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TRINKEN<br />
IN MEXIKO<br />
PULQUE KOMMT &<br />
MEZCAL BLEIBT<br />
2/ 2021 — 19. Jahrgang<br />
E<strong>in</strong>zelverkaufspreis: [D] 9,50 € — [A, LUX] 10,50 € — [CH] 11 CHF<br />
DER BESTE<br />
WEISSE RUM<br />
DAS GROSSE TASTE FORUM<br />
MIXEN MIT AMARO<br />
DIE DNA DES BEKANNTEN<br />
UNBEKANNTEN
ZEHN<br />
IM BACKBOARD<br />
DEINER LIEBLINGSBAR<br />
Was <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form genießbar ist, wurde mit ziemlicher<br />
Sicherheit auch schon gebrannt oder vergeistet. Mal mit mehr,<br />
oft mit weniger Erfolg. Manchmal liegt der Erfolg auch im<br />
Auge des Betrachters. Oder auf dessen Kehle. E<strong>in</strong>e Auswahl<br />
ungewöhnlicher Geiste und Brände, die das Rückbuffet mancher<br />
Bar ungeme<strong>in</strong> aufwerten würden <strong>–</strong> entweder als fe<strong>in</strong>e<br />
Sipp<strong>in</strong>g-Sensation oder als allerletztes Rauswurf-Argument.<br />
14
Text Marco Beier<br />
Illustration Constant<strong>in</strong> Karl<br />
1.<br />
UNGELAGERTER<br />
CIDREBRAND<br />
»Blanche de Normandie« heißt die Variante<br />
etwa bei Christian Drou<strong>in</strong>. Während das<br />
wohl berühmteste Destillat der Normandie,<br />
der Calvados, immer e<strong>in</strong> Holzfass und e<strong>in</strong>e<br />
Menge Zeit benötigt, um se<strong>in</strong> volles Aroma zu<br />
entfalten, kommt dieser klare Brand direkt <strong>in</strong><br />
die Flasche. Kräftige und frische Fruchtnoten<br />
von klarem Apfel zeichnen diesen Brand aus,<br />
den so manche Kenner als »Obstler im schicken<br />
Anzug« bezeichnen.<br />
2.<br />
ZIRBENSCHNAPS<br />
E<strong>in</strong>es der Mitbr<strong>in</strong>gsel, die fast jeden Tirol-Urlaub<br />
begleiten, ist e<strong>in</strong>e Flasche Zirbenlikör.<br />
Süß und kräftig mit leichter Zitrusnote und<br />
dem typischen Nadelwald-Aroma. Etwas seltener,<br />
aber aromatisch deutlich spannender<br />
ist der große Bruder: der Zirbengeist. Die Zapfen<br />
der Zirbelkiefer werden nach dem Pflücken<br />
von Hand <strong>in</strong> Alkohol e<strong>in</strong>gelegt und danach<br />
noch e<strong>in</strong>mal destilliert. Wer Saunagänge<br />
schätzt, wird e<strong>in</strong>en persönlichen Aufguss mit<br />
Zirbengeist und se<strong>in</strong>en ganz speziellen Aromen<br />
lieben.<br />
3.<br />
CHICORÉE<br />
WURZELBRAND<br />
Was soll man über e<strong>in</strong> Gemüse denken, das im<br />
Supermarkt immer separat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kiste liegen<br />
muss? Die bitteren Knospen dieser zarten<br />
Wurzel werden hauptsächlich als Rohkostsalat<br />
oder gedünstet genossen. Wäre man <strong>in</strong> Belgien<br />
nicht so vernarrt <strong>in</strong> Chicorée, vielleicht wäre er<br />
längst ausgestorben. So aber reicht der Ruhm<br />
weit über die Grenzen von Brüssel h<strong>in</strong>aus.<br />
Nicht nur von der Stählemühle gab es e<strong>in</strong>en<br />
Geist der Chicorée-Wurzel <strong>–</strong> auch im Spreewald<br />
wird dieser ungewöhnliche Geist noch<br />
produziert.<br />
4.<br />
GURKENGEIST<br />
Bleiben wir bei Spezialitäten aus dem Spreewald.<br />
Nicht nur die berühmten e<strong>in</strong>gelegten<br />
Spreewaldgurken s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e bekannte Spezialität<br />
(s. auch Seite 69). Der Rohstoff dieser nationalen<br />
Delikatesse kann nach dem E<strong>in</strong>legen <strong>in</strong><br />
Alkohol und dem Mazerieren der Aromen zu<br />
e<strong>in</strong>em Gurkengeist gebrannt werden, der mit<br />
se<strong>in</strong>em sehr speziellen Aroma sowohl kreative<br />
Barleute als auch Connaisseure begeistern<br />
kann. Wenig überraschend: Auch Gurken von<br />
anderswo liefern e<strong>in</strong>en exzellenten Geist.<br />
5.<br />
SPARGELGEIST<br />
Mit wenig kann man den deutschen Gaumen<br />
so e<strong>in</strong>fach h<strong>in</strong>ter dem Ofen hervorlocken wie<br />
mit Gemüsespargel. Kaum ist die Spargelsaison<br />
