Wirtschafts-News I 2021 Wiesbaden
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„In der Krise bricht die<br />
Illusion zusammen“<br />
Nachhaltiger Wandel braucht eine „dialogische Haltung”<br />
Viele Menschen halten lange an Umständen und Verhaltensweisen fest, die für sie und die Umwelt<br />
schädlich sind. Braucht es erst Krisen, um Wandel zu ermöglichen? Warum können einige flexibler und<br />
innovativer mit Krisen umgehen als andere? Was braucht es für eine gesunde, nachhaltige Gesellschaft<br />
– außer Krisen? Ein Interview mit der Burn-out- und Resilienz-Expertin Dr. Mirriam Prieß.<br />
WN: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es,<br />
alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu<br />
hoffen, dass sich etwas ändert“, sagte Albert<br />
Einstein. In Ihrem Buch „Zeit für einen Spurwechsel“<br />
klären Sie über die Ursachen auf, die<br />
Menschen dazu bewegen, auf derselben Bahn<br />
zu bleiben, „obwohl es nicht funktioniert“ und<br />
unsere Beziehungen „schon lange nicht gelingen“.<br />
Adäquates können wir gerade auf der<br />
ganzen Welt beobachten. Insbesondere unsere<br />
Beziehung zur Natur scheint völlig aus dem<br />
Gleichgewicht. Warum<br />
braucht der Mensch oft<br />
erst schwere Krisen, um<br />
einen Wechsel auf die<br />
gesunde Bahn zu<br />
schaffen?<br />
Dr. Mirriam Prieß: Wesentliche<br />
Veränderung<br />
findet nie an einem son-<br />
nigen Tag im Mai statt,<br />
sondern meist erst<br />
unter schärfstem Leid. Erst dann ist der Mensch<br />
bereit, auf das zu verzichten, was er bis dahin für<br />
seine Identität oder Teil seiner Identität gehalten<br />
hat. Kranke Haltungen oder Verhaltensweisen<br />
abzulegen bedeutet, sich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen,<br />
aus dem sie sich entwickelt<br />
haben – und gleichzeitig eine neue Alternative zu<br />
entwickeln. Auch wenn ich spüre, dass ich in der<br />
falschen Lebensspur bin, heißt es noch nicht, dass<br />
ich eine Alternative weiß. Häufig ist das Falsche<br />
meine einzige Alternative, die ich besitze, weil ich<br />
nichts anderes gelernt habe.<br />
Falsches Leben und Handeln entsteht aus Kränkung,<br />
auf deren Boden ich so lange weiter handeln<br />
muss, bis ich bereit bin, die zu Grunde liegende<br />
Verletzung aufzuarbeiten.<br />
Viele scheuen sich davor,<br />
den Schmerz zu fühlen und<br />
bleiben deswegen lieber in<br />
einer Situation oder Verhaltensweise,<br />
die zwar nicht wirklich stimmig ist<br />
– aber immer noch besser erscheint als der verdrängte<br />
Schmerz oder das Ungewisse.<br />
Vor diesem Hintergrund ist es genauso wie Sie<br />
sagen, erst scharfes Leid führt dazu, dass ich<br />
mich dem Leid in mir aufarbeitend zuwende<br />
– weil es in dem Moment alternativlos ist. Erst<br />
wenn ich im Außen mit unausweichlichem Leid<br />
konfrontiert werde, bin ich bereit, mich dem<br />
inneren Leid zuzuwenden, was ich durch un-<br />
„die Krise legt den<br />
Finger in verdrängte<br />
Wunden”<br />
Dr. Mirriam Prieß<br />
Ärztin, Beraterin und Buchautorin