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Papiers Folteropfer und Suizid Das Genfer Ambulatorium für Folter

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Nr. 1/06<br />

FOLTER<br />

INFORMATIONSZEITSCHRIFT DES AMBULATORIUMS FÜR FOLTER- UND KRIEGSOPFER<br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer SRK<br />

Themen:<br />

Umzug des<br />

<strong>Ambulatorium</strong>s Bern (afk)<br />

Angebot <strong>für</strong> Sans-<br />

<strong>Papiers</strong><br />

<strong><strong>Folter</strong>opfer</strong> <strong>und</strong> <strong>Suizid</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Genfer</strong><br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer


inhalt<br />

Inhalt<br />

Editorial S. 03<br />

Der grösstmögliche Kontrast zum<br />

Gefängnis S. 04<br />

Leyla S. 06<br />

Ein Aufsteller <strong>für</strong> alle Beteiligten S. 08<br />

Durch die Übernahme von Eigenverantwortung<br />

wird der Patient gestärkt S. 10


Editorial<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Im vergangenen März ist das <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong><br />

Kriegsopfer Bern nach Wabern umgezogen. Seit seiner<br />

Gründung vor gut zehn Jahren ist das Abmbulatorium stets<br />

gewachsen: Mit der steigenden Nachfrage nach Therapieplätzen<br />

<strong>und</strong> Beratungen wurden neue Angebote geschaffen<br />

<strong>und</strong> die Therapieformen ausgebaut. Dies alles führte dazu,<br />

dass das «alte Ambi» auf dem Gelände des Inselspitals<br />

aus allen Nähten platzte. Die neuen Räumlichkeiten in<br />

Wabern bieten nun mehr Platz <strong>und</strong> stehen gleichsam <strong>für</strong><br />

den Aufbruch des <strong>Ambulatorium</strong>s ins zweite Jahrzehnt.<br />

In diesem Sinne widmet sich die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift FOLTER der<br />

Öffnung <strong>und</strong> den neuen Ideen, die das <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer<br />

beschäftigen <strong>und</strong> auch in Zukunft beschäftigen werden.<br />

Gleich zu Beginn geben wir Ihnen einen Einblick in die neuen Räumlichkeiten<br />

des <strong>Ambulatorium</strong>s in Wabern <strong>und</strong> stellen Ihnen ein Sans-<strong>Papiers</strong>-<br />

Projekt vor, das im nächsten Jahr im <strong>Ambulatorium</strong> starten wird.<br />

Thomas Hofer <strong>und</strong> Andrea Faes, beide Studierende der Psychologie an<br />

der Universität Bern, haben sich in ihrer Lizentiatsarbeit über die<br />

Neigung von <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n zum Selbstmord an ein noch wenig<br />

erforschtes Gebiet gewagt <strong>und</strong> damit zusammen mit dem Therapieteam<br />

des <strong>Ambulatorium</strong>s eine Art Pionierleistung erbracht. In<br />

einem Interview berichten sie von ihrer Untersuchung <strong>und</strong> wie<br />

sie die Arbeit mit <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n erlebt haben.<br />

Auch die Schaffung von Therapieplätzen <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong><br />

Kriegsopfer in anderen Regionen der Schweiz zeugt von<br />

der Öffnung <strong>und</strong> dem Aufbruch des <strong>Ambulatorium</strong>s. Wie<br />

die therapeutische Einrichtung in Genf organisiert ist,<br />

erfahren Sie in einem weiteren Artikel dieser FOLTER.<br />

Die Öffnung <strong>und</strong> der Fortbestand des <strong>Ambulatorium</strong>s<br />

<strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer wäre ohne Ihre<br />

finanzielle Hilfe nicht möglich. Ich danke Ihnen<br />

herzlich <strong>für</strong> die Unterstützung dieser wertvollen<br />

<strong>und</strong> wichtigen Einrichtung.<br />

Dr. med. Conrad Frey<br />

Leiter Zentrum <strong>für</strong><br />

Migration <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit SRK<br />

Impressum<br />

FOLTER Nr. 01/2006<br />

Jahrgang VIII<br />

erscheint zweimal jährlich<br />

Herausgeber<br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong><strong>und</strong><br />

Kriegsopfer SRK<br />

Werkstrasse 16<br />

CH-3084 Wabern<br />

Telefon 031 960 77 77<br />

Telefax 031 960 77 88<br />

ambulatorium.miges@redcross.ch<br />

www.redcross.ch<br />

Redaktionsleitung<br />

Heinz Heer<br />

Mitarbeit bei dieser Ausgabe<br />

Regula Bättig, Conrad Frey,<br />

Heinz Heer<br />

Titelbild<br />

Nathalie Flubacher, Biel<br />

Grafik, Layout<br />

graphic-print SRK<br />

Druck<br />

Lüthi Druck, Herzogenbuchsee<br />

Zeitschrift FOLTER<br />

Schweizerisches Rotes Kreuz<br />

Rainmattstrasse 10<br />

CH-3001 Bern<br />

Adressänderungen:<br />

corinne.stammbach@redcross.ch<br />

3


Aktuell<br />

4<br />

Letztes Jahr konnte das <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer (afk) sein zehnjähriges<br />

Bestehen feiern. In diesem Frühjahr<br />

erfolgte nun der Umzug von der Freiburgstrasse<br />

in Bern ins Gebäude des Logistikzentrums<br />

des Schweizerischen Roten<br />

Kreuzes in Wabern. Der Umzug erlaubt,<br />

neue langfristige Projekte in Angriff zu<br />

nehmen. Am neuen Ort wird auch die sich<br />

im Aufbau befindende Anlaufstelle <strong>für</strong><br />

Sans-<strong>Papiers</strong> ihren Platz finden. (Siehe<br />

nebenstehendes Interview.)<br />

Wenn der Patient durch die Eingangstür des<br />

afk im zweiten Stock des in vorbildlichem<br />

Industriestil erbauten SRK-Gebäudes an der<br />

Werkstrasse 16 tritt, fällt ihm als erstes auf,<br />

wie geräumig <strong>und</strong> hell die neue Lokalität des<br />

<strong>Ambulatorium</strong>s sich präsentiert. Der weite <strong>und</strong><br />