eröffnet, f<strong>in</strong>det sich ke<strong>in</strong> Restaurant mehr<br />
ohne Spezialkarte. Dabei muss man das Gemüse<br />
gar nicht <strong>in</strong> flüssiger Butter oder Sauce Hollandaise<br />
ertränken. Der Geschmack lässt sich<br />
auch hervorragend als Geist konservieren. Man<br />
munkelt, der Geist lasse sich auch mit Tonic<br />
als exklusiver Longdr<strong>in</strong>k genießen.<br />
6.<br />
KAROTTENBRAND<br />
Der Name Reisetbauer hat unter den Edeldestillaten<br />
e<strong>in</strong>en ganz besonderen Klang.<br />
Kenner hochwertiger Spirituosen freuen sich<br />
immer besonders, wenn e<strong>in</strong>e Flasche des österreichischen<br />
Edelbrenners auf den Tisch<br />
kommt. E<strong>in</strong>es der ungewöhnlichen Destillate,<br />
mit denen nachhaltig begeistert wird, ist der<br />
Karottenbrand. Die klassischen Aromen der<br />
Karotte mit ihrer erdig-krautigen Süße s<strong>in</strong>d<br />
e<strong>in</strong> außergewöhnliches Geschmackserlebnis<br />
und können auch exklusiven Dr<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>e spezielle<br />
Note verleihen.<br />
7.<br />
SPINATGEIST<br />
Jetzt wird es ungewöhnlich und Popeye hätte<br />
sicher se<strong>in</strong>e helle Freude an diesem Schnaps.<br />
Unter anderem konnte sich die Wiener Spirituosenmanufaktur<br />
Invivo Spirits e<strong>in</strong>en Namen<br />
mit dem grünen Blattgemüse machen. Als<br />
gleichzeitig erdig und angenehm frisch wird<br />
dieser Geist beschrieben und könnte sogar<br />
überzeugte Sp<strong>in</strong>atgegner davon überzeugen,<br />
dass die Blätter auch außerhalb der Kühltruhe<br />
e<strong>in</strong>e Dase<strong>in</strong>sberechtigung haben.<br />
8.<br />
STEINPILZGEIST<br />
Na gut, steigern wir uns doch re<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Welt<br />
dieser gänzlich außergewöhnlichen Spirituosen.<br />
In den letzten Jahren haben sich immer<br />
mehr Brenner mit der Verarbeitung der Sporengewächse<br />
beschäftigt. Auch hier s<strong>in</strong>d es die<br />
erdigen, dunklen Aromen, die diese Spirituose<br />
ausmachen und so besonders prägen. Ob der<br />
Rat mehrerer Brenner, das Destillat als Zutat<br />
beim Kochen zu nutzen anstatt es pur zu degustieren,<br />
auf die geschmackliche Exklusivität<br />
schließen lässt, sei hier jedem selbst überlassen<br />
(s. auch Seite 67).<br />
9.<br />
ELSBEERE<br />
Kommen wir zu etwas, das eher sehr selten<br />
als unglaublich ungewöhnlich ist. Das Destillat<br />
aus Kernobst wird durch den Rohstoff zur<br />
Exklusivität. Elsbeerbäume benötigen 20 <strong>–</strong> 30<br />
Jahre, bis sie Früchte tragen, dann aber auch<br />
nur alle paar Jahre. Für e<strong>in</strong>en Liter Destillat<br />
benötigt man bis zu 30 kg der seltenen Frucht.<br />
Das Ergebnis besticht den Gaumen dann mit<br />
den süßlichen Aromen von Mandel und e<strong>in</strong>er<br />
nussig-herben Würze. Der Elsbeerbaum ist im<br />
Übrigen so selten, dass er auf der roten Liste<br />
steht.<br />
10.<br />
KRAUTINGER<br />
Der krönende Abschluss: e<strong>in</strong> Destillat mit<br />
geschützter Herkunftsbezeichnung. Exklusiv<br />
<strong>in</strong> der Region der Wildschönau darf aus der<br />
Stoppelrübe der echte Kraut<strong>in</strong>ger gebrannt<br />
werden. Kaiser<strong>in</strong> Maria Theresia erteilte bereits<br />
im 18. Jahrhundert das exklusive Recht an<br />
die Bauern der Region, diese ungewöhnliche<br />
Spirituose herzustellen. Duft und Geschmack<br />
werden gern beschönigend als »eigenwillig« beschrieben.<br />
Doch ehrlich? Der Stoff ist wirklich<br />
nur für Liebhaber und es gab Zeiten, da wurde<br />
Kraut<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> Münchner Bars als Rausschmeißer<br />
serviert, der wirksamer war als e<strong>in</strong>e offizielle<br />
Sperrstunde. Alle<strong>in</strong> das Öffnen der Flasche<br />
lässt alle Anwesenden aufgrund des Geruchs<br />
zusammenzucken. Schmecken lassen! __<br />
15
AUF EIN GLAS MIT ...<br />
Text & Interview Sarah Liewehr<br />
Fotos Tim Klöcker<br />
»WIR SIND EIN<br />
ORT«<br />
