projekten resultieren, anschließend

von einer breiten Masse der

Bevölkerung mitgetragen werden.

UNIversalis: Der Mehrwehrt von

MOST ist demzufolge der interdisziplinäre

und multiperspektivische

Ansatz?

Katja Maaß: Genau. Innovative

und spannende Projekte im Bereich

Umweltschutz gibt es viele. Das

Besondere an MOST ist aber, dass

so viele unterschiedliche Menschen

zusammenkommen und ihre Expertise,

Erfahrungen und Ideen einfließen

lassen. Wichtig ist uns, dass

der Austausch partizipatorisch und

gleichberechtigt geschieht: Der ganze

Prozess, bei der Themenfindung

angefangen, geschieht gemeinsam,

was natürlich auch extremes Begeisterungs-

und Motivationspotential

hat.

UNIversalis: Wie geht es nach der

Themenfindung weiter?

Katja Maaß: Nachdem sich die Familie

oder die Lehrkraft mit anderen

Expert*innen vernetzt hat, wenn also

sozusagen die Projektgruppe zusammengefunden

und sich gemeinsam

überlegt hat, an welchem Thema

sie arbeiten möchte, startet das sogenannte

SCP (school-communityproject).

Die Gruppe überlegt sich

innerhalb ihres Arbeitsthemas verschiedene

Handlungsalternativen,

probiert diese selbst aus, stellt Vergleiche

an und erarbeitet anschließend

Lösungsansätze und Empfehlungen,

die zum Schluss verbreitet

werden, um die Projektergebnisse in

der Gesellschaft zu implementieren.

UNIversalis: Die Implementierung

der Handlungsempfehlungen ist also

das eigentliche Ziel der Aktion.

Katja Maaß: Richtig, die Projekte

sollen kein Selbstzweck sein. Wir

wollen möglichst viele Menschen

aus möglichst unterschiedlichen

Bevölkerungsgruppen zu ähnlichen

Aktionen inspirieren, um ein nachhaltiges

und dauerhaftes Um- und

Neudenken der Bevölkerung in Bezug

auf Umweltschutz zu erreichen.

UNIversalis: Können Sie uns ein

Beispiel nennen?

Katja Maaß: Die Reduzierung von

Plastikmüll ist ja beispielsweise

nach wie vor ein zentrales Thema.

Festes Shampoo statt Plastikspender,

Stoffbeutel statt Plastiktüte,

FreiburgCup statt Wegwerfbecher,

Lebensmittel lose und unverpackt

einkaufen – es gibt endlose Möglichkeiten

für Groß und Klein, aktiv

den eigenen Plastikverbrauch zu reduzieren

und anderen auch mitzuteilen,

was sich gut umsetzen lässt und

was schwieriger ist.

UNIversalis: Da entstehen mit Sicherheit

auch viele Anwendungen

für naturwissenschaftliche Themen.

Katja Maaß: Ja, ständig und ganz

nebenbei! Allein beim Thema Coffee-to-go-Becher

verstecken sich

viele MINT-Fächer. Wie viel kostet

eigentlich so ein Becher in der

Herstellung, woraus besteht er, wie

viele solcher Becher landen pro Jahr

in unseren Meeren? Welche ökologische

Bedeutung hat das? Mathematische

Modellierung, chemische

und physikalische Prozesse beim

Recycling, die Bedeutung von Biodiversität

– das alles sind lehrplanrelevante

Themengebiete.

UNIversalis: Die Vernetzung der

school-community-projects untereinander

kann da sicherlich auch

sinnstiftend sein.

Katja Maaß: Umweltschutz und

MINT-Bildung leben von Vielfalt!

Wie man an der vermeintlich simplen

Frage nach einem Wegwerfoder

Mehrwegbecher merkt, treffen

beim Thema Umweltschutz so viele

verschiedene Disziplinen aufeinander.

Und natürlich gehen auch die

Interessen auseinander. Während

die einen einfach nur Müll vermeiden

wollen, stehen zum Beispiel die

Anbieter*innen von Kaffee auch

vor Fragen der Wirtschaftlichkeit

und der Kundengewinnung. Es ist

also nicht immer leicht, Lösungen

zu finden. Daher ist es zum einen

wertvoll, wenn sich SCPs mit ähnlichen

Themen (auch international)

untereinander vernetzen – aber auch,

wenn innerhalb eines SCPs unterschiedliche

Sichtweisen und Expertisen

einfließen.

UNIversalis: Das muss gegenwärtig

vermutlich alles online stattfinden.

Katja Maaß: Ja, die Treffen können

über Online-Konferenztools stattfinden,

was natürlich den großen

Vorteil hat, dass auch Akteur*innen

angefragt werden können, die sonst

aufgrund räumlicher Distanz nicht

teilnehmen könnten. Und die Ergebnisse

der Projekte können und sollen

beispielsweise über Social Media

verbreitet werden. Erfahrungemäß

lassen sich Schüler*innen davon

Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg

auch schnell begeistern und bringen

ganz eigene, kreative und innovative

Strategien mit.

UNIversalis: Das klingt so, als ließen

sich Kinder und Jugendliche

schnell für #freiburgprotectstheplanet

begeistern.

Sprachenkolleg für ausländische Studierende

Das Sprachenkolleg für ausländische

Studierende ist eine Einrichtung der

Erzdiözese Freiburg, an der seit über

50 Das Jahren Sprachenkolleg Deutsch für ausländische für ausländische

Studierende auf ist den eine Niveaus Ein-

Studienbewerber

A1-C1 richtung unterrichtet der Erzdiözese wird. Qualifizierte,

an motivierte der seit über und 50 zugewandte Jahren Deutsch Lehr-

Freiburg,

kräfte für ausländische mit Erfahrung Studienbewerber

und Freude

am auf Beruf den Niveaus unterrichten A1-C1 hier unterrichtet

wird. 150 Studentinnen Qualifizierte, und motivierte Studen-

pro Kurs

etwa

ten und verschiedener zugewandte Nationalitäten, Lehrkräfte mit Religionen

Erfahrung und und Weltanschauungen Freude am Beruf und

bereiten unterrichten diese auf hier die pro Sprachprüfung Kurs etwa

an 150 den Studentinnen Universitäten und (DSH) Studenten oder auf

die verschiedener Aufnahmeprüfung Nationalitäten, an den Studienkolleggionen

und vor. Weltanschauungen Das Sprachenkolleg und ar-

Relibeitet

bereiten eng mit diese dem auf Sprachlehrinstitut

die Sprachprüfung

Albert-Ludwigs-Universität an den Universitäten (DSH) Frei-

der

burg oder zusammen, auf die Aufnahmeprüfung

mit der seit 1973

eine an den Kooperation Studienkollegs besteht. vor. Das

Als Sprachenkolleg Einrichtung mit arbeitet kirchlicher eng Trägerschaft

dem Sprachlehrinstitut gehört im Sprachenkolleg-

der Albert-

mit

neben Ludwigs-Universität dem intensiven Spracherwerb

Freiburg zusammen,

ein ansprechendes mit der seit Freizeit- 1973 eine und

auch

Kulturangebot Kooperation besteht. zum Programm. Bei

schulinternen Als Einrichtung Veranstaltungen mit kirchlicher Trägerschaft

Ausflügen gehört in im die Sprachenkol-

Umgebung,

und

Feiern,

Projekten leg neben und dem öffentlichen intensiven Spracherwerb

auch wie z. ein B. ansprechendes

Konzerten und

Veranstaltungen,

Ausstellungen, Freizeit- und laden Kulturangebot wir zum Kennenlernen

Programm. und Bei Deutschsprechen schulinternen Ver-

ein.

zum

Unser anstaltungen Freizeitangebot und Feiern, findet, Ausflügen sobald

es in die die Pandemielage Umgebung, und Projekten die Hygienevorschriften

öffentlichen Veranstaltungen, erlauben, wieder wie in

und

vollem z. B. Konzerten Umfang statt. und Ausstellungen,

Das Sprachenkolleg

laden befindet wir zum sich Kennenlernen im Freiburger und

Ortsteil Deutschsprechen Littenweiler ein. im Grünen, neben

Das der Sprachenkolleg Thomas-Morus-Burse, befindet und

bietet sich im mit Freiburger Gruppenräumen, Ortsteil Kalli- Lit-

Mehr Infos und Anmeldung: https://

icse.ph-freiburg.de/freiburgprotectstheplanet/

Das Gespräch führte Helga Epp,

Leiterin der Stabsstelle Presse &

Kommunikation an der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

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Tischkicker, Vorführraum und Foyer

Möglichkeiten zur Begegnung außerhaltenweiler

des im Unterrichts. Grünen, neben Wenn der es

die Thomas-Morus-Burse, Coronavorschriften und erfordern, bietet

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gleichem

Umfang

online Tischkicker, statt. Wenn Vorführraum Präsenzunterricht und Foyer

Möglichkeiten erlaubt ist, zur wird Begegnung er unter

behördlich

Einhaltung außerhalb des eines Unterrichts. bewährten Hygienekonzepts

Das Sprachenkolleg in Kleingruppen wird mit sowohl Abstand

von der gehalten. Erzdiözese Das Sprachenkolleg

als auch vom

wird Land sowohl Baden-Württemberg von der Erzdiözese gefördert.

vom Zusätzlich Land Baden-Württemberg

besteht für Ge-

als

auch

gefördert. flüchtete, Zusätzlich die sich besteht sprachlich für Geflüchtete,

ein Studium die sich in Deutschland sprachlich auf vor-

ein

auf

Studium bereiten in wollen, Deutschland die Möglichkeit,

vorbereiten

wollen, sich um die ein Möglichkeit, Stipendium sich zu um bewerben.

Anfragen zu bewerben. hierzu bitte Anfragen direkt an

ein

Stipendium

hierzu die Direktion. bitte direkt an die Direktion.

Wir Wir freuen freuen uns uns auf auf Ihren Ihren Besuch! Besuch!

Sprachenkolleg für ausländische Studierende


8 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

Rosengarten des Widerstands

Jenny Odell schreibt über das „Nichts tun“ als politischen Akt. Tatsächlich eine echte Herausforderung

D

ie Künstlerin und Autorin

Jenny Odell hat ein

Buch über das „Nichts

tun“ geschrieben. Ein

überraschend politisches Bekenntnis

zum Abseitsstehen und

der aufmerksamen Neuentdeckung

des eigenen Umfelds. Am

Ende wird überdeutlich: Was die

enorme Einflussnahme der Medien

auf unser Bewusstsein am

ehesten bricht, ist der Blick auf

den Boden, auf dem wir stehen.

„Ich ging in dieses Buch hinein und

kam als eine andere heraus. Betrachten

Sie es also nicht als abgeschlossene

Informationsübermittlung,

sondern stattdessen als offenen und

ausgedehnten Essay […]. Es ist weniger

ein Vortrag als die Einladung

zu einem Spaziergang.“ Bücher sind

oft Einladungen in andere Welten,

nur nicht immer im Sinne einer positiven

Erfahrung: Oft stehen Konflikte

im Mittelpunkt, Konflikte, die

unruhig machen, darin aktivieren,

packen, fesseln, einnehmen. Jenny

Odells „Essay“ hingegen lädt zunächst

dazu ein, „Nichts [zu] tun“.

Und doch beschreibt es seinen

Konflikt bereits im Untertitel: „Die

Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie

zu entziehen“. Klingt anstrengend.

Ein Spaziergang durchs

Dickicht also?

Jenny Odells ausgedehnter Spaziergang

beginnt inmitten eines

Parks, dem Morcom Amphitheatre

of Roses in Odells Heimatstadt Oakland,

Kalifornien. Der „Rosengarten“,

wie sie ihn nennt, ist kein quadriertes

Rasenfeld, das man geordnet

abschreiten kann, sondern ein

im besten Sinne unwegsamer Ort.

Der Weg ist unstet, führt zwischen

Pflanzen und Tieren an andere Orte

und durchbricht damit den Alltag,

der uns allzu oft in Routinen verstrickt.

Wer den Rosengarten betritt,

wird zum aufmerksamen Entdecken

aufgefordert. „Nichts tun“ bedeutet

für Jenny Odell keinen Nicht-Zustand,

sondern die Kapazität, aufmerksam

auf sich, seine Umgebung

und damit Natur und Mitmenschen

zuzugehen. Und dieses Zugehen

bedeutet Bewegung, einen Spaziergang

als echte Aktion. Entsprechend

gliedert sich Odells Buch über die

verschiedenen Bewegungsarten, die

das „Nichts tun“ vorgeben kann.

Wir erfahren vom Ausstieg aus dem

Arbeitstrott, vom weit allgemeineren

Ausstieg des Menschen aus der

innerlichen Routine und, wieder

simpler, zu einer Bewegung hin

zum Boden, auf dem der Mensch

in diesem Moment steht. All diese

Bewegungen verlangen Kraft und

Ausdauer. Beides Elemente, die

uns das durchrationalisierte Design

moderner Technologien gerne

ersparen und uns auf diese Weise

einnehmen möchte. „Aufmerksamkeitsökonomie“

erscheint bei Odell

als gezielter Versuch, den Menschen

in moderne, kapitalistische

Arbeitskreisläufe einzubinden und

ihn so von sich selbst, seinen Mitmenschen,

der Natur, kurz, seiner

Umwelt zu isolieren. Dabei benötigt

eine Umwelt, die durch Umweltverschmutzungen

und Menschrechtsverletzungen

geprägt ist, dringend

wertschätzende Aufmerksamkeit.

„Nichts“ als Widerstand

Jenny Odells Analysen moderner

kapitalistischer Wirtschaftsmodelle

dürften vielen Menschen mittlerweile

bekannt vorkommen. Sie bilden

die Folie, vor der sich Odells

kreative Neubesinnung abzeichnet.

Längst bedeutet Teil eines kapitalistischen

Systems zu sein nicht mehr

bloß der tägliche Einkauf oder die

Selbstvermarktung auf dem Arbeitsmarkt.

Bereits die Nutzung von

Online-Plattformen wie Facebook

oder Instagram zur Zurschaustellung

der Marke „Ich“ befeuert kapitalschwere

Konzerne. Und auch

jenseits wirtschaftlicher Analysen

hat das unmittelbare Folgen. Denn

wo die verbrachte Zeit auf Social

Media zu produktiv genutzter Zeit

wird, wird Zeit eine „ökonomische

Ressource, die wir nicht länger guten

Gewissens mit ‚nichts‘ vertun

können. Das bringt keine Rendite;

es ist einfach zu teuer.“ Für Odell

eine grausame Vorstellung. Hier

stößt ihr Appel hervor, Zeit und

auch Raum wieder für unwirtschaftliche,

weniger selbstentfremdende

Formen des Seins zu gewinnen. Ein

nicht kapitalistisch verwertbares

Sein und alle damit verbundenen

Menschen, Räume, Zeiträume ist

politischer Widerstand.

Kehren wir dazu zum Rosengarten

zurück. Was zunächst wie ein

unscheinbares Fleckchen Grün und

damit als Inbegriff unpolitischer

Harmlosigkeit anmutet, kennt

eine Geschichte des Widerstands.

Inmitten der Stadt Oakland gelegen,

ist der Rosengarten findigen

Investor*innen und ihrem Ideal der

Nutzbarmachung jeder Fläche ein

echtes Ärgernis. Nur der vehemente

Widerstand der Anwohner*innen,

um diese Fläche für Muße, Nichtstun,

der Entstehung von Natur beizubehalten,

konnte diesen Park vor der

Zerstörung bewahren. Seine Pflege

wird von Ehrenamtlichen übernommen.

Sie und die Anwohner*innen

vereint ein Bedürfnis nach solchen

Muße-Räumen, die auch Zeiträume

eröffnen, in denen man schlicht erst

einmal mit sich selbst und der Natur

sein kann. Der Park wird zum

Akteur eines Widerstands und fügt

sich damit neben diverse Modelle

und Figuren des widerständigen

„Nichts Tuns“, die Odell auf ihrer

schlaglichthaften Reise vorstellt.

Prominent erscheinen darunter

der alte griechische Philosoph

Diogenes und Herman Melvilles

berühmter Angestellter Bartleby

(eine Figur aus der Kurzgeschichte

Bartleby, der Schreiber). Diogenes

übte frühe Performances der Verweigerung

und brach damit immer

wieder gesellschaftlich-automatisierte

Prozesse auf. Als die Korinther

durch eine Belagerung der

Makedonen bedroht waren und alle

in eiligste Kampfvorbereitungen

verfielen, rollte der alte Weise nur

mit Schwung sein Fass. Auf die

Frage, warum er das tue, antwortete

er nur: „Nur damit ich mir den

Anschein gebe, so geschäftig zu

sein wie ihr anderen.“ Melvilles

Bartleby wiederum erwidert auf die

vielen Arbeitsanfragen, die er als

Anwaltsgehilfe erhält, nur immer

wieder schlicht: „I would prefer not

to.“ Anders als die Generation der

60er proben beide Männer nicht den

Ausstieg aus der durchrationalisierten

Gesellschaft, sondern bleiben in

ihrer Mitte und in einem „permanenten

Zustand der Verweigerung“.

Schnell wird klar, wie radikal ihr

Widerstand wirkt, der im Grunde

nur ein sanftes Zurückweichen ist,

oder, wie Odell es räumlich fasst,

ein Abseitsstehen.

Aufmerksamkeit als Neuentdeckung

Haben wir erst einmal eine kritische

Distanz zu den automatisierenden

Prozessen der Gesellschaft gefunden,

gilt es, die Aufmerksamkeit auf

andere Dinge zu richten. Hier wirkt

der weite, raumgebende Begriff

des „Nichts tun“ äußerst produktiv.

Indem wir ein Gefühl für unsere

Umwelt, die Odell in all ihren Faktoren

als „Bioregion“ bezeichnet,

entwickeln, können wir nicht nur

in aufmerksame Verbindung mit

ihr treten, sondern auch Schäden,

Zerstörungen entdecken. Staudämme,

versiegelte Böden, abgeholzte

Bäume, zerstörte Grabmale von

Ureinwohner*innen, Vertriebene

aufgrund von Gentrifizierung oder

gar Genozid. Der genaue (Rück-)

Blick auf unser Umfeld ist nicht immer

der Blick auf den zauberhaften

Rosengarten, sondern auch auf eine

Umgebung, die durch Verschmutzung

oder Zerstörung geprägt ist.

Eine Homogenisierung solcher

Bereiche durch gedachte wie gelebte

Automatismen blockiert den

Blick auf solche Brüche in Raum

und Zeit. Erst wenn sie erkannt werden,

kann für sie Raum geschaffen

werden. Und dieses Raum-Schaffen

muss wie bei Diogenes, Bartleby

oder dem Rosengarten inmitten

der Stadt, aus der Mitte heraus geschehen.

Deshalb plädiert Jenny

Odell für keine Gesellschaftsflucht,

sondern für eine umsichtige Wiederherstellung

des gemeinsamen

Kontexts, „den wir verloren haben“.

Den Spaziergang sollten wir also

nicht allein unternehmen, sondern

mit unseren Mitmenschen und der

Natur.

Jenny Odell, „Nichts tun. Die Kunst,

sich der Aufmerksamkeitsökonomie

zu entziehen“, C.H. Beck 2021.

Fabian Lutz


Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 9

Pilgern und Postwachstumsökonomie

Im Gespräch: Dr. Detlef Lienau – Neuer Leiter der Evangelischen Erwachsenenbildung

W

ie sehen zeitgemäße

Bildungsprogramme

öffentlicher Einrichtungen

aus? Mit welchem

Profil positioniert sich die

Evangelische Erwachsenenbildung

im Verhältnis zu anderen

Anbietern in der Stadt? Martin

Flashar sprach darüber mit dem

Leiter der EEB Freiburg Dr. Detlef

Lienau.

UNIversalis: Lieber Herr Lienau,

seit wann arbeiten Sie in Freiburg?

Detlef Lienau: Seit zweieinhalb

Jahren leite ich die EEB Freiburg.

UNIversalis: Also die halbe Zeit

unter Pandemie-Bedingungen…

Detlef Lienau: Ich kenne die Stadt

fast nur mit Maske. Für mich lebt

Bildung aber vom direkten Austausch

und davon, an konkrete Orte

gehen zu können – sei es nach Florenz

oder in den Wald. Wie lassen

sich denn im Lockdown öffentliche

Debatten führen?

UNIversalis: Was waren Ihre beruflichen

und persönlichen Stationen

vorher?

Detlef Lienau: Von Haus aus bin

ich Pfarrer, dann kam ich zur Gründung

der christlichen Lebensgemeinschaft

„Kommunität Beuggen“

nach Südbaden, habe von

Religionsunterricht und Erwachsenenbildung

gelebt, in der Schweiz

kirchliche Bildungsarbeit bei „Mission

21“ betrieben – vor allem aber

promoviert und viel publiziert:

religiöse Erfahrung beim Pilgern,

religionssoziologische Aspekte von

Spiritualität… Lernen war schon

immer mein Thema.

UNIversalis: Ein Schwerpunkt bei

Ihnen ist das Pilgern?

Detlef Lienau: Ja, seit 20 Jahren

bin ich mit Gruppen unterwegs.

Menschen entwickeln sich selten

am Schreibtisch, sondern durch Erfahrungen.

Wir lernen von außen

nach innen: In einer irritierendungewohnten

Situation komme ich

aus den Gleisen des Gewohnten

und kann mich neu ausrichten.

Nirgendwo erlebe ich so intensive

persönliche Entwicklungen wie bei

meinen Pilgergruppen. Gelingendes

Leben braucht resonante Weltbezüge,

zwischen Mensch und Welt.

Bloß erkennendes Erschließen,

technisches Bearbeiten oder ökonomischer

Nutzen lassen die Welt

verstummen. Auch einseitiges Bäume-Spüren

oder Waldbaden führen

nicht weiter. Im Pilgern kommen

aktive und pathische Momente zum

Zug. Menschen werden gestärkt.

UNIversalis: Das klingt ein wenig

nach Taizé-Nostalgie und Kirchentags-Romantik

– was hat das mit

dem Lebensalltag junger Menschen

heute zu tun?

Detlef Lienau: Einspruch: Meine

Pilgerwanderungen sind herausfordernd.

Keine Flucht auf Zeit in

die Idylle heiler Natur und Landschaft.

Zwei Wochen mit Rucksack

und täglich 25 km, immer an der

frischen Luft und körperlich aktiv,

da erleben Sie sich anders. Was mir

wichtig dabei ist: Das wird durch

Sinnangebote – Geschichten, Bilder,

Gedanken – vertieft. So wirkt

es im Alltag weiter. Männerpilgern

nach Assisi und eine Nacht allein

im Wald – das machen auch Leute

unter 40.