hohe Raum, der sich vor ihm öffnet, ist durchgängig<br />

belichtet <strong>und</strong> bietet auf zwei Seiten<br />

Aussicht ins Grüne. <strong>Das</strong> Empfangsdesk ist<br />

eine Art «Insel» in einer offenen Umgebung,<br />

die an eine Hotellobby erinnert. In einer der<br />

behaglichen, mit Teppichen ausgelegten<br />

Nischen kann sich der Patient oder die Patientin<br />

setzen <strong>und</strong> sich, falls er oder sie es<br />

wünscht, mit anderen unterhalten. Auch eine<br />

Spielecke fehlt nicht.<br />

Entlang eines breiten Flurs, auf dem auch<br />

schon mal ein Kind mit dem Rolly Trottinettfahren<br />

gespielt hat, reihen sich die Behandlungs-<br />

<strong>und</strong> Therapieräume. Hier befindet sich<br />

zudem die Bibliothek <strong>und</strong> ein <strong>für</strong> die ÜbersetzerInnen<br />

reservierter Teil. Die Sprechzimmer<br />

sind vom Flur durch Glastüren abgetrennt <strong>und</strong><br />

selbstverständlich nicht einsehbar: Durch das<br />

Ziehen der farbigen Vorhänge lässt sich die<br />

erforderliche Intimität herstellen. Weite <strong>und</strong><br />

Licht der Räume, Farbakzente <strong>und</strong> Transparenz<br />

bilden einen Kontrast zu den Erfahrungen<br />

im Gefängnis <strong>und</strong> zu den damit verb<strong>und</strong>enen<br />

belastenden Erinnerungen der Patienten.<br />

Distanz <strong>und</strong> Nähe<br />

«Für uns ist der freie Raum zwischen den Therapieräumen<br />

<strong>und</strong> Büros, der grosse Flur, ein<br />

Freiraum <strong>und</strong> Distanzraum», sagt Brigitte<br />

Ambühl Braun. <strong>Das</strong> Herstellen von Distanz –<br />

Distanz zur harten Arbeit <strong>und</strong> auch unter einander<br />

im Team – sei unabdingbar, wenn man<br />

täglich mit so schweren Traumata konfrontiert<br />

ist, erklärt die Ärztin <strong>und</strong> Therapeutische Leiterin<br />

des <strong>Ambulatorium</strong>s. «Man muss sich<br />

zwischendurch innerlich freimachen können.»<br />

Wer sich richtig zurückziehen will, kann den<br />

Der grösstmögliche<br />

Kontrast zum Gefängnis<br />

Chill-out-Raum aufsuchen: Die Möblierung<br />

besteht aus einem gemütlichen Sofa sowie<br />

einem Tisch <strong>und</strong> Stühlen <strong>für</strong> gemeinsame<br />

Gespräche.<br />

Distanz <strong>und</strong> Nähe brauchen sich aber nicht zu<br />

widersprechen. «Die Geräusche, die wir durch<br />

die Glastüren hören können, Stimmen <strong>und</strong><br />

Lachen, das Geräusch des Shredders… sind<br />

Zeichen der Präsenz anderer Menschen. Die<br />

Silhouetten hinter den Vorhängen geben den<br />

Patienten das Gefühl, dass sie hier nicht isoliert<br />

sind. Und jede Patientin, jeder Patient<br />

weiss, dass sich hinter dem gezogenen Vorhang<br />

die Türe befindet – der Weg nach draussen.»<br />

<strong>Das</strong> Team habe sich zuerst an die transparenten<br />

Türen gewöhnen müssen, erzählt Brigitte<br />

Ambühl Braun. «<strong>Das</strong> Licht in unseren Büros,<br />

die persönliche Note <strong>und</strong> die vielen schönen<br />

Details der neuen Lokalität haben aber den<br />

Effekt, dass wir schon nach kurzer Zeit angefangen<br />

haben, uns sehr wohl zu fühlen.» Und<br />

auch der grossen Mehrheit der Patienten<br />

gefällt der neue Ort, der bald noch stärker<br />

belebt sein wird, wenn auch Sans-<strong>Papiers</strong> hier<br />

ein- <strong>und</strong> ausgehen.<br />

Heinz Heer


(Foto: SRK)<br />

Hildegard Hungerbühler ist Leiterin der<br />

Abteilung «Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Entwicklung»<br />

des Departements Migration des Schweizerischen<br />

Roten Kreuzes. Die Sans-<strong>Papiers</strong>-<br />

Thematik ist Teil ihrer Arbeit.<br />

Weshalb braucht es die SRK-Anlaufstelle <strong>für</strong><br />

Sans-<strong>Papiers</strong>?<br />

Im Raum Bern besteht bisher das Angebot der<br />

Berner Beratungsstelle <strong>für</strong> Sans-<strong>Papiers</strong>, die<br />

Sans-<strong>Papiers</strong> individuell berät <strong>und</strong> bei der<br />

Bewältigung sozialer <strong>und</strong> rechtlicher Fragen<br />

begleitet. Zweimal wöchentlich bietet der Verein<br />

MeBiF (Medizinische Beratung <strong>für</strong> illegalisierte<br />

Frauen) in den Räumlichkeiten der<br />

Beratungsstelle Sans-<strong>Papiers</strong>-Frauen eine spezielle<br />

Beratung an <strong>und</strong> vermittelt ihnen<br />

Zugang zu Pirvatärztinnen, die Sans-<strong>Papiers</strong>-<br />

Frauen behandeln, bzw. begleitet sie ins Spital,<br />

um sie beispielsweise bei der Vorbereitung von<br />

Spitalgeburten zu unterstützen. Zur Zeit wird<br />

erwogen, das Angebot auch <strong>für</strong> Männer zu öffnen.<br />

Was bisher jedoch klar fehlt, <strong>und</strong> hier<br />

setzt das geplante Angebot des SRK an, ist die<br />

Möglichkeit medizinischer Abklärungen sowie<br />

ärztlicher Behandlung am selben Ort, an dem<br />

auch die Erstberatung stattfindet.<br />

Wie sieht das Angebot des SRK konkret aus?<br />

Die Anlaufstelle des SRK ist niederschwellig<br />

angelegt. Die Patientinnen <strong>und</strong> Patienten können<br />

sich anonym in Ges<strong>und</strong>heitsfragen beraten<br />

lassen. <strong>Das</strong> Behandlungsangebot des <strong>Ambulatorium</strong>s<br />

