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Birger P. Priddat, geb. am 13. Februar 1950 in Leuna ... - Einsnull

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<strong>Birger</strong> P. <strong>Priddat</strong>, <strong>geb</strong>. <strong>am</strong> <strong>13.</strong> <strong>Februar</strong> <strong>1950</strong> <strong>in</strong> <strong>Leuna</strong>, Sachsen-Anhalt, ist e<strong>in</strong> deutscher<br />

Ökonom und Philosoph. Seit August 2007 ist er Inhaber des Lehrstuhls<br />

für Politische Ökonomie <strong>in</strong> der Wirtschaftsfakultät an der privaten Universität<br />

Witten/Herdecke. Von August 2007 bis Dezember 2008 war er Präsident der<br />

Universität. Neben zahlreichen anderen Publikationen ist er Beiträger <strong>in</strong> dem<br />

Band »Kapitalismus als Religion« (Kadmos 3 2009).


<strong>Birger</strong> P. <strong>Priddat</strong><br />

Kle<strong>in</strong>geld<br />

die verborgene Seite des geldes<br />

Kulturverlag Kadmos Berl<strong>in</strong>


<strong>in</strong>halt<br />

Vorwort 7<br />

1. Kle<strong>in</strong>geld 9 2. Notgelder = Doppelwährungssysteme 42<br />

3. Wurst- und Biermarken 55 4. Wertkarten 58<br />

5. Touristenwährungen 59 6. Zehn Brötchen – statt 2,30 Euro nur<br />

1,95 Euro: Coupons als Kaufkraftverstärker 60<br />

7. Wechselgeld Dorffest 62 8. Flaschenbons 63<br />

9. Kle<strong>in</strong>es Kle<strong>in</strong>geld 66 10. Pfennig 67<br />

11. Auf mexikanischen Marktplätzen 69 12. two wooden nickels 71<br />

<strong>13.</strong> Spielbankjetons 72 14. Disney-Dollar 74<br />

15. Strip-Dollars: dolly dollar 76 16. g<strong>am</strong>e token 77<br />

17. Bonusgeld 77 18. Paybackcardrabatt 78<br />

19. Zigarettenwährung 80 20. Zeitungsgutsche<strong>in</strong>e 82<br />

21. Warteschlangengelder: Zeit kaufen 83 22. Pfandmarken I 87<br />

23. Pfandmarken II: Die Tritt<strong>in</strong>’schen Dosenpfandmarken 88<br />

24. Kle<strong>in</strong>geld. Europa 90 25. eBay-Geld (I): Anyth<strong>in</strong>g Po<strong>in</strong>ts 93<br />

26. Scheckkarten / Geldkarten / Kartengeld 95 27. Revolutionsgeld 98<br />

28. Großes Kle<strong>in</strong>geld: deutsche Hyper<strong>in</strong>flation 1923 100<br />

29. Asylgelder 105 30. Weltweiter Kle<strong>in</strong>geldersatz 106<br />

31. Besatzungsgeld 108 32. Notgeldmarkt 110<br />

33. Korruption für kle<strong>in</strong>es Geld 114<br />

34. Die Moskauer und das Geld (2003) 116 35. Geldkarten I 120<br />

36. Mumm Museums-Card 124 37. eBay-Geld (II) 125<br />

38. Da ist das Kle<strong>in</strong>geld platt: Geldkarten II 127 39. Sparen 129<br />

40. E<strong>in</strong>kaufsgutsche<strong>in</strong>e 130 41. Danknote Aral 132<br />

42. Geld auf Geld 133 43. Lehrgeld 134<br />

44. Kle<strong>in</strong>geld, benutzt 136 45. K<strong>in</strong>dergelder 138<br />

46. Großgeld: kle<strong>in</strong> 140 47. Wheresgeorge.com 141<br />

48. Gefangenenlagergutsche<strong>in</strong>e 142 49. Menschheitswährung 145<br />

50. Auktionen zum Stichwort Kle<strong>in</strong>geld 146<br />

51. Geldwäscheauktionen: Kle<strong>in</strong>geld ersteigern 147<br />

52. Wo verwahren wir eigentlich unser Kle<strong>in</strong>geld? 148<br />

53. »Nämed Sie au Flecü?« Lokale Tauschgelder 150<br />

54. Das Fureai-Ticket 155 55. ›Ich habe ke<strong>in</strong><br />

Kle<strong>in</strong>geld‹ – Taxifahren 156


56. Kle<strong>in</strong>geldverweigerungen 157<br />

57. Bundesbahnfahrgelderstattungen 158 58. Badetüchergeld 159<br />

59. Freibankbezugssche<strong>in</strong>e 160 60. Freigeld 161<br />

61. Frühe Notgeldformen 162 62. Staatliches Notgeld 167<br />

63. Sachwährungen 170 64. LPG-Gelder der DDR 173<br />

65. Arbeitsgelder 175 66. Tr<strong>in</strong>kgeld 177 67. Parkbonmärkte? 181<br />

68. »Knappenkarten« als Stadionwährung 183<br />

69. »Steuergutsche<strong>in</strong>e« 185 70. »Münzgeldkrise« Juni 2004 187<br />

71. Treuepunkte 192 72. Essensmarken 193 73. Färsengeld 194<br />

74. Argent<strong>in</strong>ien 195 75. Feriengeld 197 76. C<strong>am</strong>el Cash 201<br />

77. Falschgeld 202 78. Bundeskassensche<strong>in</strong>e 203<br />

79. funky money 204 80. Taxigutsche<strong>in</strong> 208<br />

81. Aufrufnummern 210 82. Matthäus 6,31-33 oder:<br />

Me<strong>in</strong>e Mittagsbemme war verschimmelt 211<br />

83. Maike im Kaufladen 211 84. Kassierer / Kunde-Spiel:<br />

die aussterbende Möglichkeit des ›Geld-<strong>geb</strong>-zurück-Tellers‹ 212<br />

85. Telefonkarten 214 86. Argent<strong>in</strong>ische Zustände:<br />

K<strong>am</strong>pf ums Kle<strong>in</strong>geld 215 87. Am Kle<strong>in</strong>geld gestorben 216<br />

