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altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Mai/Juni 2021

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Schongau | <strong>Das</strong> Leben von Jost Herrmann<br />

ist „voll und abwechslungsreich“.<br />

Vor seiner Tätigkeit als Pfarrer<br />

<strong>für</strong> die Evangelisch-Lutherische<br />

Kirchengemeinde in Schongau und<br />

Umgebung war der 57-Jährige Ehrenamtskoordinator<br />

<strong>für</strong> alle Asylunterstützerkreise<br />

im Landkreis Weilheim-Schongau,<br />

davor Pfarrer in<br />

Weilheim, Pretoria und Rosenheim<br />

sowie Vikar in Lin<strong>den</strong>berg. Im großen<br />

Interview auf der Roten Couch<br />

spricht der aus Freising stammende<br />

Weltenbummler, Integrationsexperte<br />

und Familienmensch über<br />

regelmäßige Kontakte mit Innenminister<br />

Joachim Herrmann, das<br />

derzeit größte Problem in Sachen<br />

Flüchtlingshilfe und die erstaunliche<br />

Tatsache, dass die Evangelische<br />

Kirche ähnlich viele Austritte zu<br />

verkraften hat wie die Katholische –<br />

ganz ohne diese aktuellen Diskussionen<br />

um Missbrauchsskandal und<br />

Zölibat.<br />

Herr Herrmann, warum sind Sie<br />

Pfarrer gewor<strong>den</strong>?<br />

Ich stamme aus einem kirchlich<br />

geprägten Elternhaus – mein Vater<br />

war Pfarrerssohn. Tischgebet, Lesen<br />

in der Kinderbibel und Besuch<br />

des Kindergottesdienstes haben<br />

mich von klein auf begleitet. Ich<br />

hatte einen guten Religionslehrer,<br />

der uns herausgefordert und zum<br />

Nach<strong>den</strong>ken angeregt hat. Unser<br />

Gemeindepfarrer hat mich geprägt,<br />

der mich zur Evangelischen<br />

Jugend in Freising brachte, wo ich<br />

eine geistliche Heimat fand. Und<br />

auch der Kirchentag sowie Taizé<br />

spielten eine wichtige Rolle in meinem<br />

Glaubensleben. Taizé, wer es<br />

nicht kennt, ist eine ökumenische<br />

Bruderschaft in Südfrankreich.<br />

Zigtausende Jugendliche aus aller<br />

Welt kommen das ganze Jahr über<br />

dort zusammen. Dieser Ort weckte<br />

meine ökumenische Offenheit, das<br />

Interesse an anderen Kulturen, sowie<br />

mein Faible <strong>für</strong> Jugendarbeit<br />

und Musik. Letztlich habe ich mich<br />

schon früh, mit 15 oder 16, <strong>für</strong> diesen<br />

Weg entschie<strong>den</strong>.<br />

Wären Sie auch Pfarrer gewor<strong>den</strong>,<br />

wenn es in der evangelischen Kirche<br />

das Zölibat gäbe?<br />

Wohl nicht. Klar, es gibt durchaus<br />

plausible Gründe, die <strong>für</strong> das Zölibat<br />

sprechen, beispielsweise dass<br />

man sich komplett und ohne Ablenkung<br />

auf seine Arbeit, auf seine<br />

Kirchengemeinde konzentrieren<br />

kann. Ich erfahre jedoch, wie meine<br />

Familie mich in meinem Beruf<br />

stärkt und wie bereichernd es auch<br />

<strong>für</strong> die Gemeinde sein kann, wenn<br />

sich die Familie in der Kirchengemeinde<br />

einbringt. Zeit <strong>für</strong> die Familie,<br />

trotz 60, 70 Stun<strong>den</strong> Arbeit<br />

die Woche, hatte ich trotzdem immer<br />

gehabt.<br />

Ein Paradebeispiel <strong>für</strong> kirchliches<br />

Familien-Engagement: Der Online-<br />

Karfreitagsgottesdienst aus der Basilika.<br />

Meine Tochter, Absolventin einer<br />

Schauspielschule, übernahm die<br />

Lesung. Mein Sohn spielte Bass.<br />

Meine Frau spielte Flöte und sang.<br />

Ich predigte. So viele Personen aus<br />

verschie<strong>den</strong>en Haushalten als Mitwirkende<br />

wären aufgrund Corona<br />

nicht erlaubt gewesen.<br />

Unabhängig davon: Worin unterscheidet<br />

sich die Evangelisch-Lutherische<br />

Kirche im Wesentlichen<br />

von der Römisch-Katholischen?<br />

Zunächst möchte ich betonen, dass<br />

die Gemeinsamkeiten bei weitem<br />

überwiegen. Der wesentliche Unterschied<br />

liegt in der Kirchenstruktur.<br />

Bei uns wählt die Gemeinde<br />

<strong>den</strong> Kirchenvorstand, der wiederum<br />

die Landessynode. Diese macht<br />

letztlich die Kirchengesetze. Die<br />

Katholische Kirche dagegen ist hierarchisch,<br />

von oben nach unten<br />

strukturiert. Der Papst bestimmt<br />

letztendlich über das kirchliche<br />

Leben weltweit. Bemerkenswert<br />

ist gerade der Protest in Bezug auf<br />

die Segnung homosexueller Paare.<br />

Und auch das Amtsverständnis ist<br />

ein großer Unterschied. Bei der<br />

Weihe erfahren die Priester eine<br />

geistliche Wesensverwandlung.<br />

Glaube, Flüchtlinge, Auslandserfahrung? Jost Herrmann (re.) bekam von<br />

„<strong>altlandkreis</strong>“-Redakteur Johannes Schelle jede Menge Fragen gestellt.<br />