UNIversalis: Sie stellen – auch in

Veröffentlichungen – einen Zusammenhang

zwischen Pilgern und

Klimaschutz her. Gibt es da mehr

zu sagen als die vordergründige Erkenntnis:

besser zu Fuß zu gehen,

anstatt ins Flugzeug zu steigen?

Detlef Lienau: Technische und

ethische Lösungswege gegen den

Klimawandel sind in ihrer Reichweite

begrenzt. Menschen ändern

ihr Verhalten nur, wenn sich auch

ihre Haltung ändert. Dafür braucht

es ein neues Mensch-Mitwelt-Verhältnis,

das spricht sich auch in der

Ökologie-Bewegung herum. Weder

idyllische Naturverklärung noch

technische Bearbeitung helfen weiter.

Wenn Sie sich beim Pilgern zwei

Wochen in der frischen Luft und in

der Landschaft aufhalten, kommt es

zu Selbstüberschreitungen. In qualitativen

und quantitativen Studien

kann ich zeigen, dass Natur- und

Körpereindrücke zentral für Pilger

sind. Wir brauchen auch Menschen,

die sich der Natur verbunden fühlen

und aus dieser Verbundenheit ökologisch

leben wollen.

Im Herbst haben wir den Postwachstums-Ökonomen

Niko Paech

bei der EEB zu Gast. Auch da geht

es darum, wie eine persönliche

Haltung des Verzichts eine sozioökonomische

Transformation der

Gesellschaft voranbringt.

UNIversalis: Was reizt Sie an der

Einrichtung „Evangelische Erwachsenenbildung“?

Detlef Lienau: Ich genieße viel

konzeptionellen Freiraum bei wenig

ökonomischem Druck, damit

Bildung wirklich am Menschen

orientiert ist. Die EEB kann auch

machen, was sich nicht rechnet,

was keinem Nutzenkalkül unterworfen

ist, aber dem Einzelnen und

der Gesellschaft nachhaltig guttut.

Die Geschichte der Frauenbildung

in Freiburg, Irakische Jesiden, Genderbewusste

Theologie, Anti-Rassismus-Training

und Gewaltfreie

Kommunikation, der Antisemitismusforscher

Wolfgang Benz mit

seinem Vortrag „Vom Vorurteil zur

Gewalt“ – ich finde das lauter wichtige

Themen.

Und wir haben spannende Schwerpunkte:

Männerarbeit, besonders

Wochenenden, bei denen sich Väter

mit ihren Kindern erleben. Familienbildung

von Erziehungsfragen

bis zum gemeinsamen Hüttenbau-

Wochenende. Im Bereich Kunst

organisieren wir jährlich vier Ausstellungen;

neu sind Studienreisen

mit Kindern.

UNIversalis: „Erwachsenenbildung“

klingt nach „60 +“ – haben

Sie im Programm auch Ansprachen

an Jüngere, zum Beispiel Studierende?

Detlef Lienau: Mir ist wichtig, Bildung

nicht zu verzwecken. Nicht

die für Karriere nutzbare Kompetenz

steht im Mittelpunkt, sondern

die Entwicklung der Persönlichkeit

und das Verstehen der Welt über

die eigene Disziplin hinaus. Dafür

nehmen sich manche Menschen

erst nach der Rushhour des Lebens

mit Familie, Berufseinstieg und Eigenheim

die Zeit. Wer besucht mit

30 Jahren einen Hölderlin-Lektürekurs?

Kann ich nachvollziehen

– und doch ist es wichtig, nicht

im Hamsterrad leerzulaufen. Jüngere

Erwachsene haben wir etwa

bei Väter-Kinder-Wochenenden,

Allein-im-Wald-Nächten und beim

Thema ökosoziale Transformation.

UNIversalis: Wie steht die EEB

zur Evangelischen Studierendengemeinde?

Bestehen da Kooperationen?

Detlef Lienau: Gerade im Bereich

ökosoziale Transformation und

Detlef Lienau

Gesellschaft gibt es gute Schnittmengen

mit der ESG. Wir haben

gemeinsam Joachim Gauck zum

Thema Toleranz geladen, was leider

zweimal der Pandemie zum Opfer

gefallen ist. Ich freue mich auch,

dass ich über einen Lehrauftrag an

der Evangelischen Hochschule mit

dieser Lebenswelt im Kontakt bleibe.

Nach wie vor forsche und publiziere

ich gerne wissenschaftlich im

Bereich Religionssoziologie.

UNIversalis: Die EEB ist also in

der hiesigen Bildungslandschaft

gut vernetzt?

Detlef Lienau: Ja, ich sehe die EEB

bestens vernetzt. Mit dem Verbund

„Ökumenische Erwachsenenbildung“

sind wir nach der VHS der

zweitgrößte Träger der Erwachsenenbildung

in Freiburg. Ökumene

ist wichtig, etwa in der Männerarbeit

und auch gemeinsam mit der

Katholischen Akademie. Am 12.

Oktober veranstalten wir gemeinsam

einen Studientag zu Gewalt und

Männlichkeit. Auch mit der Christlich-Islamischen

und der Christlich-

Jüdischen Gesellschaft sowie dem

Friedensinstitut der Evangelischen

Hochschule kooperieren wir.

UNIversalis: Wie kann die EEB

dem Zeitgeschehen trotzen, also der

Abwanderung aus den christlichen

Kirchen entgegenwirken?

Detlef Lienau: Das ist gar nicht

meine Aufgabe. Ich verstehe die

EEB als „kulturelle Diakonie“, also

ein kirchliches Engagement für die

Gesellschaft: Einzelnen Angebote

zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit

machen, Beziehungen stärken, Räume

gesellschaftlichen Diskurses anbieten.

Es braucht auch eine Art gesellschaftlicher

Herdenimmunität:

Im öffentlichen Ringen um den Weg

unserer Gesellschaft stärken wir sie

gegen Zersplitterung und Ignoranz.

Christlicher Glaube ist für mich eine

Haltung und eine Ressource, diesen

Diskurs qualifiziert zu führen.

UNIversalis: Sehen Sie produktive

Chancen in der Pandemie-Zeit –

ohne gleich „Corona als Reformator“

zu hypen, wie es kürzlich der

scheidende Evangelische Stadtdekan

Markus Engelhardt in die Debatte

warf und dafür auch Kritik

erhielt?

Detlef Lienau: Wir haben manches

online dazugelernt. Jüngst hatten

wir eine Veranstaltung zum intergenerationellen

familiären Weiterwirken

von Prägungen aus der NS-Zeit.

Da waren Teilnehmende von Berlin

bis Genf dabei. Diese Reichweite

bekamen wir vorher nicht. Digitale

Formate laufen gut, wo es um Wissensfragen

oder Kompetenzerwerb

geht. Beziehung oder Persönlichkeitsentwicklung

braucht aber das

leibhaftige Zusammensein. Ich befürchte,

dass digital Vieles von unserem

ganzheitlichen erlebnis- und

beziehungsorientierten Bildungsanspruch

verlorengeht. Darum haben

wir in der Pandemie auch gezeigt:

Der Bildschirm ist nicht die einzige

Option, wir gehen raus in die Natur.

Der Mensch ist ein leibliches Wesen,

Beziehungen entwickeln sich

in Kopräsenz anders, Gruppendynamiken

sind vor Ort intensiver.

UNIversalis: Welche Visionen haben

Sie mittelfristig?

Detlef Lienau: Mehr als ich umsetzen

kann! Ich arbeite intensiv am

Thema spirituelle Naturerfahrung.

Die dringend nötigen ökologischen

Herausforderungen werden wir

nicht allein mit ethischen Kalkülen

bewältigen, sondern nur über eine

reflektierte Naturverbundenheit.

Weder verkitschte Spiritualität noch

moralisierende Umweltpädagogik

helfen da weiter, sondern indem

Foto: Dorothee Adrian

Natur zur Sinnressource wird.

Im Kunstbereich gehen wir über

den gewohnten Ausstellungsbetrieb

dahin, dass Kunst sich mit anderen

Lebensbereichen kreuzt, im Büro,

im Gottesdienst, nebenbei…

Erwachsenenbildung unterwegs

Christlicher Glaube kommt als Potential

zum Tragen. Und in seiner

reflektierten Form als Theologie erweist

er sich als klärend, Diskurse

anregend, Horizonte weitend. Was

trägt christlicher Glaube zum Umgang

mit der Corona-Pandemie bei,

zur Frage der Geschlechterrollen,

zum Verhältnis von Identität und

Offenheit? Da müssen wir oft noch

unsere theologischen Hausaufgaben

machen. Die drängenden gesellschaftlichen

Fragen wie Klima,

Demokratie und Identität bespielen

wir so, dass wirklich gefragt und

gesucht wird. Menschen hören

dann nicht, was sie eh schon gut

fanden, sondern kommen in einen

gemeinsamen Suchprozess. Evangelische

Erwachsenenbildung als

engagiertes Forum.

UNIversalis: Was sagen Sie abschließend

den Studierenden und

Angehörigen der Freiburger Hochschulen,

die ja das Hauptpublikum

der UNIversalis sind?

Detlef Lienau: Freiburg lebt als

Universitätsstadt von Menschen, für

die Bildung mehr ist als nützliche

Kompetenzen und Karriere-Instrument.

Wir brauchen Menschen, die

sich als Person weiterentwickeln

und Gesellschaft verstehen wollen.

UNIversalis: Lieber Herr Lienau,

wir danken sehr für dieses Gespräch.

Dr. Detlef Lienau, geb. 1967, verheiratet,

3 Kinder, wohnt in St. Peter/Schwarzwald,

Abschlüsse in

Evangelischer Theologie und Interdisziplinären

Studien, Dissertation:

“Religion auf Reisen. Eine empirische

Studie zur religiösen Erfahrung

von Pilgern“ (Herder-Verlag

2015).

Angebote der EEB unter:

https://erwachsenenbildung-freiburg.de/

,

https://www.evangelisch-in-freiburg.de/ueber-uns/erwachsenenbildung-eeb/

Foto: Archiv Flashar


10 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

NS-Projekt „Gau Oberrhein“

I. Akt. Sommer 1940: Vertreibungen aus Elsass-Lothringen

Die Austreibung der jüdischen

und frankophilen Bevölkerung

aus Elsass-Lothringen darf als

Auftakt zu der als Wagner-

Bürckel-Aktion bekannten Abschiebung

gelten, die im Oktober

1940 in Baden, der Pfalz

und dem Saarland fortgesetzt

wird: Ziel war der „judenfreie“

Gau Oberrhein, im Sinne des

von Reichskommissar Heinrich

Himmler initiierten Projekts, das

in „einzudeutschenden“ Annexionsgebieten,

von Polen bis Frankreich,

zwei Millionen Menschen

beraubt hat.

Seit 15. Juni 1940 überschlugen

sich die Ereignisse, die deutsche

Wehrmacht überquerte den Rhein

und besetzte Elsass-Lothringen.

Robert Wagner, seit 1933 badischer

Reichsstatthalter und Gauleiter,

verjagte am 21. Juni diktatorisch

den Präfekten von Colmar; wenig

später zum Chef der Zivilverwaltung

(CdZ) im Elsass ernannt,

strebte er an, das Gebiet zu germanisieren

und auf die Nazis zu polen.

Von Anfang an verbreitete er Angst,

Schrecken und Todesdrohung, wobei

ihm ein skrupelloser Mann behilflich

war: Gustav Adolf Scheel,

lokaler Befehlshaber der Sipo und

des SD (BdS). Dieser verfügte über

wechselnde Einsatzkommandos

(EKS I, II, III), die bei Vertreibung

und Unterdrückung durch das NS-

Regime behilflich waren; diesbezügliche

Details hat der Historiker

Philipp T. Haase erforscht. Fakten

zum Thema bündelt auch Wolfgang

Curilla in seiner Publikation

„Die deutsche Ordnungspolizei im

westlichen Europa 1940-1945“. Im

Juni 1940 erreichen die Polizeibataillone

54 und 55 das Elsass, bereits

am 18. Juni kam es in Colmar

zu antisemitischen Übergriffen,

Wohnungen und Mobiliar werden

beschlagnahmt, wie Dokumente

und Zeitzeugen belegen. Am 1. Juli

1940 werden Juden in Mulhouse

misshandelt, die Synagoge verwüstet.

Am 15./16. Juli findet schließlich

eine massive Ausweisung statt:

Jüdische Personen werden vom

CdZ vorgeladen, müssen rasch packen

und werden auf Lastwagen zu

Sammelstellen in Rouffach, Altkirch

und Schirmeck transportiert;

am nächsten Tag fährt man sie in

die Nähe von Chalon-s-Saône und

jagt sie höhnisch über die Demarkationslinie,

wo sie in der „freien

Zone“ als französische Staatsbürger

Exilrecht hatten. 3.259 Juden

waren davon seit Juni 1940 betroffen,

zudem frankophile Personen

und andere „Volksfeinde“. Ferner

verwehrte man 17.874 Juden, die

wie zehntausende Elsässern seit

Beginn des Zweiten Weltkrieg in

das Landesinnere evakuiert worden

waren, die Rückkehr. Viele

der Betroffenen engagierten sich in

der französischen Résistance, etwa

Georges Loinger und Joseph Weill,

die mit dem Hilfswerk „OSE“ an

der Rettung von rund 5000 Kindern

beteiligt waren.

Einsatzkommandos und Polizeibataillone

Neben den Bataillonen 54 und 55

ist das Reserve-Polizeibataillon 74

in Elsass-Lothringen aktiv, von Juni

bis Oktober in Straßburg stationiert,

unterstellt dem BdO Stuttgart, Generalmajor

Gerhard Winkler. Diese

waren an den Vertreibungen ebenso

beteiligt wie an der gewalttätigen

Einlieferung „feindlicher“ Personen

in das SS-Sicherungslager

Schirmeck-Vorbruck, das die Gauleiter

bereits am 2. August 1940 im

Bündnis mit dem Polizeifunktionär

Gustav A. Scheel eingerichtet

50°

48°

46°

44°

42°

Brest

4° 2° 0°

4° 6° 8° 10°

Küstenzone

(Atlantikwall)

Zutritt eingeschränkt

Lager

Rennes

Paris

B e s e t z t e Z o n e

Bordeaux

ab Juni 1940 deutsche

Militärbesatzung

0 (km)

250

Montoire

0 (mi)

150

https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy-Regime#/media/Datei:

France_map_Lambert-93_with_regions_and_departments-occupation-de.svg

bearbeitet 4/2021

Nordostlinie

Vichy

(de facto Regierungssitz)

U n b e s e t z t e Z o n e

im Nov. 1942 militärisch besetzt

Militärverwaltung

in Belgien und

Nordfrankreich

Verbotene Zone

Marseille

de facto

annektiert

Nancy Straßburg

für deutsche

Besiedelung

vorgesehen

von Italien

besetzte

Zone

Nov. 42 - Sept. 43

(danach deutsch

besetzt)

demilitarisierte

Zone

(50 km)

4° 2° 0°

4° 6° 8° 10°

hatten. Auch SS dürfte im Einsatz

gewesen sein; diesbezüglichen Forschungslücken

geht der Historiker

Heiko Wegmann nach, indem er die

Geschichte der SS in Südbaden eruiert.

Wie Wolfgang Curillas Nachschlagewerk

darlegt, bildeten mehr

als 40.000 deutsche Ordnungspolizisten

nach der Wehrmacht und der

Waffen-SS die zahlenmäßig größte

Besatzungstruppe im westlichen

Europa; von Norwegen bis Frankreich

bewachten sie Transporte in

die Vernichtungslager im Osten,

führten Razzien durch und agierten

gegen den zivilen Widerstand.

Abgerichtet oder hingerichtet

Die Maßnahmen zum „volksdeutschen

Umbau“ von Elsass-Lothringen

nahmen seit Juni 1940 kein

Ende: Vertreibungen, „Arisierung“

Nantes

Gurs

Pau

Caen

La Rochelle

Lourdes

Forschungsliteratur in Auswahl

Honfleur

Périgeux

D E M A R K A

T I

Limoges

Dünkirchen

O N S

Toulouse

Lille

Compiègne

L I N I E

Noé

Le Vernet

Narbonne

Récébédou Carcassonne

Rieucros

von Vermögen, Germanisierung der

Familien- und Ortsnamen, „Umschulung“

von Lehrern und Verwaltungspersonal,

Vereinnahmung der

Universitäten. Es folgte die Pflicht

zum Reichsarbeitsdienst, ab 1942

der zwangsweise Einzug in die

Wehrmacht und in die Waffen-SS.

Etwaige Verweigerungen, antideutsches

Verhalten und Fluchtversuche

wurden mit Sippenhaft bestraft, mit

Erschießung, mit Internierung im

KL Schirmeck oder im KZ Natzweiler-Struthof.

Die NS-Führerschaft wollte Elsass-

Lothringen unter dem Leitmotiv der

Oberrhein-Ideologie mit dem Deutschen

Reich vereinen, wobei sich

ihre völkische Politik zwischen Exklusion

und Vernichtung bewegte,

aber zudem mit profitabler Inklusion

in die „Volksgemeinschaft“

Drancy

Pithiviers

Beaune-la-Rolande

Sperrzone eingeschränkter Zugang

Sète

Rivesaltes

Saint-Cyprien

Mâcon

Lyon

Nordostlinie

Dôle

Chalon-sur-Saône

Nîmes

Genf

Grenoble

Aix-en-Provence

Les Milles

Metz

Luxemburg:

1942 angeschlossen

Toulon

lockte. Die französische Waffenstillstandskommission

konnte gegen

die de-facto-Annexion nichts

mehr ausrichten, protestierte aber

am 3. September 1940 in zwölf

Punkten u.a. gegen: „Die Amtsenthebung

französischer Beamter wie

Präfekten (…), Zusammenschluss

des Elsass mit Lothringen (…);

Grenzverschiebung und Einführung

der deutschen Verwaltung; die

Eingliederung von Post und Eisenbahn

in das deutsche System (…);

die Einführung der Rasse-Gesetzgebung

und damit die Austreibung

der Juden und die Verweigerung

der Rückkehr von Juden und die

Beschlagnahme ihres Vermögens

(…).“

Noch bevor im Oktober 1940 die

südwestdeutschen Juden über die

französische Grenze abgeschoben

• Wolfgang Curilla. Die deutsche Ordnungspolizei im westlichen Europa 1940-1945. F. Schöningh 2020

• René Gutmann. Mémorial de la déportation et de la résistance des juifs du Bas-Rhin. Strasbourg 2005

• Jacky Dreyfus / Daniel Fuks. Le Mémorial des Juifs du Haut-Rhin. Martyrs de la Shoah. Préface Serge

Klarsfeld. Avant-propos Simone Veil. Consistorie Israélite du Haut-Rhin. Jérôme Do Benzinger. 2006

• Jean-Marc Dreyfus. Elsass-Lothringen. In: Gruner, Wolf/Osterloh, Jörg (Hg.). Das „Großdeutsche Reich“

und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Ffm 2010. S. 363ff.

• Serge Klarsfeld. Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944. Fayard 2001

• André Kaspi. Les juifs pendant l’occupation. Ed. Seuil 1991

• Frank Engehausen, Marie Muschalek u.a. (Hg.): Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20.

Jahrhundert. Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Ba-Wü, Bd. 27. Stuttgart 2020

• Philipp T. Haase. Gustav Adolf Scheel. Studentenführer, Gauleiter, Verschwörer. Ein politischer Werdegang.

In: Wolfgang Proske (Hg.). Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Bd.8. Gerstetten 2018

• Lothar Kettenacker. Nationalsozialistische Volkstumspolitik im besetzten Elsass. DVA 1973

• Simon Schwarzfuchs: 15 juillet 1940: La dernière expulsion des Juifs d’Alsace. http:/judaisme.sdv.fr/

histoire

• Léon Strauss. Exil, Exclusion, Extermination. Les Juifs alsaciens en zone libre. Saisons d’Alsace. 1993

• Ludger Syré. Der Führer vom Oberrhein. Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef

der Zivilverwaltung im Elsaß. In: M. Kissener/J. Scholtyseck (Hg.). Die Führer der Provinz. Konstanz 1997

• Jean-Laurent Vonau. Le Gauleiter Wagner. Le bourreau de l’Alsace. Strasbourg 2011

• Jean-Laurent Vonau. Profession bourreau. Struthof Schirmeck. Les gardiens face à leurs juges. 2013

• Krimm, Konrad (Hg.). NS-Kulturpolitik und Gesellschaft am Oberrhein 1940-1944. Thorbecke 2013

• Heiko Wegmann. Zur Geschichte der SS in Freiburg im Breisgau. In: Oberrheinische Studien Bd. 38. 2019

Saarbrücken

Breisach

Colmar Freiburg

Mulhouse

von Italien

besetzte

Zone

Nizza

Basel

Karlsruhe

Baden-Baden

Offenburg

Menton

(von Italien

annektiert)

Bastia

von Italien

besetzte

Zone

(Nov. 42 - Sept. 43)

Ajaccio

50°

48°

46°

44°

42°

wurden, hatten Wagner-Bürckel &

Co. seit Juni 1940 begonnen, den

angestrebten „Gau Oberrhein“ zu

„säubern“. Bei der Festnahme und

Abschiebung am 22. Oktober konnten

sie grenzüberschreitend operieren,

möglicherweise mithilfe des in

Straßburg stationierten Polizeibataillons

74, das als bewaffnete Truppe

auch geeignet war, die Züge zu

begleiten; über den Bahnverkehr im

annektierten Elsass-Lothringen verfügten

die NS-Gauleiter damals ungehindert.

Zudem dürfte das II. Polizei-Wachbataillon

im Wehrkreis

V beteiligt gewesen sein, dessen

Einsatz reichte von Stuttgart und

Karlsruhe über Elsass-Lothringen

bis hin zu Transporten von Drancy

nach Auschwitz, an denen auch

die „Eisenbahnabteilung West“ der

Wehrmacht mitwirkte. Die Zusammenhänge

sind deutlich, Details

bleiben zu erforschen.

Zahlreich sind die Opfer der Shoah

aus Elsass-Lothringen; des Weiteren

werden in dem von den Nazis

in den Vogesen eingerichteten KZ

Natzweiler-Struthof 22.000 Menschen

ermordet, die Gedenkstätte

„Europäisches Zentrum des deportierten

Widerstandskämpfers“

(struthof.fr) und ein Geschichtsmuseum

(memorial-alsace-moselle.

com) thematisieren dies. In puncto

Forschung auf deutscher Seite ist

Lothar Kettenackers Recherche

„Nationalsozialistische Volkstumspolitik

im besetzten Elsass“ (1973)

eine unerlässliche Referenz; doch

bleiben Lücken, vor allem in Bezug

auf die Rolle von Polizei und

Finanzbeamten bei der Enteignung

der jüdischen und frankophilen Bevölkerung.