hat den grossen Vorteil, dass Sans-<br />

<strong>Papiers</strong> «sur place» umfassend versorgt werden<br />

können. Da<strong>für</strong> sorgt ein Team multidisziplinär<br />

arbeitender Fachpersonen, die neben allgemeinen<br />

medizinischen Beschwerden auch<br />

psychologische Probleme behandeln <strong>und</strong> not-<br />

falls eine psychiatrische Krisenintervention<br />

vornehmen können. Psychologische bzw. psychiatrische<br />

Behandlung wurde Sans-<strong>Papiers</strong><br />

bisher nirgends angeboten. Zur Verfügung stehen<br />

ferner eine Pflegefachperson <strong>und</strong> ein<br />

Angebot in Physiotherapie. Zudem bietet die<br />

Anlaufstelle Beratung <strong>und</strong> Mithilfe beim<br />

Abschluss von Krankenversicherungen an.<br />

Mit welchen Mitteln wird die Zielgruppe auf<br />

das neue Angebot aufmerksam gemacht?<br />

Zum einen mit Flyern, die an einschlägigen<br />

Beratungsstellen aufgelegt werden, zum<br />

andern über gezielte Kontakte in MigrantInnen-Kreisen.<br />

Erfahrungsgemäss werden Sans-<br />

<strong>Papiers</strong> über indirekte Wege erreicht, insbesondere<br />

durch M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Propaganda.<br />

Ist eine Zusammenarbeit mit andern Institutionen<br />

in diesem Bereich geplant?<br />

Erste Absprachen haben bereits stattgef<strong>und</strong>en<br />

mit der Beratungsstelle im Raum Bern.<br />

Geplant ist eine gezielte Zusammenarbeit, die<br />

im Laufe dieses Jahres genauer formuliert<br />

wird. Ziel ist es, sich gegenseitig nicht zu konkurrenzieren,<br />

sondern sich mit unterschiedlichen<br />

Beratungsschwerpunkten optimal zu<br />

ergänzen <strong>und</strong> somit ein umfassendes Angebot<br />

<strong>für</strong> Sans-<strong>Papiers</strong> im Raum Bern zu sichern. Im<br />

Weitern wird die Vernetzung mit den Spitälern<br />

der Region angestrebt: <strong>Das</strong> SRK beteiligt sich<br />

am Projekt Migrant-Friendly-Hospital, dessen<br />

Ziel es ist, den Zugang <strong>für</strong> MigrantInnen<br />

sowie die Qualität des Behandlungsangebots<br />

<strong>für</strong> diese Patientengruppe an den Spitälern zu<br />

verbessern.<br />

Verfolgt die Anlaufstelle noch weitere Ziele?<br />

Ges<strong>und</strong>heitsförderung <strong>und</strong> Prävention<br />

(HIV/Aids, Tuberkulose etc.) sollen weitere<br />

Schwerpunkte der SRK-Anlaufstelle bilden.<br />

Geplant ist zudem, <strong>für</strong> Fachpersonen im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen Weiterbildungen zum<br />

Thema medizinische Beratung <strong>und</strong> Behandlung<br />

von Sans-<strong>Papiers</strong> zu organisieren.<br />

Interview: Heinz Heer<br />

Anlaufstelle <strong>für</strong><br />

Sans-<strong>Papiers</strong><br />

Am neuen Domizil des <strong>Ambulatorium</strong>s<br />

<strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer<br />

in Wabern wird eine vom<br />

SRK betriebene Anlaufstelle <strong>für</strong><br />

Sans-<strong>Papiers</strong> eingerichtet.<br />

<strong>Das</strong> neue Angebot – es steht ab<br />

2007 zur Verfügung – fungiert<br />

als Bindeglied zwischen niederschwelliger<br />

Beratungsstelle,<br />

eigenem multidisziplinären<br />

Behandlungsangebot <strong>und</strong> der<br />

Zugangsförderung zur ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Regelversorgung<br />

(Spitäler).<br />

Sans-<strong>Papiers</strong> am gleichen Ort<br />

beraten <strong>und</strong> behandeln<br />

5


Ein Mensch erzählt<br />

6<br />

Dieser Text erschien bereits in<br />

einer Geschichtensammlung mit<br />

dem Titel «Geschichten der Hoffnung»,<br />

die das <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer Bern<br />

anlässlich seines zehnjährigen<br />

Bestehens im letzten Jahr herausgegeben<br />

hat. Nebst der bewegten<br />

Vergangenheit der Porträtierten<br />

erzählen die fünf Geschichten<br />

auch, wie die Betroffenen von<br />

<strong>Folter</strong> <strong>und</strong> Krieg dank der Unterstützung<br />

im <strong>Ambulatorium</strong> wieder<br />

neue Hoffnung schöpfen.<br />

Bestellungen:<br />

ambulatorium.miges@redcross.ch<br />

Ich will von einer jungen Frau berichten,<br />

deren Umgang mit den Grausamkeiten der<br />

<strong>Folter</strong> mich wiederholt in anerkennendes<br />

Erstaunen versetzte <strong>und</strong> deren unbeirrt geradlinige<br />

Art, ihre Probleme zu bewältigen,<br />

mich zuweilen geradezu beschämte.<br />

Leyla<br />

Als politisch aktive türkische Studentin wurde<br />

Leyla Mitte der neunziger Jahre in Istanbul<br />

verhaftet. Zusammen mit ihren Fre<strong>und</strong>en setzte<br />

sie sich <strong>für</strong> soziale Ideale ein. Der Verhaftung<br />

war eine polizeiliche Verfolgung vorausgegangen,<br />

bei der einer ihrer Fre<strong>und</strong>e ums Leben<br />

kam. Sie selbst wurde an der Hüfte angeschossen.<br />

Es folgte eine zweiwöchige Untersuchungshaft,<br />

deren Erinnerungsspuren sie bis<br />

heute in Albträumen verfolgen. Danach wurde<br />

sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach sieben<br />

Jahren Gefängnis beteiligte sie sich an<br />

einem Hungerstreik. Als sie zu sterben drohte,<br />

wurde sie ihrer Familie übergeben. Später<br />

konnte sie sich ins Ausland absetzen. Heute<br />

lebt Leyla in der Schweiz, ist mit einem türkischen<br />

Partner verheiratet <strong>und</strong> Mutter eines einjährigen<br />

Kindes.<br />

Leyla wurde vom Hausarzt ins <strong>Ambulatorium</strong><br />

geschickt. Ihre Symptome waren – wie bei vielen<br />

<strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n – starke Schlafstörungen, Albträume,<br />

