29.03.2021 Aufrufe

Auszug aus: Natascha Knecht: Pionier und Gentleman der Alpen

Natascha Knecht Pionier und Gentleman der Alpen Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828–1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz

Natascha Knecht
Pionier und Gentleman der Alpen
Das Leben der Bergführerlegende Melchior Anderegg (1828–1914) und die Blütezeit der Erstbesteigungen in der Schweiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

NATASCHA KNECHT<br />

PIONIER UND<br />

GENTLEMAN DER<br />

ALPEN<br />

DAS LEBEN DER BERGFÜHRERLEGENDE<br />

MELCHIOR ANDEREGG (1828–1914)<br />

UND DIE BLÜTEZEIT DER ERSTBESTEIGUNGEN<br />

IN DER SCHWEIZ<br />

LIMMAT VERLAG<br />

ZÜRICH


Für finanzielle Unterstützung danken wir dem Lotteriefonds<br />

des Kantons Bern.<br />

Im Internet<br />

› Informationen zu Autorinnen <strong>und</strong> Autoren<br />

› Hinweise auf Veranstaltungen<br />

› Links zu Rezensionen, Podcasts <strong>und</strong> Fernsehbeiträgen<br />

› Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu einem Buch<br />

› Abonnieren Sie unsere Newsletter zu Veranstaltungen<br />

<strong>und</strong> Neuerscheinungen<br />

www.limmatverlag.ch<br />

Das wandelbare Verlagsjahreslogo des Limmat Verlags<br />

auf Seite 1 stammt <strong>aus</strong> einer Originalserie mit Frisuren <strong>aus</strong><br />

den letzten fünf Jahrh<strong>und</strong>erten von Anna Sommer.<br />

www.annasommer.ch<br />

Die Umschlagfotografie zeigt den Bergführer Melchior<br />

An<strong>der</strong>egg (links) mit seinem «Herrn» <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong><br />

Leslie Stephen in London, 1861.<br />

Typographie <strong>und</strong> Umschlaggestaltung von Trix Krebs<br />

© 2014 by Limmat Verlag, Zürich<br />

ISBN 978-3-85791-751-6


Inhalt<br />

9 Wer ist Melchior An<strong>der</strong>egg?<br />

13 1855 im Grimsel-Hospiz: Die Karriere beginnt<br />

Ambitionierte Gletschertour über den Strahleggpass – Mit<br />

Flöhen im Heubett – Sonnenbrand <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> – Hinchliff<br />

schiesst «wie ein Blitz» in eine Spalte – Stärker als <strong>der</strong> störrische<br />

Wid<strong>der</strong> – Melchiors Kindheit in Zaun bei Meiringen –<br />

Wechsel in den «Schwarenbach» auf <strong>der</strong> Gemmi – Oberlän<strong>der</strong><br />

«Kriegsruf» auf dem Altels<br />

27 Der steinige Weg zum Alpinismus<br />

Die Englän<strong>der</strong> kommen – Kriegsrhetorik in den Bergen –<br />

Rückblick: Die <strong>Alpen</strong> sind schrecklich, Bergbesteigungen verboten<br />

<strong>und</strong> «keineswegs lukrativ» – Mit Pantoffeln auf den<br />

Mont Blanc – «Wo ist jetzt die Jungfrau?»<br />

43 Von Touristen <strong>und</strong> Alpinisten<br />

Die Industrialisierung ruiniert in Grossbritannien die Landschaft<br />

<strong>und</strong> das Essen – Die «gewespeten Taillen» in Interlaken –<br />

Alpinist, <strong>der</strong> neue elitäre gesellschaftliche Stand – «Herr, Sie<br />

klettern so gut wie eine Gemse!» – Die erste kommerzielle<br />

Vermarktung einer Bergtour – Flitterwochen mit dem Bergführer<br />

statt mit <strong>der</strong> Ehefrau<br />

54 Erstbesteigung des Zinalrothorns mit Leslie Stephen<br />

Die Hochalpen als neue Kathedrale – Ein endloses Füllhorn<br />

<strong>der</strong> Ärgernisse – Vor Kälte spielen die Zähne «Schlagzeug zu<br />