Katja Hiendlmayer und Olaf Matthey betreiben seit<br />
2017 das traditionsreiche »Bürkner Eck« und machten<br />
es zu e<strong>in</strong>er der eigenständigsten Bars Berl<strong>in</strong>s.<br />
26
Ganz zu Beg<strong>in</strong>n der<br />
Corona-Krise gehörten sie zu<br />
den ersten Bars, die Bottled<br />
Cocktails zu e<strong>in</strong>em ernsthaften<br />
Thema machten <strong>–</strong> und<br />
sie tun es bis heute. Doch<br />
sie s<strong>in</strong>d auch so ehrlich zuzugeben,<br />
dass die Resignation<br />
wächst, dass das echte<br />
Bar-Se<strong>in</strong> fehlt. E<strong>in</strong> Gespräch<br />
mit Überzeugungstätern.<br />
Mixology: Fangen wir e<strong>in</strong>fach mal von vorne<br />
an. Wie kamt ihr zum Bürkner Eck? Als ich<br />
2014 herzog, war die Bar ja noch ganz anders.<br />
Olaf Matthey: Ja, das war auch unsere Zeit<br />
als Gast dort. Wir wohnten damals ganz <strong>in</strong> der<br />
Nähe und das Bürkner Eck war e<strong>in</strong>er unserer<br />
Liebl<strong>in</strong>gsorte.<br />
Katja Hiendlmayer: Im Grunde war das, als<br />
wir uns kennenlernten. Wir kamen als Gäste<br />
seit 2012 schon hierher. Olaf hat am Wochenende<br />
im Würgeengel und im Buck & Breck<br />
gearbeitet und dann saßen wir oft sonntags<br />
lange zusammen hier am Tresen. Irgendwann<br />
hat der Vorbesitzer uns morgens um vier den<br />
Laden angeboten, denn er suchte nach jemandem,<br />
der ihn versteht und weiterentwickeln<br />
kann. Da kam er auf Olaf, er wusste ja, dass<br />
Olaf Barmann ist.<br />
Matthey: Es hat dann noch e<strong>in</strong>, zwei Jahre gedauert,<br />
dann wiederholte er die Frage und alles<br />
g<strong>in</strong>g ganz schnell. Wir hatten uns dazu bereits<br />
ernsthaft Gedanken gemacht und dann sofort<br />
zugesagt.<br />
Wann war das genau?<br />
Hiendlmayer: 2017, das g<strong>in</strong>g dann superschnell.<br />
Wir waren e<strong>in</strong>en Monat unterwegs,<br />
kamen wieder <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> an, der Vorbesitzer hat<br />
gefragt und kurze Zeit später haben wir den<br />
Vertrag unterschrieben. Es war auch völlig klar,<br />
dass wir das zu zweit machen wollten.<br />
Hättest du dir das schon immer vorstellen<br />
können, e<strong>in</strong>e Bar zu haben, Katja? Du als<br />
erfolgreiche Fotograf<strong>in</strong>?<br />
Hiendlmayer: Für mich alle<strong>in</strong>e war das nie<br />
e<strong>in</strong>e Idee, denn ich b<strong>in</strong> glücklich mit me<strong>in</strong>em<br />
Job, fotografiere leidenschaftlich gerne<br />
und habe noch tausend andere Interessen. In<br />
Verb<strong>in</strong>dung mit Olaf aber schon. Es war klar,<br />
wenn Olaf e<strong>in</strong>e Bar macht, würde ich als se<strong>in</strong>e<br />
Lebenspartner<strong>in</strong> sowieso <strong>in</strong>direkt daran<br />
teil haben. Zumal ich persönlich auch vorher<br />
schon viel mit der Barwelt zu tun hatte.<br />
Matthey: Das war auch Grundlage der Entscheidung<br />
an sich. Dass ich alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e Bar<br />
mache, ohne Katja an me<strong>in</strong>er Seite, kam nicht<br />
<strong>in</strong>frage.<br />
Hiendlmayer: Wir hatten bereits fünf Jahre<br />
<strong>in</strong> unterschiedlichen Rhythmen zusammengelebt.<br />
Um die Bar mit den K<strong>in</strong>dern unter e<strong>in</strong>en<br />
Hut zu br<strong>in</strong>gen, muss bei uns jeder alle Positionen<br />
besetzen können.<br />
Matthey: Wir wussten aus vielen Bereichen,<br />
wie gut es funktioniert zusammenzuarbeiten.<br />
Wir hatten auch schon jahrelang geme<strong>in</strong>sam<br />
fotografiert.<br />
Hiendlmayer: Ja, die Dr<strong>in</strong>ks bei den Fotoshoot<strong>in</strong>gs<br />
darf nur Olaf machen (lacht).<br />
Was war eure Idee, als ihr die Bar übernommen<br />
habt? Wolltet ihr das Konzept verändern?<br />
Matthey: Der Vorbesitzer hatte im Grunde<br />
das gemacht, was mir schon vor 20 Jahren im<br />
Würgeengel wichtig war, nämlich die verschiedenen<br />
Gaststrukturen zusammenzubr<strong>in</strong>gen.<br />
