23.04.2021 Aufrufe

altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Mai/Juni 2021

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Auch bei Schneefall und Minus 18 Grad!<br />

Ambulante Pflege mit dem E-Bike<br />

Hohenpeißenberg | Benjamin Siegl<br />

hatte als Kind einen großen Traum<br />

gehabt: Mountainbike-Profi wer<strong>den</strong>.<br />

„Jetzt habe ich es doch noch<br />

geschafft, werde <strong>für</strong>s Fahrradfahren<br />

bezahlt“, sagt der heute 51-Jährige,<br />

und fängt in diesem Moment lauthals<br />

zu lachen an. Profivertrag hat<br />

er keinen unterzeichnet, da<strong>für</strong> einen<br />

Arbeitsvertrag bei der Ökumenischen<br />

Sozialstation Oberbayern<br />

am Standort Peißenberg. Seit 2018<br />

arbeitet er dort als ambulanter Pfleger.<br />

„Und gleich im ersten Monat,<br />

erstmal ohne jemandem davon zu<br />

erzählen, habe ich es ausprobiert.“<br />

Was er damit meint: Alle neun Klienten,<br />

die er täglich betreut, nicht<br />

wie üblich mit dem Auto, sondern<br />

per Fahrrad anzufahren. „Ich war<br />

selbst überrascht darüber, dass ich<br />

<strong>für</strong> die 35 Kilometer weite Tour mit<br />

dem Fahrrad nur eine viertel Stunde<br />

länger gebraucht habe als mit<br />

dem Auto.“ Daraufhin nahm er all<br />

seinen Mut zusammen, beichtete<br />

die heimliche berufliche Radeltour<br />

Erst die Schlüssel holen, dann gleich<br />

im Smartphone dokumentieren.<br />

56 | <strong>altlandkreis</strong><br />

seiner Chefin und hoffte eigentlich<br />

nur, keinen Ärger zu bekommen.<br />

Wiederfahren ist ihm letztlich genau<br />

das Gegenteil. Claudia Hörbrand,<br />

Leiterin der Ökumenischen<br />

Sozialstation Oberland, war derart<br />

begeistert, dass sie ihm sofortige<br />

Unterstützung zusicherte, sogar ein<br />

E-Bike kaufte. <strong>Das</strong> war im Herbst<br />

2019. Seither erledigt Benjamin<br />

Siegl seinen Job tagein tagaus mit<br />

dem Fahrrad. „Natürlich ist E-Bike-<br />

Fahren in Sachen Anstrengung<br />

nichts gegen richtiges Radfahren.“<br />

Trotzdem wäre es <strong>für</strong> die meisten<br />

seiner Kollegen unvorstellbar, sich<br />

täglich in aller Herrgottsfrüh bei<br />

Wind und Wetter auf <strong>den</strong> Drahtesel<br />

zu schwingen.<br />

10 000 Kilometer<br />

im ersten Jahr<br />

Los geht’s <strong>für</strong> Benjamin Siegl meistens<br />

um sechs Uhr in der Früh an<br />

seinem Wohnhaus in Hohenpeißenberg.<br />

Parallel zur Bundesstraße<br />

fährt er hinunter nach Peißenberg,<br />

biegt nach links ab in die<br />

Hauptstraße, bis hin zur Hausnummer<br />

77, zum Sitz der Ökumenischen<br />

Sozialstation. Dort<br />

holt er Betriebshandy und Haustürschlüssel<br />

seiner Klienten aus<br />

einem Sicherheitsspint, schwingt<br />

sich anschließend wieder aufs<br />

Rad und fährt <strong>den</strong> ersten pflegebedürftigen<br />

Rentner an. „Heut<br />

sind’s aber nicht mitm Radl da,<br />

bei dem Sauwetter!?“, bekommt<br />

er immer wieder zu hören. „Natürlich,<br />

wie je<strong>den</strong> Tag“, so seine<br />

Antwort. Tatsächlich ist Benjamin<br />

Siegl nur vier Mal nicht mit<br />

dem Rad unterwegs gewesen.<br />

„Zwei Tage, weil ich nach einer<br />

Grippe noch nicht fit genug war.<br />

Einmal, weil mich eine Auszubil<strong>den</strong>de<br />

begleiten durfte. Und ein<br />

weiteres Mal war das Wetter anhaltend<br />

richtig schlecht.“ Wobei letzteres<br />

kein wirklicher Grund <strong>für</strong> ihn<br />

ist, ins Auto zu steigen. Schneefall,<br />

minus 18 Grad, blankes Eis unter<br />

der obersten Schicht? „An solchen<br />

Tagen ist es schon hart.“ Aber es<br />

härtet auch ab, stärkt das Immunsystem<br />

und hält fit. Was Benjamin<br />

Siegl wirklich stört sind die zahlreichen<br />

rücksichtslosen Autofahrer.<br />