sich stetig aufdrängende Erinnerungen,<br />

verminderte Konzentrationsfähigkeit <strong>und</strong><br />

Vergesslichkeit. Oft plagten sie auch Müdigkeit<br />

<strong>und</strong> der Schmerz in ihrer Hüfte. Leyla<br />

machte von Anfang an klar, dass sie nur so oft<br />

als unbedingt nötig zur Therapie kommen<br />

möchte, was sie mit der langen Anreisezeit <strong>und</strong><br />

dem Kind begründete. Anfangs wirkte sie verschlossen,<br />

bald aber öffnete sie sich <strong>und</strong> liess<br />

uns, die Übersetzerin <strong>und</strong> mich, an ihrer<br />

Geschichte <strong>und</strong> ihrem aktuellen Leben teilnehmen.<br />

Es waren vor allem Erinnerungsbilder aus der<br />

Untersuchungshaft, die sich Tag <strong>und</strong> Nacht<br />

immer wieder in ihr Bewusstsein drängten.<br />

Endlose Verhöre, Drohungen, Schläge. Oft<br />

(Fotos: Nathalie Flubacher, Biel)<br />

wurde sie aufgehängt <strong>und</strong> mit Steinen<br />

beschwert. Sie erzählte vom Eingeschlossensein,<br />

von falschen Beschuldigungen, vom<br />

Schmerz – <strong>und</strong> sie berichtete von jenem unsäglichen<br />

Moment, als sie mit einer Schlinge um<br />

den Hals zu Aussagen über ihre Fre<strong>und</strong>e genötigt<br />

wurde. Es wurde ihr gedroht, dass der<br />

Schemel, auf dem sie stand, weggestossen<br />

würde. Dann... ihr Sprung! Die <strong>Folter</strong>knechte<br />

eilten, um sie am Leben zu erhalten. «Die Verrückte»<br />

wurde sie fortan genannt. Ihr Todesmut<br />

liess ihre Peiniger vorsichtig werden.<br />

Leyla berichtete von endlosen Gefängnistagen,<br />

meist in der Einzelzelle – <strong>und</strong> trotzdem innerlich<br />

aufs Engste mit ihren Mitstreitern verb<strong>und</strong>en.<br />

Es kam das Todesfasten, welches begleitet<br />

war von Gefühlen der Gemeinschaft, die jeder<br />

<strong>Folter</strong> trotzen. Sie strahlte, als sie die<br />

Geschichte vom Brief ihrer Angehörigen<br />

erzählte, der auf raffinierte Art eingeschmuggelt<br />

werden konnte: «Wir lieben <strong>und</strong> unterstützen<br />

dich!», stand da auf einem kleinen, zerknitterten<br />

Zettelchen. <strong>Das</strong> gab ihr Kraft <strong>für</strong><br />

lange Monate.<br />

Ihre Erzählungen waren nie ausschweifend; sie<br />

beschrieb das Erlebte mit wenigen Worten.<br />

Und so, wie diese wenigen Worte ihr genügten,<br />

so verlangte <strong>und</strong> brauchte sie auch von uns<br />

nicht viel. Nachdem Leyla einige ihrer Erleb-


nisse in wenigen, aber intensiven Gesprächsst<strong>und</strong>en<br />

mit uns geteilt hatte, <strong>und</strong> nachdem<br />

ihre Albträume etwas nachgelassen hatten <strong>und</strong><br />

ihr Schlaf besser wurde, sagte sie ruhig,<br />

besonnen <strong>und</strong> mit einer Bestimmtheit, die keinen<br />

Widerspruch duldete, dass sie sich nun<br />

nach vorne richten wolle:<br />

«Ich habe sehr schlimme Dinge erlebt <strong>und</strong><br />

manchmal überkommen mich starke Erinnerungen.<br />

Manchmal sehe ich das Erlebte sehr<br />

lebendig vor mir. Aber ich will mich nicht<br />

darin verlieren. Ich habe einen Partner <strong>und</strong> ein<br />

Kind, die ich beide über alles liebe. Deshalb<br />

will ich mit meinen Gedanken bei ihnen sein.<br />

Ich bin in einem fremden Land <strong>und</strong> ich will<br />

die Sprache lernen, die hier gesprochen wird.<br />

Ich will arbeiten. Natürlich wäre ich lieber in<br />

der Heimat. Aber jetzt bin ich hier.» Während<br />

sie sprach, schien sie gleichsam nach innen zu<br />

horchen.<br />

Ihre Worte berührten. Sie hatte diese besondere<br />

Fähigkeit, ihre Gefühle ganz präzis wahrzunehmen<br />

<strong>und</strong> sie ohne Schnörkel in Worte zu<br />

fassen. Sie brauchte keine Anleitung zum<br />

Umgang mit ihrer Innenwelt. Es war, als habe<br />

sie Zugang zu einer Quelle von Unmittelbarkeit<br />

<strong>und</strong> Wahrheit.<br />

Doch gab es da nicht noch viel zu tun, ehe sie<br />

so entschieden in die Zukunft schauen konnte?<br />

Galt es nicht, all die Gefühle von Entwürdigung,<br />

Ohnmacht, Angst <strong>und</strong> Hass aus jener<br />

Zeit gemeinsam durchzuarbeiten? War da<br />

nichts von Scham, unausgesprochenem Groll<br />

<strong>und</strong> Rachegefühlen, die als zermürbende<br />

Kräfte in ihr weiterwirkten? Zögernd fragte<br />

ich sie: «Man hat Ihnen grosses Leid zugefügt.<br />

Sie haben Jahre Ihrer Jugend hinter Gefängnismauern<br />

verbracht, Sie wurden gequält <strong>und</strong><br />

gedemütigt. Haben Sie nicht eine unsägliche<br />

Wut auf all jene, die Ihnen das angetan<br />

haben?»<br />

«Doch, manchmal bin ich wütend, sehr<br />

sogar!», antwortete Leyla, «Aber mehr noch<br />

bin ich traurig. Ich spüre enorme Trauer um all<br />

meine Fre<strong>und</strong>e, die ermordet worden sind.<br />

Und ich bin...», fügte sie nach einer Weile des<br />

Schweigens hinzu, «...ich bin unsäglich traurig,<br />

dass es Menschen gibt, die solches tun.»<br />

Sie sprach ruhig <strong>und</strong> klar <strong>und</strong> ich spürte, dass<br />

meine traumatherapeutischen Lehrbücher hier<br />

nichts zu suchen hatten. «Ihr Mitgefühl, Ihren<br />

wachen Umgang mit sich selber, Ihren Mut –<br />

wo haben Sie das alles bloss erlernt?», fragte<br />

ich nach einer langen Schweigepause. «Ich<br />

habe es im Gefängnis gelernt», sagte sie leise.<br />

Die Therapie mit Leyla erstreckte sich nur<br />

über eine kurze Zeitspanne. Für mehr als<br />

einige sachliche Hilfestellungen schien sie uns<br />

gegenwärtig nicht zu brauchen. Es war<br />

berührend mitzuerleben, wie sanft <strong>und</strong> liebevoll<br />

sie ihr Kind, das ihr Mann jeweils<br />

während unserer Gesprächsst<strong>und</strong>en hütete,<br />

beim Wiedersehen in die Arme nahm.<br />

Sie besuche jetzt regelmässig einen Deutschkurs,<br />

erzählte sie in der letzten St<strong>und</strong>e – <strong>und</strong>,<br />

fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln<br />

hinzu, sie sei eine der besten der Klasse.<br />

Matthias Barth, Psychotherapeut im <strong>Ambulatorium</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer Bern<br />