Bei der evangelischen Ordination<br />

dagegen bekommen die Pfarrer<br />

und Pfarrerinnen eine besondere<br />

Aufgabe. Interessant ist: Was<br />

damals unter Martin Luther zur<br />

Glaubensspaltung geführt hatte,<br />

ist heutzutage nicht mehr kirchentrennend.<br />

1999 unterschrieben die<br />

bei<strong>den</strong> großen Kirchen in Augsburg<br />

die gemeinsame Erklärung<br />

zur Rechtfertigungslehre. Allein<br />

durch Gnade kommt man zu Gott,<br />

nicht durch Werke.<br />

Erstaunlich ist: Zölibat und Missbrauchsskandal<br />

sind nachvollziehbare<br />

Gründe <strong>für</strong> ansteigende Austritte<br />

aus der Katholischen Kirche.<br />

Aus der Evangelischen Kirche treten<br />

seit Jahren jedoch ähnlich viele<br />

„Gläubige“ aus, obwohl sie wesentlich<br />

weltoffener ist. Woran liegt’s?<br />

Ganz platt gesagt: Aus der Katholischen<br />

Kirche treten Menschen aus,<br />

weil sie sich über etwas ärgern.<br />

Aus der Evangelischen Kirche eher<br />

aufgrund der Frage: Warum bin<br />

ich eigentlich noch dabei? Insofern<br />

müssen wir wieder stärker evangelisches<br />

Profil zeigen. Wichtig zu<br />

wissen: Wir profitieren nicht von<br />

<strong>den</strong> Turbulenzen der Katholischen<br />

Kirche. Wir sind sozusagen keine<br />

Konkurrenten, sondern „Glieder an<br />

dem einen Leib Christi“. Man kann<br />

sagen: Geht’s der Katholischen Kirche<br />

schlecht, trifft uns das auch.<br />

Ein Drittel aller Menschen verlassen<br />

uns, weil sie mit dem Papst<br />

nicht zufrie<strong>den</strong> sind. Hier wird gar<br />

nicht mehr unterschie<strong>den</strong> zwischen<br />

evangelisch und katholisch.<br />

Sie werben mit „Eintritt. Ein<br />

Schritt.“ Gibt es Menschen, die in<br />

der heutigen Zeit nicht aus-, sondern<br />

eintreten?<br />

Im vergangenen Jahr hatten wir<br />

35 Austritte und acht Eintritte. Immerhin.<br />

Jedes Austrittsformular,<br />

das mir die Sekretärin vorlegt,<br />

schmerzt.<br />

Viele „Aussteiger“ sagen: Glaube<br />

ja, aber nicht mit der Kirche. Funktioniert<br />

das überhaupt?<br />

Natürlich kann man tiefe Glaubenserfahrungen<br />

in der Natur, zum<br />

Beispiel im Wald oder auf dem<br />

Berg machen. Aber zum Glauben<br />

gehört <strong>für</strong> mich ganz klar die Gemeinschaft,<br />

die einen trägt, die<br />

einen hinterfragt, die Orientierung<br />

gibt, mit der man sich solidarisch<br />

zeigt. Glaube ohne die Institution<br />

Kirche ist vielleicht möglich, Glaube<br />