Das heißt: im Kiez se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e offene Tür haben,<br />
aber eben vor allem auch denen, die e<strong>in</strong>en guten<br />
Dr<strong>in</strong>k haben wollen, etwas bieten.<br />
Hiendlmayer: Wir wollen Begegnungsstätte<br />
se<strong>in</strong> und die Gäste zusammenführen.<br />
Matthey: Im Raum selbst haben wir nur wenig<br />
verändert. Zuerst nur langsam etwas aufgebessert,<br />
Katja würde »retuschiert« sagen.<br />
Aber mehr Licht gibt es jetzt, <strong>in</strong> der Anfangsphase<br />
war es ja mit re<strong>in</strong>em Kerzenlicht<br />
stockdunkel.<br />
Hiendlmayer: Es gibt e<strong>in</strong> paar wenige Sachen,<br />
die wir von Anfang an ändern wollten. Haupt-<br />
sächlich g<strong>in</strong>g es uns darum, e<strong>in</strong>en Übergang zu<br />
schaffen, der so sanft wie möglich ist. Und das<br />
hat geklappt! Es hat e<strong>in</strong> Jahr gedauert, bis viele<br />
Gäste realisiert haben, dass das Bürkner Eck<br />
neue Betreiber hat.<br />
Matthey: Wir waren vorsichtig, hatten auch<br />
e<strong>in</strong> paar Dr<strong>in</strong>ks von früher übernommen und<br />
es gab e<strong>in</strong>en schleichenden Übergang, für den<br />
wir etwa e<strong>in</strong> Jahr geplant hatten. Aber den Namen<br />
wollten wir nicht ändern. Der hat hier an<br />
dem Ort Tradition.<br />
Hiendlmayer: Außerdem haben wir die Tür<br />
aufgemacht, die Gäste werden persönlich <strong>in</strong><br />
Empfang genommen. Und ja, wir wollten es<br />
etwas heller machen. Vom ersten Geld sollten<br />
die Toiletten renoviert werden (lacht) und außerdem<br />
wollten wir die Dr<strong>in</strong>k-Qualität nochmals<br />
etwas anheben.<br />
Wie habt ihr die Karte verändert? Es gibt mehr<br />
Lokalfokus, würde ich sagen, oder?<br />
Hiendlmayer: Mit se<strong>in</strong>en sechs Jahren im<br />
Buck & Breck kamen natürlich e<strong>in</strong>ige von<br />
Olafs E<strong>in</strong>flüssen von dort.<br />
Matthey: … und durch dieses Wissen wiederum<br />
mit Saisonalität <strong>–</strong> wenn auch nicht <strong>in</strong> der<br />
Konsequenz wie im Velvet <strong>–</strong> und mit Produkten<br />
aus der Region zu komb<strong>in</strong>ieren.<br />
Hiendlmayer: Ich denke, das kam auch mit<br />
dem »Craft Spirits Festival«. In dem Zusammenhang<br />
wurde uns klar, mit wie viel tollen<br />
Herstellern wir eh bereits zusammenarbeiten,<br />
und wir haben auch e<strong>in</strong>ige neue kennengelernt.<br />
Das entwickelt sich ja immer weiter. Wir<br />
setzen auf persönliche Kontakte, anstatt auf irgendwelche<br />
Züge aufzuspr<strong>in</strong>gen.<br />
Matthey: Dabei hebt man auch den e<strong>in</strong> oder<br />
anderen Schatz, und es macht Spaß, damit zu<br />
arbeiten und neue Dr<strong>in</strong>ks zu entwickeln.<br />
Hiendlmayer: Das Craft Spirits Festival hat<br />
schon viel angeschoben, wir haben damals e<strong>in</strong>e<br />
ganz Karte nur für das Festival erstellt. Da s<strong>in</strong>d<br />
27
COCKTAIL<br />
A<br />
ANATOMIE<br />
DES<br />
M<br />
Text Roland Graf<br />
Fotos Jule Frommelt<br />
Dr<strong>in</strong>k Design Sam Orrock<br />
A<br />
R<br />
Die Bar hat e<strong>in</strong>e Zeitmasch<strong>in</strong>e,<br />
benutzt sie aber<br />
nie. »Amaro« heißt sie und<br />
beamt e<strong>in</strong>en zu Alraunen-Gräbern,<br />
Ausbeutern<br />
und Apothekern. Die<br />
Geschichte des Bitterlikörs<br />
legt die DNA jedes<br />
balancierten Mixgetränks<br />
offen. Interessiert nur<br />
ke<strong>in</strong>en! E<strong>in</strong>e mixologische<br />
Motivsuche <strong>in</strong> acht Dr<strong>in</strong>ks.<br />
O<br />
34
P<br />
A<br />
P<br />
E<br />
R<br />
P<br />
L<br />
A<br />
N<br />
E<br />
Sam Ross,<br />
Attaboy et. al., NYC<br />
3 cl Bourbon<br />
3 cl Amaro<br />
3 cl Aperol<br />
3 cl frischer Zitronensaft<br />
Zutaten im Shaker mischen<br />
und auf Eiswürfeln kräftig<br />
schütteln. Doppelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
vorgekühlte Coupette<br />
abseihen und mit e<strong>in</strong>er<br />
Grapefruitzeste garnieren.<br />