Negerweisen» – Rittlings über die «Rasiermesserbrücke» –<br />

Melchiors Freudensprünge an den unmöglichsten Stellen –<br />

Stephens Sturz in eine Gletscherkluft


63 Ein neuer Beruf<br />

Schmiergeld, Verständigungsschwierigkeiten, Lügen –<br />

Bergführer werden patentiert – Nicht ohne meinen Camerado<br />

– «Lotzer» sorgen für Beschwerden – Das komplexe Verhältnis<br />

zwischen «Herr» <strong>und</strong> Führer – Schweizer Bergführer erlangen<br />

Weltruf<br />

79 Melchior heiratet, dann taucht die reiche Lucy Walker auf<br />

Melchior verliebt sich in Margaretha, Lucy verguckt sich in<br />

Melchior – Das «gemeinsame Übernachten des ledigen Jungvolkes»<br />

– Melchiors erste Erstbesteigung – Sein erster Sohn<br />

wird geboren<br />

89 Unfall <strong>und</strong> Rettungsaktion am Col de Miage<br />

Ein 18-jähriger Englän<strong>der</strong> stürzt 530 Meter ab – Sein ganzer<br />

Körper ist von den Schürfungen eine einzige Fleischw<strong>und</strong>e<br />

– Kräftezehrende pedestrische Rettung durch Melchior <strong>und</strong> die<br />

weiteren Bergführer – Rettung <strong>der</strong> Ehre englischer Alpinisten<br />

in <strong>der</strong> Brenvaflanke am Mont Blanc<br />

97 Ausrüstung, Technik <strong>und</strong> Alkohol<br />

Barriere Ambulante – «Der Herr ist im Schr<strong>und</strong>!» – Das Seil,<br />

ein Zeichen <strong>der</strong> Ängstlichkeit – Beliebte «Gepäckträger» – Biwakieren<br />

im Sturm – Gute Gründe, Steigeisen abzulegen – Wein<br />

gehört auf Bergfahrten zur Kultur – Höhenkrankheit, ein<br />

eingebildetes Symptom<br />

115 Im Heilbad ein Empfang «so kalt wie ein Gletscher»<br />

Erstbesteigung des Monte della Disgrazia: «Forwärts meine<br />

Herren!» – Falschen Weg eingeschlagen – Von Blitz <strong>und</strong> Donner<br />

überrascht – Mürrischer Leslie Stephen – Ein englischer Diener<br />

an Melchiors Seil<br />

122 Was macht den grossen Bergführer <strong>aus</strong>?<br />

Ein Schwingfest wie <strong>aus</strong> einem Ritterroman – Eiskunst <strong>und</strong><br />

Spürsinn wie ein Indianer – Eine strenge <strong>und</strong> eine sanfte Natur<br />

– Diplomatie <strong>und</strong> Hochhaltung des Bergführerberufs – Im<br />

Zickzack durch die halbe Schweiz <strong>und</strong> bis nach Slowenien


133 Melchior <strong>und</strong> das Matterhorn<br />

Die Konkurrenz schläft nicht: Lucy Walker, die erste Frau auf<br />

dem Matterhorn – «Courage! Le Diable est mort!»<br />

139 Reiche Touristen, arme Bergler<br />

Pferde, Kutschen <strong>und</strong> Dampfeisenbahn: Die Reisemittel in<br />

den 1860er-Jahren – Bettelei, Ansingerei <strong>und</strong> schlechte Alphorn<br />

tuterei werden polizeilich verboten – Ausländische Gäste<br />

klagen über stinkende Hotels <strong>und</strong> menschliche Parasiten –<br />

In den <strong>Alpen</strong> sind Kröpfe <strong>und</strong> Kretinismus allgegenwärtig<br />

152 Melchior bei den Briten<br />

Der Haslitaler reist dreimal nach England – Rauchende Fabriken<br />

<strong>und</strong> Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett begeistern ihn –<br />

Eine Londoner Galerie stellt seine Holzschnitzkunst <strong>aus</strong><br />

159 Einer <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong>: Melchiors legendärer «Herr»<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong> Leslie Stephen<br />