88. Der Bart des Präsidenten 217 89. Kle<strong>in</strong>geldzwang / im Chat 218<br />

90. Antike Kle<strong>in</strong>geldprobleme 222 91. Rationierungen:<br />

Lebensmittelkarten 227 92. Das größte Kle<strong>in</strong>geld 232<br />

93. Testnoten 234 94. Doppelkopfgeld 236<br />

95. Spontangelder 237 96. Briefmarkenkle<strong>in</strong>gelder 238<br />

97. Naturaliengelder 242 98. Ehrenhafte Zahlungsmittel 244<br />

99. Fahrkartengelder 246 100. Ausborgen von Kle<strong>in</strong>geld 247<br />

101. Lediglich Kle<strong>in</strong>geld 247 102. Wechselgeld: Automaten 248<br />

103. Fall der Mauer: Kle<strong>in</strong>geldmangel 249<br />

104. Sucherforum »verd<strong>am</strong>mtes Kle<strong>in</strong>geld« 249<br />

105. Hauptstadtgeld 250 106. Barmherzigkeitsgelder 252<br />

107. Banken geht langs<strong>am</strong> das Kle<strong>in</strong>geld aus: Streiks 2003 255<br />

108. Fallendes Kle<strong>in</strong>geld. Trickdiebe 255<br />

109. Geldverkle<strong>in</strong>erung 256 110. Geld kostet Geld 257<br />

111. Wechselgeld 257 112. Was man <strong>am</strong> 24. Dezember 2004<br />

für 1 Euro kaufen konnte 258 1<strong>13.</strong> Onl<strong>in</strong>e-Spielgeld 259<br />

114. Helicopter Money 260<br />

115. »Attraktive Zahlungsmittel«: m-payment 261<br />

116. Zuletzt: nice falschgeld! 263 Literatur 266


Vorwort<br />

Wie brauchen Kle<strong>in</strong>geld, um große Sche<strong>in</strong>e wechseln zu können. Wozu sonst?<br />

In den Niederlanden und <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland s<strong>in</strong>d die 1- und 2-Cent-Münzen abgeschafft.<br />

In F<strong>in</strong>nland würde man sie sonst wegwerfen, wie <strong>in</strong> Griechenland und<br />

teilweise <strong>in</strong> Italien. Ehren die nicht den Pfennig?<br />

Ne<strong>in</strong>. Vor allem, weil das Zeug lästig ist und doch nichts wert. Ist es <strong>in</strong><br />

Griechenland die Er<strong>in</strong>nerung an die Antike, als die Obolen, das Kle<strong>in</strong>geld der<br />

Drachmen-Währung, im Mund getragen wurde? Beim Bezahlen spuckte man<br />

es aus.<br />

Kle<strong>in</strong>geld hatte früher mehr Kaufkraft und war entsprechend bedeuts<strong>am</strong>er.<br />

E<strong>in</strong> großer Reichtum an Varianten, vor allem <strong>in</strong> Notzeiten, an Ersatzgeldern<br />

existierte (und existiert heute noch weltweit). Dort, wo selbst das Ersatzgeld<br />

knapp wird, geht man wieder auf Naturaltausch.<br />

Darum geht es <strong>in</strong> diesem Buch um S<strong>in</strong>n, Existenz, Variation, Ersatz und<br />

Zweck des Kle<strong>in</strong>geldes. Manchmal, <strong>in</strong> Zeiten von Hyper<strong>in</strong>flation, s<strong>in</strong>d 10 Millionen<br />

Mark nur e<strong>in</strong> paar Pfennige. Manchmal s<strong>in</strong>d selbst die paar Pfennige<br />

kaum etwas wert. Davon will das Buch e<strong>in</strong>e Vorstellung <strong>geb</strong>en, und auch davon,<br />

was der Essensbon als Kle<strong>in</strong>geld bewirkt, der Pokerschuldsche<strong>in</strong>, das Flaschenpfand<br />

und derlei mehr. Und schon bef<strong>in</strong>den wir uns im Reich der unbed<strong>in</strong>gten<br />

Gerechtigkeit – wehe, hier zahlt e<strong>in</strong>er nicht genau aus!<br />

Überlegen Sie aber e<strong>in</strong>mal die gegenteilige Welt: Man würde jedes Mal auf das<br />

Wechselgeld verzichten. Welch ungeheure Erleichterung <strong>in</strong> den Portemonnaies,<br />

den Taschen, den Kassen. Man könnte die Differenz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Stiftung e<strong>in</strong>zahlen,<br />

aber warum nicht den Verkäufer<strong>in</strong>nen / Kassierer<strong>in</strong>nen schenken (wenn sie es<br />

denn verdienten)? Sie s<strong>in</strong>d schlecht genug bezahlt.<br />

Könnten wir das aushalten? Wohl eher nicht. Im Kle<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d wir extrem<br />

genau. Aber als Bank e<strong>in</strong> paar Milliarden verbraten – das macht irgendwie<br />

nichts.<br />

<strong>Birger</strong> P. <strong>Priddat</strong> Witten, Oktober 2010


1. Kle<strong>in</strong>geld<br />

Da im Alltag viele D<strong>in</strong>ge wenig kosten, brauchen wir Kle<strong>in</strong>geld. E<strong>in</strong> Preis von<br />

0,38 Euro muss reell bezahlt werden können. Gäbe es nur Eurostücke/-sche<strong>in</strong>e,<br />

müsste alles m<strong>in</strong>destens 1 Euro kosten. Wie bedeuts<strong>am</strong> Kle<strong>in</strong>geld ist, lässt sich<br />

schnell mit e<strong>in</strong>em Selbstversuch feststellen: Wenn es ke<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>geld gäbe, würde<br />

man bei jedem Kauf ke<strong>in</strong> Geld zurückbekommen. Wenn man e<strong>in</strong>mal für e<strong>in</strong>en<br />

Tag alles Rückgeld zus<strong>am</strong>menrechnet, das man dann nicht bekommen würde,<br />

er<strong>geb</strong>en sich erhebliche Summen (bei mir gestern, <strong>am</strong> 12.8.2010, 7,48 Euro).<br />