35
Zum<strong>in</strong>dest er selbst arbeitet mit verschiedenen<br />
Amari <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Cocktails, nicht nur dem<br />
Mount Rushmore. Doch auch Pistolesi sieht<br />
die Erzeuger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Br<strong>in</strong>gschuld, wenngleich<br />
sich das langsam ändere: »Amaro Lucano<br />
oder Amaro Montenegro machen da e<strong>in</strong>en<br />
guten Job bei der Weiterbildung.« Auch ohne<br />
scholastischen Überbau und Klosterapotheke<br />
reicht e<strong>in</strong> solcher Bildungsauftrag weit zurück.<br />
Weniger zeitlich, aber mentalitätsgeschichtlich:<br />
Während wir schockiert Dokus über die<br />
»Zuckerlüge« glotzen und über Besteuerung<br />
von Süßungsmitteln nachdenken, lebten die<br />
Alchemisten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weitgehend Süße-losen<br />
Welt. Honig war natürlich bekannt, auch Süßholz<br />
und -gras. Das war’s da aber auch.<br />
Bitteres Los: Hamlet würde<br />
Zucker kaufen<br />
Denn ironischerweise bewegte sich der Rohrzucker<br />
immer weiter von Europa weg. Zunächst<br />
e<strong>in</strong> weitgehend genuesisches Monopol<br />
im östlichen Mittelmeerraum, nahmen später<br />
Madeira und die Azoren den Status als Zucker<strong>in</strong>seln<br />
e<strong>in</strong>, ehe man die Karibik entdeckt hatte.<br />
Bis man endlich ganz Barbados <strong>–</strong> um das<br />
brutalste Beispiel zu nennen <strong>–</strong> per Rodung <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e schwimmende, sklavereibetriebene Raff<strong>in</strong>erie<br />
verwandelt hatte, verg<strong>in</strong>g noch e<strong>in</strong>ige<br />
Zeit. Fronarbeit und die 24-Stunden-Produktion<br />
nahmen die <strong>in</strong>dustrielle Ausbeutung des 19.<br />
Jahrhunderts <strong>in</strong> der Karibik dann aber um gut<br />
200 Jahre vorweg.<br />
Der schmerzlich vermisste Zucker f<strong>in</strong>det sogar<br />
<strong>in</strong> die Literatur E<strong>in</strong>gang. E<strong>in</strong> Krokodil würde<br />
er aufessen, ja sogar Eisel tr<strong>in</strong>ken, wenn er<br />
nur se<strong>in</strong>e Ophelia wiederhätte, jammert Shakespeares<br />
bekanntester Pr<strong>in</strong>z. Der melancholische<br />
Hamlet und der bittere Kräuterwe<strong>in</strong> Eisel<br />
<strong>–</strong> e<strong>in</strong> Import auf die britischen Inseln <strong>–</strong> passen<br />
bestens zue<strong>in</strong>ander. Schwerlich kann man sich<br />
den Dänenpr<strong>in</strong>z mit e<strong>in</strong>em Old Tom G<strong>in</strong> vorstellen.<br />
Doch zurück zum langen Werdungsprozess<br />
von kommerziell verfügbarem Amaro. Der<br />
setzte mit dem Imperialismus e<strong>in</strong>, der nicht<br />
nur Zucker-Importe aus »beiden Amerikas«<br />
ermöglichte, sondern auch neue Bitterquellen<br />
erschloss. Bis heute lautet e<strong>in</strong> zweiter Name<br />
der Kassiawurzel, die aus Brasilien und Guyana<br />
kam, im Spanischen amargo, also schlicht<br />
»bitter«. Der später sehr verbreitete Deutsche<br />
Ingwer, die jedem Apothekenbesucher olfaktorisch<br />
vertraute Kalmus-Wurzel, wiederum<br />
stammt aus Ch<strong>in</strong>a, die »Ch<strong>in</strong>ar<strong>in</strong>de« h<strong>in</strong>gegen<br />
aus Peru. G<strong>in</strong>seng gelangte ebenso aus Fernost<br />
<strong>in</strong> die Magenbitter-Rezepturen wie die Maca-Wurzeln<br />
aus den Anden.<br />
Zwischen Heilserum und bitterem<br />
Schlamm<br />
Die Mischung der heimischen Kräuter mit<br />
den Exoten baut auf den unterschiedlichen<br />
Eigenschaften der Zutaten auf. So gilt etwa<br />
das Tausendgüldenkraut als Bittergeber ohne<br />
großen Eigengeschmack, aber mit großer Adstr<strong>in</strong>genz<br />
am Gaumen <strong>–</strong> was sich perfekt mit<br />
floral-süßen Zutaten verb<strong>in</strong>det. Und natürlich<br />
braucht es auch e<strong>in</strong> sogenanntes »Fixativ«, wie<br />
die Parfümeure es nennen. Engelwurz erfüllt<br />
diese Funktion bestens (auch <strong>in</strong> etlichen G<strong>in</strong>s).<br />