Stephen legt seinen Priesterorden ab – Im Alpine Club sorgt er<br />

für Zoff – Er heiratet <strong>und</strong> gibt das Bersteigen auf – Seine Ehefrau<br />

stirbt, ebenso seine zweite Ehefrau – Acht Kin<strong>der</strong>, darunter die<br />

spätere Schriftstellerin Virginia Woolf<br />

170 Melchior, <strong>der</strong> Familienpatriarch<br />

Lucy Walker, das grosse Kuriosum am Berg <strong>und</strong> an Melchiors<br />

Seite – Melchiors Leben auf Zaun bei Meiringen – Schicksalsschläge,<br />

Krankheit <strong>und</strong> Tod<br />

183 Anhang<br />

Karte <strong>der</strong> Schauplätze – Erstbe steigungen – Nachgewiesene<br />

Besteigun gen <strong>und</strong> Übergänge – Ein Beispiel: Sechs Wochen mit<br />

Melchior An<strong>der</strong>egg – Das An<strong>der</strong>eggjoch – Melchior An<strong>der</strong>eggs<br />

Erbe – Grosse Schweizer Bergführer – Quellen <strong>und</strong> Literatur –<br />

Register <strong>der</strong> Berge <strong>und</strong> Orte – Namensregister


WER<br />

IST MELCHIOR<br />

ANDEREGG?<br />

Wer ist Melchior An<strong>der</strong>egg? Diese Frage kann nur jemand stellen,<br />

<strong>der</strong> nie in den Schweizer <strong>Alpen</strong> war, wo sein Name ebenso bekannt<br />

ist wie Napoleon. Melchior ist auf seine Art auch ein Kaiser,<br />

ein Fürst unter den Führern. Sein Reich ist <strong>der</strong> ewige Schnee,<br />

sein Szepter <strong>der</strong> Eispickel.<br />

Dies schreibt Alpinist Edward Whymper in seinem Bestseller<br />

«Scrambles Amongst The Alps», den er 1871 veröffentlicht,<br />

zu einer Zeit, als sich Melchior An<strong>der</strong>egg auf dem Höhepunkt<br />

seiner Karriere als Bergführer befindet, anspruchsvolle Erst-<br />

9


esteigungen leitet <strong>und</strong> mit seinen «Herren» unermüdlich neue<br />

Wege <strong>und</strong> Routen beschreitet. Zusammen mit den Englän<strong>der</strong>n<br />

hat <strong>der</strong> <strong>Pionier</strong> <strong>aus</strong> Meiringen die frühe Geschichte des klassischen<br />

Alpinismus wesentlich geprägt. Dafür ehrt ihn <strong>der</strong> Alpine<br />

Club in London bis heute: «Unsere alpinistische Geschichte<br />

ist uns sehr wichtig. Und Melchior spielt darin eine wichtige<br />

Rolle», sagt Jerry Lovatt, gegenwärtiger Honorary Librarian.<br />

Heute, wo befahrbare Strassen bis in die hintersten Winkel<br />

<strong>der</strong> Seitentäler führen <strong>und</strong> Bahnen viele h<strong>und</strong>ert Höhenmeter<br />

Auf- <strong>und</strong> Abstieg erleichtern, kann man sich kaum noch vorstellen,<br />

mit welchen Schwierigkeiten die Bergsteiger im «Zeitalter<br />

<strong>der</strong> Eroberungen» zu kämpfen hatten. Wie reich an Mühseligkeiten<br />

<strong>und</strong> Fährnissen die <strong>Alpen</strong>reisen, selbst auf den gangbarsten<br />

Pfaden, gewesen sind. Als <strong>der</strong> junge Haslitaler Melchior<br />

An<strong>der</strong>egg Anfang <strong>der</strong> 1850er-Jahre seine ersten «Herren» in<br />

die vergletscherten Höhen seiner Heimat führt, steckt <strong>der</strong> Alpinis<br />

mus noch in den Kin<strong>der</strong>schuhen. Es gibt we<strong>der</strong> reiss feste<br />

Seile noch atmungsaktive Kleidung, we<strong>der</strong> Clubhütten noch<br />

verlässliches Kartenmaterial. Etliche Gipfel haben keinen offiziel<br />

len Namen. Man weiss nicht einmal sicher, welche Gefahren<br />

in dieser Terra incognita lauern, geschweige denn, wie man<br />

ihnen begegnen soll. Die Vertrautheit mit den hohen Bergen muss<br />

erst noch gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erprobt, <strong>der</strong> Umgang mit Sturm <strong>und</strong><br />