Wichtige Akten befinden

sich in Straßburger Archiven,

viele Vorgänge im damaligen Annexionsgebiet

wurden jedoch von der

deutschen Rheinseite aus gesteuert,

wo die Akteure ihre Karrieren

starteten und nach 1945 oft fortsetzten.

Die grenzüberschreitende

NS-Unrechtsjustiz beleuchtet eine

Ausstellung im Amtsgericht Freiburg.

Möglicherweise sind Informationsquellen

verloren, aber gewisse

Leerstellen in der Erinnerungspolitik

weisen auf offene Wunden und

bleiben zu thematisieren, um die

deutsch-französische Freundschaft

zu erhalten und zu verbessern.

** Der Begriff Elsass-Lothringen

ist nicht im geografischen, sondern

im historischen Sinne zu verstehen;

er umfasst die Departements

Bas-Rhin, Haut-Rhin u. Moselle,

die 1871 vom Dt. Reich annektiert

worden waren.

Cornelia Frenkel


Sommer 2021 UNIversalis-Zeitung 11

NS-Projekt „Gau Oberrhein“

II. Akt. Oktober 1940: Abschiebung aus Baden, Pfalz und Saarland

Félix Chevrier imKreise einigfer Schützlinge - Rettungshelfer im OSE-Heim „Château Chabannes“ bei Limoges Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“ BG Brändle und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021

„(...) Tausende von französischen

Gendarmen, die im Herbst 1942

die Juden zur Deportation abschleppen

sollten, setzen ihre

Existenz, ja ihr Leben aufs Spiel

und benachrichtigen die Opfer

(…), so dass sie rechtzeitig fliehen

konnten. Hunderte von Bürgermeistern

und Präfekturbeamten

versahen die Verfolgten mit falschen

Papieren und retteten sie

vor dem Untergang. Privatpersonen,

deren Namen immer unbekannt

bleiben werden, nahmen

Gefährdete auf (…).“

Hanna Schramm. Menschen in

Gurs.

„Wer ein Menschenleben rettet,

der rettet die ganze Welt“.

Talmud

Einer der Geretteten, der heute noch in Großbritannien lebt: Leopold

Rosenberg, 1932 Bruchsal Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“

BG Brändle und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021

Sie oder ihre Nachkommen leben an

zahlreichen Orten der Welt, insofern

sie der Shoah entkommen konnten,

viele in Frankreich, der größten

jüdischen Gemeinde Europas,

die unvermeidlich auf Emigration,

Flucht und Deportationen während

der NS-Herrschaft verweist. Eine

differenzierte Auseinandersetzung

mit Frankreich unter der deutschen

Besatzung im Zweiten Weltkrieg

kann sich nicht auf Verbrechen und

Komplizenschaft beschränken, da

gleichzeitig ein Lehrstück an Rettungshilfe

und Widerstand stattfindet

- über 4.000 „Gerechte“ erkennt

Yad Vashem für Frankreich an. Die

„Endlösung der Judenfrage“ war

von den Nazis geplant, wurde hier

jedoch vereitelt. Mindestens 75

Prozent der etwa 320.000 jüdischen

Menschen, die 1940 im Land lebten,

überstanden den NS-Terror, darunter

die Mehrzahl der Kinder. Zivilgesellschaft,

politische Organisationen

und Kirchen trugen dazu bei,

dass sogar die Vichy-Regierung seit

1942 Eichmanns Deportationspläne

verweigerte; die Forschungen von

Beate und Serge Klarsfeld, Jacques

Semlin, Ahlrich Meyer, Arno Lustiger

und Wolfgang Seibold haben

dies seit den 1980er Jahren gezeigt.

Trotzdem werden deren Erkenntnisse

oft ausgeblendet, stattdessen

wird selbstgerecht auf die „Vichy-

Kollaborateure“ gezeigt und groteske

Schuldzuweisungen vorgenommen

(kürzlich z.B. in Katalog und

Ausstellung „Gurs1940“, GHWK,

Hg.), etwa wenn es um die am 22.

Oktober 1940 über die Grenze abgeschobene

jüdische Bevölkerung

aus Baden, Pfalz und Saarland

geht, die von den französischen

Behörden nolens volens im Lager

Gurs interniert wurde. Unpassend

wird das Lager mitunter als KZ

oder AL bezeichnet und summarisch

behauptet, die meisten Internierten

seien in Vernichtungslagern

ermordet worden. Man ignoriert die

Shoah nicht, wenn man anerkennt,

dass in südfranzösischen Lagern

ein Netz von Rettungswerken aktiv

wurde, dem es u. a. gelungen ist,

von den 560 im Oktober 1940 verschleppten

Kindern, 412 zu retten.

Mit der Recherche „Gerettete und

ihre RetterInnen - Jüdische Kinder

im Lager Gurs“ haben Brigitte und

Gerhard Brändle dies dokumentiert.

Ebenfalls zeigt der Historiker Jacques

Semelin im Buch „Das Überleben

von Juden in Frankreich 1940-

1944“: „In der Bilanz der Shoah

fallen zwei Zahlen auf: 90 Prozent

der französischen Juden und fast 60

Prozent der ausländischen Juden

überlebten in Frankreich“. Serge

Klarsfeld bestätigt dies. Neben Dänemark

stellt Frankreich in Hitlers

Europa eine Ausnahme dar, viele

haben den Nazis die Stirn geboten

und dies mit dem Leben bezahlt,

wurden als Geiseln erschossen oder

in KZs verschleppt.

Verfolgt: deportiert oder gerettet

- atemberaubende Lebensläufe

Die Dokumentation „Gerettete und

ihre RetterInnen – Jüdische Kinder

im Lager Gurs. Fluchthilfe tut

not – eine notwendige Erinnerung

nach 80 Jahren“ verleiht 560 Kindern,

darunter 412 Geretteten, eine

Stimme und ein Gesicht, ebenso wie

ihren Retter*innen. Angesichts der

Schicksale, die sich ergeben haben,

nachdem diese Kinder im Oktober

1940 mit Eltern und Verwandten aus

Südwestdeutschland abgeschoben

wurden, ist man entsetzt und darf

sich gleichzeitig wundern. Gurs war

maßlos überfüllt, es bestanden katastrophale

Zustände, viele Internierte

starben. Um Abhilfe zu schaffen,

vereinen sich Rettungswerke im Comité

de Nîmes; in Gurs und anderen

Lagern engagierten sich humanitäre

Organisationen, etwa CIMADE,

AS, OSE, Amitié Chrétienne, EIF,

FFI, Joint, MJS, Quäker, Secours

Suisse, viele Frauen waren beteiligt.

Sie befreiten Kinder aus ihrer desolaten

Lage, versteckten sie in abseits

gelegenen Häusern, in Klöstern, bei

Bauern und in Privathaushalten. Die

Rettungshelfer*innen lebten risikoreich,

mussten oft zu nicht-legalen

Mitteln greifen, besorgten Ausweispapiere,

Lebensmittel, Geld

und begleiteten ihre Schützlinge

auf Fluchtrouten. Werner Liebhold


12 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021

Werner Liebhold

Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre RetterInnen.“ BG Brändle und

Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021

Marianne Cohn (1922-1944) – im Widerstand und als Rettungs-helferin aktiv Foto: Dokumentation „Gerettete und ihre

RetterInnen.“ BG Bände und Israelitische Religionsgemeinschaft Baden (IRG), Hg. Karlsruhe 2021

etwa (aus Mannheim nach Gurs

verschleppt) wurde 1941 aus dem

Lager geholt und in das OSE-Heim

„Château Chabannes“ gebracht, wo

ihm der Gewerkschafter Félix Chevrier

„falsche“ Papiere vermittelte.

Einige der Geretteten schlossen

sich später der Résistance an, in

der auch RetterInnen tätig waren,

z.B. Marianne Cohn aus Mannheim,

die u.a. Leopold Rosenberg

(*1932 Bruchsal, heute Großbritannien)

zum Überleben verhalf; er

und Schicksalsgenossen (u.a. Fritz

Isenberg aus Lahr, Regina Ettlinger

aus Karlsruhe, Elisabeth Kling) gelangten

durch Marianne Cohn in die

Schweiz. Sie selbst wurde aber 1944

ermordet. Nachdem die Nazis seit

November 1942 ihre Menschenjagd

verschärften, blieb neben den unsicheren

Verstecken in Frankreich

nur die Flucht in die Schweiz, nach

Spanien, in die USA. Frankreich

konnte seit 1940 auch deshalb zur

Falle werden, weil nach der „Konferenz

von Evian“ 1938 kaum mehr

ein Land der Welt Verfolgte aufnehmen

wollte. Zudem hatte § 19 des

Waffenstillstands Vichy verpflichtet,

„sämtliche vom Deutschen

Reich benannten Staatsbürger, die

sich auf französischem Territorium

befanden, auszuliefern.“

Zum Vorgang der Abschiebung

am 22. Oktober 1940

Nach dem militärischen Sieg des

Deutschen Reichs über Frankreich

wurden Elsass-Lothringen de facto

annektiert und den Gauen Baden

und „Saarpfalz“ angeschlossen;

bereits seit Juni 1940 erfolgten

dort Austreibungen. Um den angestrebten

„Gau Oberrhein“ vollends

„judenfrei“ zu machen, erwirkten

Wagner-Bürckel im Oktober die

Abschiebung der südwestdeutschen

Juden, was anfangs „reibungslos“

verlief. Doch die folgenden Komplikationen

zeigten den Nazis,

dass sich Vichy-Frankreich nicht

als Abladeplatz benutzen lässt;

vielmehr protestierte die Waffenstillstandskommission

wiederholt,

dass unter falschen Angaben sieben

Eisenbahnzüge über die Demarkationslinie

befördert worden waren:

Zielort unbestimmt. Die französischen

Behörden hatten nicht die

Macht, dies rückgängig zu machen,

verhinderten aber fortan solches

Einschleusen. Damit geriet die „auf

Vertreibung ausgerichtete Judenpolitik“

der Nazis in eine Sackgasse,

so Christopher Browning; auch der

„Madagaskar-Plan“, den Götz Aly

als „projektive Konfliktüberbrückung“

bezeichnet, war zunichte.

Danach begannen die Nazis drastische

Ghettoisierungen im besetzten

Polen.

Gegen die Selbstgerechtigkeit der

Nachgeborenen

Frankreich stand nach dem Waffenstillstand

seit Juni vor einem Desaster

und war politisch zerrissen;

Zehntausende Menschen flohen aus

dem besetzten Norden Frankreichs

sowie aus den besiegten Benelux-

Staaten in die „freie Zone“, die

zum Überlaufbecken geriet. Das

französische Territorium wurde in

sechs Zonen zerstückelt, abriegelt

und drei Fünftel des Landes besetzt;

zudem griffen die Besatzer zu

einer brutalen ökonomischen Ausbeutung.

Trotz knapper Ressourcen

entsteht Solidarität mit Verfolgten

und der verordnete Antisemitismus

stößt spätestens im Sommer 1942

auf breite Ablehnung. So prangerten

etwa die katholischen Erzbischöfe

in der besetzten Zone, sodann die

Erzbischöfe von Toulouse (Saliège)

und Lyon (Gerlier), in Protestschreiben

an Pétain die Deportationen als

nicht hinnehmbar an – die Schreiben

wurden in Kirchen und über

BBC verlesen. Letztlich weigerte

sich sogar die Vichy-Regierung „an

dem deutschen Plan mitzuwirken,

zwischen September und Oktober

1942 fünfzig Züge zu füllen und

der Gestapo zur Verfügung zu stellen“

(S. Klarsfeld). Zu keiner Zeit

hat Vichy den Vernichtungswillen

der Nazis geteilt, war aber zweifellos

zur Ausgrenzung staatenloser

Juden bereit und „kollaborierte“

nicht zuletzt in der Hoffnung auf

die Rückkehr von Kriegsgefangenen

als nützlicher Idiot. Zum Verständnis

der Vorgänge ist jedoch

das NS-Besatzungsregime im Auge

zu behalten, das 1940 „antisemitische

Sofortmaßnahmen“ ergriff,

bevor Vichy Juden-Statute erließ.

Deutsche Militärverwaltung und

Botschaft betrieben systematisch

Internierungen, ließen aber Verhaftungen

von französischer Polizei

durchführen, zeigt Ahlrich Meyer

in „Täter im Verhör“; so auch bei

den Razzien seit November 1942

in der Südzone. Serge Klarsfeld:

„Ab Frühjahr 1942 stand Frankreich

gänzlich unter der Führung

der deutschen politischen Polizei,

wobei diese natürlich auf die Polizei-

und Verwaltungsstrukturen des

Vichy-Regimes angewiesen war.“

Leider kommt es immer wieder vor,

dass von deutschen Verbrechen abgelenkt

und Verantwortung auf

„Vichy“ projiziert wird, während

gleichzeitig zwanghaft behauptet

wird, die von den Nazis Verfolgten

seien „fast alle ermordet“ worden

– was für Frankreich eben nicht

zutrifft. Statt nekrophile Krokodilstränen

zu vergießen, wäre es

angebracht, dies anzuerkennen und

die Geschichten der Überlebenden

wahrzunehmen. In dieser Hinsicht

bleibt auch die Erinnerungspolitik

auf dem Freiburger Platz der

Alten Synagoge ein irreführendes

Armutszeugnis, das der Korrektur

bedarf.

Cornelia Frenkel

Jüdische Kinder im Lager Gurs:

Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung

GERETTETE

UND IHRE

RETTERINNEN

●●● Gerettete und Ihre Retterinnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs.

Fluchthilfe tut not - eine notwendige Erinnerung nach 80 Jahren“. Brigitte

und Gerhard Brändle in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Religionsgemeinschaft

Karlsruhe (IRG). Die rund 200 Seiten umfassende Dokumentation

kann als PDF bezogen werden: info@irg-baden.de

Forschungsliteratur in Auswahl

● Bernhard Brunner. Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und

die Justiz der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2004

● Regina M. Delacor. Attentate und Repressionen. Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS-Terrors

im besetzten Frankreich 1941/42. Stuttgart 2000

● Christopher Browning. Die Entfesselung der „Endlösung“. Berlin 2003

● Ruth Fivaz-Silbermann. La fuite en Suisse. Les Juifs à la frontière franco-suisse durant les années de „la

solution finale“. Mémorial de la Shoah. 1448 S. Calmann-Lévy 2020

● Serge Klarsfeld. Vichy-Auschwitz. La „solution finale“ de la question juive en France. Fayard 1983

● Claude Laharie. Le camp de Gurs 1939-1945. 2. Auflage. Pau 1993

● Arno Lustiger. Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. 2011

● Ahlrich Meyer. Täter im Verhör. „Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich 1940-1944“. 2005

● Wolfgang Seibel. Besatzung, Kollaboration und Massenverbrechen. Die „Endlösung der Judenfrage“ in

Frankreich, 1940-1944. 2012

● Jacques Semelin. Das Überleben von Juden in Frankreich 1940-1944. Vorwort von Serge Klarsfeld. Aus

dem Frz. von Susanne Wittek. Wallstein Verlag 2018

● Teschner, Gerhard J. Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940.

Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten. 2002

SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

IMPRESSUM

Herausgeber:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg

Telefon: 07 61 / 72 072

e-mail: redaktion@kulturjoker.de

Redaktionsleitung

(V.i.S.d.P):

Christel Jockers

Autoren dieser Ausgabe:

Helga Epp

Dr. Martin Flashar

Dr. Cornelia Frenkel

Elisabeth Jockers

Fabian Lutz

u.a.

Satz/Gestaltung:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Druck:

Rheinpfalz Verlag und Druckerei

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen

Der Nachdruck von Texten und den vom

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher

Genehmigung des Verlags.


Ausgabe 1 Sommersemester 2021

Eine Beilage von Master-Student*innen der Albert-Ludwigs-Universität

„Eine weniger aufgeregte Politisierung des

Faches“

Im Gespräch: Die Soziolog*innen Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky und Prof. Dr. Stefan Hirschauer

D

ie Gender Studies sind,

seitdem es die ersten

akademischen Angebote

zu Beginn der 2000er

gab, ein umstrittener Studiengang,

der immer wieder für politische

Diskurse herhalten muss.

Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky

ist Lehrstuhlinhaberin für

Allgemeine Soziologie und Gender

Studies am Institut für Soziologie

der Ludwig-Maximilians-

Universität München und gilt,

gemeinsam mit Prof. Dr. Stefan

Hischauer, seinerseits Professor

für Soziologie und Gender Studies

an der Johannes Gutenberg

Universität Mainz, zu den führenden

Expert*innen des Forschungsfeldes.

Elisabeth Jockers

sprach mit ihnen über Zukunftsperspektiven,

Überpolitisierung

und Selbstwahrnehmung der Gender

Studies.

UNIversalis: Was hat Sie damals

dazu bewegt, sich dem Forschungsfeld

der Geschlechterforschung zu

widmen?

Hirschauer: Gender Studies ist

bis heute im Wesentlichen Frauenforschung.

Und während meines

Studiums war Feminismus der

hegemoniale Zeitgeist unter den

Studierenden. Damit konnte man

sich großartig vom männlich dominierten

Lehrkörper abgrenzen, von

den ‚alten Kerlen‘ sozusagen. An

der Bielefelder Universität, an der

ich damals studierte, war der Feminismus

im Vergleich auch noch

besonders radikal. Vor diesem Hintergrund

und mit diesen politischen

Überzeugungen habe ich studiert

und letztendlich auch ein ‚Aha-Erlebnis‘

gehabt, das ich im Übrigen

jeder Studierenden wünsche, ob Soziologie

oder Gender Studies: einen

Text finden, bei dem der intellektuelle

Groschen fällt. Das war bei mir

die Studie von Harold Garfinkel

über den Geschlechtswechsel von

‚Agnes‘. Da habe ich gemerkt, Donnerwetter,

das Thema gibt’s ja gar

nicht bei den Feminist*innen, denen

ich politisch anhänge. Das war für

mich ein gedanklicher Trigger zu

überlegen, dass man wissenschaftlich

auch über die Geschlechterunterscheidung

selbst nachdenken

kann, ohne sie als politisches Instrument

oder zur politischen Selbstbeschreibung

zu verwenden.

Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky Foto: transcript verlag Prof. Dr. Stefan Hirschauer Foto: Johannes Gutenberg Universität Mainz

Villa: Ich habe Mitte/Ende der 90er

Jahre in Bochum an der Ruhr-Universität

studiert. Im Wesentlichen

habe ich mich dort mit Texten befasst,

die dem deutschsprachigen

Konstruktivismus angehörten. Texte

von Angelika Wetterer, Carol Hagemann-White,

Stefan Hirschauer

und anderen, die sehr soziologisch

waren, individuelle Handlungsfreiheiten

und Praxisstrukturen thematisierten

und mir dadurch die Lust

vermittelt haben, mich mit diesen

Themen auseinanderzusetzen. Natürlich

habe ich auch viel Judith

Butler gelesen, das war sehr umstritten

Mitte der 90er, als ich über

Bourdieu und Butler eine theorievergleichende

Diplom-Arbeit geschrieben

habe. Ich wollte einen

ähnlichen Standpunkt einnehmen,

den Stefan gerade beschrieben hat,

nur gegenüber den ‚alten Damen‘.

Ich habe viel zu Butler gearbeitet,

das war für einige gestandene Professorinnen,

z.B. am Graduiertenkolleg

an dem ich war, ziemlich

schlimm, fast wie der Sargnagel der

Frauenforschung.

UNIversalis: Wie haben Sie die

Entwicklung des Studiengangs Gender

Studies in den 2000ern erlebt?

Villa: Ich glaube es ist falsch, wenn

man von dem Studiengang spricht.

Es gibt in Deutschland einige, gar

nicht so viele, verschiedene Master

der Gender Studies und die sind sehr

unterschiedlich. Insofern ist es interessant,

erstmal die Entwicklungen

aufzufächern. Das war immer sehr

unterschiedlich. Da ist Berlin echt

ein anderer Planet als der Rest der

Republik. Und auch an anderen Orten,

sei es Köln, Bochum, Bielefeld

oder Frankfurt/M, sind die Gender

Studies je sehr spezifisch. Das ist

bei anderen Studiengängen vielleicht

ähnlich, aber für die Gender

Studies ist das nochmal sehr speziell,

weil es auch politisch bis heute

eine sehr verstrickte Geschichte ist.

Hirschauer: Das sehe ich wie

Paula. Man muss wirklich überlegen,

an welchem Standort wir uns

befinden. Aber eine Entwicklung

hat es natürlich gegeben. Das ist

einerseits die Professionalisierung

des Forschungsfeldes, andererseits

das Heranwachsen der Interdisziplinarität.

Die ursprünglich vielleicht

vier bis fünf Kernfächer der

Gender Studies, würde heute eine

Liste von vielleicht zwei Dutzend

werden. Das macht die Sache nicht

nur heterogen, dass man sagt ‚ach,

wie schön bunt ist das‘, das macht

sie auch problematisch heterogen.

Denn die Frage ist natürlich, inwiefern

all diese verschiedenen Fächer

noch intellektuell zusammenfinden

können. Das macht mich der Interdisziplinarität

gegenüber kritisch,

gleichzeitig erweitert sie aber auch

unglaublich den Horizont. Insofern

würde ich das Studiengebiet Studierenden

wirklich ans Herz legen, es

ist fast ein Studium generale. Nur,

dass man sich dabei auf die Geschlechterdifferenz

konzentrieren

soll. Einen Bachelor der Gender

Studies finde ich persönlich hochgradig

problematisch, denn zu einer

wissenschaftlichen Ausbildung

gehört einfach Disziplin, die von

Historiker*innen, Soziolog*innen

oder Linguistinnen mit jeweils eigenen

Gütekriterien definiert wird.

Villa: Das sehe ich auch so. Aber

das ist das, was in Deutschland, sowohl

im Forschungsfeld selbst als

auch von außen nicht hinreichend

verstanden wird. Die spezifische

Perspektive von ‚Studies‘. Das ist

im englischsprachigen Raum viel

besser institutionell gebettet. Ich

würde das auch immer dahingehend

verteidigen, dass die Gender Studies

nun mal ‚Studies‘ sind und keine

Disziplin. Das macht sie inhaltlich

oft interessanter und flexibel, das

macht sie aber auch prekärer, gerade

institutionell.

UNIversalis: Die Gender Studies

stehen immer wieder in der Kritik,

mehr politisches Sprachrohr als

wissenschaftliches Fach zu sein.

Auch Sie, Prof. Hirschauer, haben

in der Vergangenheit eine Überpolitisierung

des Forschungsfeldes

kritisiert. Sind die Gender Studies

wirklich überpolitisiert? Und

wie politisch dürfen Inhalte und

Forschungs -Aspekte eines Studiums

überhaupt sein?

Villa: Ja, da haben Sie jetzt die

richtigen Zwei zusammengebracht

(Gelächter).