ohne Gemeinschaft nicht. Nichtsdestotrotz<br />

gibt es natürlich auch<br />

außerhalb der Kirchen, außerhalb<br />

des christlichen Glaubens, beeindruckende<br />

Menschen, die sich mit<br />

hohen moralischen Ansprüchen<br />

und großem sozialen Engagement<br />

in die Gesellschaft einbringen.<br />

Droht der Christliche Glaube auszusterben?<br />

Nein. Christus ist der Herr der<br />

Kirche. Er wird sie nicht untergehen<br />

lassen. Und doch gibt es<br />

natürlich immer wieder Wellenbewegungen.<br />

In <strong>den</strong> 1970er und<br />

1980er Jahren war sehr viel möglich.<br />

Zahlreiche Pfarrstellen wur<strong>den</strong><br />

neu geschaffen. Jetzt gehen<br />

die finanziellen und personellen<br />

Ressourcen zurück. Daher wer<strong>den</strong><br />

die Kirchengemein<strong>den</strong> ihr Gesicht<br />

verändern. Auch wir in der Region<br />

wer<strong>den</strong> Pfarrstellen verlieren und<br />

nicht mehr das anbieten können,<br />

was uns eigentlich wichtig wäre.<br />

Klar, da ist das Grundprogramm:<br />

Gottesdienste, Taufen, Trauungen,<br />

Seelsorge, Beerdigungen, Schulund<br />

Konfirman<strong>den</strong>unterricht. Auch<br />

gute Öffentlichkeitsarbeit ist unbedingt<br />

notwendig. Darüber hinaus<br />

müssen wir in Zukunft uns in unserer<br />

Gemeindearbeit auf Wichtiges<br />

konzentrieren und uns fragen:<br />

Wo schlägt unser Herz? Wo sind<br />

wir gut? Was können andere in der<br />

Region abdecken? Was müssen wir<br />

ganz sein lassen? Gut zu wissen ist<br />

aber, dass viele christliche Werte<br />

wie Solidarität, Barmherzigkeit,<br />

Gerechtigkeit und Einsatz <strong>für</strong> die<br />

Bewahrung der Schöpfung tief<br />

in unserer Gesellschaft verankert<br />

sind, auch außerhalb der Kirche.<br />

Wie wichtig ist der „Glaube an<br />

Gott“ gerade in Krisenzeiten wie<br />

dieser?<br />

Sehr wichtig. Wir versuchen Hoffnung<br />

und Vertrauen weiterzugeben<br />

– trotz allem. <strong>Das</strong> ist momentan,<br />

aufgrund Corona, ohne<br />

regelmäßige soziale Kontakte,<br />

natürlich schwierig. Wir machen<br />

viele gute, kreative Projekte online,<br />

haben im digitalen Bereich viel dazugelernt.<br />

Und trotzdem fehlt uns<br />

die direkte Begegnung mit Menschen<br />

enorm.<br />

Vor Ihrem Dienst in Schongau<br />

waren Sie hauptamtlicher Ehrenamtskoordinator<br />

<strong>für</strong> Asylunterstüt-<br />

10 | <strong>altlandkreis</strong>

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