Wirtschafts-News I 2021 Wiesbaden
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Vorwort<br />
3<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
„Demut und Hoffnung“, stand groß über der vergangenen<br />
Ausgabe dieses Magazins. Im Rahmen einer Corona-<br />
Strecke sprachen wir mit vielen Menschen aus Mainz, die<br />
in besonderer Weise von der Pandemie betroffen sind<br />
oder mit ihr zu tun haben. Tatsächlich herrschte ungewohnte<br />
Einigkeit im Grundton. Von schmerzhaften Entbehrungen,<br />
absurden Kommunikationswegen, gar der<br />
Erosion ganzer Geschäftsfelder war da zu lesen. Doch<br />
ebenso deutlich wahrnehmbar war die Hoffnung aller auf<br />
ein nahendes Ende der Pandemie, ja mehr noch, auf eine<br />
bessere Zeit danach. Ein Kulturwandel in der Post-Corona-Zeit.<br />
Die Schlagbegriffe jener hoffnungsfrohen Gedanken<br />
lauten: Nachhaltigkeit, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit,<br />
Sorgfalt und Empathie im Umgang<br />
miteinander. Kurzum, die Welt werde ein besserer Ort.<br />
Doch kommt es tatsächlich dazu?<br />
Als Tiefenkrise mit disruptiver Wirkung beschreibt Gastautorin<br />
Stefanie Maasland die Pandemie und ihre Auswirkungen.<br />
Einen grundlegenden Diskurs bis hin zur<br />
essenziellen Fragestellung danach, wer wir eigentlich sind,<br />
hält sie für unabdingbar. Denn vor allen Dingen, schreibt<br />
sie, seien Top-Down-Lösungen nicht zu erwarten. Die<br />
Schlussfolgerung daraus benennt sie korrekterweise als<br />
das, was es ist: die Verantwortung jedes Einzelnen.<br />
Das ist gut und schlecht zu gleich. Gut, weil wir es direkt<br />
beeinflussen können, schlecht, weil es Verzicht und große<br />
Anstrengungen mit sich bringen wird. Denn es bedeutet<br />
nichts Geringeres, als einen Transformationsprozess, der,<br />
wie Steffanie Maasland schreibt, den gesamten Status<br />
Quo auf den Prüfstand stellt, da nur so ein wahrhafter<br />
Bewusstseinswandel möglich wäre. Die Ironie der Geschichte<br />
könnte also darin liegen, dass sich Verzicht,<br />
Anstrengungen und Einschränkungen, wie wir sie als<br />
Corona-Maßnahmen erlebt haben, unter anderen Paradigmen<br />
– und Formen – fortsetzen werden. Wie notwendig<br />
ein SUV als Drittwagen ist, wird sich dereinst herausstellen.<br />
Wie so oft, wird in der Folge ein Henne-Ei-Problem<br />
auftreten, wenn auch mit erwartbarem Ausgang. So ist<br />
nicht etwa mit einem vernunftsbedingtem Bewusstseinswandel<br />
zu rechnen, sondern mit gesetzlichen Reglementierungen,<br />
die – womöglich – viele Jahre darauf zu neuen<br />
Perspektiven führen. Vielleicht ist die Nuklearkatastrophe<br />
von Fukushima ein Beispiel dafür. Vor dem GAU war der<br />
Atomausstieg längst beschlossen, doch es folgte der<br />
Ausstieg vom Ausstieg. Erst der größt anzunehmende<br />
Unfall führte eine finale Entscheidung herbei – und selbst<br />
das bleibt abzuwarten, wirft man einen Blick in manches<br />
Parteiprogramm.<br />
Dass kollektive Vernunft nicht erst beim Drittwagen an<br />
ihre Grenzen stößt, sondern viel früher, weiter oben, bei<br />
der Grundgesetzgebung, zeigt sich dieser Tage bei der<br />
Impfreihenfolge und den Konsequenzen daraus. Das<br />
Ringen um Privilegien für Geimpfte hält einen schwer<br />
auflösbaren Konflikt bereit. Gestattet man Geimpften<br />
mehr Freiheiten zu, bevor jeder ein Impfangebot erhalten<br />
hat, verletzt man möglicherweise den Gleichheitsgrundsatz.<br />
Enthält man ihnen jedoch diese Freiheiten vor, kommt<br />
man dem Verhältnismäßigkeitsgebot nicht nach, geht<br />
man davon aus, dass sie weder für sich noch für andere<br />
eine Gefahr darstellen. Dieses Dilemma zeigt, an welcher<br />
Demarkationslinie sich jener Transformationsprozess<br />
abarbeitet: utilitaristische Interessen – das Wohlergehen<br />
aller – stehen gegen individuelle Interessen und Bestrebungen.<br />
Noch ein dystopischer Text werden Sie denken? Nein, gar<br />
nicht. Allein die Reflektion, die Erkenntnis um die Notwendigkeit<br />
eines Umdenkens halte ich für außerordentlich<br />
wertvoll. Und ohne Vision, ohne Bild, ohne Idee keine<br />
ersten Schritte, schon gar nicht dann, wenn sie so gewaltig<br />
sein müssen. Auch ein Wechselspiel zwischen<br />
Pragmatismus und Dogmatismus gehört dazu. Gewiss,<br />
mancher Grundsatz muss unumstößlich und unverhandelbar<br />
bleiben. Doch während die Küche brennt, sollte<br />
man die Speisekarte nicht neu schreiben.<br />
Grundvoraussetzung für einen guten Ausgang solcher<br />
Umwälzungen ist das Infragestellen eigener Entscheidungen,<br />
ja seiner selbst als Konsequenz der Eigenverantwortung.<br />
Dazu gehören schmerzhafte Prozesse der<br />
Selbsterkenntnis, der Fehlerhaftigkeit voller Irrung und<br />
Wirrung. Das etwa, was man Angela Merkel als Opportunismus<br />
auslegte, als sie ihren Kurs nach Fukushima<br />
anpasste. Nein, mehr denn je glaube ich, dass Glaubwürdigkeit<br />
ohne Selbstzweifel nicht auskommt.<br />
Kommt also ein Bewusstseinswandel mit der Post-Corona-Zeit?<br />
Auf jeden Fall! Aber vorher müssen wir durch<br />
den Flaschenhals.<br />
Haben Sie alle einen schönen Sommer, so befreit, wie es<br />
eben geht.<br />
Herzlichst,<br />
Ihr Bernd Wildemann