Hirschauer: Für meine Begriffe

haben die Gender Studies eine

Professionalisierung durchlaufen.

Insofern stimmt die Richtung. Ich

hoffe aber, dass wir da noch nicht

am Ende angekommen sind. Die

Forschungsinhalte eines sozialwissenschaftlichen

Studiums werden

immer politisch sein. Aber auch immer

kulturell. Wie sollte das anders

gehen? Die Frage ist, ob die Inhalte

eines Studiums primär zur politischen

Meinungsbildung beitragen.

Das sollte allgemein der Aufenthalt

an einer Universität, aber nicht die

Lehre. Für meine Begriffe sind die

Akzente hier immer noch flächendeckend

falsch gesetzt. Die Trennung

von politischer Haltung und

Forschung ist bis heute definitiv

nicht gelungen.

Villa: Ich würde das zum Teil

auch so sagen und glaube, dass es

in den Gender Studies, aber auch

in anderen Fächern, wie z.B. der

Soziologie, eine Verwechslung

dahingehend gibt, dass Wissenschaft

immer politisch ist, weil sie

gesellschaftliche Praxis darstellt

und ein Teil von Institutionen und

Geschichte ist. Die Verwechslung

besteht für mich darin, dass die

Einsicht in ‚Teil von sozialer und

politischer Praxis‘ sein eng geführt

wird auf Lehre und Forschen als

politischen Aktivismus. Angesichts

aktueller politischer Dynamiken

in der Bundesrepublik, aber auch

international, ist es enorm wichtig

geworden, uns eben nicht so politisieren

zu lassen. Und da hat im

Feld der Gender Studies teilweise

fast eine Deprofessionalisierung

stattgefunden. Durch die Fixierung

auf das praktische, quasi individu-


14 Gender-Studies Sommer 2021

elle ‚doinggender‘ unterschreitet

das Feld manchmal den eigenen

Forschungsstand, es vergisst, dass

Geschlechtlichkeit eine soziale,

eine gesellschaftliche, eine auch

historisch gewordene, diskursiv

und institutionell verfasste Struktur

ist, die uns Menschen eben nicht

allein individuell frei verfügrbar

ist. Da geht es dann um Haltungsfragen

und Voluntarismus. Es gibt

derzeit eine starke Reduktion auf

das Individuelle, was mich als

Soziologin besonders befremdet.

Was aber auch nicht total falsch ist,

denn ‚gender‘ ist auch – mit Betonung

auf auch – konkrete Praxis.

Andererseits, und das ist m.E. das

Gros, gibt es heute in den Gender

Stuides normal-wissenschaftliche

Studien, Empirie und Forschung,

die nicht zu skandalisieren ist und

dadurch weniger Aufmerksamkeit

bekommt. Politisch unauffällige,

solide, wichtige, komplexe, kleinteilige

‚Normalforschung‘.

Hirschauer: Diese normale Geschlechterforschung

findet nach

meiner Wahrnehmung zu einem

großen Teil außerhalb der Gender

Studies statt und ist nach den eigenen

Maßstäben der Gender Studies

eher uninteressant, da sie nicht

politisierbar ist. Oder, und da wird

es interessanter, weil sie politisch

nicht genehm ist. Wenn man darüber

nachdenkt, was ein politisch

interessantes Seminar ist, könnte

man etwas wie „Diskriminierung

von Homosexuellen“ nennen. Aber

ist das auch wissenschaftlich interessant?

Man weiß schon viel über

die Diskriminierung von Minderheiten.

Was ist z.B. mit den ökonomischen

Vorteilen kinderloser

Homosexueller? Oder der Frauenfeindlichkeit

Schwuler? Was weiß

man über die Geschlechterstereotypen

von Feminist_innen? Über

die Nachteile des Mannseins?

Oder die Geschlechterstereotypen

von Trans-Menschen? Man könnte

auch ein Seminar über Männer als

Opfer häuslicher Gewalt oder sexueller

Übergriffe machen. Unter

27-jährigen sind diese Übergriffe

fast geschlechtsneutral geworden,

weiß die Kriminologie. Das sind

alles keine unpolitischen Themen,

aber es sind politisch unbequeme

Themen. Aber genau deshalb versprechen

sie interessantes, neues

wissenschaftliches Wissen. Dass

sie unbequem erscheinen, verweist

darauf, dass die Gender Studies bis

heute hauptsächlich feministische

Frauenforschung sind. Politisch ist

mir das sympathisch, wissenschaftlich

ist es langweilig. Das macht

die Gender Studies politisch auch

so angreifbar, beispielsweise in der

Schlammschlacht, die die AfD und

ähnliche führen.

UNIversalis: Hat die Forschung

der Gender Studies in diesem Sinne

Angst davor, Minderheiten auf die

Füße zu treten?

Villa: Ich glaube es gibt sehr viele

richtige Ansichten und Behutsamkeiten,

die aber manchmal zu falschen

Praxen führen. Wichtig ist,

dass es auch hier kein unschuldiges

Sprechen gibt. Vieles ist richtig

und erscheint harmlos, ist am Ende

aber doch ideologisch. Aus dieser

oft richtigen Einsicht, gibt es dann

diskursive Verklemmungen. Aber

ich kann darüber nur spekulieren.

Hirschauer: Also ich kann darüber

mehr als nur spekulieren. Wie sehr

dieses Fach politisch angegriffen

wird, ist bei den Studierenden ein

hot topic. Ich denke dafür gibt es

zwei Erklärungen.

Die Gender Studies sind ein Sündenbock

für die Politik von Rechts,

weil sie die Botschaft überbringen,

dass Gender, die kulturelle Existenzweise

der Zweigeschlechtlichkeit

erodiert. Homosexuelle dürfen

heiraten, Rollenbilder verschieben

sich und die starke Stellung der

Biologie, als Wissenschaft, die die

2018: Proteste in Ungarn gegen Eingriffe in die Lehre Foto: dpa

Zweigeschlechtlichkeit definiert,

ist zusammengebrochen. Das heißt

die Geschlechterdifferenz wird

in den Köpfen der Menschen zunehmend

genderisiert. Damit wird

Gender eine kulturelle Tatsache.

Dabei gibt es Gewinner*innen

und Verlierer*innen. Zu den

Verlierer*innen gehören traditionale

Milieus, die ihren Lebensstil

anderen nicht mehr vorschreiben

können.

Villa: Das ist genau die These, die

ich in einigen Texten formuliert

habe! Ich glaube das wird in den

Gender Studies, und da fasse ich

mir an die eigene Nase, teilweise

gar nicht so gesehen. Und das haben

die AfD oder ‚besorgte Eltern‘

schon richtig verstanden. Traditionale

Geschlechterrollen lösen

sich auf, manche machen daraus

politische Erregung. Und statt mit

politischer Empörung zu reagieren,

könnten die Gender Studies auch

sagen ‚Haben wir gut gemacht –

und da gibt es was zu Verstehen‘.

Hirschauer: Genau, das ist die

zweite Seite. Aber es ist nicht nur

die politische Reaktion der Gender

Studies, sondern sie sind in ihrer

großen Mehrheit eine entschlossene

politische Partei in einem

Kulturkampf. Deshalb laden sie

als Wissenschaft zu völlig berechtigter

Kritik ein. Wie vor 50 Jahren

auf dem Höhepunkt der zweiten

Frauenbewegung positioniert sich

das Fach als kritische Gegenwissenschaft.

Wo sich andere Wissenschaften

um Parteilosigkeit

bemühen, finden in den Gender

Studies Fraktionskämpfe zwischen

unterschiedlichen Varianten

des Feminismus statt. Konservative,

an denen man sich in der Diskussion

reiben könnte, findet man

eher außerhalb des Faches. Dieser

Diversitätsmangel innerhalb der

Personalstruktur hat natürlich auch

Einfluss auf die Themenwahl der

Forschung. Das Fach sieht, peinlicherweise,

bis heute genauso geschlechtshomogen

aus, wie die androzentrische

Wissenschaft, die es

mit Recht kritisiert hat. Und diese

beiden Mechanismen, der Sündenbock

auf der einen Seite und die

politische Schlammschlacht auf

der anderen Seite, sind die Zwickmühle,

in der wir uns momentan

befinden.

In meinen Augen müssen die Gender

Studies sich stattdessen fragen,

was wir intellektuell Neues

und Interessantes bieten können.

Villa: Ich würde dir da widersprechen,

Stefan. Ich neige dazu, Autor_innen

zu umarmen, die sich

selbst vielleicht nicht den Gender

Studies zuschreiben würden, andererseits

aber den Blick der deutschsprachigen

Geschlechterforschung

erweitern. Ich denke dabei an diverse

Auseinandersetzungen, z.B.

das Feld New Materialisms, beeinflusst

durch Queer und andere

Studies, die genau diese Binarität

aufbrechen. Dazu gehört auch die

Intersektionalitätsdebatte, die die

alte Frage nach komplexen sozialen

Verhältnissen neu stellt. In

meinen Augen gab es in den letzten

Jahren viel empirische Auseinandersetzung,

die sich in Forschungsprojekten

oder auch Sammelbänden

widerspiegelt. Insofern

gibt es einen Streit.

Hirschauer: Ich sehe keinen Widerspruch

darin. Es gibt selbstverständlich

Forschung, Streit und Publikation.

Sonst wären die Gender

Studies überhaupt keine Wissenschaft.

Aber handelt es sich dabei

um produktiven und intellektuell

interessanten Streit? Dieses Kriterium

hochzuhängen fällt in den

Gender Studies schwer, weil die

politische Obsession im Vordergrund

steht. Zum Beispiel der Intersektionalitätsansatz,

den ich persönlich

als uninteressant empfinde,

beruht auf einem politischen Bündnis

dreier sozialer Bewegungen in

den USA. Der Grundgedanke der

Kreuzung verschiedener sozialer

Ungleichheiten ist interessant,

die Herangehensweise aber nicht.

Die Frage, die sich andere wissenschaftliche

Disziplinen permanent

stellen, nämlich wo ist neues Wissen

herzubekommen, stellt sich in

den Gender Studies nicht drängend

genug, weil man sich so stark politisch

begreift.

Villa: Aber das, was du jetzt sagst,

die Frage nach interessant und uninteressant,

die Suche nach mehr

Wissen passiert in den Gender

Studies. Die Frage der Intersektionalität

hast du vielleicht für dich

beantwortet, aber diese Antwort ist

ja nicht die Diskussion und kann

damit nicht ad acta gelegt werden.

Ob das jetzt aus der Geschichte,

der Rechtswissenschaft, Biologie

oder Philosophie kommt, ist erstmal

kein pro oder contra Kriterium.

Sondern inwiefern ist das interessant

für, in meinem Fall, eine

sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung

mit empirischer und

sozialer Wirklichkeit.

Hirschauer: Dem stimme ich zu.

Es ist egal, aus welchem Fach das

kommt. Nicht egal ist die Frage, ob

der intellektuelle Streit der Gender

Studies die Chance hat, interessanter

zu werden. Das scheint mir

bislang nicht gelungen zu sein.

Deshalb wird das Feld von außen

als derartig politisch und ideologisch

wahrgenommen.

Villa: Das sehe ich anders, zumindest

nicht in dieser Schärfe.

UNIversalis: Könnte eine ausgeprägte

Wissenschaftskommunikation

dazu beitragen, dieses Problem

zu lösen?

Villa: Dieses Argument höre ich

schon so lange. Man müsse besser

kommunizieren, mehr erklären.

Gehen Sie mal auf jede Homepage

der Zentren für Gender Studies.

Ich kenne kein Feld, das ein so

zugängliches Begriffsglossar hat.

An Wissenschaftskommunikation

mangelt es diesem Feld nicht. Ich

persönlich glaube inzwischen, dass

wir das alle viel zu viel gemacht

haben und es dazu beiträgt, diese

permanente Delegitimierung in

Gang zu halten.

Hirschauer: Da möchte ich etwas

weniger skeptisch sein, Paula. Das

würde ja bedeuten, dass wir an dieser

Stelle schmollen und das darf

nicht passieren. Die Wissenschaftskommunikation

hat ihre Grenzen.

Aber sie ist extrem wichtig, um

den Elitismus zu bändigen, der gerade

in den Gender Studies steckt.

Es ist ein moralischer Elitismus,

den niemand besser verkörpert als

Judith Butler. Und dann gibt es erhebliche

Anschlussprobleme in der

öffentlichen Kommunikation, da

Menschen in ihrer Alltagssprache

vollkommen anders mit der Geschlechterunterscheidung

umgehen.

Es ist also nach wie vor nötig.

Auf der anderen Seite gibt es Grenzen

der Wissenschaftskommunikation,

die auch vollkommen in Ordnung

sind, da Gender in der Gesellschaft

längst viel mehr stattfindet.

Wir müssen da also gar nicht mehr

so viel tun. So ein Begriff wie ‚Geschlechterrolle‘

ist fast schon Geschichte.

Was die Gender Studies

stattdessen tun müssten, ist was

ganz anderes. Sie müssen Abstand

nehmen von den sozial bewegten

gesellschaftlichen Milieus, die

sich über diese Frage in die Haare

kriegen. Die konservativen Milieus

fühlen sich von einer neuen kulturellen

Hegemonie bedroht. Man

muss nur in Parteiprogramme gucken,

Feminismus ist überall. Die

Gender Studies dürfen sich nicht

auf eine Seite schlagen, auch wenn

das vielleicht unser aller politische

Überzeugung ist. Vielmehr müssen

wir Dialoge herstellen.

Villa: Für das Feld insgesamt sehe

ich das auch so. Aber man darf

nicht vergessen, dass das Einzelne

schon tun. Bei uns in München

zum Beispiel. Wr haben Diskussionen

mit dem konservativen Aufbruch

in der CSU geführt, ich war

bei Burschenschaften, in Rotary

Clubs, bei der Rüstungsindustrie,

in zig Kontexten; ich spreche mit

quasi allen, auch und gern eigeninitiativ,

auch sehr viel via Social

Media. Erst vergangene Woche

haben wir über die Verwechslung

von Anti-Genderismus und Anti-

Feminismus gesprochen, was für

mich ein symptomatisches Phänomen

ist und nicht nur einem rechten

Spektrum zugeordnet werden

kann. Es gibt auch in linken und

feministischen Milieus eine starke

Abwehr gegenüber Gender als Begriff,

gegenüber Queer und Intersektionalität.

Das wird im Feld zu

wenig wahrgenommen.

UNIversalis: Werfen wir einen

Blick in die klassischen und sozialen

Medien, dann können wir

in letzter Zeit immer häufiger das

Thema „Sprache und Gender“

entdecken. Diskutiert wird über

den Genderstern sowie Sinn und

Unsinn dahinter. Wie sehr beeinflusst

Sprache unser Verhältnis zu

Geschlecht und Geschlechterstereotypen?

Hirschauer: Der Einfluss der

Sprache, und das sehen alle Sozial-

und Kulturwissenschaften

so, ist erheblich. In meinen Augen

nur nicht so erheblich, wie

Lingustinnen meinen. Auch der

Kulturkampf um das Sternchen

überschätzt sich selbst in seiner

Bedeutung. Auf der einen Seite

steuern sprachliche Kategorien unsere

Wahrnehmung und ein androzentrischer

Begriff wie ‚der Kunde

einer Sparkasse‘ wird tatsächlich

zuerst mit Männern assoziiert. Andererseits

kann man mit der Sprache

nicht so viel verändern, wie

Sprachpolitiker*innen das hoffen.

Es ist eine elementarische soziologische

Skepsis, die ich da anmelden

muss. Dabei handelt es sich um

eine offene Frage, ob die Politisierung

der Sprache einen effektiven

sozialen Wandel befördert oder ob

sie nur eine inklusivere Höflichkeit

unter den Menschen etabliert und

die Bewahrung des schönen sozialen

Scheins befeuert. Wäre auch

schön, ist aber viel weniger als

die Veränderung der ganzen Welt

durch Gendersternchen.

Es gibt auch super Beispiele für

gelungene Sprachpolitik, darunter

die Abschaffung des ‚Fräuleins‘

in den 70er Jahren, die die Gesellschaft

von dem Zwang befreit hat,

Frauen danach zu unterscheiden,

ob sie verheiratet sind oder nicht.

Das Gendersternchen ist hier für

mich ein negatives Beispiel, weil

es im Versuch Androzentrismen

zu überwinden, die Sprache selbst

viel zu sehr genderisiert. In unserer

Mainzer Forschungsgruppe suchen

wir nach anderen Möglichkeiten,

diesen Dramatisierungseffekt zu

unterbinden. Eine Patentlösung

wird es aber nicht geben.

Villa: Soziologisch finde ich das

Thema sehr interessant, weil es

widerspiegelt, wie individualisiert

und reduziert unser Umgang mit

Gesellschaftlichkeit ist. Die Idee

der Verfügbarkeit, der individuellen

Sichtbarkeit und Selbstbestimmung

in Bezug auf die Geschlechtlichkeit

ist bestimmt stellvertretend

dafür, wie sich unsere

Gesellschaft heute selbst wahrnimmt.

Hirschauer: Die Frage ist, ob man

noch mit Leuten reden kann, die

z.B. einen Satz formulieren wie

‚Gebt endlich den Weibern mehr

Macht!‘ und damit eine Vokabel

‚Weiber‘ nutzen, die uns zwar

nicht mehr richtig gut gefällt, aber

inhaltlich etwas ausdrücken, um

das es eigentlich geht. Und wenn

dort der Dialog unterbrochen wird,

haben wir eine elitäre, moralische

Blase, die sich so nicht mehr innerhalb

der Gesellschaft vermitteln

lässt. Das ist das Risiko einer

hochgezogenen Sprachpolitik.

Villa: Es kommt natürlich völlig

auf den Kontext an. Wir, die

Gesellschaft, sind uns momentan

unserer Sprache sehr bewusst, in

verschiedenen Milieus aber unterschiedlich

moralisiert und politisiert.

Aber grundsätzlich würde ich

sagen, dass das ein ethischer Zivilisationsfortschritt

ist. Und darin

gibt es, was mich hochgradig irritiert,

ein Begehren nach fast schon

autoritärer Einheit, indem man sagt

‚so und nur so muss/kann gesprochen

werden‘.

UNIversalis: Ein Blick in die Zukunft:

Welche Entwicklung wünschen

Sie sich für die Gender Studies?

Villa: Um es grundsätzlich zu sagen,

eine größere Auseinandersetzung

mit naturwissenschaftlichen

Themen und eine stärkere Hinwendung

gegenüber der Frage, wie wir

innerhalb der Gesellschaft den Verlust

der Naturontologie verhandeln.

Aber auch, und das kommt hinzu,

welchen Einfluss neue Medien auf

das Verhältnis zu Geschlecht und

Körperlichkeit haben. Um den aktuellen

Diskurs aufzugreifen, wünsche

ich mir für die Gender Studies

eine weniger aufgeregte Politisierung

des Faches.

Hirschauer: Mein Wunsch wäre,

dass die Gender Studies auf dem

Wege ihrer weiteren Professionalisierung

ihre Loyalitäten gegenüber

sozialen Bewegungen in den Griff

kriegen. Das würde die Themenpalette

diverser machen, auch im

Hinblick auf Geschlechter. Die

personelle Diversität zu erhöhen

wäre außerdem ein wesentlicher

Entwicklungsschritt und auf diesem

Weg, das ist meine Hoffnung,

auch politisch und moralisch auszunüchtern.

Ich persönlich sehe die

Zukunft der Gender Studies definitiv

in den Post Gender Studies,

weshalb wir in Mainz, gemeinsam

mit 18 Kolleg_innen, einen

Sonderforschungsbereich für eine

breiter angelegte Differenzierungsforschung

beantragt haben, für die

die Geschlechter nur ein Fall von

Humandifferenzierung sind.

UNIversalis: Wir danken Ihnen für

das Gespräch!


Sommer 2021 Gender-Studies 15

Jahrhundertelange Ausgrenzung des

Weiblichen

Noch immer sind Frauen sowohl in naturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern als auch medizinischen

Testverfahren dramatisch unterrepräsentiert

D

ie Geschichte des neuzeitlichen

Wissens ist nicht

nur eine Geschichte der

Erkenntnisgewinnung,

sondern auch eine Geschichte der

Macht. Unsere Gesellschaft und

Wissenschaft sind gleichermaßen

geprägt von einer jahrhundertelangen

Ausgrenzung und Entmachtung

des Weiblichen. Zwar gab es bereits

vor über hundert Jahren Wissenschaftlerinnen,

die ihren männlichen

Kollegen mit nichts nachstanden,

doch wissenschaftliche oder journalistische

Publikationen von weiblichen

Wissenschaftlerinnen findet

man recht selten. Woran das liegt?

Seit jeher werden Arbeitsbereiche

als „weiblich“ deklariert, insbesondere

wenn es um Zuarbeit, Recherche

und Co geht. Ein interessantes

Beispiel aus der Geschichte der

Wissenschaft ist das Projekt „Carte

du Ciel“, das 1887 vom Pariser

Observatorium unter dem Direktor

Ernest Mouchez ins Leben gerufen,

aber niemals beendet wurde. Mit

dem Aufkommen der Fotografie erkannten

die Wissenschaftler*innen

die großen Möglichkeiten hinter

der neuen Technologie, der Plan:

der Himmel sollte mit 22.000 Fotoplatten

(je 2°×2°) abgedeckt und

damit die Position von etwa einer

Million Sterne bestimmt und eine

fotografische Himmelskarte erstellt

werden. Tatsächlich wurde der

Großteil der später in Katalogen publizierten

Himmelskörperbilder von

Frauen gesammelt, darunter übrigens

auch Nonnen. Die zugehörigen

Kataloge und weitere Publikationen

wurden aber nur unter männlichen

Namen veröffentlicht, während die

weiblichen Mitarbeitenden für die

Öffentlichkeit vollkommen ausgeklammert

wurden. Ein Projekt, das

sinnbildlich für die Ausgrenzung

von Frauen aus der Wissenschaft

steht, selbst dann, wenn sie für einen

großen Teil der Erkenntnisgewinnung

verantwortlich sind.

Auch heute sind noch immer wenige

Frauen in naturwissenschaftlichen

Arbeitsfeldern tätig. An der technischen

Fakultät in Freiburg sind lediglich

18 Prozent der Studierenden

Frauen, noch geringer fällt nur die

Zahl unter den Doktorandinnen und

Professorinnen aus.

Jungs=blau, Mädchen=rosa

Mit dem Slogan „Weil Männer

nach Höherem streben“ wirbt der

Kinderspielzeughersteller Lego für

ein Baggerfahrzeug und ist damit

nicht der einzige große Konzern,

der bereits in Spielwarengeschäften

Geschlechterrollen formt und reproduziert.

Für Mädchen gibt es Parfüm

zum selber machen, Barbies und

Spielzeugpuppen mit rosa Kleidchen

und utopisch dünnen Beinen.

