altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Mai/Juni 2021
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Auch bei Schneefall und Minus 18 Grad!<br />
Ambulante Pflege mit dem E-Bike<br />
Hohenpeißenberg | Benjamin Siegl<br />
hatte als Kind einen großen Traum<br />
gehabt: Mountainbike-Profi wer<strong>den</strong>.<br />
„Jetzt habe ich es doch noch<br />
geschafft, werde <strong>für</strong>s Fahrradfahren<br />
bezahlt“, sagt der heute 51-Jährige,<br />
und fängt in diesem Moment lauthals<br />
zu lachen an. Profivertrag hat<br />
er keinen unterzeichnet, da<strong>für</strong> einen<br />
Arbeitsvertrag bei der Ökumenischen<br />
Sozialstation Oberbayern<br />
am Standort Peißenberg. Seit 2018<br />
arbeitet er dort als ambulanter Pfleger.<br />
„Und gleich im ersten Monat,<br />
erstmal ohne jemandem davon zu<br />
erzählen, habe ich es ausprobiert.“<br />
Was er damit meint: Alle neun Klienten,<br />
die er täglich betreut, nicht<br />
wie üblich mit dem Auto, sondern<br />
per Fahrrad anzufahren. „Ich war<br />
selbst überrascht darüber, dass ich<br />
<strong>für</strong> die 35 Kilometer weite Tour mit<br />
dem Fahrrad nur eine viertel Stunde<br />
länger gebraucht habe als mit<br />
dem Auto.“ Daraufhin nahm er all<br />
seinen Mut zusammen, beichtete<br />
die heimliche berufliche Radeltour<br />
Erst die Schlüssel holen, dann gleich<br />
im Smartphone dokumentieren.<br />
56 | <strong>altlandkreis</strong><br />
seiner Chefin und hoffte eigentlich<br />
nur, keinen Ärger zu bekommen.<br />
Wiederfahren ist ihm letztlich genau<br />
das Gegenteil. Claudia Hörbrand,<br />
Leiterin der Ökumenischen<br />
Sozialstation Oberland, war derart<br />
begeistert, dass sie ihm sofortige<br />
Unterstützung zusicherte, sogar ein<br />
E-Bike kaufte. <strong>Das</strong> war im Herbst<br />
2019. Seither erledigt Benjamin<br />
Siegl seinen Job tagein tagaus mit<br />
dem Fahrrad. „Natürlich ist E-Bike-<br />
Fahren in Sachen Anstrengung<br />
nichts gegen richtiges Radfahren.“<br />
Trotzdem wäre es <strong>für</strong> die meisten<br />
seiner Kollegen unvorstellbar, sich<br />
täglich in aller Herrgottsfrüh bei<br />
Wind und Wetter auf <strong>den</strong> Drahtesel<br />
zu schwingen.<br />
10 000 Kilometer<br />
im ersten Jahr<br />
Los geht’s <strong>für</strong> Benjamin Siegl meistens<br />
um sechs Uhr in der Früh an<br />
seinem Wohnhaus in Hohenpeißenberg.<br />
Parallel zur Bundesstraße<br />
fährt er hinunter nach Peißenberg,<br />
biegt nach links ab in die<br />
Hauptstraße, bis hin zur Hausnummer<br />
77, zum Sitz der Ökumenischen<br />
Sozialstation. Dort<br />
holt er Betriebshandy und Haustürschlüssel<br />
seiner Klienten aus<br />
einem Sicherheitsspint, schwingt<br />
sich anschließend wieder aufs<br />
Rad und fährt <strong>den</strong> ersten pflegebedürftigen<br />
Rentner an. „Heut<br />
sind’s aber nicht mitm Radl da,<br />
bei dem Sauwetter!?“, bekommt<br />
er immer wieder zu hören. „Natürlich,<br />
wie je<strong>den</strong> Tag“, so seine<br />
Antwort. Tatsächlich ist Benjamin<br />
Siegl nur vier Mal nicht mit<br />
dem Rad unterwegs gewesen.<br />
„Zwei Tage, weil ich nach einer<br />
Grippe noch nicht fit genug war.<br />
Einmal, weil mich eine Auszubil<strong>den</strong>de<br />
begleiten durfte. Und ein<br />
weiteres Mal war das Wetter anhaltend<br />
richtig schlecht.“ Wobei letzteres<br />
kein wirklicher Grund <strong>für</strong> ihn<br />
ist, ins Auto zu steigen. Schneefall,<br />
minus 18 Grad, blankes Eis unter<br />
der obersten Schicht? „An solchen<br />
Tagen ist es schon hart.“ Aber es<br />
härtet auch ab, stärkt das Immunsystem<br />
und hält fit. Was Benjamin<br />
Siegl wirklich stört sind die zahlreichen<br />