Das summiert sich über die Woche schnell auf 20 Euro, über den Monat auf<br />

100, wenn wir grobe Durchschnitte annehmen.<br />

Meist ist es doch etwas weniger.<br />

Kle<strong>in</strong>geld brauchen wir besonders dann,<br />

wenn es fehlt, z. B. wenn wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Supermarkt<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>kaufswagen aktivieren wollen,<br />

aber ke<strong>in</strong> Eurostück haben. Umständlich<br />

gehen wir zur Kasse, warten, bis die Kassierer<strong>in</strong><br />

den laufenden Vorgang abgefertigt hat,<br />

und bitten um Umwechslung. Manchmal<br />

bekommen wir dann e<strong>in</strong>e Plastikmünze, die<br />

e<strong>in</strong>kaufswagenchip<br />

als Geldersatz fungiert: als spezifischer Geldersatz, nur für diesen Zweck. Die<br />

Plastikscheibe, die genau den geometrischen Umfang e<strong>in</strong>es Euro hat, um <strong>in</strong> die<br />

E<strong>in</strong>kaufswagensperre zu passen, ist Funktionsgeld. Es soll, e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>geführt,<br />

e<strong>in</strong>en eigenen ›Geldkreislauf‹ vollziehen. Dieser funktioniert so:<br />

Geldkreislauf – Funktionsgeld – ›Plastikscheiben für E<strong>in</strong>kaufswagenentsperrungen‹:<br />

– e<strong>in</strong>legen,<br />

– später wieder aus der Sperre herausnehmen,<br />

– zum eigenen Kle<strong>in</strong>geld h<strong>in</strong>zufügen,<br />

– das nächste Mal steht die Plastikscheibe wieder zur Verfügung, weil sie,<br />

als Funktionsgeld, <strong>in</strong> anderen Transaktionen wertlos ist, also – theoretisch<br />

– erhalten bleibt.


10 Kle<strong>in</strong>geld<br />

Dummerweise verschw<strong>in</strong>den die Plastikmünzen ebenso wie das andere Kle<strong>in</strong>geld<br />

aus den Taschen – e<strong>in</strong>e Theorie, woh<strong>in</strong>, kann ich nicht anbieten. Manchmal<br />

f<strong>in</strong>det man es beim Aufräumen, unter dem Bett oder <strong>in</strong> Hosentaschen, <strong>in</strong> die<br />

man es nie gesteckt hatte.*<br />

D<strong>am</strong>it s<strong>in</strong>d wir mitten im Thema: Kle<strong>in</strong>geld.<br />

Normalerweise gibt es ke<strong>in</strong>e Probleme. Wenn ich an der Kasse bezahle, <strong>geb</strong>e<br />

ich 5-, 10-, 20-, 50- oder 100-Euro-Sche<strong>in</strong>e und bekomme den Rest anstandslos<br />

gewechselt. Manchmal muss die D<strong>am</strong>e an der Kasse dazu e<strong>in</strong>e Rolle Geld aufbrechen,<br />

um mir zurückzahlen zu können. Kle<strong>in</strong>geld ist reichlich im Umlauf.<br />

Doch stimmt das nur für umsatzstarke Geschäfte. Manchmal sagt die Verkäufer<strong>in</strong>:<br />

›Das kann ich nicht wechseln, das ist zu groß‹. Sie hat nicht genug<br />

Kle<strong>in</strong>geld <strong>in</strong> der Kasse. Sie hat falsch disponiert, oder die Umsätze waren größer,<br />

als sie vorher dachte. Oder aber die Umsätze s<strong>in</strong>d nie so groß, so dass jeder größere<br />

Wechsel unpassend kommt (vor allem <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Läden). Da sagt mir der<br />

Schlachter, dem ich e<strong>in</strong>en 500-Euro-Sche<strong>in</strong> <strong>geb</strong>e: »Kommen sie nachmittags.<br />

Morgens habe ich noch nix <strong>in</strong> der Kasse«. Weil aber auch 500er ›kle<strong>in</strong> gemacht‹<br />

werden müssen, ist das, was man für 500 e<strong>in</strong>gewechselt bekommt (abzüglich<br />

des Betrages, den man sowieso zu zahlen hatte), Kle<strong>in</strong>geld.<br />

Was macht man, wenn man großes Geld nicht <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Geld wechseln kann?<br />

Man hat ke<strong>in</strong>e Liquidität, jedenfalls nicht <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>en Stückelung. Manchmal<br />

gehen die Verkäufer<strong>in</strong>nen zur Sparkasse gegenüber, oder wechseln im Laden<br />

nebenan. Bevor die Transaktion platzt, weil effektiv ke<strong>in</strong>e Wechselmöglichkeit<br />

zustande kommt, kann die Verkäufer<strong>in</strong> auch eigenes Geld auszahlen: e<strong>in</strong>en<br />

Gutsche<strong>in</strong>, jederzeit e<strong>in</strong>lösbar, oder e<strong>in</strong>e Gutschrift. Oder sie holt aus ihrem<br />

privaten Portemonnaie Kle<strong>in</strong>geld (das sie irgendwie mit der Kasse später verrechnet).<br />

Oder man hat, <strong>in</strong> Notgeldzeiten selbstverständlich, eigenes Kle<strong>in</strong>geld,<br />

mit dem man auszahlt: Notgeld, wie der Fachausdruck <strong>in</strong> Deutschland lautet. In<br />

Deutschland haben wir geschichtlich ausgereifte Erfahrungen mit Notgeld:<br />

* Auch folgende kle<strong>in</strong>e Theorie muss erwogen werden. Man verliert die kle<strong>in</strong>en Plastikscheiben,<br />

weil man – ab und zu – me<strong>in</strong>t, dass sie sowieso nichts wert s<strong>in</strong>d. Dann fallen sie z.B.<br />

e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>, aber man bückt sich nicht. Oder man lässt sie im Wagen stecken. E<strong>in</strong>fach so.<br />

›Ist ja nix wert‹. Der Wert des Funktionsgeldes ›Plastikscheibe für E<strong>in</strong>kaufswagen‹ muss<br />

immer wieder reaktiviert werden. Nur wenn wir den Zweckzus<strong>am</strong>menhang kognitiv präsent<br />

haben, ist die Scheibe ›was wert‹. Sonst nur ›’ne blöde Scheibe‹.