Ihre Spende hilft,<br />

die seelische Not<br />

von Opfern<br />

systematischer<br />

Gewalt zu lindern.<br />

Da<strong>für</strong> danken<br />

wir Ihnen.<br />

<strong>Das</strong> Spendenkonto<br />

PC 70-79907-1<br />

Vermerk:<br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong><strong>und</strong><br />

Kriegsopfer<br />

(Fotos: Nathalie Flubacher, Biel)<br />

7


Im Gespräch<br />

8<br />

Andrea Faes <strong>und</strong> Thomas Hofer schliessen<br />

im Herbst ihr Psychologiestudium an der<br />

Universität Bern ab. Für ihre Lizentiatsarbeit<br />

haben sie am <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong><strong>und</strong><br />

Kriegsopfer eine Untersuchung über<br />

die <strong>Suizid</strong>alität, die Neigung zum Selbstmord,<br />

bei <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n durchgeführt. Im<br />

folgenden Interview erzählen sie, wie sie<br />

die Studie angepackt <strong>und</strong> die Forschungsarbeit<br />

mit <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n erlebt haben.<br />

Ein Aufsteller<br />

<strong>für</strong> alle Beteiligten<br />

Andrea Faes studiert Psychologie,<br />

Psychopathologie <strong>und</strong> Neuropsychologie<br />

an der Universität<br />

Bern. Neben ihrem Studium<br />

arbeitet sie als Teilzeitangestellte<br />

bei der Schweizerischen Radio<strong>und</strong><br />

Fernsehgesellschaft im<br />

betriebspsychologischen Bereich.<br />

Im Rahmen ihres Studiums hat<br />

Andrea Faes zudem ein Praktikum<br />

in der psychiatrischen Klinik<br />

in Oberwil (ZG) gemacht.<br />

Thomas Hofer studiert ebenfalls<br />

Psychologie, Psychopathologie<br />

<strong>und</strong> Neuropsychologie an der<br />

Universität Bern. Während der<br />

Untersuchung <strong>für</strong> die Lizentiatsarbeit<br />

hat er ein fünfmonatiges<br />

Praktikum im <strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer in Bern<br />

absolviert. Neben dem Studium<br />

arbeitet er als Primarlehrer.<br />

Was haben Sie in Ihrer Untersuchung am<br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer<br />

Bern genau untersucht?<br />

Andrea Faes: Ganz kurz gesagt, wollten wir<br />

schauen, welche Einflussgrössen die <strong>Suizid</strong>alität<br />

bei <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n beeinflussen. Oder<br />

anders ausgedrückt: Uns interessierte, was es<br />

ausmacht, dass <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong> am Leben bleiben.<br />

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre<br />

Lizentiatsarbeit zu diesem eher schwierigen<br />

Thema zu schreiben?<br />

Thomas Hofer: Die Idee <strong>für</strong> die Untersuchung<br />

stammt nicht von uns, sie kam vom<br />

<strong>Ambulatorium</strong> <strong>für</strong> <strong>Folter</strong>- <strong>und</strong> Kriegsopfer in<br />

Bern. Dort hat man die Beobachtung gemacht,<br />

dass die Patienten während dem Therapieprozess<br />

sehr wenig suizidale Handlungen begehen.<br />

Conrad Frey, der Leiter des <strong>Ambulatorium</strong>s,<br />

hat uns diesen Input gegeben. Daraus<br />

haben wir dann unsere Forschungsfrage entwickelt.<br />

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?<br />

Hofer: Am Anfang war es <strong>für</strong> uns sehr<br />

schwierig: Es gibt einen Berg von Theorien<br />

<strong>und</strong> Modellen, mit denen man eine solche<br />

Frage zumindest teilweise klären könnte. Wir<br />

haben uns letztendlich auf das Konzept des<br />

«Sense of Coherence» <strong>und</strong> die Konsistenztheorie<br />

beschränkt (siehe Kasten), weil wir das<br />

Gefühl hatten, dass diese das Phänomen der<br />

tiefen Selbstmordrate während dem Therapieprozess<br />

vielleicht am ehesten erklärbar<br />

machen.<br />

Welche Schritte folgten danach?<br />

Faes: Nachdem wir die Theorien ausgesucht<br />

hatten, stellten wir verschiedene Fragebogen<br />

zusammen <strong>und</strong> präsentierten diese dem Team<br />

im <strong>Ambulatorium</strong>. Aufgr<strong>und</strong> der Besprechung<br />

mussten wir dann einige Änderungen vornehmen:<br />

Die Fragebogen waren zu lang, so wie<br />

wir sie geplant hatten. <strong>Das</strong> Therapieteam<br />

erklärte uns, dass es <strong>für</strong> die Patienten schwierig<br />

sei, sich über eine so lange Zeit zu konzentrieren.<br />

So haben wir uns entschieden, eine<br />

gestaffelte Form zu verwenden. Wir haben die<br />

Andrea Faes <strong>und</strong> Thomas Hofer haben eine Lizenziatsarbeit zum Thema <strong>Suizid</strong>alität bei<br />

<strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n geschrieben.<br />

(Foto: Regula Bättig)


Befragung in drei Teile gegliedert: Einen<br />

ersten Teil haben wir den Therapeuten abgegeben.<br />

In diesem Fragebogen mussten sie verschiedene<br />

Angaben über den Patienten<br />

machen wie beispielsweise über seine Geschichte<br />

<strong>und</strong> den Therapieverlauf. Einen<br />

zweiten Fragebogen gaben wir den Patienten<br />

mit nach Hause. Wir haben verschiedene Fragen<br />

reingepackt, aber möglichst nicht solche,<br />

die schlimme Erinnerungen wecken könnten,<br />

sondern leicht verdauliche. Im dritten Teil<br />

haben die Patienten einen Fragebogen<br />

während der Therapie ausgefüllt. <strong>Das</strong> waren<br />

Fragen zur traumatischen Belastung <strong>und</strong> zur<br />

<strong>Suizid</strong>alität.<br />

Wie viele Patienten konnten Sie <strong>für</strong> die Befragung<br />

motivieren?<br />

Hofer: Am Ende waren es 52 Patienten. Mit<br />

dieser Zahl sind wir sehr zufrieden.<br />

Faes: Die Befragung war schliesslich <strong>für</strong> uns<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Patienten ein Aufsteller. Die Patienten<br />