Für Jungs schnittige Rennfahrzeuge,

kleine Spielzeugmotoren zum selber

tüfteln und strategische Kriegsspiele.

Die Rollen sind schon für

Kinder klar verteilt. Da ist es kaum

verwunderlich, dass geschlechtsspezifische

Stereotype auch in der

Welt der Erwachsenen fortgeführt

werden, sei es auf dem Arbeitsmarkt

oder in den privaten Haushalten.

Wissenschaftler*innen weltweit erkennen

in diesem Zusammenhang

einen technologischen Determinismus

und fordern einen neutralen

Rekurs in Bezug auf technologische

Entwicklungen, angefangen bei der

Entwicklung von Video spielen, wo

Frauen mit übergroßen Brüsten und

gesundheitlich bedenklich schmaler

Taille körperspezifische Stereotype

reproduzieren, bis hin zu Künstlichen

Intelligenzen und Haushaltsrobotern,

die, wie sollte es anders

sein, mit überwiegend femininen

Merkmalen sowie Stimmen auftreten.

Ein interessantes Werk hierzu

ist übrigens das „Cyborg Manifesto“

der US-amerikanischen Biologin

und Wissenschaftstheoretikerin

Donna J. Haraway, in dem sie einen

Blick auf das Potenzial und die Gefahren

technischer Entwicklungen in

Hinblick auf Körper und Geschlecht

wirft.

Ach, das wird doch alles nicht so

tragisch sein! Falsch gedacht, denn

Kognitionswissenschaftler*innen

geben seit geraumer Zeit zu bedenken,

dass Stereotype aktiv die Performance

beeinflussen. Sogenannte

„Stereotype Threats“ sind mitunter

dafür verantwortlich, dass Mädchen

bis heute durch Film, Fernsehen und

Umwelt das Bild vermittelt bekommen,

nicht ausreichend geeignet für

Naturwissenschaften oder Mathematik

zu sein und es genau diese

permanent reproduzierte Annahme

ist, die die Performance von Schülerinnen

in naturwissenschaftlichen

Fächern vermindert.

Gender in der Medizin

Es hat in der Medizin eine lange

Tradition, den (cis-)männlichen

Körper als Norm zu betrachten. In

dem Werk „Complaints & Disorders

– The Sexual Politics of Sickness“

von Barbara Ehrenreich und

Deirdre English aus den 1970er

Jahren, stellen die Autor*innen fest,

dass insbesondere die Medizin des

19. Jahrhunderts von sozialen und

moralischen Vorstellungen beeinflusst

wurde.So galten Krankheiten

im Allgemeinen als feminin und

führten sogar zu einer dramatischen

Romantisierung der kranken Frau,

die durch schickliche Nervenzusammenbrüche

und Schwächeanfälle

zum Ausdruck kam.

Auch der Ausschluss von Frauen aus

der Bildungs- und Arbeitswelt wurde

durch Mediziner begründet, die

behaupteten, dass eine zu hohe Inanspruchnahme

des weiblichen Gehirns,

beispielsweise durch höhere

Bildung, negative Einflüsse auf den

Uterus und die Gebärfähigkeit habe.

Heute ist es die Medizin, die das soziale

und moralische Verhalten beeinflusst

und der eine Art modernes

Urvertrauen entgegengebracht wird,

basiert sie doch auf Rationalität und

reinen Fakten. Aber auf welchem

Weg gewinnen Wissenschaft und

Medizin ihre Erkenntnisse über den

menschlichen Körper und die Geschlechter?

Wie bereits zu Anfang erwähnt, ist

es der (cis-)männliche Körper, der

in medizinischer Hinsicht als Norm

betrachtet wird. Alle Abweichungen

davon werden als atypisch innerhalb

der Medizin ignoriert. Abgesehen

von Geschlechtsmerkmalen wird

auf weitere Unterschiede innerhalb

der Geschlechter also kaum eingegangen,

da sie in der medizinischen

Forschung noch immer dramatisch

unterrepräsentiert sind. Menschen,

die weder der weiblichen noch

männlichen Norm entsprechen,

werden in Entwicklungsverfahren

vollkommen ignoriert und als Behinderung

und/oder Krankheit beiseite

geschoben. Dieses Handeln im

wissenschaftlichen Kontext führt

dazu, dass Frauen – ursprünglich

zum Schutz von möglicherweise

Schwangeren – in der Regel nicht

Teil des Testprozesses für neue Behandlungsweisen

und Medikamente

werden. Diese werden stattdessen

mehrheitlich an männlichen Tieren

und später männlichen Probanden

getestet. Zusätzlich wird dieses Vorgehen

durch Hormonschwankungen

begründet, die Tests an Frauen angeblich

erschweren sollen, da die

Ergebnisse unterschiedlich ausfallen

können. Dass diese Hormonschwankungen

innerhalb des weiblichen

Körpers natürlich auch die

Wirkungsweise eines Medikaments

beeinflussen können, wird dabei

ausgeklammert und Durchschnittswerte

von männlichen Probanden

ohne Zwischenschritt auf den weiblichen

Körper übertragen. Und das

mit teils dramatischen Folgen, denn

Männer und Frauen unterscheiden

sich in „Prädisposition, Inzidenz,

Entstehung, Symptomatologie, Entwicklung

und Behandlungschancen

vieler Krankheiten“ (Gadebusch

Das Adjektiv „cis“ bezeichnet die Übereinstimmung

von Geschlechtsidentität und dem Geschlecht, das einer

Person bei der Geburt zugewiesen wurde.

Bondio, S. 12) maßgeblich. Durch

diese Diskrepanz sind nicht nur

viele Medikamente unzureichend

für Frauen erprobt, auch Diagnosen

fallen falsch aus und können im

schlimmsten Fall zum Tod führen.

Wussten Sie, dass sich ein Herzinfarkt

bei Frauen nicht zwangsläufig

durch Schmerzen in der Brust oder

dem linken Arm äußert? Und dass

Frauen über 60 häufiger an einer

Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben

als an Brustkrebs? Denn was oft als

Männerkrankheit betitelt wird, basiert

lediglich auf unzureichender

Forschung und mangelnder Aufklärung,

die das Leben von Frauen

direkt bedroht.

Frauen, die von einem Herzinfarkt

betroffen sind, klagen über Schmerzen

im Oberbauch, Übelkeit, Rücken-

und Nackenschmerzen sowie

Schmerzen im Kiefer- oder Halsbereich.

Durch mangelnde Aufklärung

gehen betroffene Frauen meist viel

zu spät in die Notfallaufnahme und

auch Ärzte registrieren die Symptome

noch immer viel zu häufig

nicht als Notfall. In Deutschland

müssen jedes Jahr knapp 222.600

Frauen und fast doppelt so viele

Männer aufgrund einer sogenannten

ischämischen Herzkrankheit stationär

behandelt werden. Und obwohl

die Zahl der betroffenen Frauen

niedriger ist, sterben noch immer

mehr Frauen als Männer an den Folgen

eines Herzinfarkts, nämlich 43

Prozent gegenüber 37 Prozent.

Genderforschende in der Medizin

versuchen diese Probleme zu

beheben, indem sie in der Forschung

konkret auf das Geschlecht

der erkrankten Person eingehen.

Wissenschaftler*innen fordern eine

ausgewogene Repräsentation weiblicher

und männlicher Probanden in

der Medikamentenforschung und die

Aufhebung der Norm „Mann“, um

Frauen besser vor Erkrankungen,

medikamentösen Nebenwirkungen

und sogar dem Tod durch Spätfolgen

schützen zu können.

Kritisch zu betrachten ist hierbei die

rein biologische Untersuchungsweise

der Gendermedizin. Innerhalb der

Forschung dieser Disziplin werden

ausschließlich biologische Unterschiede

und Merkmale zwischen

Mann und Frau untersucht, soziale

Einflüsse werden dagegen vollkommen

ignoriert. Somit fallen das soziale

Geschlecht und die dramatischen

Auswirkungen von kulturellen, historischen

und gesellschaftlichen

Normzwängen weg. Die soziale

Konstruktion von Geschlecht, auferlegt

durch kulturelle Normen und reproduziert

durch soziale und gesellschaftliche

Mechanismen, gilt in den

Gender Studies als wegweisendes

Fundament moderner Theorien und

kann in den Naturwissenschaften

neue Erkenntnisse liefern, besonders

in Hinblick auf eine ausgewogene

Gesundheitspolitik.

Stigmatisierende Rollenbilder von

Männlichkeit und Weiblichkeit wirken

sich direkt auf die Handlungsmacht,

das Auftreten und die Gesundheit

weiblicher, männlicher und

diverser Personen aus. Mit Sätzen

wie „Echte Männer kennen keinen

Schmerz“, „Sei kein Weichei“ oder

die Verlagerung der Verhütungsvorsorge

auf die Frau, nimmt die

Rollenverteilung der Geschlechter

aktiven Einfluss auf die Gesundheit

der Betroffenen.

Dies wirkt sich zum Beispiel auch

auf die Inanspruchnahme von Vorsorgeangeboten

aus. Während

Frauen regelmäßige Besuche beim

Gynäkologen ausdrücklich empfohlen

werden, unterliegt der Gang

zum Urologen für den Mann noch

immer einer gesellschaftlichen

Tabuisierung. Noch immer vollkommen

ausgeklammert werden

beispielsweise Transpersonen oder

nicht-binäre Menschen, die aus dem

Raster des vorherrschenden Mann-

Frau-Bildes fallen und auch in der

In der Vergangenheit wurde Lego des Öfteren wegen sexistischem Marketing kritisiert

Ein Foto der Frauen, die für das Projekt „Carte du Ciel“ Bilder der Himmelskörper

sammelten

Foto: Vatican Observatory

Gendermedizin nicht ausreichend

repräsentiert sind.

Eine zeitgemäße Erweiterung der

Gendermedizin könnte eine Form

der individualisierten Medizin sein.

Hierbei arbeiten Forscher*innen an

maßgeschneiderten Präventionsprogrammen

und Behandlungsmöglichkeiten,

die die Bedürfnisse des Individuums

verfolgen und nicht nur mit

Durchschnittswerten, männlicher

oder weiblicher Natur, arbeiten.

Elisabeth Jockers

Quellen:

Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki

Katsari, „Gender-Medizin:

Krankheit und Geschlecht in Zeiten

der individualisierten Medizin“,

transcript Verlag, 2014

Barbara Ehrenreich, Deirdre English,

„Complaints & Disorders –

The Sexual Politics of Sickness“,2.

Auflage, The Feminist Press at

CUNY, 2011

Foto: promo


16 Gender-Studies Sommer 2021

Gender Studies in Deutschland

Frauenforschung

Frauenforschung in unterschiedlichen

Disziplinen unter dem

Motto „von Frauen für Frauen“

Ziel = Androzentrismus (Fokus

auf den Mann und vermeintlich

männliche Normen wie

beispielsweise Rationalität) innerhalb

der Wissenschaften aufzeigen

und dem eine weibliche

Perspektive entgegenstellen

Chicana Feminism

Entsteht als Abgrenzung zu weißem

Feminismus und Chicano

Bewegungen, die beide nicht auf

die mehrdimensionale Unterdrückung

der Chicanas eingehen

. Beginnende intersektionale

Perspektive

Doing gender

Geschlechter- statt Frauenforschung

Prozesse statt Strukturen

„Menschen haben also kein Geschlecht,

sondern machen es“ Degele

2008

. Das Konzept ‚Frau‘ an sich wird

hinterfragt

Kritik an weißem Feminismus von

Frauen der Mittelschicht

. „Sister Outsider“ von Audre Lorde

erscheint 1984

„Under Western Eyes“ von Chandra

Talpade Mohanty erscheint 1984

. Es gibt nicht ‚die Frau‘ und auch

nicht ‚ die dritte Welt Frau‘

„Can the Subaltern Speak?“ von Gayatri

Chakravorty Spivak erscheint

1988

. Feministische Perspektive in der

Postkolonialen Theorie

Linguistic turn

Frankfurt a.M.:

erster Lehrstuhl der Frauenforschung

in Deutschland

1960er 1970er 1980er 1987

1990er

Strukturorientierte

Gesellschaftskritik

Beispielsweise Verhältnis von

Erwerbs- und Hausarbeit, diskriminierende

Gesetzgebung

Trennung von sex und gender

Sex= biologisches, anatomisches

Geschlecht

Gender= Geschlechtsidentität,

soziale und kulturelle Dimension

von Geschlecht

Patriarchat

Black Feminism

Combahee River Collective wird

in den USA gegründet: Das Kollektiv

macht darauf aufmerksam,

dass es nicht nur entweder Rassismus

oder Sexismus gibt, sondern

sich diese Unterdrückungsmechanismen

in einem Subjekt

vereinen können.

Das Kollektiv versteht es als unabdingbares

Ziel, den Kapitalismus

zu überwinden, wenn Freiheit

für alle Menschen erreicht

werden soll

. Intersektionale Perspektive

1976 erscheint „Sexualität und

Wahrheit“ von Michel Foucault

. Wissen über Sex wird als

Macht über und Normierung von

Sexualität erfasst

Cultural turn

Doing difference

Prozesse im Fokus

Vergeschlechtlichung statt

Geschlecht

Rassifizierung statt Rasse

Queer Studies in den

Wissenschaften

Institutionalisierungsschub in den

Geschlechtswissenschaften

„Das Unbehagen der Geschlechter“

von Judith Butler erscheint 1990

. Geschlecht wird performativ hervorgebracht

1997

Institutionalisierung der Gender

Studies an der Humboldt Universität

in Berlin

Zentrales Anliegen der Queer

Studies:

„Sexualität ihrer vermeintlichen

Natürlichkeit zu berauben und

sie als ganz und gar von Machtverhältnissen

durchsetztes, kulturelles

Produkt sichtbar zu machen“

Jagose 2005


Sommer 2021 Gender-Studies 17

Entwicklung interdisziplinärer Forschung

Heteronormativität

Diskurstheoretischer Feminismus

. Ziel: Begriffe und Theorien,

mit denen Wissenschaft betrieben

wird, kritisch hinterfragen

und dekonstruieren

Michel Foucault: Macht ist produktiv

. Schon was als mächtig angesehen

wird ist männlich geprägt

(Mary Beard 2017)

Intersektionalität

Verwobene Diskriminierungsprozesse

im Vordergrund

Zu den Kategorisierungen sex,

race and class rücken weitere wie

Ableism, Religion und Ageism

in den Fokus

Gender in MINT (Mathematik-,

Informatik-, Natur- und Technikwissenschaften)

gewinnt an

Wichtigkeit

Deutschlandweit

104

Frauenforschungsprofessuren

„The Transfeminist Manifesto“

von Emi Koyama erscheint 2001

2001 Gender Studies als

Magister Nebenfach an der

Albert-Ludwigs-Universität

Freiburg

Universität Konstanz (2015)

Goethe-Universität Frankfurt

a. M. (2015)

Universität zu Köln (2017)

Freie Universität Berlin (2019)

Universität Regensburg:

Studiengang wird im WS

2021/2022 eingestellt

1996 1997 2000er 2005 2010er 2015 2020er

erster Studiengang der

Gender Studies in

Deutschland:

Humbold Universität Berlin

Carl von Ossietzky

Universität Oldenburg

Ruhr-Universität Bochum

(2005)

Christian-Alberechts-Universität

zu Kiel (2005)

Universität Bielefeld (2007)

Universität Paderborn (2009)

Ludwig-Maximilians-Universität

München (2009)

Intersektionalität

Kritik an Abkehr von Begriffen wie

‚der Frau‘, da dadurch politisches Potential

verloren geht

Ausdifferenzierung der Gender Studies

New Materialism

Körper als materiell wirkmächtige

Entitäten wurden in den Gender Studies

zu lange vernachlässigt und deren

Erforschung und Definition anderen

Wissenschaften überlassenrer weiteren

Professionalisierung ihre Loyalitäten

gegenüber sozialen Bewegungen

in den Griff kriegen. Das würde die

Themenpalette diverser machen, auch

im Hinblick auf Geschlechter. Die

personelle Diversität zu erhöhen

2011 Gender Studies Master an der

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

als eigenständiger Master

Das Besondere an den Gender Studies

in Freiburg sind die beiden Säulen

Gender Studies in den Geistes-, Sozial-

und Kulturwissenschaften sowie

Gender Studies in den Mathematik-,

Informatik-, Natur- und Technikwissenschaften.

Postcolonial turn / Dekolonialisierung

der Wissenschaft

Foto: Pauline Link


18 Gender-Studies Sommer 2021

Aktiv kollektive Denkweisen und Perspektiven

verändern und gestalten

Chancengleichheit als Grundprinzip der Gender Studies: Verschiedene Lebensrealitäten prägen

unterschiedliche Perspektiven

E

mma DeGraffenreid arbeitete

in den 1970ern für den

amerikanischen Großkonzern

General Motors. Als

sie und weitere Schwarze 1 Frauen

von ihrem Arbeitgeber entlassen

wurden, reichte Emma gemeinsam

mit vier anderen Schwarzen Frauen,

Klage gegen den Autohersteller ein.

Zusammen legten sie Beweise für

die Diskriminierung von Schwarzen

Frauen durch den ehemaligen

Arbeitgeber vor. Das zuständige

Gericht urteilte zu Gunsten von General

Motors mit der Begründung:

„Die Klägerinnen konnten keine

Urteile nennen, die festgestellt

hätten, dass Schwarze Frauen eine

besondere Gruppe darstellen, die

gegen Diskriminierung zu schützen

ist.“ (zitiert in Crenshaw, 2013, S.

38). Das Gericht bezog sich damit

zum einen auf die Anti-Diskriminierungsgesetzte

der 1940er bis 1960er

Jahre, welche vor allem Schwarze

Menschen vor Diskriminierung am

Arbeitsplatz, Wohnungsmarkt und

im öffentlichen Raum schützen

sollten. Sie beziehen sich jedoch

nur auf eine Art der Diskriminierung,

vornehmlich Rassismus. Da

General Motors jedoch nur Schwarze

Frauen entlassen hatte und nicht

Schwarze Männer, konnte es sich in

diesem Falle nicht um rassistische

Diskriminierung handeln. Auch eine

geschlechtliche Diskriminierung

konnte laut Gericht nicht erkannt

werden, da General Motors sehr

wohl Frauen beschäftigte, wenn

auch weiße 2 . Ein weiterer Fakt ist,

dass die Klägerinnen sich auf zwei

Arten erlebter Diskriminierung bezogen:

Sexismus und Rassismus.

Bis dato hatte es so eine Perspektive

1 Schwarz wird in diesem Artikel

großgeschrieben „um zu verdeutlichen, dass

es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster

handelt und keine reelle ‚Eigenschaft‘

die auf die Farbe der Haut zurückzuführen

ist“ (Amnesty International 2017).

2 weiß wird klein und kursiv

geschrieben, da ‚Weißsein‘ ebenso wie

‚Schwarzsein‘ keine biologische Eigenschaft

und keine reelle Hautfarbe, sondern

eine politische und soziale Konstruktion“ ist

(Amnesty International 2017).

öffentlich nicht gegeben. Demnach

lag laut des gerichtlichen Urteils

keine Diskriminierung von Seiten

des Konzerns General Motors vor.

Dieses Fallbeispiel ist inzwischen

zum Paradebeispiel der Intersektionalität,

also der Mehrebenendiskriminierung,

geworden. Die Juristin

und Wissenschaftlerin Kimberlé

W. Crenshaw rief den Begriff „Intersectionality“

Ende der 1980er ins

Leben. In ihrem Text „Die Intersektion

von „Rasse” und Geschlecht

demarginalisieren: Eine Schwarze

feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht

der feministischen

Theorie und der antirassistischen

Politik“ vergleicht sie Intersektionalität

mit einer Straßenkreuzung.

Kommt es an dieser Kreuzung zu

einem Unfall, kann dieser aus einer

Richtung oder aus mehreren Richtungen

entstehen (Crenshaw, 2013).

Genauso geschieht es in der Diskriminierung.

Sie kann auf einer Ebene

stattfinden, aber auch auf mehreren

gleichzeitig, wie in dem Beispiel

der Aktivistin Emma DeGraffenreid.

Die Schwarzen Frauen erfahren

Diskriminierung auf der Ebene

des Rassismus sowie des Sexismus.

Was diese Situation so verzwickt

macht, ist, dass sich diese Diskriminierungsebenen

nur gegen eine

bestimmte Gruppe von Menschen

richten. Dies hat auch das Gericht

damals aufgezeigt, ohne jedoch auf

das eigentliche Problem einzugehen.

Sie schlossen Rassismus und

Sexismus als Diskriminierungsebenen

aus, da Schwarze Männer

und weiße Frauen nicht betroffen

waren, obwohl diese Menschen den

Zielgruppen entsprochen hätten.

Kombiniert man Rassismus

und Sexismus

aber in diesem Fall,

sind diese Diskriminierungsformen

ganz

klar gegen eine Gruppe

gerichtet: Schwarze

Frauen.

Was ist Intersektionalität?

Intersektionalität bedeutet die

Mehrfachdiskriminierung von Menschen.

Als Basis dazu dienen die

Lebens-umstände wie Klasse, Ethnizität,

Gender aber auch Alter, Sexualität,

Körper und Ableismus. All

diese Kategorien (und viele mehr)

repräsentieren Straßen, welche in

dem Individuum zusammentreffen

und als Angriffsflächen genutzt

werden können. Intersektionalität

ist dementsprechend ein großes,

kompliziertes Wort für eine alltägliche

Sache, denn Diskriminierung

passiert immer wieder und überall.

Der Eine erfährt Diskriminierung

aufgrund von Hautfarbe und Sexualität,

die Nächste aufgrund von

Geschlecht und ihres Körpers. Die

dritte Person wird auf ihre körperliche

Behinderung und Geschlecht

reduziert.

Gleichzeitig kann das Konzept der

Intersektionalität auch zweckentfremdet

werden und als Privilegien-

Check dienen. So kann jede*r sich

selbst die Frage stellen, wie betroffen

man von struktureller Diskriminierung

ist oder eben nicht.

Ich bin eine weiße Frau und kann

in meinem Leben Rassismus nicht

ausgesetzt sein. Das bedeutet nicht,

dass weiße Menschen Diskriminierung

aufgrund ihrer Hautfarbe nicht

erfahren können. Es ist jedoch problematisch,

diese als Rassismus

auszulegen, auch wenn sie auf den

ersten Moment genauso erscheinen

mag. Rassismus hat eine lange,

grausame Geschichte, welche von

weißen Menschen dominiert ist.

Rassismus ist das Werkzeug weißer

Menschen, um die eigene Vorherrschaft

zu sichern und zu legitimieren.