Carl-duden-notgeld (Vorder- und Rückseite)<br />

In Italien war es zur Zeit der Kle<strong>in</strong>geldknappheit<br />

1976/77 durchaus üblich, <strong>in</strong> Bonbons zurückzuzahlen,<br />

jedenfalls kle<strong>in</strong>ere Beträge. Das sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e weltweite<br />

Methode zu se<strong>in</strong>, die wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> k<strong>in</strong>derreicheren<br />

Ländern ausgeprägter ist. (Ich weiß es noch<br />

von Indonesien, von Mexiko, Argent<strong>in</strong>ien, Russland,<br />

aber auch zeitweise von Holland.)<br />

italienischer M<strong>in</strong>iassegno<br />

Kle<strong>in</strong>geld 11<br />

das Bonbon: nicht nur lecker,<br />

sondern auch gelegentlich geld<br />

Notgeld kommt <strong>in</strong> Gebrauch, wenn es an regulärem<br />

Geld mangelt. Die Italiener hatten d<strong>am</strong>als<br />

über Banken und Sparkassen – also privat –<br />

›M<strong>in</strong>i assegni‹ e<strong>in</strong>geführt, weil Bonbons doch e<strong>in</strong>en<br />

zu e<strong>in</strong>geschränkten Gebrauchswert haben:<br />

›M<strong>in</strong>iassegnis‹ s<strong>in</strong>d von italienischen Banken<br />

und Sparkassen wegen e<strong>in</strong>er Knappheit von<br />

50-, 100- und 200-Lire-Münzen herausge<strong>geb</strong>en<br />

worden. Kle<strong>in</strong>geld als Notgeld wird bei Knappheit<br />

etabliert. Wie bei den Plastikgeldmünzen für<br />

die E<strong>in</strong>kaufswagen. Nicht jeder hat immer e<strong>in</strong>en<br />

Euro bereit: folglich ist e<strong>in</strong> spezifischer Teil des<br />

Kle<strong>in</strong>geldes knapp.<br />

Gehen wir zurück zu unserem ›E<strong>in</strong>kaufswagengeld‹.<br />

Das funktionale Plastikscheibengeld hat<br />

nicht den Wert, den e<strong>in</strong>e 1-Euro-Münze besitzt. Es<br />

ist e<strong>in</strong> funktionales Äquivalent; es simuliert den


12 Kle<strong>in</strong>geld<br />

Wert. Solange die Plastikscheibe als Wertersatz arbeitet, erfüllt das spezifische<br />

Notgeld se<strong>in</strong>e Funktion: der Wagen wird zurück<strong>geb</strong>racht, nicht irgendwo stehengelassen.<br />

Nicht der Wert, sondern die Anreizstruktur ist hier entscheidend.<br />

Der Anreiz, se<strong>in</strong>en Euro wieder zurückzubekommen, lässt die Kunden e<strong>in</strong>e<br />

kle<strong>in</strong>e Zusatzzahlung leisten: Sie br<strong>in</strong>gen den Wagen an bestimmte S<strong>am</strong>melpunkte<br />

zurück und lassen ihn nicht irgendwo auf dem Gelände stehen. Die<br />

Organisationskosten, alle Wagen immer wieder zus<strong>am</strong>menzus<strong>am</strong>meln, s<strong>in</strong>d<br />

dem Supermarkt zu hoch. Folglich bittet er die Kunden, für den Wagen e<strong>in</strong>e<br />

Leih<strong>geb</strong>ühr zu zahlen, die sie zurückbekommen, wenn sie e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Ordnungs-<br />

bzw. Organisationsleistung vollbr<strong>in</strong>gen. Unordnung zu beseitigen kostet – <strong>in</strong><br />

diesem Fall – 1 Euro.<br />

Das System funktioniert, was daraus zu schließen ist, dass es ke<strong>in</strong>e umherschleichenden<br />

Menschen gibt, die die stehen<strong>geb</strong>liebenen Wagen e<strong>in</strong>s<strong>am</strong>meln, um<br />

die <strong>in</strong> ihnen steckenden Euro zu kassieren. Folglich s<strong>in</strong>d die deutschen Kunden<br />

sehr ordentlich und fahren fast alles zurück. In anderen Ländern könnte man<br />

dieses System nicht e<strong>in</strong>richten. Lässige Italiener oder Griechen oder Spanier<br />

würden die Wagen e<strong>in</strong>fach stehenlassen, trotz der Kosten von 1 Euro. Sie würden<br />

sich durch e<strong>in</strong>e Vorschrift nicht abhalten lassen, zu tun, was ihnen beliebt. In<br />

solchen Ländern könnten dann herumlungernde S<strong>am</strong>mler die Wagen e<strong>in</strong>s<strong>am</strong>meln<br />

und dafür aber 1 Euro kassieren. Das würde den Supermarkt ke<strong>in</strong>en Cent<br />

zusätzlich kosten, nur die Kunden, die sich mit 1 Euro aber die Freiheit erkaufen,<br />

doch zu machen, was sie wollen und ke<strong>in</strong>er Vorschrift zu folgen. Doch die Kunden<br />

könnten auch so rechnen: Für 1 Euro lasse ich andere, gleichs<strong>am</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

Auftrag, die Dienstleistungsarbeit des E<strong>in</strong>s<strong>am</strong>melns der Wagen machen.<br />

Opa Stankowski mosert: »Erst mussich 1 Euro von me<strong>in</strong>em schönen Geld <strong>in</strong><br />

den Wagen tun, und dann mussich auch noch selber schieben und dat D<strong>in</strong>gens<br />

wieder selber abjeben. Ich bezahl’ mich doch nich selber für me<strong>in</strong>e Arbeit. Soweit<br />

kommet et noch! Nee«, sagt er, »gez’ kommich mitte Tüte und trage – onne<br />

sonne Wagen.«<br />

Notgelder haben wir nicht nur <strong>in</strong> Notzeiten (dazu später noch ausführlich).<br />

Notgelder treten überall dort auf, wo Geld/Kle<strong>in</strong>geld knapp wird. Es gibt<br />

spe zifische Knappheiten: wie die Zufälligkeit, trotz Kle<strong>in</strong>geldes <strong>in</strong> der Tasche,<br />

ke<strong>in</strong> 1-Euro-Stück zu haben für den Wagen. Ob man dann aber jeweils immer<br />

die Plastikscheibe dabei hat? Obwohl es ke<strong>in</strong>en Grund gibt, sie für etwas anderes<br />

zu verwenden, hat man sie dummerweise oft doch nicht dabei, wenn man<br />

sie braucht.