Bartendern fällt bei diesen Kräutern, die alle<br />
Aromen zusammenb<strong>in</strong>den, natürlich der Barbitter<br />
e<strong>in</strong>, der am Stammbaum des Amaro als<br />
mächtiger Seitenarm namens »Aromatic Bitters«<br />
zu f<strong>in</strong>den ist. Und bei denen man <strong>–</strong> nicht<br />
zu Unrecht <strong>–</strong> an Pharmazeuten wie Anto<strong>in</strong>e<br />
Amédée Peychaud oder den Arzt Johann<br />
Gottlieb Siegert denkt. Bürgerliche Apotheker<br />
übernahmen das Staffelholz von den Abteien.<br />
In Mixology 1/2021 hat Gabriel Daun<br />
diese Zeit gut auf e<strong>in</strong>en Nenner gebracht: »Liköre<br />
waren zunächst also ke<strong>in</strong>e Genussmittel,<br />
sondern lediglich tendenziell pharmazeutische<br />
Elixiere.«<br />
Der kanadische Food-Kolumnist Jonah<br />
Campbell formuliert es noch deftiger: »E<strong>in</strong>e<br />
Kreuzung aus Mediz<strong>in</strong>, zerstampften Pflanzen<br />
und bitterem Schlamm.« Auch er unterstreicht<br />
das lange Fortwirken des mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Images, das so manchen Bitter auch während<br />
der US-Prohibition legal bleiben ließ. Fernet<br />
etwa besaß den Nimbus e<strong>in</strong>es »Allheilmittels<br />
von Menstruationsbeschwerden bis zum Kater«.<br />
Und Campbell gibt auch e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis,<br />
warum es Amaro als Kategorie, nicht als e<strong>in</strong>zelnes<br />
Produkt, schwer mit se<strong>in</strong>er Akzeptanz<br />
im Cocktail hat: »Zwacks Unicum würde <strong>in</strong> der<br />
Verfilmung se<strong>in</strong>es Lebens wohl von Jägermeis-<br />
ter dargestellt werden <strong>–</strong> der ist süßer und besser<br />
verdaubar für e<strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>stream-Publikum.«<br />
Man muss aber nicht <strong>in</strong>s fiktive Bitterlikörk<strong>in</strong>o<br />
gehen, um festzuhalten, dass unter Amaro halt<br />
jeder e<strong>in</strong> anderes Idol verehrt <strong>–</strong> das übrigens<br />
ke<strong>in</strong>eswegs italienischen Ursprungs se<strong>in</strong> muss.<br />
Deutschlands e<strong>in</strong>st »weltberühmter Gebirgskräuterlikör«<br />
(so die Eigenwerbung) verdankt<br />
se<strong>in</strong>e Popularität etwa der Süßequelle: Der<br />
Echt Stonsdorfer Bitter, der ursprünglich<br />
bei W. Koerner <strong>in</strong> Stonsdorf (Staniszów) im<br />
Riesengebirge beheimatet war, nutzte dazu<br />
Heidelbeeren. E<strong>in</strong>e Variante, die auch im skand<strong>in</strong>avischen<br />
Bitter-Bereich üblich ist. So s<strong>in</strong>d<br />
etwa Vogelbeeren beim berühmten Gammel<br />
Dansk e<strong>in</strong>e Grundzutat. Und lustigerweise<br />
empfiehlt der heutige Marken-Eigentümer<br />
Berentzen den Rübezahl-Bitter explizit als<br />
Dr<strong>in</strong>k-Zutat: »Als Basis für fruchtige Cocktails<br />
eignet sich ›Echt Stonsdorfer‹ ausgezeichnet.«<br />
Italien ist, wo Bitterkräuter<br />
wachsen!<br />
Als Begleiter zu Bier <strong>–</strong> e<strong>in</strong>e weitere Empfehlung<br />
<strong>–</strong> führt der ostpreußische Bitter zu e<strong>in</strong>er<br />
weiteren Seitenl<strong>in</strong>ie des Amaro-Stammbaums.<br />
Jenseits der Grenzen hat er dazu e<strong>in</strong>e gut 180<br />
Jahre währende Tradition, bestreut mit Wüstenstaub<br />
und mit Fremdenlegionsromantik<br />
garniert. Der »Picon Bière« ist heute ur-französisch<br />
<strong>in</strong> der Wahrnehmung, wurde aber<br />
im heißen Algerien entwickelt, ehe Gaétan<br />
Picon die Produktion se<strong>in</strong>es mit Enzian und<br />
Ch<strong>in</strong>ar<strong>in</strong>de versetzten Aperitifs 1872 nach Marseille<br />
verlagerte. Und auch der österreichische<br />
Rossbacher mit Tonic erfreute sich sommers<br />
e<strong>in</strong>er Fangeme<strong>in</strong>de, als die Herren noch Hosenträger,<br />
Schnauzbärte und Strohhüte trugen.<br />
Tempi passati, würde man <strong>in</strong> Italien dazu<br />
seufzen. Genau dort explodierte nach 1860 die<br />