waren sehr kooperativ <strong>und</strong> hatten auch<br />

das Gefühl, zu etwas Wichtigem beizutragen.<br />

Die Untersuchung ist in der Zwischenzeit<br />

abgeschlossen. Welches sind die Hauptergebnisse<br />

aus Ihrer Befragung?<br />

Hofer: Wir konnten ziemlich klar nachweisen,<br />

dass ein gut ausgeprägter «Sense of Coherence»<br />

einem Selbstmord auf dem Höhepunkt<br />

der Krise vorzubeugen hilft. <strong>Das</strong> heisst, <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>,<br />

die einen gut ausgeprägten «Sense of<br />

Coherence» haben, waren im Moment, wo es<br />

<strong>für</strong> sie am schwierigsten war, weniger selbstmordgefährdet<br />

als jene Patienten, die einen<br />

schlecht ausgeprägten «Sense of Coherence»<br />

hatten.<br />

Faes: Einen direkten Einfluss des Ausmasses<br />

an bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen auf<br />

die <strong>Suizid</strong>alität konnten wir jedoch nicht nachweisen.<br />

Aber wir haben dann geschaut, wie<br />

dieses <strong>und</strong> der «Sense of Coherence» zusammenhängen<br />

<strong>und</strong> haben einen sehr hohen Zusammenhang<br />

festgestellt.<br />

Wie hängen der «Sense of Coherence» <strong>und</strong> das<br />

Ausmass bedürfnisbefriedigender Erfahrungen<br />

zusammen?<br />

Hofer: Ein grosses Mass an bedürfnisbefriedigenden<br />

Erfahrungen beeinflusst den «Sense of<br />

Coherence» positiv. Und ein hoher «Sense of<br />

Coherence» beeinflusst wiederum das Ausmass<br />

an bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen.<br />

<strong>Das</strong> ist eine Wechselwirkung. Jemand, der<br />

eine positive Gr<strong>und</strong>überzeugung hat, macht<br />

automatisch mehr Erfahrungen im Sinne der<br />

eigenen Ziele. So beeinflusst das Ausmass an<br />

bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen die <strong>Suizid</strong>alität<br />

wohl dennoch, einfach indirekt über<br />

den «Sense of Coherence».<br />

Sie haben sich über eine längere Zeit mit einer<br />

eher schwierigen Thematik intensiv befasst.<br />

Wie haben Sie das erlebt?<br />

Faes: Wir waren uns bewusst, dass wir uns<br />

einem schwierigen Thema zugewendet hatten,<br />

doch untersuchten wir ja, warum die Patienten<br />

am Leben bleiben. Ich finde, das ist etwas<br />

anderes, als wenn wir untersucht hätten,<br />

warum niemand am Leben bleibt, warum alle<br />

<strong>Suizid</strong> begehen. So war es <strong>für</strong> uns einfacher,<br />

mit den Patienten im <strong>Ambulatorium</strong>, mit diesem<br />

schwierigen Thema umzugehen.<br />

Hofer: Ich hatte während dem Praktikum im<br />

Ambi zudem die Gelegenheit, mit Patienten zu<br />

sprechen. <strong>Das</strong> war sehr eindrücklich. Dieser<br />

unbedingte Wille von einigen Patienten zu<br />

leben. Diese Verankerung in Visionen, in politischen<br />

Idealen – trotz schwerster <strong>Folter</strong>ung,<br />

trotz jahrelanger Haft, trotz zum Teil unglaublich<br />

langen Hungerstreiks. Ein Lebenswille,<br />

der immer noch da ist. <strong>Das</strong> war sehr eindrücklich<br />

<strong>und</strong> spannend. Gleichzeitig habe ich auch<br />

gemerkt, dass mir das Ganze sehr nahe geht,<br />

zu nahe, mich beschäftigt. Ich habe einen<br />

grossen Respekt vor den Therapeuten <strong>und</strong><br />

Sozialarbeitern <strong>und</strong> allen, die dort arbeiten,<br />

die das alles tagtäglich auf sich nehmen.<br />

Was hat Sie während der Arbeit aufgestellt <strong>und</strong><br />

motiviert?<br />

Faes: Wir waren überwältigt von der Vielzahl<br />

an Ergebnissen. Die Therapeuten haben sich<br />

sehr <strong>für</strong> unsere Arbeit interessiert <strong>und</strong> mit uns<br />

die Ergebnisse diskutiert. Thomas <strong>und</strong> ich hatten<br />

von Anfang an das Gefühl, dass unsere<br />

Arbeit nicht irgendwo in einer Schublade verschwinden<br />

wird, sondern auch <strong>für</strong> andere<br />

wichtig ist.<br />

Hofer: Toll war <strong>für</strong> uns auch, dass wir die<br />

Gelegenheit hatten, die wichtigsten Ergebnisse<br />

der Arbeit in Paris zu präsentieren an einem<br />

Netzwerktreffen von Fachleuten aus der Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Praxis, die mit <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n<br />

arbeiten. Die Studie wurde dort sehr gut aufgenommen<br />

<strong>und</strong> stiess auf grosses Interesse.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Ambulatorium</strong> <strong>und</strong> das ganze Team können<br />

darauf stolz sein. Sie haben einen grossen<br />

Anteil am Gelingen der Arbeit.<br />

Interview: Regula Bättig<br />

Sense of<br />

Coherence<br />

<strong>Das</strong> Kohärenzgefühl steht <strong>für</strong><br />

eine allgemeine Gr<strong>und</strong>haltung<br />

eines Menschen der Welt <strong>und</strong><br />

dem eigenen Leben gegenüber.<br />

Diese Gr<strong>und</strong>haltung oder Weltanschauung<br />

ist da<strong>für</strong> verantwortlich,<br />

wie gut Menschen in der<br />

Lage sind, vorhandene Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Stärken zum Erhalt ihrer<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> ihres Wohlbefindens<br />

zu nutzen.<br />

Konsistenztheorie<br />

Im Laufe seines Lebens entwickelt<br />

der Mensch Mittel, um<br />

seine Gr<strong>und</strong>bedürfnisse wie das<br />

Bedürfnis nach Kontrolle, die<br />

Unlustvermeidung oder Selbstwerterhöhung<br />

zu befriedigen.<br />

Macht ein Mensch wiederholt die<br />

Erfahrung, dass sich die Wahrnehmung<br />

nicht mit seinen Zielen<br />

deckt, er also seine Gr<strong>und</strong>bedürfnisse<br />

nicht befriedigen kann,<br />

führt dies zu einem anhaltend<br />

erhöhten Pegel negativer Gefühle,<br />

was wiederum die Ges<strong>und</strong>heit<br />

des Menschen längerfristig massiv<br />

gefährdet.<br />

Andrea Faes <strong>und</strong> Thomas Hofer<br />

betrachteten in ihrer Untersuchung,<br />

inwiefern der «Sense of<br />

Coherence» <strong>und</strong> das Ausmass<br />

bedürfnisbefriedigender Erfahrungen<br />

die <strong>Suizid</strong>alität bei <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n<br />

beeinflussen.<br />

9


Hintergr<strong>und</strong><br />

Durch die Übernahme von<br />

Eigenverantwortung wird der<br />

Patient gestärkt<br />

10<br />

Mit Unterstützung durch das Schweizerische<br />

Rote Kreuz ist die «Consultation pour<br />

victimes de torture et de guerre (ctg)» in<br />

Genf zu einer auch international beachteten<br />

Institution der ambulanten Betreuung<br />

von Kriegs- <strong>und</strong> <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n geworden.<br />