„Die erkennen mich, schauen mir<br />

sogar in die Augen, und nehmen<br />

mir dann trotzdem die Vorfahrt.“<br />

<strong>Das</strong>s bislang nichts Schlimmeres<br />

passierte, ist seiner vorsichtigen<br />

Fahrweise zu verdanken. „Immer<br />

vorausschauend und bremsbereit.“<br />

Wie viele Kilometer er insgesamt<br />

zurücklegt, zeichnet sein Tachometer<br />

feinsäuberlich auf. Die Bilanz<br />

nach dem ersten Jahr als fahrradfahrender<br />

Pfleger: knapp 10 000<br />

Kilometer.<br />

15-Stun<strong>den</strong>-Arbeitstage<br />

als Intensivpfleger<br />

Bis vor gut drei Jahren, als er noch<br />

<strong>für</strong> einen privaten Intensivpflegedienst<br />

in München gearbeitet<br />

hat, legte er mehr als drei Mal so<br />

viele Kilometer zurück. Allerdings<br />

mit dem Auto. „Was mich mental<br />

und körperlich an meine Grenzen<br />

gebracht hat.“ 15-Stun<strong>den</strong>-Arbeitstage<br />

seien völlig normal gewesen.<br />

„Ich musste regelmäßig auf dem<br />

Nachhauseweg rechts ran, bin oft<br />

noch mit <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> am Lenkrad<br />

eingeschlafen.“ Personalmangel,<br />

schlechte Bezahlung und verdammt<br />

viele Überstun<strong>den</strong> stan<strong>den</strong><br />

damals auf der Tagesordnung. Die<br />

deutlich kürzeren Wege sowie die<br />

ständige Bewegung an der frischen<br />

Luft fühlen sich <strong>für</strong> <strong>den</strong> verheirateten<br />

Vater von zwei Kindern nun<br />

an wie ein neues Leben. Die in der<br />

Allgemeinheit immer wieder kolportierten<br />

Missstände in der Pflege<br />

sind ihm trotzdem und nach wie vor<br />

ein Dorn im Auge. Mehr Zeit, weniger<br />

Bürokratie und eine bessere<br />

Bezahlung wären in Siegls Augen<br />

dringend notwendig, um allseits<br />

bekannte Missstände in der Pflege<br />

zu beheben. Der von der Regierung<br />

einmalig ausgezahlte Corona-Bonus<br />

<strong>für</strong> Pflegekräfte über 1 000 Euro<br />

sei zwar schön, aber letztlich auch<br />

nur ein Tropfen auf <strong>den</strong> heißen<br />

Stein gewesen. „Man muss sich<br />

halt die Frage stellen: Wie viel ist<br />

unserer Gesellschaft das Wohlbefin<strong>den</strong><br />

eines Menschen wert?“ <strong>Das</strong>s<br />

Benjamin Siegl von einigen seiner<br />

Klienten immer wieder gesagt bekommt,<br />

wie sehr sie ihn und seine<br />

Arbeit schätzen, wie viel lieber sie<br />

ihn haben im Vergleich zu deren<br />

eigenen Familienangehörigen, ehrt<br />

<strong>den</strong> einst gelernten Industriemechaniker<br />

und vorherigen Intensivpfleger.<br />

Andererseits stimmt es ihn<br />

auch traurig, weil es zeigt, wie alte,<br />

hilfsbedürftige Menschen oft links<br />

Letzte Kontrolle, damit alle gen Unterlagen dabei<br />

wichtisind.<br />

liegengelassen wer<strong>den</strong>. Letzteres<br />

war damals ausschlaggebend <strong>für</strong><br />

ihn, nach seiner handwerklichen<br />

Ausbildung in der Industrie einen<br />

Pflegeberuf zu erlernen. „Meine<br />

Mutter war schwer krank, ist früh<br />

gestorben und hat mir noch gesagt,<br />

dass ich es besser machen soll.“<br />

Von diesem Moment an wollte<br />

Benjamin Siegl Pfleger wer<strong>den</strong>.<br />

Wie viel Zeit und Empathie Benjamin<br />

Siegl seinen Klienten mitbringt,<br />

„hängt leider nicht nur davon<br />

ab, was mein Klient an Hilfe<br />

und Pflege braucht, sondern was<br />

uns die Krankenkasse an Tätigkeiten<br />

bezahlt“. Blutzuckermessen<br />

und Spritze geben sei in fünf Minuten<br />

erledigt. Waschen und Wundverband<br />

wechseln könne durchaus<br />

45 bis 60 Minuten in Anspruch<br />

Benjamin Siegl muss <strong>den</strong> regen Straßenverkehr immer im Blick haben.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!