Nebel, Gletscherspalten <strong>und</strong> schmalen Felstritten erarbeitet<br />

werden.<br />

Bis Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sind gelegentlich Gelehrte<br />

zu Forschungszwecken ins Hochgebirge gestiegen. Nicht zum<br />

touristischen Vergnügen. Die einheimische Bergbevölkerung<br />

meidet die steilen, kalten Geröll- <strong>und</strong> Eishalden seit jeher.<br />

Sie sehen keinen Gr<strong>und</strong>, dort hinaufzusteigen. Wozu auch?<br />

Als Bauern sind sie Selbstversorger, müssen schauen, dass sie<br />

durch den Winter kommen. Dort oben gibt es für sie nichts<br />

zu ernten. Die Menschen glauben gar, in den unzugänglichen<br />

Höhen leben Dämonen <strong>und</strong> Gespenster, die regelmässig Unheil<br />

ins Tal bringen. Lawinen, Murgänge, Überschwemmungen.<br />

Innert Minuten, so es <strong>der</strong> Teufel will, ist ein Dorf <strong>aus</strong>radiert.<br />

Wie <strong>aus</strong> heiterem Himmel kommen Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

plötzlich wohlhabende <strong>und</strong> gebildete Städter, die in<br />

diese Stätten des Grauens vordringen wollen. Allen voran<br />

10


suchen unternehmungslustige<br />

Englän<strong>der</strong> mit langen<br />

Sommerferien dort den Reiz<br />

des Unbekannten. Sie machen<br />

die Hochalpen zu ihrem neuen<br />

Spielplatz, wo sie unberührte<br />

Gipfel <strong>und</strong> Gletscher<br />

«erobern» können. Für sie<br />

steht nicht wissenschaftliches<br />

Inter esse im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n sportliche Freizeitbeschäftigung.<br />

Kein Gipfel<br />

ist ihnen zu hoch o<strong>der</strong> zu<br />

abge legen, kein Wind zu bissig,<br />

kein Abgr<strong>und</strong> zu grässlich.<br />

Zuvor hatten Stürmer,<br />

Dränger <strong>und</strong> Romantiker die<br />

schroffen <strong>Alpen</strong> als Seelenlandschaft<br />

entdeckt <strong>und</strong> besungen,<br />

aber nie bestiegen.<br />

Als Begleiter engagieren<br />

die sogenannten «Hochtouristen»<br />

einheimische Bergführer.<br />

Zu Beginn sind das Jäger,<br />

Kristallsucher <strong>und</strong> Hirten, <strong>der</strong>en Erfahrung in diesen Einöden<br />

allerdings nicht sehr <strong>aus</strong>geprägt ist. Beson<strong>der</strong>s wenn sie nicht<br />

nur als «Wegweiser» o<strong>der</strong> «Pfadfin<strong>der</strong>» agieren sollen, son<strong>der</strong>n<br />

die Verantwortung für das Leben <strong>der</strong> «Herren» tragen müssen.<br />

In diesen <strong>Pionier</strong>jahren entwickelt sich Melchior An<strong>der</strong>egg zum<br />

Meister. 1856 gehört er zu den ersten, die ein Schweizer Bergführerpatent<br />

erhalten <strong>und</strong> bald darauf zu den ersten Schweizer<br />

Bergführern, die <strong>aus</strong> <strong>der</strong> engen Heimat <strong>aus</strong>brechen <strong>und</strong> überall<br />

in den Westalpen Erstbesteigungen in Angriff nehmen. Mit<br />

seinen «Herren» wagt er für damalige Verhältnisse Ausserordentliches<br />

<strong>und</strong> bewältigt eine Reihe von hochklassigen Ersttouren<br />

im Berner Oberland, im Wallis, im Mont-Blanc-Gebiet, im Bergell<br />

<strong>und</strong> in den Dolomiten. Melchior An<strong>der</strong>egg, <strong>der</strong> als ein facher<br />

<strong>Knecht</strong> im Grimsel-Hospiz begonnen hat, wird zum Vorbild <strong>der</strong><br />

nachfolgenden Bergführergenerationen.<br />

Der erste grosse<br />

Bergführer <strong>der</strong><br />

Schweiz: Melchior<br />

An<strong>der</strong>egg<br />

<strong>aus</strong> Zaun bei<br />

Meiringen. Für<br />

diese Aufnahme<br />

ist er 1879 nach<br />

Interlaken gereist,<br />

im Hintergr<strong>und</strong><br />

die Jungfrau.<br />

11


Trotz Ehrgeiz <strong>und</strong> Tatendrang lehnt er tollkühnes Draufgängertum<br />

ab. Die Sicherheit <strong>der</strong> ihm Anvertrauten steht für<br />

ihn an erster Stelle. Nie lässt er sich zu leichtsinnigen Manövern<br />

drängen. Da bleibt er <strong>der</strong> sture Bergler, selbst wenn ihn ein<br />