Diskriminierung von weißen

Menschen auf Basis der Hautfarbe,

kann entsprechend nicht als Rassismus

bezeichnet werden. Diskriminierung

weißer Menschen kann

aber im Kontext des kulturellen

Erbes von Rassismus und dessen

Ausmaßen stattfinden. Wenn eine

weiße Person in bestimmten Regionen

nicht willkommen ist und

entsprechend behandelt wird, liegt

dies sehr wahrscheinlich an der

örtlichen Geschichte oder den persönlichen

Erfahrungen in diesem

Zusammenhang. Diskriminierende

Erfahrungen aufgrund weißer Hautfarbe

als Rassismus zu bezeichnen,

würde diesem Konzept einen Teil

seiner Gewichtigkeit nehmen und

weiße Menschen aus einen Teil ihrer

Verantwortung entlassen.

Weiter im Privilegien-Check stehe

ich als Frau wiederum durch

patriarchale Strukturen unter dem

Mann. Körperliche Diskriminierung,

beispielsweise durch starke

Abweichung des Schönheitsideals

oder körperlicher Behinderung,

erfahre ich auch nicht. Zudem bin

ich als Studierende aus dem Bildungsbürgertum

innerhalb der

Klassengesellschaft privilegiert.

Bell Hooks, afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin,

setzt sich

vor allem mit Themenfeldern wie

Feminismus, Antirassismus und

Klassismus auseinander. In ihrem

Buch „Die Bedeutung von Klasse“

nimmt sie die Verschränkungen der

Kategorien Ethnizität und Klasse

unter die Lupe. Anhand ihrer eigenen

Geschichte erklärt sie, wie

sich diese Verschränkung in ihrem

eigenen Leben bemerkbar gemacht

hat: „In Herrn Porters Haus wurden

wir uns alle zunehmend der Bedeutung

von Geld bewusst. Über

die Probleme mit Geld, und was es

bedeutete, genug davon für alles zu

haben, was benötigt und gewünscht

wurde, wurde noch immer nicht in

Bezug auf Klasse gesprochen. Wie

für die meisten Schwarzen Leute in

unserem Viertel, hatten Geldprobleme

auch für uns, mehr als alles

andere, mit ethnischer Zugehörigkeit

und der Tatsache zu tun, dass

die weißen Leute die guten Jobs –

jene mit guter Bezahlung – für sich

behielten. Obwohl unser Vater mit

seinem Job ein anständiges Gehalt

verdiente, bedeutete diese rassistische

Apartheid, dass er niemals

das Gehalt eines weißen Mannes

verdienen würde, auch wenn er

die gleiche Arbeit verrichtete. Als

Schwarzer Mann im rassistischen

Süden konnte er sich glücklich

schätzen, dass er überhaupt einen

Job mit regelmäßigem Einkommen

hatte“ (Hooks, 2000, S. 30).

Struktureller Rassismus

Je länger ich darüber nachdenke,

desto länger wird die Liste meiner

Privilegien. Eines davon sticht für

mich heraus und begleitet mich

schon länger. Es ist die Tatsache,

dass ich weiß bin und die damit

verbundenen Privilegien innehabe.

Im Jahr 2020 hat die globale Rassismusdebatte

neue Wellen geschlagen.

Ausgelöst wurden diese durch

die Todesfälle von Goerge Floyd

und Brianna Taylor sowie die Empörung

über die wiederholte rassistische

Polizeigewalt gegenüber BI-

POC (Black, Indigenous, People of

Color), welche sich in diesen Taten

widerspiegelte. Die Anschläge in

Halle (2019) und in Hanau (2020),

bei denen in Deutschland erst kürzlich

rassistisch und antisemitisch

motiviert getötet wurde, reihen sich

ein in die Geschichte rassistischer

Gewalt in Deutschland.

Auch rassistische Strukturen innerhalb

der deutschen Polizei wurden

vermehrt aufgedeckt. Die Liste ist

lang. Und doch bleibt die Diskussion

stets dieselbe: Weiße Menschen

begeben sich in Verteidigungsposition,

in Schreckstarre und versuchen

abzublocken. Ein prominentes

Beispiel aus Deutschland war die

Reaktion des Innenministers Horst

Seehofer, welcher die rassistischen

Strukturen in der Polizei bestritt

und als Schikanierung auslegte

(Vooren, 2020, S. 2). Inzwischen

hat sich Seehofer auf Kritik hin neu

positioniert und einer Studie in der

Polizei zugestimmt, welche sich

mit der „Motivation, Einstellung

und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten

– MEGAVO“ befasst

(DHPol, 2020). Auf den ersten

Blick fokussiert sich diese Studie

auf Gewalt, welche Polizeibeamte

erfahren. Das steht im Gegensatz zu

einer Rassismusstudie, die sich mit

den Problematiken in den eigenen

Reihen beschäftigt. Auf den zweiten

Blick sind die Thematiken durchaus

vorhanden, da die Berufsmotivation

und ihr zeitlicher Verlauf unter

Beamten untersucht wird, als auch

die Auswirkungen des Arbeitsalltags

(ebd.). Das Thema Rassismus

wird aber auch hier eher indirekt

thematisiert. Wie die Journalistin

Frieda Thurm für Zeit Online es zusammenfasst:

„In drei Jahren sollen

die Ergebnisse vorliegen. Dann

wird es darauf ankommen, dass

die Ergebnisse zum Rassismus in

der Polizei nicht versteckt werden

zwischen enschuldigenden Worten

über die Belastung der Beamten, so

wie es gerade im Forschungsauftrag

geschehen ist.“ (Thurm, 2020).

Es bleibt also abzuwarten ob die

Schritte nach vorne unternommen

werden. Was all diese erwähnten

Ereignisse jedoch gemein haben,

ist der strukturelle Rassismus.

Black Lives Matter (BLM) hat im

Jahr 2020 als Anti-Rassismus-Bewegung

viel Zustimmung und große

Aufmerksamkeit erfahren. Die Anti-Rassismus-Bewegung

ist jedoch

viel älter, genau wie die Debatte um

das Thema. Black Lives Matter entstand

im Jahr 2013 als Reaktion auf

den getöteten Trayvon Martin. Der

damals 17-jährige wurde auf dem

Rückweg vom Einkaufen von dem

Bürgerwehrschützen George Zimmerman

erschossen, welcher durch

die Nachbarschaft patrouillierte.

Dieser Tod löste eine große Kontroverse

um rassistische Gewalt aus.

Trayvon Martin war zum Zeitpunkt

seines Todes unbewaffnet, George

Zimmerman berief sich jedoch auf

Notwehr und wurde im Laufe des

Prozesses in Florida vom Gericht

freigesprochen (Zeit Online, 2013).

Es gab weitere Ungereimtheiten in

dem Fall. Zimmerman wurde erst

nach 45 Tagen in Haft genommen,

dann auf Kaution wieder freigelassen

und tauchte zwischendurch unter

(ebd.). Das Muster hat sich über


Sommer 2021 Gender-Studies 19

Symbolisierung der gesellschaftlichen Ungleichheiten

Foto: Promo

die Jahre bis heute nicht verändert.

People of Color werden getötet! Es

ist auffällig, wie wenige von den

Verantwortlichen selbst vor Gericht

einstehen oder mit Konsequenzen

rechnen müssen.

Wichtig ist es zu begreifen, dass

Rassismus so in unsere Gesellschaft

eingegliedert ist, dass er

normalisiert ist. Das bedeutet, dass

wir Menschen in einem System aufwachsen

und leben, welches um die

Ideologie des weißen (männlichen)

Privilegs aufgebaut ist. Der ideale

Mensch in dieser Gesellschaft ist

also männlich, weiß, heterosexuell

und cis-gender (die Übereinstimmung

von dem Geburtengeschlecht

und der Geschlechtsidentität). Von

diesem Ideal ausgehend, werden

menschliche Eigenschaften zu Angriffsflächen

für Diskriminierung.

So ein Menschenbild entsteht über

die Zeit und ist stark geprägt von

der Geschichte. Gleichzeitig ist Intersektionalität

real und prägt die

Gesellschaft, wird aber nicht von

allen Menschen geteilt. Hier wird

die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen

Strukturen und

der Gesellschaft deutlich. Gesellschaftliche

Strukturen beeinflussen

die Menschen, welche in der Gesellschaft

leben, genauso wirken

sich Veränderung im Handeln und

Denken der Menschen auf diese

Grundlagen aus. Das bedeutet,

der Mensch kann aktiv kollektive

Denkweisen und Perspektiven verändern

und gestalten.

Was bedeutet „kritisches Weißsein“?

Im Feld des Rassismus findet das

durch die Reflektion und das kritische

Hinterfragen der eigenen

Person und der eigenen Privilegien

statt. Da hier weiße Menschen in

der Verantwortung stehen, ist es

ihre Aufgabe, sich gegen Rassismus

stark zu machen. Critical Whiteness

oder kritisches Weißsein wird diese

Perspektive genannt. Sie setzt sich

damit auseinander, dass Weißsein

eine soziale Norm ist, welche in ih-

rer Normalität unsichtbar wird

(Nayak, 2007). Damit gemeint ist,

dass Weißsein immer nur durch

das Aufzeigen von Andersartigkeit

oder Nicht-Weißem existiert. Otherization

wird dieser Prozess auch

genannt. Ein einfaches Beispiel

ist das Aufzeigen von „anderen“

Hautfarben. Diese wird immer hervorgehoben,

sobald sie nicht der

Norm entspricht. Das hat zum einen

zur Folge, dass Menschen auf

ihre Hautfarbe und damit einhergehende

Stigmatisierungen reduziert

werden. Zum anderen werden sie

dadurch sofort aus der Norm ausgegrenzt.

Weiße Menschen werden

nicht auf ihre Hautfarbe reduziert,

sondern als Individuen mit Persönlichkeiten

wahrgenommen. Allein

das ist ein Privileg, welches weiße

Menschen anderen verwehren, solange

sie sich nicht mit sich, ihrem

Weißsein und den damit verknüpften

Privilegien auseinandersetzten.

Eine kleine Übung

Eine einfache Übung für jeden

Menschen ist es zu versuchen zehn

People of Color aufzuzählen, die

in der Wissenschaft arbeiten, Journalismus

betreiben oder Bücher

schreiben. Nehmen Sie sich eines

ihrer Interessenfelder vor und versuchen

Sie sich an dieser Aufgabe,

das Ergebnis wird für sich sprechen.

Es ist erschreckend, wie wenig weiße

Menschen sich ihrer Privilegien,

aber auch des Ausmaßes der weißen

Dominanz bewusst sind. Diese

Übung gilt nicht nur für Rassismus,

oder das Hinterfragen des Weißseins.

Man kann diese Aufgabe mit

jeder Intersektionalitätskategorie

machen und auf das Ergebnis gespannt

sein.

Happyland - Das Vergehen der

Anderen

Rassismus und vor allem auch Anti-Semitismus

sind keine fremden

Begriffe, sie werden in der Schule

gelehrt und sind gesellschaftlich

immer eine Thematik. Die Begegnung

mit dem Themenbereich findet

leider häufig nur in Form von

Theorie und schulischen Beispielen

statt. Es hat lange gedauert bis mir

in alltäglichen Situationen aufgezeigt

wurde, wie Rassismus, ähnlich

wie Sexismus und die klare

Geschlechterdichotomie und -stereotypen,

allgegenwärtig ist. Erst vor

kurzem war ich mit meiner Familie

auf einem Campingplatz spazieren.

Uns begegnete die Konföderierten-

Flagge, welche im Wind munter

vor sich hin flatterte. Diese rote

Flagge mit einem blauen diagonal

angeordneten Kreuz, gefüllt mit

weißen Sternen, ist ein Symbol des

Rassismus. Sie entstammt aus dem

amerikanischen Bürgerkrieg des 19.

Jahrhunderts und stand für die Südstaaten,

welche bekanntlich für die

Erhaltung der Sklaverei in den Bürgerkrieg

zogen (Klein 2020). Die

Flagge gilt in rechten Szenen als

Erkennungszeichen (Wrusch 2020).

Die Autorin und Rassismus Expertin

Tupoka Ogette bezeichnet

die Welt, in welcher Rassimus für

die Menschen nur ein abstraktes

Konzept ist, mit dem sie meinen

nichts zu tun zu haben, als Happyland.

„Happyland ist eine Welt, in

der Rassismus das Vergehen der

Anderen ist. In Happyland wissen

alle Bewohner*innen, dass Rassismus

etwas Grundschlechtes ist.“ Ich

habe lange Zeit in Happyland gelebt

und ich bin froh, nicht mehr Teil

dieser Realität zu sein. Falls Sie nun

inspiriert sind, lege ich ihnen nahe

sich mit einer der folgenden Kontroversen

auseinanderzusetzten:

Schauen Sie nach Hanau! Schauen

Sie auf die WDR Sendung „Die

letzte Instanz“. Es wird sich lohnen!

Julia Dannhäuser

Amnesty International. (2017, 28.

Februar). Glossar für diskriminierungssensible

Sprache. Zugriff 20

Januar 2021, fromhttps://www.

amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuerdiskriminierungssensible-sprache

Crenshaw, K.W. (2013). Die Intersektion

von „Rasse” und Geschlecht

demarginalisieren: Eine Schwarze

feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht,

der feministischen

Theorie und der antirassistischen

Politik. In: Lutz et al. Fokus Intersektionalität

Bewegungen und

Verortungen eines vielschichtigen

Konzeptes. Wiesbaden.

DHPol. (2020, 1. Dezember). Motivation,

Einstellung und Gewalt im

Alltag von Polizeivollzugbeamten -

MEGAVO [PDF]. BMI.

Hooks, B. (2000). Die Bedeutung

von Klasse. Unrast Verlag.

Klein, O. (2020, July 18). Verbot

durch das Pentagon - Warum ist

diese Flagge rassistisch? Zdf. Zugegriffen

13. Januar 2021 https://

www.zdf.de/nachrichten/politik/

konfoederiertenflagge-rassismus-100.html

Nayak, A. (2007). Critical whiteness

studies. Sociology Compass,

1(2), 737-755.

Thurm, F. (8. Dezember 2020). Die

Rassismusstudie, die nicht so heißen

darf. Zeit Online. Zugegriffen 01.

März 2020 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/

horst-seehofer-rassismus-polizeistudie-rechtsextremismus?utm_

referrer=https%3A%2F%2Fwww.

bing.com%2Fsearch%3Fpc%3DC

OSP%26ptag%3DD022420-N99

Buch Cover

„Die Bedeutung von Klasse“

Unrast Verlag

Protestsymbol der BLM Bewegung

97A74DCDF78DC%26form%3D

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35043%26q%3Dthurm%2520202

0%2520kommentar%2520rassism

usstudie%2520polizei

Vooren, C. (2020, 10. Juli). NSU 2.0

– Ein Fall für Horst Seehofer. ZEIT

ONLINE. Zugegriffen 29. Dezember

2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/

nsu-2-0-polizei-hessen-drohungenjanine-wissler-politikerin-rechtsextremismus/seite-2

Wrusch, P. (2020, July 6). Südstaaten-Flagge

in Brandenburg:

Die Fahnen hoch.taz. Zugegriffen

13. Januar 2021, https://taz.de/

Foto: Promo

Buch Cover „Exit Racism“

Unrast Verlag

Suedstaaten-Flagge-in-Brandenburg/!5209939/

Zeit Online. (2013, July 14). Urteil

in den USA: Freispruch für Todesschützen

im Trayvon-Martin-Prozess.

Zeit Online. Zugegriffen 13.

Januar 2021https://www.zeit.de/

politik/ausland/2013-07/Trayvon-

Martin-prozess-freispruch


820 Gender-Studies Sommer 2021

Die Gender Studies dekolonisieren

Der Kolonialismus wirkt nach: Auch die Gender Studies müssen sich reflektieren

A

lice Hasters, Tupoka Ogette,

Hengameh Yaghoobifarah,

Max Czollek, Emilia

Roig – nur fünf Namen in

einer Reihe von großartigen Menschen,

die sich auf unverzichtbare

Weise zu Rassismus und anderen

ismen wie Sexismus und Klassismus

äußern. Wir haben das Glück

diese und weitere unermüdliche

Stimmen in Büchern, Podcasts und

Social Media Beiträgen zu hören

und deren umfangreiches Wissen

in – auch für nicht betroffene

Menschen – verständnisgerechten

Happen vor uns zu haben. Doch

wieso ist die Arbeit dieser Menschen

nach wie vor so aktuell, wo

doch viel von dem Gesagten bereits

seit Jahrzehnten, wenn nicht seit

Jahrhunderten immer und immer

wieder wiederholt wird? Die Antwort

auf diese Frage lässt sich mit

einem Wort zusammenfassen: Kolonialität.

Was es damit auf sich hat,

wieso Kolonialgeschichte so wichtig

für Deutschland und Europa ist

und was das alles mit den Gender

Studies zu tun hat, möchte ich im

folgenden Artikel aufzeigen.

Kolumbus, die Amerikas und Europas

Position im Weltmarkt

Alles beginnt mit der sogenannten

‚Entdeckung‘ der Amerikas. 1492

landet Christoph Kolumbus versehentlich

in der Karibik und ‚entdeckt‘

damit erstmals die Amerikas

mit europäischen Augen– nicht,

dass es für die dortige Bevölkerung

einer Entdeckung bedurft hätte, um

sich ihrer Existenz zu vergewissern.

Doch eben jene Bevölkerung steht

auch nicht im Augenmerk Kolumbus‘:

In der Peripherie gelegen hat

das Europa des 15. Jahrhunderts

nicht viel an Bodenschätzen zu

bieten, ist allerdings mehr als erpicht

darauf am asiatischen Handel

teilzuhaben um beispielsweise an

Gewürze zur Halt- und Genießbarmachung

von Nahrungsmitteln zu

kommen. Der mit der ‚Entdeckung‘

der Amerikas einhergehenden

‚Fund‘ von Bodenschätzen liefert

die benötigte Tauschware für die begehrten

Güter Asiens. Und so bedienen

sich europäische Königshäuser

gewaltvoll an dem reich gedeckten

Tisch natürlicher Ressourcen Amerikas

– und sichern Europa einen

Platz im Welthandel: Mithilfe amerikanischer

Bodenschätze und einer

ausbeuterischen Plantagenökonomie

– ausgetragen auf den Rücken

versklavter afrikanischer Menschen

– arbeitet sich Westeuropa von einer

Randerscheinung zunächst zu

einem der Hauptakteure des Weltmarkts

und schließlich – profitierend

von der durch Bevölkerungsanstieg

bedingten Wirtschaftskrise

der asiatischen Imperien – zu dessen

Zentrum.

Doch durch die europäischen Kolonisierenden

werden die Amerikas

nicht nur ihrer Schätze beraubt. Die

Schiffe bringen dem Kontinent auch

etwas: nämlich vermeintlich normative

Vorstellungen über die richtige

Religion, über heteronormativer

Weiblichkeit und Männlichkeit,

über den Aufbau einer ‚zivilisierten‘

Gesellschaft und allgemein

Wertevorstellungen darüber, was

eine richtige – aber eben auch eine

falsche – Lebensweise angeht. Und

die Deutungshoheit darüber hat?

Richtig. Europa. Um Land für sich

beanspruchen zu können, werden

der amerikanischen Bevölkerung –

sowie später auch in Asien und Afrika

– die Fähigkeit zur Ausbildung

von sozialen und politischen Organisationsformen

sowie ein Konzept

kollektiver Besitzverständnisse

abgesprochen. Sämtliche Vorstellungen,

die sich nicht mit den europäischen

decken werden als falsch

oder ‚unzivilisiert‘ konzipiert womit

auch die Fähigkeit ‚der Anderen‘ eigenes

territoriales Land zu pflegen

nicht gegeben erscheint. Aus dieser

Überzeugung heraus wird das ‚vorgefundene‘

Land als frei verfügbar

verstanden – und unter den europäischen

Kolonialmächten aufgeteilt.

Diese Enteignung, Unterdrückung

und Unmündigmachung der lokalen

Bevölkerung wird dabei unter

einer sogenannten ‚Zivilisationsmission‘

im Gedankenkonstrukt der

Europäer*Innen so dargestellt, als

würde den dort lebenden Menschen

ein Gefallen getan, indem ihnen die

richtige Art und Weise Mensch zu

sein gezeigt wird.

Kolonialität im öffentlichen Kulturraum:

Raubgut in der Hauptstadt

Wer nun denkt, dass Kolumbus und

der Kolonialismus, für den seine

Person sinnbildlich steht, nun bereits

seit mehr als einem halben

Jahrtausend in der Vergangenheit

liegen, dem sei in Erinnerung gerufen,

dass europäische Kolonien

bis ins 20. Jahrhundert existierten.

Und Inselstaaten wie beispielsweise

Martinique oder Guadeloupe stehen

nach wie vor unter europäischer

Vorherrschaft. Letztere werden nun

aber Exklaven oder Überseegebiete

genannt. Um die Machtstruktur zu

erfassen, die auch nach wie vor in

Zeiten besteht, in denen es keine

koloniale Verwaltung im Sinne des

Kolonialismus mehr gibt, eignet

sich der Begriff der Kolonialität.

Und diese Machtstruktur durchzieht

nach wie vor sämtliche unserer Lebensbereiche,

wie anhand eines prominenten

Beispiels aus der Hauptstadt

deutlich wird: dem Berliner

Humboldt Forum.

Die Pläne des Humboldt Forums

stehen seitdem sie existieren in

reger Kritik. Da wäre zum einen

die Kritik an der kostspieligen

Rekonstruktion des historischen

Berliner Stadtschlosses, dem Ort

des Humboldtforums, das in den

Augen vieler Berliner*Innen eine

rückwärtsgewandte Kulturpolitik

repräsentiert., die Berlin als postmigrantischem

Gesellschaftsraum

nicht gerecht wird. Oder auch die

kritische Frage nach der Namenswahl,

warum die nicht-europäischen

Kunstartefakte unter dem Namen

eines preußischen Forschers aus

der Kolonialzeit ausgestellt werden.

Hauptsächlich aber steht die

Ausstellung gestohlener Kunst aus

ehemals kolonisierten Gebieten im

Zentrum der Kritik. Die Exponate

des Humboldt Forums bestehen fast

gänzlich aus kolonialer Raubkunst

und gehen auf eine blutige Vergangenheit

und ein Machtverhältnis

zwischen Kolonisator*Innen und

Kolonisierten zurück. Auf der Seite

des Humboldt Forums entsteht

der Eindruck, als hege das Museum

einen offenen und reflektierten

Umgang mit den Kritikpunkten.

Die Überschrift „Kolonialismus und

Kolonialität“ auf der Website lässt

vermuten, dass sich das Forum – zumindest

hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit

– mit der Problematik

seiner gestohlenen Exponate auseinandergesetzt

zu haben scheint.