rücksichtslosen Autofahrer.<br />
„Die erkennen mich, schauen mir<br />
sogar in die Augen, und nehmen<br />
mir dann trotzdem die Vorfahrt.“<br />
<strong>Das</strong>s bislang nichts Schlimmeres<br />
passierte, ist seiner vorsichtigen<br />
Fahrweise zu verdanken. „Immer<br />
vorausschauend und bremsbereit.“<br />
Wie viele Kilometer er insgesamt<br />
zurücklegt, zeichnet sein Tachometer<br />
feinsäuberlich auf. Die Bilanz<br />
nach dem ersten Jahr als fahrradfahrender<br />
Pfleger: knapp 10 000<br />
Kilometer.<br />
15-Stun<strong>den</strong>-Arbeitstage<br />
als Intensivpfleger<br />
Bis vor gut drei Jahren, als er noch<br />
<strong>für</strong> einen privaten Intensivpflegedienst<br />
in München gearbeitet<br />
hat, legte er mehr als drei Mal so<br />
viele Kilometer zurück. Allerdings<br />
mit dem Auto. „Was mich mental<br />
und körperlich an meine Grenzen<br />
gebracht hat.“ 15-Stun<strong>den</strong>-Arbeitstage<br />
seien völlig normal gewesen.<br />
„Ich musste regelmäßig auf dem<br />
Nachhauseweg rechts ran, bin oft<br />
noch mit <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> am Lenkrad<br />
eingeschlafen.“ Personalmangel,<br />
schlechte Bezahlung und verdammt<br />
viele Überstun<strong>den</strong> stan<strong>den</strong><br />
damals auf der Tagesordnung. Die<br />
deutlich kürzeren Wege sowie die<br />
ständige Bewegung an der frischen<br />
Luft fühlen sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> verheirateten<br />
Vater von zwei Kindern nun<br />
an wie ein neues Leben. Die in der<br />
Allgemeinheit immer wieder kolportierten<br />
Missstände in der Pflege<br />
sind ihm trotzdem und nach wie vor<br />
ein Dorn im Auge. Mehr Zeit, weniger<br />
Bürokratie und eine bessere<br />
Bezahlung wären in Siegls Augen<br />
dringend notwendig, um allseits<br />
bekannte Missstände in der Pflege<br />
zu beheben. Der von der Regierung<br />
einmalig ausgezahlte Corona-Bonus<br />
<strong>für</strong> Pflegekräfte über 1 000 Euro<br />
sei zwar schön, aber letztlich auch<br />
nur ein Tropfen auf <strong>den</strong> heißen<br />
Stein gewesen. „Man muss sich<br />
halt die Frage stellen: Wie viel ist<br />
unserer Gesellschaft das Wohlbefin<strong>den</strong><br />
eines Menschen wert?“ <strong>Das</strong>s<br />
Benjamin Siegl von einigen seiner<br />
Klienten immer wieder gesagt bekommt,<br />
wie sehr sie ihn und seine<br />
Arbeit schätzen, wie viel lieber sie<br />
ihn haben im Vergleich zu deren<br />
eigenen Familienangehörigen, ehrt<br />
<strong>den</strong> einst gelernten Industriemechaniker<br />
und vorherigen Intensivpfleger.<br />
Andererseits stimmt es ihn<br />
auch traurig, weil es zeigt, wie alte,<br />
hilfsbedürftige Menschen oft links<br />
Letzte Kontrolle, damit alle gen Unterlagen dabei<br />
wichtisind.<br />
liegengelassen wer<strong>den</strong>. Letzteres<br />
war damals ausschlaggebend <strong>für</strong><br />
ihn, nach seiner handwerklichen<br />
Ausbildung in der Industrie einen<br />
Pflegeberuf zu erlernen. „Meine<br />
Mutter war schwer krank, ist früh<br />
gestorben und hat mir noch gesagt,<br />
dass ich es besser machen soll.“<br />
Von diesem Moment an wollte<br />
Benjamin Siegl Pfleger wer<strong>den</strong>.<br />
Wie viel Zeit und Empathie Benjamin<br />
Siegl seinen Klienten mitbringt,<br />
„hängt leider nicht nur davon<br />
ab, was mein Klient an Hilfe<br />
und Pflege braucht, sondern was<br />
uns die Krankenkasse an Tätigkeiten<br />
bezahlt“. Blutzuckermessen<br />
und Spritze geben sei in fünf Minuten<br />
erledigt. Waschen und Wundverband<br />
wechseln könne durchaus<br />
45 bis 60 Minuten in Anspruch<br />
Benjamin Siegl muss <strong>den</strong> regen Straßenverkehr immer im Blick haben.