«Herr» überreden will: «Melchior, das geht schon.» Dann antwortet<br />

er: «Ja, es geht. Aber ich gehe nicht.»<br />

Nebst seinen bergsteigerischen Fähigkeiten machen ihn<br />

sein Charisma, seine feinfühlige Autorität, seine Ehrlichkeit <strong>und</strong><br />

sein Humor begehrt. Eigenschaften, mit denen sich im «Goldenen<br />

Zeitalter des Alpinismus» nicht alle Bergführer rühmen<br />

können. Einer seiner englischen «Herren» schreibt: «Melchior<br />

war 42 Jahre lang mein Führer, <strong>und</strong> ich habe nie von ihm einen<br />

Ausdruck vernommen, <strong>der</strong> sich gegenüber <strong>der</strong> vornehmsten<br />

Dame nicht gehört hätte.» Die ambitioniertesten Bergsteiger des<br />

englischen Alpine Club reissen sich um ihn, wollen von ihm<br />

lernen. Rühmt er sie am Berg mit seinem kargen «Gut! Gut!», ist<br />

das für sie fast schöner als <strong>der</strong> Gipfelerfolg selber.<br />

Während sich bereits zu den alpinistischen Anfangszeiten<br />

viele Männer an bergsteigenden Frauen stören, zeigt Melchior<br />

nie ein Problem mit ihnen. Mehrere Damen gehören zu seinem<br />

K<strong>und</strong>enkreis. Einmal wurde er gefragt, wie er denn eine Lady<br />

über eine Gletscherspalte locke. An<strong>der</strong>egg antwortete scherzend:<br />

«Nun, ich gehe vor<strong>aus</strong>. Dann nehme ich ein Zucker-Bonbon<br />

<strong>aus</strong> dem Hosensack, strecke es ihr entgegen <strong>und</strong> sage:<br />

Komm, komm, komm! Und sie kommt sofort.»<br />

Lucy Walker, die erste Frau, die regelmässig ins Hochgebirge<br />

steigt, unternimmt ihre Touren <strong>aus</strong>schliesslich mit Melchior<br />

An<strong>der</strong>egg. Unter seiner Führung steht sie als allererste Frau auf<br />

dem Matterhorn <strong>und</strong> weiteren Viert<strong>aus</strong>en<strong>der</strong>n. Sie pflegen eine<br />

jahrelange innige Fre<strong>und</strong>schaft. Auf die Frage, weshalb sie nie<br />

geheiratet habe, soll die sehr vermögende Lucy Walker geantwortet<br />

haben: «Ich liebe die Berge <strong>und</strong> ich liebe Melchior, aber er<br />

hat schon eine Frau.»<br />

In <strong>der</strong> Schweiz geht Melchior An<strong>der</strong>egg als «Glanzgestirn»<br />

in die Geschichte ein, bei den Englän<strong>der</strong>n als «King of the<br />

Guides» – «König <strong>der</strong> Bergführer». Ein Titel, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> ersten<br />

Führergeneration nie zugunsten eines an<strong>der</strong>en angefochten<br />

worden ist.<br />

12


1855 IM<br />

GRIMSEL-<br />

HOSPIZ:<br />

DIE KARRIERE<br />

BEGINNT<br />

AMBITIONIERTE GLETSCHERTOUR ÜBER<br />

DEN STRAHLEGGPASS — MIT FLÖHEN<br />

IM HEUBETT — SONNENBRAND DER<br />

ENGLÄNDER — HINCHLIFF SCHIESST «WIE<br />

EIN BLITZ» IN EINE SPALTE — STÄRKER<br />

ALS DER STÖRRISCHE WIDDER — MELCHIORS<br />

KINDHEIT IN ZAUN BEI MEIRINGEN —<br />

WECHSEL IN DEN «SCHWARENBACH» AUF<br />

DER GEMMI — OBERLÄNDER<br />

«KRIEGSRUF» AUF DEM ALTELS


Im Sommer 1855 taucht <strong>der</strong> 29-jährige Thomas Woodbine<br />

Hinchliff im Grimsel-Hospiz auf. Ein hochgebildeter Anwalt<br />

<strong>aus</strong> London, <strong>der</strong> allerdings nicht praktiziert. Er besitzt so<br />

