altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Mai/Juni 2021
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Schongau | <strong>Das</strong> Leben von Jost Herrmann<br />
ist „voll und abwechslungsreich“.<br />
Vor seiner Tätigkeit als Pfarrer<br />
<strong>für</strong> die Evangelisch-Lutherische<br />
Kirchengemeinde in Schongau und<br />
Umgebung war der 57-Jährige Ehrenamtskoordinator<br />
<strong>für</strong> alle Asylunterstützerkreise<br />
im Landkreis Weilheim-Schongau,<br />
davor Pfarrer in<br />
Weilheim, Pretoria und Rosenheim<br />
sowie Vikar in Lin<strong>den</strong>berg. Im großen<br />
Interview auf der Roten Couch<br />
spricht der aus Freising stammende<br />
Weltenbummler, Integrationsexperte<br />
und Familienmensch über<br />
regelmäßige Kontakte mit Innenminister<br />
Joachim Herrmann, das<br />
derzeit größte Problem in Sachen<br />
Flüchtlingshilfe und die erstaunliche<br />
Tatsache, dass die Evangelische<br />
Kirche ähnlich viele Austritte zu<br />
verkraften hat wie die Katholische –<br />
ganz ohne diese aktuellen Diskussionen<br />
um Missbrauchsskandal und<br />
Zölibat.<br />
Herr Herrmann, warum sind Sie<br />
Pfarrer gewor<strong>den</strong>?<br />
Ich stamme aus einem kirchlich<br />
geprägten Elternhaus – mein Vater<br />
war Pfarrerssohn. Tischgebet, Lesen<br />
in der Kinderbibel und Besuch<br />
des Kindergottesdienstes haben<br />
mich von klein auf begleitet. Ich<br />
hatte einen guten Religionslehrer,<br />
der uns herausgefordert und zum<br />
Nach<strong>den</strong>ken angeregt hat. Unser<br />
Gemeindepfarrer hat mich geprägt,<br />
der mich zur Evangelischen<br />
Jugend in Freising brachte, wo ich<br />
eine geistliche Heimat fand. Und<br />
auch der Kirchentag sowie Taizé<br />
spielten eine wichtige Rolle in meinem<br />
Glaubensleben. Taizé, wer es<br />
nicht kennt, ist eine ökumenische<br />
Bruderschaft in Südfrankreich.<br />
Zigtausende Jugendliche aus aller<br />
Welt kommen das ganze Jahr über<br />
dort zusammen. Dieser Ort weckte<br />
meine ökumenische Offenheit, das<br />
Interesse an anderen Kulturen, sowie<br />
mein Faible <strong>für</strong> Jugendarbeit<br />
und Musik. Letztlich habe ich mich<br />
schon früh, mit 15 oder 16, <strong>für</strong> diesen<br />
Weg entschie<strong>den</strong>.<br />
Wären Sie auch Pfarrer gewor<strong>den</strong>,<br />
wenn es in der evangelischen Kirche<br />
das Zölibat gäbe?<br />
Wohl nicht. Klar, es gibt durchaus<br />
plausible Gründe, die <strong>für</strong> das Zölibat<br />
sprechen, beispielsweise dass<br />
man sich komplett und ohne Ablenkung<br />
auf seine Arbeit, auf seine<br />
Kirchengemeinde konzentrieren<br />
kann. Ich erfahre jedoch, wie meine<br />
Familie mich in meinem Beruf<br />
stärkt und wie bereichernd es auch<br />
<strong>für</strong> die Gemeinde sein kann, wenn<br />
sich die Familie in der Kirchengemeinde<br />
einbringt. Zeit <strong>für</strong> die Familie,<br />
trotz 60, 70 Stun<strong>den</strong> Arbeit<br />
die Woche, hatte ich trotzdem immer<br />
gehabt.<br />
Ein Paradebeispiel <strong>für</strong> kirchliches<br />
Familien-Engagement: Der Online-<br />