11. Auf mexikanischen Marktplätzen<br />

69<br />

Auf mexikanischen Marktplätzen – z.B. <strong>in</strong> Oaxaca – gibt es manchmal<br />

sonderbares Geld:<br />

Es s<strong>in</strong>d Lesezeichen aus Holz, mit bunt bemalten Tieren als Köpfen.<br />

Man bekommt diese Lesezeichen als Rückgeld, weil gerade ke<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>geld<br />

zur Hand ist oder generell <strong>in</strong> diesem Fall nicht ausgezahlt wird. Jedenfalls<br />

für Touristen.<br />

Man kauft z.B. drei dieser Lesezeichen für 17 Pesos, gibt e<strong>in</strong>en 20-<br />

Peso-Sche<strong>in</strong> und der Junge kann nicht wechseln: mit dem Argument, er<br />

habe an diesem Tag noch nichts verkauft. Er erwartet, dass man ihm das<br />

Wechselgeld schenkt. Tut man das nicht, gibt er schließlich<br />

e<strong>in</strong> viertes Lesezeichen. Dieses Lesezeichen ist dann Wechselgeld<br />

(wenn auch e<strong>in</strong>seitig. Mit ihm bei e<strong>in</strong>em nächsten<br />

Händler zu zahlen, wäre wohl e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nloses Unter fangen).<br />

Es s<strong>in</strong>d wunderbare kle<strong>in</strong>e primitive Handarbeiten, deren<br />

Brauchbarkeit dazu verleitet, sie als Wert anzusehen. Aber<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich bekommen nur Touristen diese eigenartige<br />

Währung ausgezahlt. Was sie e<strong>in</strong>erseits erfreut, ist andererseits<br />

e<strong>in</strong> Zwangskauf, den man wiederum toleriert, weil es<br />

um so kle<strong>in</strong>e Beträge geht. Um Kle<strong>in</strong>geld.<br />

Man kauft – <strong>am</strong> Ausgang der vorspanischen Tempel von<br />

Oaxaca – e<strong>in</strong>en Drachen (Alebrijes). Die Verkäufer<strong>in</strong> hat<br />

ke<strong>in</strong> Wechselgeld (ansche<strong>in</strong>end e<strong>in</strong>e geeignete Taktik, um<br />

Großgeld zu behalten: taktischer Kle<strong>in</strong>geldmangel).<br />

Ungefähr 34 Pesos sollten zurückgezahlt werden. Die<br />

Verkäufer<strong>in</strong> gibt 20 Pesos. Für den Rest bietet sie kle<strong>in</strong>e Figürchen<br />

an. Sie sehen nicht sehr schön aus. Man fragt nach<br />

Lesezeichen. Die Verkäufer<strong>in</strong> fragt e<strong>in</strong>e Frau nebenan, die<br />

Lesezeichen verkauft. Sie gibt ihr welche und man bekommt<br />

e<strong>in</strong>ige Lesezeichen (für die eigentlich auszuzahlenden 14<br />

Pesos (d<strong>am</strong>als 4,80 Pesos = 1 DM). Sie helfen sich untere<strong>in</strong>ander<br />

und verrechnen abends.<br />

Sofia R<strong>am</strong>irez schreibt: »Grillen [Chapul<strong>in</strong>es] s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

typische Speise <strong>in</strong> Oaxaca. Sie werden auf dem Markt verkauft.<br />

Das Maß dafür ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Schale. Jede Schale Mexikanischer geldersatz


76<br />

15. Strip-dollars: dolly dollar<br />

e<strong>in</strong> Strip-dollar aus St. Pauli<br />

In Nachtbars, <strong>in</strong> denen table dance an<strong>geb</strong>oten wird, erwirbt man spezifische Dollars,<br />

sogenannte dolly dollars, beim Barmann, um sie den Tänzer<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> den Slip<br />

oder sonstwoh<strong>in</strong> zu stecken. Der S<strong>in</strong>n dieser ›Währung‹ ist e<strong>in</strong> mehrfacher:<br />

1. Man verkauft für 10 Euro mehr Dollars, vor allem mehr Sche<strong>in</strong>e, d<strong>am</strong>it<br />

man den D<strong>am</strong>en mehrfach etwas zustecken kann, ohne dass es e<strong>in</strong>en gleich<br />

allzu viel kostet. Wenn man jedesmal e<strong>in</strong>en reellen 10-Euro-Sche<strong>in</strong> zustecken<br />

müsste … .<br />

2. Die Stripper<strong>in</strong>nen sollen nicht alles Geld für sich kassieren. Sie müssen es<br />

umtauschen, nach <strong>in</strong>ternen Tauschraten. Der Barbesitzer will an den ›Dollars‹<br />

mitverdienen oder überwachen, dass der vere<strong>in</strong>barte Anteil auch tatsächlich<br />

abge<strong>geb</strong>en wird.<br />

3. Die Strip-Dollars s<strong>in</strong>d sauberes Geld. Man will vermeiden, dass die Frauen<br />

schmutzige Sche<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den Intimbereich gesteckt bekommen.<br />

4. Man kann auch die Getränke d<strong>am</strong>it bezahlen. Je unklarer der Wechselkurs<br />

ist, desto leichter wird Tr<strong>in</strong>kgeld ge<strong>geb</strong>en; oft, wenn man betrunken ist,<br />

der ganze Rest des Geldes, das man nicht mit nach Hause nehmen will (oder<br />

nicht darf).