Irritierend dann die Formulierung

des Generalintendanten des Forums

Hartmut Dorgerloh in einem offiziellen

Statement:

„Die postkoloniale Debatte, die

schon seit vielen Jahren von verschiedenen

Akteuren der Zivilgesellschaft

vorangetrieben wurde, ist

nicht zuletzt auch durch die Debatten

um das Humboldt Forum in der

Mitte der Gesellschaft angelangt.“

Dorgerlohs Formulierung auf ein

anderes Beispiel übertragen klingt,

als würde die Polizei ihr Racial Profiling

verteidigen, da dadurch die

Debatte um Rassismus in der Mitte

der Gesellschaft angelangt sei. Die

Frage danach, warum die Exponate

trotz eines Bewusstseins darüber,

dass sie ihren Herkunftsgesellschaften

gewaltvoll entrissen wurden,

nach wie vor in deutschem Besitz

und bald in Berlin Mitte zu begutachten

sind – und nicht an eben jene

Herkunftsgesellschaften zurückgegeben

werden –, wird seitens des

Humboldt Forums nicht überzeugend

geklärt – liegt ihre Antwort

doch eben genau an den allgegenwärtig

herrschenden Machtstrukturen

der Kolonialität, die nach wie

vor unsere Gegenwart prägt.

Die EU als Projekt der Kolonialmächte

Nicht nur in Sachen Kunstgeschichte

ermangelt es der kollektiven europäischen

Erinnerungskultur an

einem Bewusstsein für ihre von

Kolonialismus geprägte Vergangenheit

– und von Kolonialität geprägte

Gegenwart. Auch auf politischer

Ebene sind die Auswirkungen der

Kolonialgeschichte längst nicht im

Bewusstsein von Europäer*Innen

angekommen – dabei sind diese

konstitutiv für die heutige EU, die

als Projekt der damaligen Kolonialmächte

zu verstehen ist. Sichtbar

wird die EU als das Erbe der

Staaten, die die Welt aufteilten,

wenn in Erinnerung gerufen wird,

dass 60% der heutigen EU-Grenzen

durch Kolonialpolitik gezogen

wurden. Die Mitgliedsstaaten von

2002 besaßen dank kolonialer Besitztümer

in den 1930ern knapp ¾

aller Landfläche der Welt und fast

50% der bewohnten Landfläche

außerhalb Kontinental-Europas.

Und auch nach wie vor verfügen

einige zentraleuropäische Länder

wie Frankreich über Exklaven und

Überseegebiete fernab von Kontinental-Europa.

Doch nicht nur in Sachen territorialer

Grenzziehung ist die EU von ihrer

kolonialen Herrschaftsgeschichte

geprägt. Die EU als Staatenbund

wurde nicht etwa auf sozialen oder

solidarischen Grundpfeilern gebaut,

sondern war von Beginn an ein Zusammenschluss

von Ländern, die

ihre gemeinsamen wirtschaftlichen

Interessen – entgegen der Interessen

anderer – durchsetzen wollten. Die

kapitalistische Logik, die diesem

Zusammenschluss eingeschrieben

ist, hat sich allerdings nicht in einem

luftleeren Raum begründet, sondern

geht einher mit der aufklärerischen

Konstruktion des ‚superioren weißen

Mannes‘ als Gegenpol zu einer

rassifizierten Konstruktion von dem

inferioren Anderen auf Grund von

Hautfarbe und Herkunft.

Die aus dieser Konstruktion hervorgehenden

Dualismen, die sich durch

sämtliche Lebensbereiche ziehen

(superior/inferior, weiß/schwarz,

zivilisiert/barbarisch, gut/schlecht,

usw.), bilden die Grundannahme

einer kolonialen Logik und damit

die Basis des Eurozentrismus oder

auch Okzidentalismus: Die Vorstellung,

Europa stelle den Gipfel einer

unumgänglichen, ‚natürlichen‘

Ordnung dar. Diese führt zu einem

Denken, in dem Westeuropa mit seiner

Bevölkerung die Norm darstellt,

anhand derer alles andere gemessen

wird.

Die Reproduktion der okzidentalen

Norm innerhalb der akademischen

Sphäre

Diese Grundüberzeugung des Okzidentalismus

wird unter anderem

auch in der wissenschaftlichen

Sphäre reproduziert. Auch die Arbeitsteilung

in den Geistes-, Sozial-

und Kulturwissenschaften folgt

einer kolonialen Logik, wenn innerhalb

dieser unterschiedliche Weltregionen

als Forschungsbereich

unterschiedlicher Disziplinen nach

dem Schema modern/traditionell

entsprechend soziologisch/ethnologisch

kategorisiert werden:

Diese disziplinäre Arbeitsteilung

ist einerseits das Produkt einer kolonialen

Weltordnung – hier der sich

selbst als „modern“ bezeichnende

„Westen“, dort der als rückständig

geltende kolonisierte „Rest“ der

Welt – und reproduziert diese Logik

zugleich durch ihre institutionelle

Stabilisierung bis heute (Santos

2017: 7)

Doch nicht nur die disziplinäre Arbeitsteilung

an sich, sondern auch

die Art und Weise der Wissensvermittlung

innerhalb unterschiedlichster

Disziplinen reproduziert und festigt

die koloniale Matrix und die

damit einhergehenden Kategorisierungen

von Menschen, was anhand

des folgenden Beispiels aus dem

akademischen Alltag deutlich wird:

Mein Partner studiert Sport auf

Lehramt an einer deutschen Universität.

In einer sogenannten Unterrichtspraktischen

Übung sollten

zwei Kommiliton*innen zeigen,

wie sie einer neunten Klasse die

Sportart Intercrosse näherbringen

würden. Da der Ursprung des Lacrosse

in einem indigenen Volk der

Amerikas liegt, hatten die Studierenden

den Einfall, Lippenstifte

zur Gesichtsbemalung mitzubringen

– und eine Schulstunde lang

‚In*ianer‘ zu spielen.

Am Ende der Stunde gab es eine

Evaluationsrunde, innerhalb derer

mein Freund Bedenken hinsichtlich

der Repräsentation indigener

Menschen und der damit einhergehenden

Reproduktion von stereotypen

Bildern im Kontext der

Übung äußerte. Dieser Kritik wurde

seitens des Dozenten mit folgenden

Argumenten begegnet: Es müsse

nicht jede Modeerscheinung mitgemacht

werden; Kinder hätten Spaß

an dieser Art von Spiel; Er habe nie

von einer betroffenen Person gehört,

die ‚so etwas‘ störe. Die Gruppe aus

circa 15 Lehramtsstudierenden und

einem Dozenten einigte sich auf

die in ihren Augen einzig zulässige

Kritik, dass der Aufbau der Stunde

wohl eher für jüngere Schüler*innen

geeignet sei. Diese Situation, in der

eine kritische, anti-rassistische Haltung

von einem weißen, cis-männlichen,

mittelständigen Hochschuldozenten

fortgeschrittenen Alters

als Modeerscheinung abgewertet

wird, steht nicht nur stellvertretend

für den Rückstand in Sachen

Dekolonialisierung an deutschen

Hochschulen, sondern auch für die

Ignoranz, die akademische Autoritäten

gegenüber marginalisierten

Gruppen an den Tag legen.

Das Problem mit der kulturellen

Aneignung

Das Beispiel zeigt deutlich: Was

für die einen eine karnevaleske

‚Verkleidung‘, ist für andere ein

respektloser, diskreditierender

und gewaltvoller Umgang mit der

Geschichte nicht-weißer, nichteuropäischer

Gesellschaften. Diese

Kritik wird unter der Bezeichnung

der ‚kulturellen Aneignung‘ erfasst.

Kulturelle Aneignung beschreibt

eine hegemoniale Praxis, durch die

sich Menschen der Dominanzkultur

Elemente von unterdrückten Kulturkreisen

aneignen – im Sportunterricht

ist es die ‚Verkleidung‘ durch

Gesichtsbemalung, in Sachen Frisuren

sind es Cornrows und Dreadlocks,

bei Feierlichkeiten das Holi-

Festival, um nur einige Beispiele

zu nennen. Kulturelle Aneignung

ist deshalb höchst problematisch,

da die angeeigneten Elemente oft

zentrale Bestandteile von Kulturräumen

sind, die gerade wegen

ihrer Andersartigkeit als ‚falsch‘

oder ‚unzivilisiert‘ angesehen werden.

Dabei wird die ‚angeeignete

Kultur‘ meist stark vereinfacht:

Die wenigsten von uns haben sich

wohl schon einmal damit auseinandergesetzt,

welche lokalen Gemeinschaften

Gesichtsbemalungen

vornehmen und welche Bedeutung

dieser zukommt, welche Symbolik

Cornrows für Schwarze Menschen

mit sich tragen und was deren Geschichte

im Kontext von Sklavenhandel

ist. Platt gesagt: Sich Striche

ins Gesicht zu malen, gilt an weißen

Foto: Pauline Link


Sommer 2021 Gender-Studies 21

Menschen als Spaß, während sie an

einer indigenen Person als rückständig,

traditionell und unmodern eingeordnet

würden. Wenn solch ein

Verhalten nicht zumindest für Irritation

sorgt, wird das herrschende

Machtgefälle, das dem zugrunde

liegt, nicht nur verschleiert, sondern

reproduziert. Es geht in diesem

Beispiel nicht darum mit dem

Finger auf Personen zu zeigen, die

sich der Problematik hinter diesem

Unterrichtsentwurf nicht bewusst

sind, sondern aufzuzeigen, wie

unauffällig und normalisiert rassistische

Strukturen, die sich über

Jahrhunderte hinweg in unserem

Denken eingenistet haben, zum

Ausdruck kommen.

Die Wirkmächtigkeit kolonialer

Sprache

Neben der hegemonialen Praxis

der kulturellen Aneignung möchte

ich das Beispiel der Sportstunde

nutzen, um die Problematik in Sachen

Begriffswahl in den Fokus zu

stellen. Die Studierenden sprechen

in ihrer Übung von In*ianern. Der

Stern, den ich in meiner Schreibweise

des Wortes verwende, mag

für Irritation sorgen. Soll er auch.

Denn der Begriff In*ianer ist

nicht etwa von damit bezeichneten

Menschen selbstgewählt, sondern

wurde indigenen Völkern der

Amerikas durch die europäischen

Kolonisator*Innen aufgezwängt.

Aufgezwängt von Menschen, die

ihnen alles wegnahmen, ihre Arbeitskraft

missbrauchten, Genozide

an ihnen begingen, bis heute ihr

Land besetzen und sich niemals die

Mühe machten einzelne Gemeinschaften

zu unterscheiden, sondern

alle ‚anderen‘ unter einem Sammelbegriff

zusammenfassen. Einem

Sammelbegriff, der ironischerweise

auf dem Irrtum Kolumbus beruhte,

endlich eine Meeresroute nach Indien

gefunden zu haben. Wir maßen

uns an, Menschen einen Begriff zuzuschreiben,

der auf einem offen

bekannten Fehler beruht und sehen

es nicht einmal für nötig, diesen zu

korrigieren?

Doch neben der semantischen Bezeichnung

ist vor allem das Bild,

das durch diese getragen wird, problematisch.

Indigene Personen werden

als ‚die Anderen‘ konstruiert,

mystisch aufgeladen und als die unzivilisierten,

aber mit der Natur verbundenen

Fremden gezeichnet. Edward

Said bezeichnet diese Praxis

in seinem bekannten Werk „Orientalismus“

(1978) als Othering. Dies

ist eine philologische Praxis, durch

die das aus westlicher Sicht ‚Andere‘

erforscht und zum Objekt des

Wissens gemacht wird. Das westliche

Subjekt, von dem ausgehend

diese Forschung angestellt wird,

verkörpert hier implizit die Norm –

und hat somit sowohl Deutungshoheit

als auch Handlungsmacht inne.

Von diesem Subjekt abgegrenzt

wird das zu erforschende ‚Andere‘

als solches vorausgesetzt, bevor die

Forschung überhaupt stattfindet.

Daraus entsteht ein asymmetrischer

Diskurs aus hegemonial-westlicher

Perspektive, durch welchen dieses

‚Andere‘ erst produziert wird. Damit

stehen sich Kolonisierte und

Kolonisierende in einem dichotomen

Machtgefüge gegenüber, in

dem immer klar ist wer über wen

sprechen kann.

Das Benannte und das Unbenannte

In ihrem Buch „Sprache und

Sein“ (2020), imaginiert Kübra

Gümüşay ein Museum, in dem die

Welt dargestellt wird. In diesem

Museum existieren zwei Kategorien

von Menschen, die Benannten

und die Unbenannten. „Die Unbenannten

sind Menschen, deren

Existenz nicht hinterfragt wird.

Sie sind der Standard. Die Norm.

Der Maßstab.“ Die Unbenannten

sind gleichzeitig auch die Benennenden.

Die Benannten „sind zuerst

einfach nur Menschen, die auf

irgendeine Weise von der Norm

der Unbenannten abweichen. Nicht

vorhergesehen. Fremd. Anders.

Manchmal auch einfach nur ungewohnt.

Unvertraut. Sie erzeugen

Irritationen. Sie sind nicht selbstverständlich“.

Die Unbenannten

können in unserer aktuellen Realität

– an der sich in den letzten Jahrhunderten

in diesem Aspekt nichts

geändert zu haben scheint – als

weiße, heterosexuelle, christliche

Cis-Männer der Mittelklasse beschrieben

werden. Sie entscheiden

was der positiven Seite der Medaille

der Moderne zugerechnet wird

und was nicht.

Doch natürlich gibt es sehr viele

verschiedene miteinander verbundene

Ebenen von Privilegiertheit

und Diskriminierung. Diese können

auch innerhalb marginalisierter

Kategorien wie zum Beispiel

‚den Frauen‘ zu Unterscheidungen

und Hierarchisierungen führen.

Die Figur der ‚Dritte-Welt-Frau‘ –

wie sie problematischerweise auch

in vielen Feminismen existiert –

stellt ein Beispiel im Bereich der

Benannten dar. Die sogenannte

‚Dritte-Welt-Frau‘ wird abgegrenzt

von der Norm der Unbenannten:

in diesem Fall der weißen, heterosexuellen,

christlichen Cis-Frau

der Mittelklasse, welche parallel

zum weißen, europäischen Mann,

als Spitze der Entwicklung der

Menschheit angesehen wird. Die

von dieser Norm abweichenden

Verortungen führen im Beispiel

der ‚Dritte-Welt-Frau‘ dazu, dass

diese als untergeordnetes Subjekt

konzipiert wird. Ein konzeptioneller

Missstand der auch in den

Gender Studies übersehen oder

bewusst ignoriert wurde und nach

wie vor wird.

Ein weiterer Mechanismus von

Rassismen, den ich am Beispiel

der Verwendung der kollektiven

Zuschreibung In*ianer bereits angerissen

habe, ist die Entindividualisierung

betroffener Personen.

Gümüşay formuliert:

Wir betrachten sie durch die Augen

der Unbenannten: gesichtslose Wesen,

Bestandteile eines Kollektivs.

Jede ihrer Äußerungen, jede ihrer

Handlungen wird auf das Kollektiv

zurückgeführt, Individualität wird

ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten,

die sie betrachten, erscheint

das als normal, obwohl für

sie selbst Individualität die Grundlage

ihres Seins ist.

Als eigenständiges Individuum

und nicht als Repräsentant*in einer

Gruppierung (eingeordnet in diese

durch die Unbenannten) wahrgenommen

zu werden ist nicht selbstverständlich

und wird für Subjekte

umso schwieriger, je mehr intersektionale

Unterdrückungsmechanismen

in der jeweiligen individuellen

Situation zusammenspielen.

Was hat all das mit den Gender

Studies zu tun? Intersektionalität

und Gender Studies

Das Konzept der Intersektionalität

geht zurück auf Kimberlé Crenshaw,

eine US-amerikanische An-

wältin und Bürgerrechtsaktivistin.

Anhand der Intersektionalität versucht

Crenshaw die Verwobenheit

unterschiedlicher Unterdrückungsund

Diskriminierungsparameter zu

fassen. Diesem Konzept wird in

den Gender Studies – bestenfalls

– Rechnung getragen. Die Gender

Studies befassen sich in ihren Forschungsbereichen

mit sämtlichen

Arten von Unterdrückungsstrukturen

und Machtmechanismen.

Dahinter steht die Annahme das

Geschlecht als Parameter fungiert,

anhand dessen sich Diskriminierungsstrukturen

manifestieren. Geschlecht

kann in dieser Funktion nie

allein, sondern stets situativ in Korrespondenz

mit weitern Parametern

gedacht werden. Es besteht ein Unterschied

darin, ob man auf Grund

dessen systematische Unterdrückung

erfährt, weil man eine Frau

ist, oder weil man eine Schwarze

Frau aus der Arbeiter*innenklasse

ist. Wie der Zeitstrahl der Geschichte

der Gender Studies zeigt (siehe

Abbildung), handelt es sich bei diesem

interdisziplinären Studiengang

um einen Forschungsbereich, der

eben gerade dieser Multidimensionalität

von Unterdrückungsmechanismen

gerecht zu werden versucht.

In dieser Hinsicht werden auch koloniale

Strukturen zum Gegenstand

der Gender Studies gemacht. Gender

Studies zu studieren bedeutet

nicht automatisch, dass sämtliche

uns allen inhärenten Rassismen direkt

sichtbar gemacht oder gar verlernt

würden. Die Gender Studies

müssen wie alle anderen Wissenschaften

auch dekolonisiert werden.

Allerdings wird gerade aus den Reihen

der Gender Studies heraus eine

Wissenschaftskritik formuliert, die

nach einer Dekolonialisierung fordert.

Machtmechanismen geht und

zweitens die Gender Studies als

Disziplin eine Wissenschaftskritik

anstreben. Dr. Maisha-Maureen

Auma, Professorin für Kindheit und

Differenz äußert sich diesbezüglich

in einem Interview mit dem Tagesspiegel:

„Die Lage ist schlecht. Nehmen

wir das hyperdiverse Berlin als

Beispiel. Die Zusammensetzung

des wissenschaftlichen Personals

an Berliner Hochschulen kann die

postmigrantische Realität der Stadt

nicht im Mindesten abbilden“. Es

geht also zum einen darum, wer

Wissen produziert und zum anderen,

was eigentlich als Wissen gilt.

Beide Faktoren hängen mit der Kolonisierung

weiter Teile der Welt

Buch Cover „Why we matter“

Aufbau Verlag

Koloniale Matrix, die die koloniale Macht konstituiert

und der damit verbundenen Vorherrschaft

Europas zusammen.

Was tun?

Maisha Aumas Vorschlag in einem

Interview mit dem tagesspiegel

aus dem Dezember 2020, ist eine

intersektionale Sichtweise sowie

„die Dekonstruktion gesellschaftlicher

Grenzziehungen. Ich plädiere

deshalb für die gleichzeitige

Anwendung mehrerer Strategien,

die einander sowohl widersprechen

als auch kritisch ergänzen können.

Mal müssen Gruppengrenzen bewusst

gezogen werden, um gemeinsame

Erfahrungen von Entwertung

und Dehumanisierung sichtbar zu

machen. Ein anderes Mal müssen

die gesellschaftlichen Grenzen dekonstruiert

werden, um die Logik

des Eingeteilt-Werdens zu durchkreuzen.

Was wir brauchen, ist eine

spannungsreiche Zusammenarbeit

verschiedener Gerechtigkeitsparadigmen:

‚Empowerment‘, ‚Dekonstruktion‘

und ‚Normalisierung‘“.

Ansatz Perspektivenumkehr

Für die Gender Studies bedeutet

dies Begrifflichkeiten und Konzepte

auf Eurozentrismus hin zu untersuchen

und Lebensrealitäten zu situieren.

Nina Degele, Professorin für

Soziologie und Gender Studies in

Freiburg bringt es auf den Punkt:

Wichtig ist „das Eigene so zu verfremden,

dass man darin ebenfalls

etwas Erklärungsbedürftiges sieht.

Warum beispielsweise fällt uns in

Buch Cover „Sprache und Sein“

Hanser Literarturverlage

Bezug auf die Unterdrückung von

Frauen das Kopftuch als passendes

Symbol auf, Stöckelschuhe aber

nicht?“

Diese Frage stellte sich auch Manuela

Boatcă, Professorin für Makrosoziologie

in Freiburg, und gestaltete

demnach unter dem Motto der

Perspektivenumkehr die Vorlesung

„Globaler und lokaler Wandel“.

Mit Perspektivenumkehr gemeint

ist „der konsequente Versuch, die

Geschichte und die Gegenwart aus

der Perspektive derjenigen darzustellen,

die aus der Geschichte

ausgeschlossen wurden und deren

Belange nie oder sehr spät als

legitimen Gegenstand sozialwissenschaftlicher

Theorie angesehen

wurden. Also die Perspektive derer

in den Vordergrund zu stellen, die

als nicht-europäisch, nicht-westlich,

nicht-weiß oder nicht-christlich rassisiert

oder diskriminiert wurden.

Das würde zum Beispiel heißen,

die Geschichte der französischen

Revolution nicht ohne die der haitianischen

Revolution zu erzählen,

durch die der erste dekolonisierte

Staat und die erste schwarze Republik

weltweit entstanden sind; oder

die demographische, wirtschaftliche

und kulturelle Bedeutung der

Verschleppung und Versklavung

von Millionen Afrikaner*innen an

den Anfang einer jeden Geschichte

der Globalisierung zu setzen“.

Auf meine Frage, ob Manuela

Boatcă erstaunt sei, dass die Inhalte

Illusrtation: Louise Link

ihrer Vorlesung für die meisten Studierenden

neu sind antwortet sie:

„Überrascht war ich nicht, diese

Rückmeldung bekomme ich jedes

Jahr von einzelnen Studierenden per

E-Mail oder in den Evaluationen.

Aber diese wiederholte Antwort

gleich von mehreren Studierenden

verschiedener Jahrgänge auf einmal

zu hören, machte mir diesmal

deutlich, wie wichtig es ist, in einer

B.A.-Soziologie Vorlesung Inhalte

zu vermitteln – von der Geschichte

des europäischen Handels mit Versklavten

bis hin zu den EU-Grenzen

in Südamerika und der Karibik

– die streng genommen nicht der

Soziologie entstammen und zum

Teil viel früher, also in der Schule,

hätten vermittelt werden sollen,

um rassistische und koloniale

Strukturen realistisch verstehen zu

können. Denn bevor sie verstanden

werden, können sie nicht bekämpft

werden.

Die Stimmen und Perspektiven der

eingangs erwähnten Aktivist*innen

und Autor*innen sind leider überhaupt

nicht überholt, sondern weiterhin

von unglaublicher Wichtigkeit,

im Studiengang der Gender

Studies, in allen anderen Studiengängen

und überall sonst.