viel Vermögen, dass er nie arbeiten muss <strong>und</strong> sich ganz <strong>und</strong> gar<br />

dem angenehmen Leben zuwenden kann. Drei Sommer lang<br />

reist er kreuz <strong>und</strong> quer durch die <strong>Alpen</strong>, um über seine Er leb nisse<br />

ein Buch zu schreiben. In diesem Jahr hat er sich vorgenommen,<br />

seine erste Hochgebirgsfahrt im Berner Oberland zu<br />

unternehmen: Von <strong>der</strong> Grimsel über den vergletscherten Strahleggpass<br />

nach Grindelwald. Damals eine ambitionierte Tour.<br />

Hinchliff <strong>und</strong> sein Gefährte, den er Mister D<strong>und</strong>as nennt,<br />

erreichen das Hospiz «an einem w<strong>und</strong>erschönen Abend» im<br />

August <strong>und</strong> reden mit dem Wirt über ihren Plan. Seine Wetterprognose<br />

ist zuversichtlich, <strong>und</strong> er empfiehlt ihnen zwei Bergführer,<br />

die er ihnen am Morgen nach dem Frühstück vorstellen<br />

will, damit sie am Nachmittag starten können.<br />

Während Hichcliff im Hospiz auf das Abendessen wartet,<br />

beobachtet er einen Schotten <strong>und</strong> einen Führer, die wild miteinan<strong>der</strong><br />

gestikulieren <strong>und</strong> sich gegenseitig etwas zu verstehen<br />

geben wollen. Aber die beiden sprechen nicht dieselbe Sprache.<br />

Hinchliff wird als Übersetzer zugezogen <strong>und</strong> findet her<strong>aus</strong>,<br />

dass die Frau des Schotten auf einem Chaise-à-Porteur,<br />

einem Tragstuhl, nach Meiringen getragen<br />

werden will. Nachdem die Träger die Leibesfülle<br />

<strong>der</strong> Dame gesehen haben, bestehen sie auf <strong>der</strong><br />

Unterstützung durch weitere Männer. Der Ehemann<br />

ist schon so aufgebracht, dass Hinchliff ihm<br />

diese Beleidigung nicht übersetzen will. Schliesslich<br />

sind die Träger damit einverstanden, die Lady<br />

wie üblich zu viert ins Tal zu tragen.<br />

Am nächsten Morgen wird Hinchliff zwei<br />

Bergführern vorgestellt: Melchior An<strong>der</strong>egg <strong>und</strong><br />

Johann Huggler. Die beiden machen ihm «einen<br />

vielversprechenden Eindruck». Melchior ist 27-jährig,<br />

muskulös <strong>und</strong> mittelgross. Seine Haare sind<br />

wie seine Augen pechschwarz. Er trägt noch keinen<br />

Bart, aber modische kurze Koteletten an den<br />

Schläfen.<br />

Nach einer kurzen Unterhaltung beschliessen<br />

14


Stützpunkt von Forscher<br />

Franz Josef Hugi auf<br />

dem Unteraargletscher,<br />

<strong>der</strong> «Hugiblock» <strong>und</strong> die<br />

Steinhütte (vorne rechts),<br />

Vorläuferin des Hôtel<br />

Neuchâtelois, 1827.<br />

sie, um vier Uhr nachmittags aufzubrechen. Den Englän<strong>der</strong>n<br />

bleibt Zeit, eine Wan<strong>der</strong>ung zum Rhonegletscher zu unternehmen.<br />

Gegen drei Uhr kehren sie zurück zum Hospiz. Dort<br />

sind ihre Bergführer eifrig daran, die Expedition vorzubereiten.<br />

Melchior macht sich eigenhändig daran, die Le<strong>der</strong>schuhe <strong>der</strong><br />

Englän<strong>der</strong> mit spitzen Eisennägeln zu beschlagen. Einen jungen<br />