80<br />

19. Zigarettenwährung<br />

In Kriegs- wie Notzeiten waren im 20. Jahrhundert Zigaretten e<strong>in</strong> hervorragender<br />

Geldersatz. Das lag schlicht daran, dass Zigaretten e<strong>in</strong>en hohen Gebrauchswert<br />

hatten: Wer hungerte, wollte wenigstens rauchen, um den Hunger<br />

weniger zu spüren.<br />

Zudem waren Zigaretten <strong>in</strong> großen Mengen verfügbar, meist aus Heeresbeständen<br />

(der Besiegten wie der Sieger). Hunger und Krieg korrelierten. Die<br />

Soldaten, auch die Besatzungen, erhielten täglich e<strong>in</strong>e Ration Zigaretten. Alle<br />

Nichtraucher hatten gleichs<strong>am</strong> e<strong>in</strong> Kapital, das sie für Tauschzwecke e<strong>in</strong>setzen<br />

konnten.<br />

Und zuletzt: sie wurden proportioniert auf den Markt <strong>geb</strong>racht – meistens<br />

<strong>in</strong> 20er-Packungen.<br />

Sowjetische Zigaretten der Marke »Aurora« 1946<br />

Hier f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e Packung der sowjetischen Zigarettenmarke »Aurora« ab<strong>geb</strong>ildet,<br />

sogenannte Papjirossi, die <strong>in</strong> der russischen Besatzungszone Deutschlands<br />

nach 1945 als Notgeld fungierten (wie im <strong>am</strong>erikanischen Sektor die Marken<br />

»C<strong>am</strong>el« oder »Chesterfield«).<br />

Man konnte die Packungen als Ganze handeln oder <strong>in</strong> Teilen, <strong>in</strong> the m<strong>in</strong>imum<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Zigarette. Das macht Zigaretten so besonders geeignet für Ersatzgeldfunktion:<br />

ihre über die Teilbarkeit hergestellte Rechenfunktion.


98<br />

27. Revolutionsgeld<br />

Um den Guerillak<strong>am</strong>pf zu f<strong>in</strong>anzieren, hatte die Gruppe um Fidel Castro <strong>in</strong><br />

Kuba eigenes Geld herausge<strong>geb</strong>en – e<strong>in</strong>lösbar nach der Revolution. In diesem<br />

Fall galt das sogar.<br />

Kubanisches Revolutionsgeld (Vorder- und Rückseite)<br />

Dieser Sche<strong>in</strong> hat den Wert von 1000 $. Die gedruckte Unterschrift Fidel Castros<br />

ist kaum noch zu erkennen (die Farbe ist aus<strong>geb</strong>lichen). Das Geld diente dazu,<br />

die Bauern zu bezahlen, die die Guerilleros versorgten. Es gab auch Kle<strong>in</strong>geldvarianten.<br />

Hier zeigt sich, dass Geld im Grunde trust oder fiat money ist. Man muss<br />

se<strong>in</strong>em Zahlungsversprechen vertrauen. Doch wer traut sich <strong>in</strong> K<strong>am</strong>pfzeiten,<br />

das Geld abzulehnen und echte US-$ zu verlangen?<br />

Der Geldumlauf ist dann e<strong>in</strong> Indikator für die Unterstützung durch die<br />

Bevölkerung: zirkuliert das Geld und vergrößert sich die Geldmenge, vergrößert<br />

sich die Unterstützung für die Revolutionäre. Und umgekehrt.<br />

E<strong>in</strong> weniger erfolgreiches Revolutionsgeld st<strong>am</strong>mt aus Peru von 1921: e<strong>in</strong><br />

Cheque Provisional über 1 Sol:


Cheque Provisional über 1 Sol (Vorder- und Rückseite)<br />

Revolutionsgeld 99<br />

Es verlor bald se<strong>in</strong>en Wert.<br />

Dass man schon sehr darauf vertrauen muss, zeigt e<strong>in</strong> Notgeld aus Ebstorf/<br />

Niedersachen. Es ist auch e<strong>in</strong> Revolutionsgeld, und zwar das e<strong>in</strong>es Arbeiter- und<br />

Soldatenrates im Jahre 1918.<br />

gefälschtes notgeld aus ebstorf<br />

Leider ist es e<strong>in</strong>e Fälschung. E<strong>in</strong> Lehrer aus Ebstorf hat diese Sche<strong>in</strong>e selber<br />

hergestellt, um sie auf dem seit 1919/1929 blühenden Notgeldmarkt <strong>in</strong> Deutschland<br />

zu verkaufen. Der Wert des Sche<strong>in</strong>es war der der Imag<strong>in</strong>ation der Geldsche<strong>in</strong>s<strong>am</strong>mler.<br />

Als man merkte, dass das S<strong>am</strong>meln von Notgeld selber e<strong>in</strong> Markt war, begannen<br />

etliche Kommunen <strong>in</strong> Deutschland ab 1920 spezifische, nur für den<br />

Verkauf produzierte Notgelder (sogenannte Seriensche<strong>in</strong>e) zu produzieren. So<br />

kann man Geld auch <strong>in</strong> Verkehr br<strong>in</strong>gen: durch schlichtes Verkaufen.


114<br />

33. Korruption für kle<strong>in</strong>es geld<br />

Kann man Menschen mit 20 Euro bestechen? Marc Baumann und Philipp<br />

Mattheis haben es versucht. Der 20-Euro-Sche<strong>in</strong> wurde ausgewählt, weil den<br />

auch Porschefahrer aufheben. Er sche<strong>in</strong>t das ideale Bestechungskle<strong>in</strong>geld darzustellen.<br />

– Der U-Bahn-Fahrer (›e<strong>in</strong>mal kurz bis zur nächsten Station für 20 auf die<br />

Hand‹) nimmt das Geld nicht an. Zu viele Überwachungsk<strong>am</strong>eras; dafür<br />

will er den Job nicht riskieren.<br />

– E<strong>in</strong> Student tauscht für 20 Euro se<strong>in</strong>en Studentenausweis. Für 200 gäbe<br />

er den Personalausweis.<br />

– In e<strong>in</strong>em Biergarten: ›20 Euro, wenn sie sofort aufstehen und uns ihre<br />

Plätze überlassen.‹ Zweimal ke<strong>in</strong>e Reaktion, beim dritten Mal steht man<br />

auf und nimmt das Geld.<br />

– Für 20 Euro lügt e<strong>in</strong> Passant für e<strong>in</strong>en Mann, der ihm das Handy reicht mit<br />

der Bitte, se<strong>in</strong>er Frau zu beteuern, dass sie als Arbeitskollegen <strong>in</strong> Frankfurt<br />

wären (obwohl <strong>in</strong> München).<br />

– Für 20 Euro gewähren Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hotellobby die Benutzung ihres<br />