Karfreitagsgottesdienst aus der Basilika.<br />
Meine Tochter, Absolventin einer<br />
Schauspielschule, übernahm die<br />
Lesung. Mein Sohn spielte Bass.<br />
Meine Frau spielte Flöte und sang.<br />
Ich predigte. So viele Personen aus<br />
verschie<strong>den</strong>en Haushalten als Mitwirkende<br />
wären aufgrund Corona<br />
nicht erlaubt gewesen.<br />
Unabhängig davon: Worin unterscheidet<br />
sich die Evangelisch-Lutherische<br />
Kirche im Wesentlichen<br />
von der Römisch-Katholischen?<br />
Zunächst möchte ich betonen, dass<br />
die Gemeinsamkeiten bei weitem<br />
überwiegen. Der wesentliche Unterschied<br />
liegt in der Kirchenstruktur.<br />
Bei uns wählt die Gemeinde<br />
<strong>den</strong> Kirchenvorstand, der wiederum<br />
die Landessynode. Diese macht<br />
letztlich die Kirchengesetze. Die<br />
Katholische Kirche dagegen ist hierarchisch,<br />
von oben nach unten<br />
strukturiert. Der Papst bestimmt<br />
letztendlich über das kirchliche<br />
Leben weltweit. Bemerkenswert<br />
ist gerade der Protest in Bezug auf<br />
die Segnung homosexueller Paare.<br />
Und auch das Amtsverständnis ist<br />
ein großer Unterschied. Bei der<br />
Weihe erfahren die Priester eine<br />
geistliche Wesensverwandlung.<br />
Glaube, Flüchtlinge, Auslandserfahrung? Jost Herrmann (re.) bekam von<br />
„<strong>altlandkreis</strong>“-Redakteur Johannes Schelle jede Menge Fragen gestellt.<br />
Bei der evangelischen Ordination<br />
dagegen bekommen die Pfarrer<br />
und Pfarrerinnen eine besondere<br />
Aufgabe. Interessant ist: Was<br />
damals unter Martin Luther zur<br />
Glaubensspaltung geführt hatte,<br />
ist heutzutage nicht mehr kirchentrennend.<br />
1999 unterschrieben die<br />
bei<strong>den</strong> großen Kirchen in Augsburg<br />
die gemeinsame Erklärung<br />
zur Rechtfertigungslehre. Allein<br />
durch Gnade kommt man zu Gott,<br />
nicht durch Werke.<br />
Erstaunlich ist: Zölibat und Missbrauchsskandal<br />
sind nachvollziehbare<br />
Gründe <strong>für</strong> ansteigende Austritte<br />
aus der Katholischen Kirche.<br />
Aus der Evangelischen Kirche treten<br />
seit Jahren jedoch ähnlich viele<br />
„Gläubige“ aus, obwohl sie wesentlich<br />
weltoffener ist. Woran liegt’s?<br />
Ganz platt gesagt: Aus der Katholischen<br />
Kirche treten Menschen aus,<br />
weil sie sich über etwas ärgern.<br />
Aus der Evangelischen Kirche eher<br />
aufgrund der Frage: Warum bin<br />
ich eigentlich noch dabei? Insofern<br />
müssen wir wieder stärker evangelisches<br />
Profil zeigen. Wichtig zu<br />
wissen: Wir profitieren nicht von<br />
<strong>den</strong> Turbulenzen der Katholischen<br />
Kirche. Wir sind sozusagen keine<br />
Konkurrenten, sondern „Glieder an<br />
dem einen Leib Christi“. Man kann<br />
sagen: Geht’s der Katholischen Kirche<br />
schlecht, trifft uns das auch.<br />
Ein Drittel aller Menschen verlassen<br />
uns, weil sie mit dem Papst<br />
nicht zufrie<strong>den</strong> sind. Hier wird gar<br />
nicht mehr unterschie<strong>den</strong> zwischen<br />
evangelisch und katholisch.<br />
Sie werben mit „Eintritt. Ein<br />
Schritt.“ Gibt es Menschen, die in<br />