Louise Link

Buch Cover „Gender/ Quuer Studies“

W.F. UTB Verlag


10 22 Gender-Studies Sommer 2021

Eingebürgerte Tendenz: Problemgruppe

Mann

Männerforschung nach dem Leitsatz: Gender Studies ist für alle da! Die Entselbstverständlichung des

männlichen Klischees

Symbolisch für das gesellschaftliche Männerideal Foto: Promo

D

ie „man box“: „Meine

Tochter konnte weinend

zu mir kommen, es spielte

keine Rolle, worüber

sie weinte. Sie durfte auf meinen

Schoß, sich ankuscheln, wurde getröstet

und wusste, dass das alles

ist, was zählt. Ihr Bruder war nur

wenig älter. Wenn ich ihn weinen

hörte, war es, als würde ein Alarm

klingeln. Ich gab dem Jungen etwa

30 Sekunden. Das bedeutet, wenn

er dann bei mir war, sagte ich bereits

Dinge wie: Warum weinst du?

Nimm den Kopf hoch! Sieh mich

an! Erklär mir, was los ist! Sag,

was passiert ist! Ich kann dich nicht

verstehen, wenn du weinst. Und

aus Frustration über meine Rolle

und Verantwortung, ihn zu einem

Mann zu erziehen, hörte ich mich

Sachen sagen wie: Geh einfach in

dein Zimmer! Geh in dein Zimmer!

Setz dich hin, reiß dich zusammen

und komm wieder, wenn du mit mir

wie ein Mann sprechen kannst! Er

war 5 Jahre alt“ (Pickert, 2020, S.

57).

Dieses Beispiel stammt aus dem

Buch „Prinzessinenjungs“ von Nils

Pickert und soll veranschaulichen,

wie Jungen zu Männern erzogen

werden und was das in den westlichen

Gesellschaften bedeutet. Der

folgende Text gibt einen kleinen

Einblick in die Männerforschung

und wird solche Beispiele eingehen.

Doch noch eine Sache vorne weg:

Da ich selbst als Frau nicht von Eigen-erfahrung

berichten kann, habe

in meinem männlichen Freundesund

Bekanntenkreis zu diesem Thema

befragt. Einleitend reflektieren

sie ihre Kindheitserinnerungen, die

sie auf ihr Geschlecht aufmerksam

gemacht haben. Ein Freund erinnert

sich an eine Kindergartenfreundin,

die im erklärte, dass sie kein Junge

sei und zum Beweis ihre Genitalien

vorzeigte. „Das nackte Spielen im

Planschbecken und die Beobachtung,

dass der weibliche Körper sich

von meinem (schon im Kleinkindalter)

unterschied.“ berichtet ein anderer.

Wieder andere können sich

nicht an klare Momente erinnern,

eher an ein Gefühl und das Sozialverhalten,

was ihnen gegenüber an

den Tag gelegt wurde. Die Realisierung,

dass Jungen und Mädchen

unterschiedlich sind, ist immer früh

verankert. Das eigene Geschlecht

und die damit einhergehenden Erwartungen

werden schon früh kommuniziert,

sei es verbal oder durch

soziale Verhaltensweisen. So werden

schon erste Stereotypen bedient

und ein Habitus für einen ‚Jungen‘

charakterisiert.

Entstanden ist die sogenannte Männerforschung

im Zuge des Feminismus,

welcher die patriarchalen

Strukturen nicht nur für Frauen in

Frage stellte, sondern gleichzeitig

auch Männer dazu ermutigte die

eigene gesellschaftliche Position zu

hinterfragen. Herr Böhnisch, Professor

für Sozialpädagogik und Sozialisation

der Lebensalter, schreibt,

dass durch Veränderungen „in den

politischen Machtverhältnissen, in

der Hierarchie der Arbeitsbeziehungen

und in den emotionalen Beziehungsverhältnissen“

(Böhnisch

2012, S.1) die Machtdominanz

von Männern nicht mehr selbstverständlich

ist. Das öffnet den Raum

für verschiedene Arten von Männlichkeiten,

welche heute ausgelebt

werden können abweichend des

früheren Stereotyps. Trotz dieser

Fortschritte sind Männlichkeit und

Weiblichkeit gesellschaftlich weiterhin

als Gegenpole angeordnet

und werden entsprechend in ihrer

Definition meist im Gegensatz zu

einander dargestellt. Diese Beziehung

zwischen Maskulinität und

Femininität ist bedeutend, da sich

dadurch ein Rahmen um die Konzepte

bildet. Die Frage was „männlich

sein“ beinhaltet, wird oft mit

„nicht weiblich“ beantwortet. So

einfach ist es in der Realität nicht,

aber diese Diskussion gibt einen

guten Einblick darüber, wie Männlichkeit

und Weiblichkeit, aber auch

Männer und Frauen gehandhabt

werden.

Männlichkeit ist nicht gleich

Mann

Jeder Mensch hat maskuline und

feminine Züge in sich, die auch

unabhängig vom Geschlecht ausgeprägter

sein können. So gibt es feminine

Männer, maskuline Frauen

und alles dazwischen.

Trotzdem gibt es Stereotype, welche

um Männlichkeit kreisen und

versuchen typische Eigenschaften

auszumachen. „Ein Mann zu sein,

heißt sich im Klaren zu sein was

man will. Nicht viel zu quatschen,

sondern Taten sprechen lassen, einen

kühlen Kopf bewahren zu können,

seine Emotionen zu kennen

(ich sage absichtlich nicht „kontrollieren“),

belastbar zu sein, aber

zu seinen Schwächen zu stehen,

stolz darauf zu sein ein Mann zu

sein.“ beschreibt ein Freund. Werte

wie Rationalität, Unabhängigkeit,

Stabilität, Verantwortung und

mentale als auch körperliche Stärke

wurden genannt.„Auch wenn ich in

einer Beziehung bin, in der von mir

nicht explizit verlangt wird, stark

zu sein oder eine Versorgerrolle zu

übernehmen, ist es mir wichtig, erfolgreich

zu sein und eine gewisse

Stärke und Toughness auszustrahlen“

berichtet ein Anderer. Es zeigt

sich, dass solche Werte weiterhin

von Männern erwartet werden. Einige

Wertvorstellungen haben sich

erweitert und sind nicht mehr so

gradlinig, doch dazu später mehr.

In diesen Beschreibungen bezüglich

Männlichkeit, wurde von den

Personen oft zwischen der gesellschaftlich

vorherrschenden Vorstellung

und der eigenen Definition von

Männlichkeit differenziert. Dies

verdeutlicht, wie komplex, prägend

und gesellschaftlich bedeutend

Männlichkeiten sind.

Was macht den Mann zum

Mann?

Weltweit gibt es verschiedenste Gesellschaftsordnungen,

aber patriarchale

Strukturen dominieren. Dieser

Umstand bedeutet zum einen, dass

Männer einen Vorteil gegenüber

dem Rest der Gesellschaft haben.

Zum anderen ist es Fakt, dass diese

Gesellschaftsordnung nicht allen

Männern entspricht und sich heute

an einem Idealbild orientiert, dem

gerecht zu werden schwer bis unmöglich

ist. Mann in einem Patriarchat

zu sein scheint eventuell ein

größeres Privileg, als es letztendlich

ist.

Die Soziologin Raewyn Connell

zeigt vier verschiedene Männlichkeiten

auf – hegemoniale Männlichkeit,

untergeordnete Männlichkeit,

komplizenhafte Männlichkeit und

Marginalisierung (Connell, 2012).

Diese sind geprägt durch verschiedene

gesellschaftliche Aspekte und

auch hier ist Intersektionalität das

Stichwort. Eigenschaften wie Ethnizität,

Geschlecht, Klasse, Sexualität

und vieles mehr, haben einen großen

Einfluss auf den sozialen Status

in der Gesellschaft und dadurch

auch auf Männlichkeiten. Wichtig

ist, dass Männlichkeiten immer im

Rahmen der sozialkulturellen Normen

stehen, also dem was im Kontext

der Gesellschaft als Normalität

angesehen wird. Die hegemoniale

Männlichkeit bezieht sich auf das

ideale Stereotyp, welches gesellschaftlich

als das ultimative Ziel für

Männlichkeit ausgelegt wird. In der

untergeordneten Männlichkeit befindet

sich die Gruppe, die sich der

hegemonialen Männlichkeit nicht

zugehörig fühlt oder ihr nicht entspricht.

Marginalisierte Männlichkeit

bezieht sich auf die Menschen,

die Marginalisierung in der Gesellschaft

erfahren. Der Unterschied

zwischen Unterordnung und Marginalisierung

ist nicht immer klar,

da sie häufig Hand in Hand gehen,

sich aber nicht bedingen müssen.

Und die letzte Kategorie der komplizenhaften

Männlichkeit bezieht

sich auf die profitable Position von

Männern, welche durch die hegemoniale

Männlichkeit entsteht. Es

handelt sich hierbei um die Gruppe

von Männern, die von der gesellschaftlichen

Position des Mannes

im Patriarchat profitieren, sich aber

nicht mit den eigenen Privilegien

auseinandersetzten und so diese Privilegien

nur für sich beanspruchen.

Was bedeutet das für Männer in

unserer Gesellschaft?

Es zeigt sich, dass der Anspruch an

Geschlecht, in diesem Fall an Männern,

von der Sozialgesellschaft

geformt wird. Die Dokumentation

„The mask you live in“ (Sei ein

Mann!) von Jennifer Siebel-Newsom

(2015) gibt einen Einblick in

die US-amerikanischen Umstände.

Schon von klein auf werden Jungen

damit konfrontiert, was es bedeutet

ein Mann zu sein und männlich

zu wirken. Die Quintessenz lautet

immer wieder: nicht wie Mädchen

sein, nicht weiblich, nicht feminin.

Jungen wird beigebracht, dass es

von ihnen nicht erwünscht ist, Emotionen

zu zeigen. Der Pädagoge und

Aktivist Tony Porter berichtet, wie

Jungen im Alter von fünf Jahren

schon ganz genau wissen, nicht in

der Öffentlichkeit weinen zu dürfen.

In dem Alter gelingt es ihnen noch

nicht unbedingt, aber sie sind sich

des Anspruches bewusst. Bis sie

zehn Jahr alt sind, haben sie sich

das Weinen in der Öffentlichkeit

abtrainiert. Falls es einen Zwölfjährigen

geben sollte, der dies noch

nicht perfektioniert hat, gibt es, laut

Tony Porter, aus gesellschaftlicher

Perspektive ein Problem. Dann ist

etwas falsch mit ihm.


Sommer 2021 Gender-Studies 23

Die Psychologin Dr. Judy Chu berichtet

von einem anderen Fall den

sie das Mean Team nennt. Sie begleitete

eine Gruppe von Kindern,

welche neu in den Kindergarten

starteten. Anfangs gab es Kontakt

zwischen den Jungen und den

Mädchen innerhalb die Kindergartengruppen,

doch schnell teilte

sich die Gruppe nach Geschlecht

auf. Innerhalb der Jungengruppe

entstand eine Hierarchie, die durch

Regeln gestaltet war: sei gemein zu

den Mädchen, halte dich nicht mit

ihnen auf, spiel nicht mit ihnen etc.

Wurden diese Regeln gebrochen,

wurde der Junge in der Hierarchie

hinuntergestuft oder gar ganz

ausgestoßen. Ein Junge berichtete

Dr. Chu, dass er im Geheimen die

Mädchen mochte und mit ihnen

befreundet war, jedoch die anderen

Jungen davon nichts mitbekommen

durften. Dieser Fall bestätigt, dass

Jungen in einem System groß werden,

welches ihnen beibringt, dass

Mädchen anders sind. Sie werden

abgwertet, genau wie Femininität,

welche in den Jungen selbst nicht

gedultet wird. Um ein echter Junge

und schließlich ein echter Mann zu

sein, muss möglichst viel Abstand

zu Weiblichkeit entwickelt werden.

Dieser Umstand nennt sich patriarchale

Dividende.

„Mit diesem Begriff ist die allen

Männern gleichsam kulturgenetisch

eingeschriebene, in der Entwicklungsdynamik

des Kindes- und Jugendalters

immer wieder aktivierte

und eingeübte Haltung gemeint,

dass der Mann „im Grunde“ doch

der Frau überlegen sei, egal ob das

der Überprüfung durch die soziale

Wirklichkeit standhält“ (Böhnisch

2012, S. 1). Hiernach ist dieser

Grundsatz tief in uns verankert

und wird durch unser Handeln und

durch Erziehung an die nächsten

Generationen weitergegeben. Auch

wenn es oberflächlich nicht auftritt,

wird „diese männliche Dividende

in kritischen Lebenssituationen

quer durch alle Schichten aktiviert“

(ebd). Die männliche Dividende ist

nicht allgegenwärtig und unveränderbar,

es wird nur in prekären Lebenslagen

darauf zugegriffen und

kann entsprechend durch aktives

Reflektieren und bewusstes Handeln

verändert werden.

Rocktage à la Pickert

In „Prinzessinenjungs“, erschienen

2020, schreibt Nils Pickert über

seine eigenen Erfahrungen als Junge,

Mann und Vater, als auch die

Erfahrungen seiner Kinder. Auf

dem Titelbild des Buches sind er

und sein Sohn von hinten zu sehen.

Sein Sohn trägt ein rosa Kleid und

schaut lächelnd zu ihm auf. Pickert

erwidert seinen Blick, trägt einen

roten Rock und zusammen laufen

sie Hand in Hand. Die Geschichte

dahinter ist folgende. Pickerts Sohn

trägt von klein auf gerne farbenfrohe

Röcke und Kleider. Für den Jungen

war das selbstverständlich, da seine

große Schwester auch gerne Röcke

und Kleider trug. Zusätzlich wurde

dies in dem gewohnten Berliner

Umfeld nicht kritisch beäugt. Mit

dem Umzug in eine Kleinstadt, änderten

sich die Reaktionen auf den

Jungen. „Er wurde angestarrt, ausgegrenzt

und verächtlich gemacht.

Er wurde als schwul beschimpft.

Als „Mädchen“, „Schwuchtel“ und

„Missgeburt“. Sowohl von Kindern

als auch von Erwachsenen. Er war

ein kleiner 5-jähriger Junge, der

überhaupt nicht verstand, was daran

falsch sein sollte, ein Mädchen

zu sein. Seine Schwester war ein

Mädchen. Seine Schwester war toll.

Aber die Feindseligkeit, den zur

Schau gestellten Ekel und die plötzlich

ersterbenden Gespräche, wenn

er irgendwo hinzutrat – all das registrierte

er.“ beschreibt Pickert die

Situation. In Unterstützung zieht er

sich auch einen Rock an und begleitet

seinen Sohn an sogenannten

Rocktagen. Die Leute schauen

nun weniger auf den Jungen und

mehr auf ihn. Auch er bekommt

Kommentare, wie sich „vernünftig

anzuziehen“ und eine Frau läuft tatsächlich

gegen eine Straßenlaterne,

weil sie so beschäftigt ist zu starren.

Als das Foto und die Geschichte

in die Medien kommen, sorgen

diese international für Aufsehen.

Neben viel Zuspruch kommt auch

viel Kritik; häufig in Form tiefster

Empörung, welche durch Beleidigungen

und Beschimpfungen geäußert

werden. Das Bild von Vater

und Sohn in Rock und Kleid provozierte

so viel Aufruhr und bestätigt,

dass Maskulinität und Männlichkeit

so stark durch die Abgrenzung alles

Weiblichen definiert ist, dass es

Jungen und Männer in ihrem Alltag

einschränkt und mit Werkzeugen

wie Degradierung und Ausgrenzung

versucht alles in Schach zu halten,

was dieses Männlichkeitsbild zum

Wackeln bringt.

Was steckt hinter der Maske?

Diese Maskerade zieht sich durch.

Wie die Dokumentation „The mask

you live in“ berichtet, haben Jungen

im Alter von 12 – 14 Jahren gelernt

nicht in der Öffentlichkeit zu

weinen, aber können durch Freundschaften

und Familie den Austausch

von Gefühlen und Unterstützung

erfahren. Das ändert sich rapide

zwischen 15 und 19 Jahren. Viele

Jungen hören auf über Gefühle zu

sprechen, entkoppeln sich von anderen,

entlernen Verbindungen einzugehen

und verlieren das Vokabular

für Emotionen. Es wird von

der Angst erzählt, sich verletzlich

zu machen, wenn weiterhin über

Gefühle gesprochen wird, weil

diese Informationen später gegen

die eigene Person genutzt werden

könnten. Viele fangen an sich allein

und isoliert zu fühlen. Wenn es zu

Körperkontakt oder Komplimenten

kommt, wird oft ein „no homo“ hinterhergeworfen,

um die eigene Position

klarzustellen. In demselben

Alter steigt auch die Selbstmordrate

in den USA unter Jungen schnell an.

War sie zuvor dreimal so hoch wie

die der Mädchen, steigt sie auf das

Fünfache und im Alter von 20-24

Jahren auf das Siebenfache (Siebel-

Newsom 2015). Laut dem Psychologen

Dr. William Pollack steigt die

Rate der Depression und des Selbstmords

unter den Jugendlichen, wird

jedoch bei Jungen seltener erkannt,

da sie die typischen Symptome erst

später aufzeigen. Zuerst werden sie

laut, aggressiv und verhalten sich

auffällig. Dieses Verhalten wird

jedoch als maskulin oder männlich

stereotypisiert und somit nicht als

Warnzeichen wahrgenommen. Die

typischen Symptome, wie sich zurückziehen,

stiller werden, nicht

antworten, welche Mädchen von

vornherein zeigen, kommen erst

später dazu. Zusätzlich sind sie

selten in der Lage über ihre Emotionen

zu sprechen. Gekoppelt mit

gesellschaftlichen Umständen, welche

wenig Raum für Hilfsangebote

für Männer in Bezug auf mentale

Unterstützung bieten, ist es umso

schwieriger sich Hilfe zu holen. In

der Liste der Todesursachen unter

Männern steht Selbstmord weltweit

an zweiter Stelle und unter den 15

bis 29 Jahre alten Männern an erster

Stelle (Van Sabben& Paulsen-

Becejac 2018, Bilsker& White

2011). Die Forschung ist noch nicht

so weit, aber die Indizien für eine

Verbindung zwischen den Auswirkungen

der Rahmung von Männlichkeit

und dem erhöhten Selbstmordrisiko

sind da.

Zusammengefasst ist das nur ein

Bruchteil der Aspekte mit denen

sich die Männerforschung beschäftigt.

Auch hier zeigt sich aber, dass

die Ungleichgewichtung der Geschlechter

alle beeinflusst, egal ob

Mann, Frau, Trans, Non-Binär oder

Divers. Männlichkeit und Maskulinität

in dem vorangegangenen

Kontext lassen wenig Spielraum

für abweichende Verhaltensmuster.

Die Folgen sind zahlreich und für

viele Menschen vielleicht nicht auf

den ersten Blick sichtbar. Doch bei

genauerem Hinschauen zeigt sich

im eigenen Verhalten, im sozialen

Umfeld, Sozialen Medien, Film

und Fernsehen und vielen mehr,

was für die einen möglich ist und

für den anderen nicht. Weil Männer

inzwischen Gehör finden und

über diesen Missstand gesprochen

wird, ändert sich langsam auch die

Wahrnehmung der Männlichkeit.

Mittlerweile ist es nicht mehr eine

Männlichkeit, der alle hinterher

eifern, denn es gibt verschiedene

Formen sich auszudrücken und am

Ende ist diese genauso individuell

wie jede*r von uns. Wie anfangs

erwähnt, wurde in den Erzählungen

aus meinem Freundeskreis häufig

zwischen den Erwartungen, was es

bedeutet ein Mann zu sein, welche

gesellschaftlich oder sozial an sie

herangetragen wurden und der eigenen

Perspektive auf diese Erwartungen

differenziert. Neben Werten

wie Rationalität, Unabhängigkeit,

Stabilität, Verantwortung und (körperlicher)

Stärke, wurden mir im

Zusammenhang mit Männlichkeit

auch Fürsorge, Liebe, Respekt,

Güte und Schwächen eingestehen

genannt. Zudem wurde auf die

Diversität von Mannsein aufmerksam

gemacht. Ein Freund bemerkt:

„Mein heutiger Freundeskreis besteht

aus Männern, mit unterschiedlichen

kulturellen und sozialen Hintergründen,

deswegen gibt es auch

keine einheitlichen Vorstellungen

oder Anrufungen, was Männlichkeit

bedeutet in diesem Kontext.“

Das starre Männerbild aus dem

20. Jahrhundert hat sich verändert.

Wie Böhnisch es in seinem Text

„Männerforschung: Entwicklung,

Themen, Stand der Diskussion“

(2012) ausdrückt, zeigt sich, „dass

sich die hegemoniale Männlichkeit

‚flexibilisiert‘ hat und ‚ihre Ränder

unscharf‘ geworden sind“. Sie ist

immer noch in Teilen präsent und

prägend, aber es ist ein Freiraum

entstanden der Jungen und Männern

die Chance gibt, über die klaren

Rollenbilder hinaus ihre Identität zu

verwirklichen. So wird es möglich,

dass Mann sich die Verantwortung

der Erwerbsarbeit teilen kann, dass

er die Familie anders und näher erleben

kann, dass ein Raum entstehen

darf, welcher auch Männer als

Opfer von Gewalt anerkennt etc.“

All diese Dinge stehen noch am

Anfang. Es gibt noch viel in diese

Richtung zu tun. „Allerdings muss

die Männerforschung aufpassen,

dass sie in Zukunft nicht die inzwischen

schon fast eingebürgerte

Tendenz, Männer ausschließlich als

Problemgruppe zu sehen, verstärkt“

(ebd.).

Julia Dannhäuser

Bilsker, D., & White, J. (2011). The

silent epidemic of male suicide.

British ColumbiaMedical Journal,

53(10).

Böhnisch, L. (2012). Männerforschung:

Entwicklung, Themen,

Stand der Diskussion. Bpbhttps://

www.bpb.de/apuz/144853/maennerforschung-entwicklung-themenstand-der-diskussion

Connell, R. W. (2012) Der gemachte

Mann. Konstruktion und Krise

von Männlichkeit, in: Bergmann, F.,

Schössler, F. & Schreck, B. Gender

Studies. Bielefeld: S. 157-174

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what is the problem?. Trends in

Urology & Men‘s Health,8(4),

9-12.

Siebel-Newsom, J. (2015). The

Mask You Live In.

Van Sabben, E., & Paulsen-Becejac,

L. (2018). An enquiry into young

men at risk of suicidein the UK.

Nursing children and young people,

30(4).

Buch Cover „Prinzessinnenjungs“

Beltz Verlag

Leonardo da Vincis Sinnbild des Menschen

(der Mann)

Foto: Promo

Maskerade unter dem Namen der Männlichkeit Foto: Promo


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