Hotelzimmers für e<strong>in</strong>e Stunde (es fragen e<strong>in</strong> Mann und e<strong>in</strong>e Frau), da sie<br />

gerade Essen gehen wollen.<br />

– In e<strong>in</strong>er Fußballkneipe (TV) Männer mit besten Plätzen fragen, ob sie für<br />

20 Euro aufstehen würden. E<strong>in</strong>er macht es, drei andere für 40 Euro.<br />

– E<strong>in</strong>e Ärzt<strong>in</strong>, die für 2o Euro krankschreiben soll, macht es gratis (›du wirst<br />

gemobbt?‹).<br />

– Auf die Bestechung von Polizisten wird, auf Raten der Rechtsabteilung,<br />

verzichtet. Angeregt waren die Autoren durch e<strong>in</strong> An<strong>geb</strong>ot von Polizisten<br />

drei Jahre zuvor, das Überfahren e<strong>in</strong>er Ampel bei Rot mit 20 Euro auf die<br />

Hand gut se<strong>in</strong> zu lassen.<br />

– Für 20 Euro br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Informatikstudent illegal kopierte Software <strong>in</strong> der<br />

Preishöhe von 3000 Euro.<br />

– Bei der Premiere an den Münchner K<strong>am</strong>merspielen tauschen sie e<strong>in</strong>e<br />

Durchschnittskarte gegen e<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der 1. Reihe für 20 Euro.<br />

– Bei Saturn schieben sie ihren E<strong>in</strong>kaufswagen vor den ersten Wartenden<br />

an der Kasse, <strong>geb</strong>en ihm 20 Euro und werden sofort bedient.<br />

– Beim Kreisverwaltungs<strong>am</strong>t kaufen sie die gerade aufgerufene Wartenummer<br />

für 20 Euro.


Korruption für kle<strong>in</strong>es geld 115<br />

– Dem Türsteher e<strong>in</strong>er Disco <strong>geb</strong>en sie 20 Euro, und er lässt sie zu fünft<br />

sofort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />

– Bei Regen bieten sie wartenden Autofahrern an e<strong>in</strong>er Ampel 20 Euro, auf<br />

dass sie sie nach Hause führen. Der 7. endlich nimmt dafür e<strong>in</strong>en Umweg<br />

<strong>in</strong> Kauf. (alle Baumann/Mattheis 2010)<br />

Mehr als 2300 User haben ihre Bestechungserfahrungen niedergelegt <strong>in</strong> www.<br />

sz-magaz<strong>in</strong>.de/korruption. Hier werden die kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>ge des Lebens geregelt.<br />

20 Euro s<strong>in</strong>d verführerisch genug; »fünf oder zehn Euro s<strong>in</strong>d noch zu wenig,<br />

fünfzig oder hundert Euro schon verdächtig viel«. (dito: 14, Sp. 1) Der Kontrolleur <strong>in</strong><br />

der S-Bahn allerd<strong>in</strong>gs, der bei 40 Euro Straf<strong>geb</strong>ühr leichterd<strong>in</strong>gs 20 Euro privat<br />

kassieren könnte, lehnt ab. Und auch die Nachtapotheken, die für 20 Euro Viagra<br />

ohne Rezept aushändigen sollen, reagieren durchgehend negativ.<br />

Manches – aber nur manches davon – könnte auch e<strong>in</strong>fach aus Freundlichkeit<br />

geleistet werden. Das 20-Euro-An<strong>geb</strong>ot verwandelt die Situation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Markt. Ich denke nicht, dass ›Korruption‹ das dafür angemessene Wort ist. So<br />

wie wir daran gewöhnt worden s<strong>in</strong>d, Schnäppchen mitzunehmen beim Konsum,<br />

so s<strong>in</strong>d wir verführbar für solche schnäppchengleichen Dienstleistungen. E<strong>in</strong>em<br />

helfen bzw. aushelfen und dafür noch Geld bekommen: super! Nicht das Gefühl,<br />

für die 20 Euro se<strong>in</strong>e Arbeitskraft veräußert zu haben, dom<strong>in</strong>iert, sondern das<br />

andere Gefühl, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>utenunternehmer geworden zu se<strong>in</strong>. Es würde<br />

mich nicht wundern, wenn man bei genauerer Erfragung zu hören bekäme, dass<br />

die 20 Euro als angemessene Anerkennung für e<strong>in</strong>e Hilfe angesehen werden.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich verhält es sich so: Die freiwillige Hilfe, die eigentlich <strong>in</strong> dieser<br />

Gesellschaft nicht mehr erwartet und nicht ge<strong>geb</strong>en wird, erblüht sofort, wenn<br />

sie den Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Transaktion erhält. Es geht dann gar nicht um Korruption,<br />

sondern um moderne Formen der Anerkennung.


194<br />

73. Färsengeld<br />

Färsengeld: »gültiges Zahlungsmittel im Café Zapata und <strong>in</strong> der Kommandantur«<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich ist das Färsengeld zum Verkauf an Touristen erfunden worden.<br />

Es ist e<strong>in</strong> skurriles Geld, 1/50 e<strong>in</strong>er Färse (mit dem d<strong>am</strong>aligen Wert von ca. 20<br />

DM, 1994). Es ist e<strong>in</strong> Kneipengeld (bzw. e<strong>in</strong> Nachdruck e<strong>in</strong>es Kneipengeldes).<br />

Die Konstruktion ist mir unbekannt; ich weiß nur, dass es bei S<strong>am</strong>mlern e<strong>in</strong><br />

wenig nachgefragt ist, weil man diese Art von skurrilem Geld <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e S<strong>am</strong>mlung<br />

aufnehmen will. Manchmal ist dies der e<strong>in</strong>zige Zweck solcher Gelder, abgesehen<br />

natürlich von der Kundschaft der Kneipen Zapata und Kommandantur.<br />

Kneipengeld: »Tr<strong>in</strong>kt mehr Bier! Wer Bier tr<strong>in</strong>kt hilft der landwirtschaft«<br />

Möglicherweise hatte man diese Sche<strong>in</strong>e vorab zu kaufen, um e<strong>in</strong>en Rabatt zu<br />

bekommen. Vielleicht ist auch e<strong>in</strong> Tausch-Arbeitssystem daran gekoppelt. Mythen<br />

können schnell aufkommen. Zum<strong>in</strong>dest kann es nicht lange funktioniert<br />

haben, da nach 1994 nichts mehr von diesem Geld zu hören war (außer den<br />

Nachdrucken im Jahre 2000).<br />

Wer’s glaubt, zahlt: den ebay-Preis für S<strong>am</strong>mler.