L. litt unter so starken Rückenschmerzen, dass<br />

er sich kaum mehr seiner Familie widmen<br />

konnte. Auch an L.s Arbeitsplatz gab es Konflikte;<br />

die Schmerzen beeinträchtigten seine<br />

Leistung. Rückenschmerzen sind bei <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n<br />

ein häufig auftretendes Symptom. Sie<br />

sind eine Folge des erlittenen psychischen<br />

Traumas, das sich einen körperlichen Ausdruck<br />

sucht. L. lebt als anerkannter Flüchtling<br />

seit vielen Jahren gut integriert in der Schweiz.<br />

Die Beschwerden traten auf, nachdem L. im<br />

Zuge von Bemühungen zur Aufarbeitung der<br />

Verbrechen der Militärdikatur in seinem Heimatland<br />

aufgefordert worden war, seine Geschichte<br />

nochmals aufzurollen. Die plötzliche<br />

Konfrontation mit der Vergangenheit <strong>und</strong> der<br />

Umstand, dass er beweisen musste, dass er<br />

gefoltert worden war, liess L.s Erinnerung an<br />

das erlittene Trauma wieder aufbrechen. Zur<br />

Behandlung in der «Consultation pour victimes<br />

de torture et de guerre (ctg)» überwiesen<br />

wurde L. durch einen der 40 Ärzte, die sich im<br />

<strong>Genfer</strong> Netzwerk zur medizinischen Betreuung<br />

von Asyl Suchenden zusammengeschlossen<br />

haben.<br />

«Der aktuelle Kontext, in dem sie sich befinden,<br />

hat <strong>für</strong> den Ges<strong>und</strong>heitszustand von<br />

Kriegs- <strong>und</strong> <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n eine grosse Bedeutung»,<br />

erklärt Laurent Subilia, Chefarzt <strong>und</strong><br />

Leiter der ctg. «Er hat oft einen grösseren Einfluss<br />

als das Trauma selbst.» Sich lange hinziehende<br />

Asylverfahren beispielsweise<br />

erschweren den Heilungsprozess. «Administrative<br />

Hürden aller Art <strong>und</strong> aktuelle Massnahmen<br />

zur Verschärfung <strong>und</strong> Abschreckung<br />

von Asyl Suchenden sind das Hauptproblem,<br />

mit dem wir zu kämpfen haben. Sie sind ein<br />

wesentlicher ges<strong>und</strong>heitlicher Risikofaktor.»<br />

Viele der Patienten der ctg haben grosse<br />

Schwierigkeiten zu überwinden, bis sie als<br />

<strong><strong>Folter</strong>opfer</strong> anerkannt werden. «Wenn sie zu<br />

uns kommen, haben sie bis zu 20 Stationen<br />

durchlaufen – bei Behörden, bei Ärzten <strong>und</strong> in<br />

Spitälern.» Die Mehrheit der Patienten der ctg<br />

hat kein Asyl erhalten, sondern besitzt bloss<br />

einen Ausländerausweis F oder N. Im letzteren<br />

Fall wird alle drei Monate überprüft, ob die<br />

betreffende Person in der Schweiz bleiben<br />

kann. Diese Unsicherheit führe zu enormer<br />

psychischer Belastung, sagt Sylvie Rombaldi<br />

Juan-Torres, eine der beiden Psychologinnen,<br />

die an der ctg arbeiten. «Zu den im Krieg oder<br />

unter der <strong>Folter</strong> erlittenen Verletzungen kommen<br />

mannigfaltige Schwierigkeiten im Gastland<br />

dazu. <strong>Das</strong> bewirkt bei unseren Patienten<br />

grosse Konfusion <strong>und</strong> kann sie zusätzlich<br />

krank machen.» Ein wahrer Teufelskreis.<br />

Vom SRK unterstützt<br />

Die Anfänge der ctg liegen 20 Jahre zurück.<br />

Sie war zuerst Teil des <strong>Genfer</strong> Tropeninstituts.<br />

Die wichtigste Aufgabe der Vorgängerinstitution<br />

war damals das Impfen von Asyl Suchenden.<br />

Anfangs der 90er Jahre erkannte das<br />

Team um Laurent Subilia, dass bei den afrikanischen<br />

Patienten neben Tropenkrankheiten<br />

immer mehr Probleme mit erlittener Gewalt<br />

auftraten. Der Internist absolvierte in der<br />

Folge in Kopenhagen eine Spezialausbildung<br />

zur Rehabilitation <strong>für</strong> Kriegs- <strong>und</strong> <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>.<br />

1997 arbeitete Caroline Schlar <strong>für</strong> einige<br />

Monate in der ctg. Die Psychologin <strong>und</strong> spätere<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin des<br />

Departements Migration des Schweizerischen<br />

Roten Kreuzes richtete ihre Aufmerksamkeit<br />

auf die psychotherapeutischen Bedürfnisse der<br />

Patienten. Vor zwei Jahren trat sie erneut ins<br />

Team der ctg ein. In der Zwischenzeit hatte sie<br />

während mehreren Jahren Erfahrungen in der<br />

Türkei gesammelt, wo sie mit Traumaopfern in<br />

der Folge von <strong>Folter</strong> <strong>und</strong> Erdbeben arbeitete.<br />

Caroline Schlar war auf Seiten des SRK massgeblich<br />

an der Ausarbeitung des Vertrags zwi-


schen dem Roten Kreuz <strong>und</strong> den <strong>Genfer</strong> Universitätsspitälern<br />

(HUG) beteiligt (siehe<br />

Kasten). Die Unterstützung durch das SRK<br />

ermöglicht der ctg, ihren Patienten <strong>und</strong> Patientinnen<br />

eine multidisziplinäre Behandlung anzubieten,<br />

das heisst, eine Behandlung, die<br />

neben den medizinischen auch die psychologischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Aspekte berücksichtigt.<br />