Produktion an bittersüßen Mixturen. Was den<br />
Hirten <strong>in</strong> den Abruzzen (e<strong>in</strong>er Enzian-Hochburg)<br />
längst vertraut war, machte sich nun<br />
stadtfe<strong>in</strong>, ja erhielt sogar royale Weihen.<br />
38 Cocktail — Anatomie des Amaro
D<br />
A<br />
N<br />
T<br />
E<br />
’<br />
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L<br />
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F<br />
A<br />
S<br />
H<br />
I<br />
O<br />
N<br />
E<br />
D<br />
Dante, NYC<br />
4 cl Bourbon<br />
2,5 cl Amaro<br />
1 cl Honigsirup (3:1)<br />
2 Dashes Piment Bitters<br />
(oder anderer Aromatic<br />
Bitters)<br />
1 Tropfen Salzlösung (4:1)<br />
Zutaten auf Eiswürfeln im<br />
Rührglas kalt rühren und<br />
auf e<strong>in</strong>en großen Eiswürfel<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vorgekühlten<br />
Tumbler abseihen.<br />
39
SPIRITUOSE<br />
IN UND<br />
EX<br />
Text Markus Orschiedt<br />
Wie viel Innovation passt <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e Brennblase? Macht es<br />
überhaupt S<strong>in</strong>n, sich darüber<br />
den Kopf zu zerbrechen? Was<br />
davon kann der Konsument überhaupt<br />
wahrnehmen und was zählt<br />
wirklich? Wir haben uns mit e<strong>in</strong>igen<br />
Brennern und e<strong>in</strong>em Pionier der<br />
Terroir-Dr<strong>in</strong>ks darüber unterhalten.<br />
Illustrationen: Editienne<br />
64
SPIRITUOSE<br />
VEGE<br />
ZUM<br />
GLÜCK<br />
Schaut man dah<strong>in</strong>, wo heimische<br />
Brenner sich mit abseitigen, aus<br />
klassischer Spirituosensicht <strong>in</strong>novativen<br />
Rohstoffen befassen, bleibt<br />
der Blick <strong>in</strong> sehr vielen Fällen auf<br />
ihm haften: Gemüse. Denn wo auf<br />
der hochprozentigen Fruchtseite<br />
pr<strong>in</strong>zipiell schon fast jede Zutat den<br />
Schritt <strong>in</strong>s Supermarktregal geschafft<br />
hat, bleibt das Gemüse noch immer<br />
e<strong>in</strong> Exot. Warum, das weiß eigentlich<br />
ke<strong>in</strong>er. Schließlich geht es nicht um<br />
Brühe, sondern um Gebranntes.<br />
Text Nils Wrage<br />
Um sich direkt zu<br />
immunisieren gegenüber<br />
potenzieller<br />
Kritik, sei sie akademisch<br />
oder nerdig: Es<br />
soll hier weniger um<br />
die botanische oder sonst<br />
wie trennscharf vollzogene<br />
Unterscheidung zwischen<br />
Obst und Gemüse gehen.<br />
Sondern um die beiden Begriffe,<br />
wie sie im Sprachgebrauch und<br />
damit automatisch auch <strong>in</strong> den Köpfen<br />
der Menschen stattf<strong>in</strong>den. Denn darauf<br />
kommt es an. Recht viele Leute dürften<br />
sogar wissen, dass Kürbis, Gurke und Melone<br />
zur gleichen botanischen Familie gehören.<br />
Das ändert nichts daran, dass die allermeisten<br />
Menschen e<strong>in</strong>en Kürbis und e<strong>in</strong>e Gurke als<br />
Gemüse wahrnehmen und verwenden, die Melone<br />
h<strong>in</strong>gegen als Obst. Und das ist der zentrale<br />
Punkt, wenn man <strong>in</strong> den Sektor der Brände<br />
und Geiste geht. Denn dort lautet e<strong>in</strong>er der<br />
Grundsätze für die erschlagende Mehrheit der<br />
Verbraucher noch immer: Alles aus Obst ist<br />
sozusagen normal, aber Schnaps aus Gemüse<br />
ist <strong>–</strong> <strong>in</strong> vielen Fällen sogar ohne dass man ihn<br />
richtig probiert <strong>–</strong> meistens e<strong>in</strong>fach irgendwie<br />
komisch. Melonenlikör? Klar doch. Kürbisbrand?<br />
Hm.<br />
Insofern verwundert es nur ger<strong>in</strong>gfügig, dass<br />
man bei der Suche nach <strong>in</strong>novativen Bränden<br />
oder Geisten aus der Hand erfahrener<br />
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MIXO ON THE ROAD<br />
DER TRANK<br />
DER SCHLAFENDEN<br />
GÖTTIN<br />
Text Airen<br />
Fotos Eunice Adorno<br />
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E<strong>in</strong> fast vergessenes<br />
prähispanisches<br />
Getränk erlebt <strong>in</strong> den<br />
Hipster vierteln von<br />
Mexico-City e<strong>in</strong> Revival.<br />