der heutigen Zeit nicht aus-, sondern<br />
eintreten?<br />
Im vergangenen Jahr hatten wir<br />
35 Austritte und acht Eintritte. Immerhin.<br />
Jedes Austrittsformular,<br />
das mir die Sekretärin vorlegt,<br />
schmerzt.<br />
Viele „Aussteiger“ sagen: Glaube<br />
ja, aber nicht mit der Kirche. Funktioniert<br />
das überhaupt?<br />
Natürlich kann man tiefe Glaubenserfahrungen<br />
in der Natur, zum<br />
Beispiel im Wald oder auf dem<br />
Berg machen. Aber zum Glauben<br />
gehört <strong>für</strong> mich ganz klar die Gemeinschaft,<br />
die einen trägt, die<br />
einen hinterfragt, die Orientierung<br />
gibt, mit der man sich solidarisch<br />
zeigt. Glaube ohne die Institution<br />
Kirche ist vielleicht möglich, Glaube<br />
ohne Gemeinschaft nicht. Nichtsdestotrotz<br />
gibt es natürlich auch<br />
außerhalb der Kirchen, außerhalb<br />
des christlichen Glaubens, beeindruckende<br />
Menschen, die sich mit<br />
hohen moralischen Ansprüchen<br />
und großem sozialen Engagement<br />
in die Gesellschaft einbringen.<br />
Droht der Christliche Glaube auszusterben?<br />
Nein. Christus ist der Herr der<br />
Kirche. Er wird sie nicht untergehen<br />
lassen. Und doch gibt es<br />
natürlich immer wieder Wellenbewegungen.<br />
In <strong>den</strong> 1970er und<br />
1980er Jahren war sehr viel möglich.<br />
Zahlreiche Pfarrstellen wur<strong>den</strong><br />
neu geschaffen. Jetzt gehen<br />
die finanziellen und personellen<br />
Ressourcen zurück. Daher wer<strong>den</strong><br />
die Kirchengemein<strong>den</strong> ihr Gesicht<br />
verändern. Auch wir in der Region<br />
wer<strong>den</strong> Pfarrstellen verlieren und<br />
nicht mehr das anbieten können,<br />
was uns eigentlich wichtig wäre.<br />
Klar, da ist das Grundprogramm:<br />
Gottesdienste, Taufen, Trauungen,<br />
Seelsorge, Beerdigungen, Schulund<br />
Konfirman<strong>den</strong>unterricht. Auch<br />
gute Öffentlichkeitsarbeit ist unbedingt<br />
notwendig. Darüber hinaus<br />
müssen wir in Zukunft uns in unserer<br />
Gemeindearbeit auf Wichtiges<br />
konzentrieren und uns fragen:<br />
Wo schlägt unser Herz? Wo sind<br />
wir gut? Was können andere in der<br />
Region abdecken? Was müssen wir<br />
ganz sein lassen? Gut zu wissen ist<br />
aber, dass viele christliche Werte<br />
wie Solidarität, Barmherzigkeit,<br />
Gerechtigkeit und Einsatz <strong>für</strong> die<br />
Bewahrung der Schöpfung tief<br />
in unserer Gesellschaft verankert<br />
sind, auch außerhalb der Kirche.<br />
Wie wichtig ist der „Glaube an<br />
Gott“ gerade in Krisenzeiten wie<br />
dieser?<br />
Sehr wichtig. Wir versuchen Hoffnung<br />
und Vertrauen weiterzugeben<br />
– trotz allem. <strong>Das</strong> ist momentan,<br />
aufgrund Corona, ohne<br />
regelmäßige soziale Kontakte,<br />
natürlich schwierig. Wir machen<br />
viele gute, kreative Projekte online,<br />
haben im digitalen Bereich viel dazugelernt.<br />
Und trotzdem fehlt uns<br />
die direkte Begegnung mit Menschen<br />
enorm.<br />
Vor Ihrem Dienst in Schongau<br />
waren Sie hauptamtlicher Ehrenamtskoordinator<br />
<strong>für</strong> Asylunterstüt-<br />
10 | <strong>altlandkreis</strong>