Da<strong>für</strong> wurde das Team um 150 Stellenprozente<br />

aufgestockt. Es besteht jetzt aus zwei Ärzten –<br />

der zweite Arzt ist Guillaume Bron – <strong>und</strong> zwei<br />

Psychotherapeutinnen. Für physiotherapeutische<br />

Behandlungen kann die ctg auf einen<br />

anderen Dienst der HUG zurückgreifen. <strong>Das</strong><br />

Expertenteam der ctg nimmt zusätzlich auch<br />

Abklärungen im Auftrag anderer Institutionen<br />

wahr.<br />

Der Patient entscheidet mit<br />

Durch den Ausbau <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene<br />

Konsolidierung hat die ctg innerhalb des <strong>Genfer</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitswesens an Gewicht gewonnen.<br />

«Wir werden stärker wahrgenommen», sagt<br />

Laurent Subilia. Die ctg ist als Institution, die<br />

über ein spezifisches Expertenwissen verfügt,<br />

anerkannt. Eine Folge davon ist die Vernetzung<br />

mit der internationalen Wissenschaftsgemeinde.<br />

Dort findet das Konzept der <strong>Genfer</strong><br />

Beachtung. «Unsere Spezialität», erklärt Caroline<br />

Schlar, «besteht darin, dass wir am Anfang<br />

einer neuen Behandlung eine Abklärung<br />

in der Gruppe vornehmen.» Neben den Angehörigen<br />

des Teams, das je nach Bedarf mit<br />

weiteren Personen – wie z.B. einem Sozialarbeiter,<br />

einer Pflegefachperson oder einer Phy-<br />

siotherapeutin ergänzt wird –, ist auch der<br />

Patient direkt an diesem Prozess beteiligt.<br />

«Wir fragen ihn nach seinen Prioritäten.»<br />

Opfer von Krieg <strong>und</strong> <strong>Folter</strong> haben in der Regel<br />

grosse Angst davor, nicht Herr der Situation zu<br />

sein. In der Gefangenschaft haben sie einen<br />

extremen Kontrollverlust erlebt. Die direkte<br />

Mitbeteiligung an der Wahl der Behandlung<br />

wirkt als Empowerment <strong>für</strong> die Betroffenen.<br />

Sie führt dazu, dass die Patienten Verantwortung<br />

übernehmen <strong>und</strong> sich von Anfang an<br />

aktiv an ihrer Heilung beteiligen. In der ctg<br />

habe man mit dieser Vorgehensweise sehr gute<br />

Erfahrungen gemacht, sagt Subilia. Nach<br />

sechs Monaten trifft sich die Gruppe wieder<br />

zum Konsilium. Dann wird – wieder mit<br />

Beteiligung des Patienten – entschieden, ob<br />

die Behandlung abgeschlossen werden kann<br />

oder in veränderter Form weitergeführt werden<br />

muss.<br />

Auch Im Falle von L. wurde die Behandlung<br />

entsprechend den Wünschen des Patienten<br />

gestaltet. Es zeigte sich, dass es richtig gewesen<br />

war, das Augenmerk vor allem auf die<br />

Rückenschmerzen zu richten <strong>und</strong> diese gezielt<br />

zu behandeln. Die Beschwerden sind dank der<br />

Physiotherapie stark zurückgegangen. Der<br />

Konflikt am Arbeitsplatz konnte gelöst werden,<br />

L. schenkt seiner Familie wieder mehr<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> seine Gedanken sind<br />

auch auf die Zukunft gerichtet, auf die Zeit<br />

nach seiner Pensionierung – nicht nur auf die<br />

Vergangenheit mit all ihren belastenden Erinnerungen.<br />

ctg – das <strong>Genfer</strong><br />

<strong>Ambulatorium</strong><br />

<strong>für</strong> Kriegs- <strong>und</strong><br />

<strong><strong>Folter</strong>opfer</strong><br />

Die Consultation pour victimes<br />

de torture et de guerre (ctg) in<br />

ihrer heutigen Form ist 2005 aus<br />

der vertraglich geregelten Zusammenarbeit<br />

zwischen dem Schweizerischen<br />

Roten Kreuz <strong>und</strong> den<br />

Hôpitaux universitaires de<br />

Genève (HUG, <strong>Genfer</strong> Universitätskliniken)<br />

entstanden. Administrativ<br />

ist die Consultation<br />

(<strong>Ambulatorium</strong>) dem vom Département<br />

de médicine communautaire<br />

der <strong>Genfer</strong> Universitätskliniken<br />

betriebenen Centre santé<br />

migrants (Ges<strong>und</strong>heitszentrum<br />

<strong>für</strong> MigrantInnen) angeschlossen.<br />

<strong>Das</strong> Centre santé migrants <strong>und</strong><br />

die ctg teilen sich die Räumlichkeiten.<br />

Diese befinden sich in<br />

einer Aussenstelle der HUG im<br />

Stadtteil Servette. Die ctg kann<br />

bei Bedarf auf die Ressourcen des<br />

Ges<strong>und</strong>heitszentrums (psychiatrische<br />

Interventionen, Pflege) <strong>und</strong><br />

anderer Dienste der HUG zurückgreifen.<br />

Die ctg bildet Teil eines dezentralen<br />

Netzwerks von Ambulatorien<br />

<strong>für</strong> Kriegs- <strong>und</strong> <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong> in der<br />

Schweiz, die vom SRK betrieben<br />

(Wabern) oder unterstützt (Genf,<br />

Lausanne, Zürich) werden. Ziel<br />

der Partnerschaft ist es, durch den<br />

Austausch von therapeutischer<br />

Erfahrung das Wissen <strong>und</strong> die<br />

Kompetenz im Bereich der medizinischen<br />

<strong>und</strong> psychosozialen<br />

Betreuung von Kriegs- <strong>und</strong> <strong><strong>Folter</strong>opfer</strong>n<br />

zu stärken.<br />

11


Spende<br />

Ihre Spende hilft.<br />

Herzlichen Dank!<br />

AMBULATORIUM<br />

FÜR FOLTER- UND KRIEGSOPFER SRK<br />

Werkstrasse 16 • 3084 Wabern<br />

Telefon 031 9607777 Telefax 031 96077 88<br />

ambulatorium.miges@redcross.ch<br />

PC 70-79907-1 (Vermerk <strong>Ambulatorium</strong>)<br />

Psychiatrische Poliklinik<br />

Culmannstrasse 8 8091 Zürich<br />

Telefon 01 255 52 80 Telefax 01 255 44 08<br />

www.psychiatrie.unispital.ch

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