Pulque <strong>–</strong> dickflüssiger,<br />
vergorener Agavensaft<br />
<strong>–</strong> ist nicht nur reich an<br />
Nährstoffen. Er weist<br />
e<strong>in</strong>er ganzen Generation<br />
den Weg zurück zu den<br />
Wurzeln ihrer Kultur.<br />
Mit dem Kürbis an die Agave. Pulque<br />
bedeutet immer: Handarbeit<br />
Früh am Morgen, wenn die Berghügel von<br />
Huitzilac aus den Wolken tauchen, wirft Sergio<br />
Ruíz se<strong>in</strong>en Plastikkanister über die Schulter,<br />
klemmt das Kratzmesser unter den Gürtel<br />
und tritt h<strong>in</strong>aus auf die steile Pflasterstraße,<br />
die zu den Agavenfeldern führt. Der eisige<br />
W<strong>in</strong>d des Hochlands rüttelt an den Yuccapalmen,<br />
und Ruíz zieht die Hände <strong>in</strong> die Ärmel<br />
se<strong>in</strong>es Anoraks. In der Ferne blöken die ersten<br />
Schafe. Tausendmal ist Ruíz diesen Weg gegangen.<br />
Seit er e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ist, steigt er jeden Tag die<br />
Bergstraße h<strong>in</strong>auf, durchquert den Kiefernwald,<br />
passiert Blockhütten und erreicht e<strong>in</strong>e<br />
weite Ebene, wo der Tau auf den satten Wiesen<br />
liegt. Dort wuchern majestätische Gewächse<br />
aus dem Boden, zentnerschwer, pat<strong>in</strong>agrün<br />
und mit nadelspitzen Dornen versehen: die<br />
Weißen Agaven von Sergio Ruíz.<br />
Ruíz, 42, Wuschelkopf und müde Augen, gehört<br />
zu den letzten Tlaquicheros im Ort, jenen<br />
Männern, die noch wissen, wie man das Sekret<br />
aus der Agave zapft und daraus Pulque bereitet,<br />
e<strong>in</strong>en fermentierten Trank, nahrhaft und<br />
vitam<strong>in</strong>reich. Be<strong>in</strong>ahe wäre diese Tradition<br />
ausgestorben. Während die Männer von Huitzilac<br />
heute als Holzfäller für große Unternehmen<br />
arbeiten, geht Ruíz nach wie vor <strong>in</strong> die<br />
Hochebene und zapft se<strong>in</strong>e Agaven an, zweimal<br />
täglich, tage<strong>in</strong>, tagaus, denn, so Ruíz: »Die<br />
Agave wird traurig, wenn man sie vergisst.«<br />
Dann versiegt der wertvolle Saft, den sie hier<br />
aguamiel nennen, Honigwasser. Rund fünf<br />
Liter davon geben die mannshohen Gewächse<br />
ab, jeden Morgen, jeden Nachmittag, bis sie<br />
nach e<strong>in</strong> paar Monaten schlaff <strong>in</strong> sich zusammens<strong>in</strong>ken<br />
wie e<strong>in</strong> Fußball, aus dem die Luft<br />
gewichen ist.<br />
Mit dem Kürbis <strong>in</strong>s Agavenherz<br />
Sechs Pflanzen zapft Ruíz derzeit an, rund acht<br />
Jahre hat es gedauert, bis sie reif waren, nun<br />
greift er zwischen die fleischigen Blätter, rollt<br />
e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> aus dem Herzen der Pflanze und<br />
schiebt se<strong>in</strong>en Arm bis zum Anschlag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Aushöhlung, an deren Boden trübe Flüssigkeit<br />
schwimmt. Se<strong>in</strong> wichtigstes Werkzeug ist e<strong>in</strong><br />
länglicher, ausgehöhlter Flaschenkürbis mit<br />
e<strong>in</strong>em Kuhhorn an der Spitze und e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en<br />
Loch an der Rückseite. Das Loch setzt er<br />
an den Mund, die Spitze senkt er <strong>in</strong> die Agave,<br />
er saugt, e<strong>in</strong> schlürfendes Geräusch dr<strong>in</strong>gt ans<br />
Ohr, dann hält er e<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger auf die Spitze<br />
und holt den vollen Kürbis aus der Pflanze. In<br />
dicken Fäden plätschert der Saft <strong>in</strong> Ruíz’ Kanister.<br />
Mit e<strong>in</strong>em Kratzmesser, e<strong>in</strong>er Art scharfem<br />
Flaschenöffner, schält er e<strong>in</strong>ige Schichten weißes<br />
Fruchtfleisch aus der Agave. Gishi nennt<br />
er das Fruchtfleisch, e<strong>in</strong> Begriff noch aus der<br />
Aztekensprache Náhuatl. Jetzt s<strong>in</strong>d die Poren<br />
offen, neuer Saft kann austreten, am Nachmittag<br />
wird ihn Ruíz e<strong>in</strong> zweites Mal absaugen.<br />
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