76. C<strong>am</strong>el Cash<br />

201<br />

Diese kle<strong>in</strong>e grüne C<strong>am</strong>el Cash-Note hat die Bezeichnung »1 C-Note« und die<br />

Beschreibung (unten rechts) »the funny money that’s no joke«. 1996 <strong>in</strong> den<br />

USA herausge<strong>geb</strong>en, konnte man e<strong>in</strong>en Katalog bekommen, <strong>in</strong> dem Waren an<strong>geb</strong>oten<br />

wurden. Dabei konnte die C-Note neben real dollars als Zahlungsmittel<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Da das kle<strong>in</strong>e grüne C<strong>am</strong>el Cash spars<strong>am</strong> verteilt wurde, diente es letztlich<br />

lediglich e<strong>in</strong>em Kaufanreiz, mit der Suggestion, e<strong>in</strong>en Teil ›geschenkt‹ zu bekommen.<br />

Oder noch genauer: wenn Ware X 7 Dollars kostete + 3 C-Notes, musste der<br />

kaufwillige Kunde, bevor er aus dem C<strong>am</strong>el-Katalog bestellen konnte, erst e<strong>in</strong>mal<br />

drei C<strong>am</strong>el-Zigarettenkäufe absolviert haben, um 3 C-Notes zu bekommen. Die<br />

drei ›Freipunkte‹ kauft sich der C<strong>am</strong>el-Kunde teuer e<strong>in</strong>.<br />

Alle<strong>in</strong> durch die suggerierte Exklusivität, nur mit den C<strong>am</strong>el Cash Notes<br />

bestimmte Waren erwerben zu können, bekommen die kle<strong>in</strong>en grünen Sche<strong>in</strong>e<br />

Wert: es ist Positionierungsgeld.<br />

Um spezifische Güter zu erwerben, die alle<strong>in</strong> deshalb, weil sie nicht frei<br />

käuflich s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> bestimmten Szenen added value bekommen, müssen C<strong>am</strong>el-<br />

Kunden Zigaretten kaufen, was ihnen über Gutsche<strong>in</strong>e prämiert wird, die ihnen<br />

exklusiven Güterzugang bescheren: d<strong>am</strong>it Zugang zu positional goods.<br />

Dass die Güter so exklusiv nicht s<strong>in</strong>d, weil man sie für den gewöhnlichen<br />

Zigarettenkonsum bekommt, vergessen die Kunden. Der kle<strong>in</strong>e dazwischengeschaltete<br />

grüne Sche<strong>in</strong> und das Verfahren, das besondere Aufwendungen suggeriert,<br />

signalisieren e<strong>in</strong>e Exklusivität, die natürlich ihr besonderes kle<strong>in</strong>es Geld<br />

braucht. Es zeigt: Du bist Mitglied e<strong>in</strong>er ganz besonderen Welt, die hochwertig<br />

ist, denn sie hat ihr eigenes Geld!


204<br />

79. funky money<br />

Geld erregt die Menschen, auch zu witzigen Formaten.<br />

geldsche<strong>in</strong>imitation<br />

Der 22-DM-Sche<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Werbesche<strong>in</strong> des e-commerce-Auktionshauses hood.<br />

de, das es <strong>in</strong>zwischen nicht mehr gibt.<br />

E<strong>in</strong>e andere Variante des Kle<strong>in</strong>geldes, der Schweizer 50er, erklärt sich selbst.<br />

Ich hatte diese Sche<strong>in</strong>e schon <strong>in</strong> der Schule zirkulieren sehen, aber jetzt bek<strong>am</strong><br />

ich e<strong>in</strong>en vor e<strong>in</strong> paar Jahren wieder <strong>in</strong> die Hand gedrückt: als Scherzgeld.<br />

Scherzgeld


Manche Sche<strong>in</strong>e, wie der »One Pesodoll«, s<strong>in</strong>d politische Sche<strong>in</strong>e:<br />

Texanischer One Pesodoll<br />

funky money 205<br />

Man simuliert e<strong>in</strong> virtuelles Geld e<strong>in</strong>er virtuellen »Independent Republic of<br />

Texas«, was e<strong>in</strong> wenig problematisch ist, da es Teile von Mexiko mit umfassen<br />

würde. Noch boshafter s<strong>in</strong>d die – <strong>in</strong> den USA erlaubten – Dollarkopien, wenn<br />

sie sich <strong>in</strong> unmittelbare Politikgeschichten e<strong>in</strong>mischen – wie hier zur Cl<strong>in</strong>ton-<br />

Affaire:<br />

Monica lew<strong>in</strong>sky als Motiv:<br />

»got milk?« fragten sich »The<br />

<strong>am</strong>used States of America«<br />

(Vorder- und Rückseite)


88. der Bart des Präsidenten<br />

»<strong>in</strong> god we trust«<br />

217<br />

»Me<strong>in</strong> Großvater k<strong>am</strong> auf e<strong>in</strong>em Boot aus Afghanistan nach Amerika. Er versteckte<br />

sich unter e<strong>in</strong>em Stapel Bananen. Er hatte e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong>en Penny gefunden<br />

und das Gesicht Abrah<strong>am</strong> L<strong>in</strong>colns darauf gesehen. Er betrachtete den<br />

Bart des Präsidenten und glaubte, er sei e<strong>in</strong> Heiliger. Was für e<strong>in</strong> wundervolles<br />

Land, <strong>in</strong> dem sie Heilige auf ihren Münzen haben, dachte der Großvater und<br />

machte sich auf den Weg.«<br />

(Yasm<strong>in</strong>e, New York, <strong>in</strong>: Fischermann / Gehrmann / Kaiser 2001, S. 20, Sp. 4 f.)

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