Trägerburschen schicken sie mit Holz, Decken, M<strong>und</strong>vorrat,<br />

einigen Messern <strong>und</strong> etwas Geschirr zum Pavillon Dollfus<br />

vor<strong>aus</strong>.<br />

Diese einfache Gletscherhütte befindet sich neun Kilometer<br />

vom Hospiz entfernt – dort, wo heute die Lauteraarhütte des<br />

Schweizer <strong>Alpen</strong>-Clubs steht – <strong>und</strong> ist eine Hinterlassenschaft<br />

von Gletscherforscher Daniel Dollfus-Ausset <strong>aus</strong> den 1840er-<br />

Jahren. Damals haben Glaziologen <strong>aus</strong> Neuenburg <strong>und</strong> <strong>aus</strong> dem<br />

Ausland mehrere Sommer auf dem Unteraargletscher verbracht,<br />

von morgens früh bis abends spät experimentiert, gemessen,<br />

gebohrt, beobachtet <strong>und</strong> gerechnet. Erst richteten sie ihr Laboratorium<br />

<strong>und</strong> Logis auf <strong>der</strong> grossen Mittelmoräne «unter einem<br />

riesigen Felsblock» ein. R<strong>und</strong>um bauten sie eine Mauer <strong>und</strong><br />

beleg ten den Boden mit Steinplatten. Diesen primitiven Schlafplatz<br />

für sechs Personen nannten sie «Hôtel Neuchâtelois».<br />

Das Treiben <strong>der</strong><br />

Gelehrten <strong>und</strong> vor<br />

allem ihre Behauptung,<br />

dass zwischen<br />

<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Schöpfung<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Gegenwart<br />

ganz Europa<br />

unter einer Eisdecke<br />

gelegen haben müsse,<br />

erregte die Neugier<br />

eines internationalen<br />

Publikums. Touristen<br />

kamen auf die<br />

Grimsel, um die<br />

Wissenschaftler bei<br />

<strong>der</strong> Arbeit zu beobachten.<br />

Nicht selten<br />

kam es vor, dass einer<br />

15


Pavillon Dollfus, 1845 errichtet<br />

von Daniel Dollfus-Ausset,<br />

Fabrikant <strong>und</strong><br />

Forscher <strong>aus</strong> dem Elsass.<br />

geglaubt hatte,<br />

das Hôtel<br />

Neuchâtelois<br />

sei ein behaglicher<br />

Gasthof.<br />

Diese Unterkunft<br />

hielt<br />

nicht lange, sie<br />

wurde vom<br />

fliessenden<br />

Gletscher <strong>und</strong><br />

den Schneefällen<br />

im Winter<br />

zerstört. Der Pavillon Dollfus wurde daraufhin an einer<br />

sinnvolleren Stelle gebaut: Auf einem Felssporn etwa zweih<strong>und</strong>ert<br />

Meter oberhalb des Unteraargletschers.<br />

W E IN UND<br />

MILCHKAFFEE<br />

Seit die Forscher weitergezogen sind, dient <strong>der</strong> verwitterte<br />

«Pavillon» nun den Alpinisten als Ausgangspunkt für die weite<br />

Tour über die Strahlegg. Kurz nach vier Uhr machen sich<br />

Melchior An<strong>der</strong>egg, Huggler, Hinchliff <strong>und</strong> D<strong>und</strong>as vom Hospiz<br />

auf den Weg. Um sich gegen die Sonne zu schützen, haben sie<br />

Schleier um ihre Hüte gew<strong>und</strong>en. Melchior trägt in seinem Rucksack<br />

Proviant <strong>und</strong> an <strong>der</strong> Aussenseite hat er ein Seil befestigt.<br />

Statt des gewöhnlichen <strong>Alpen</strong>stocks gebraucht er eine Kombination<br />

<strong>aus</strong> Axt <strong>und</strong> spitzer Stange, welche zu dieser Zeit in Chamonix<br />

bekannt ist.<br />

Huggler buckelt den Weinkeller, einen Blechkanister mit<br />

Riemen, damit er wie ein Rucksack getragen werden kann. «Er<br />

war so gross, dass die Leute hätten glauben können, wir würden<br />

für eine ganze Woche <strong>aus</strong>rücken», schreibt Hinchliff später.<br />

Selber schultern die Englän<strong>der</strong> nichts. Ihr Reisegepäck haben sie<br />

für sechs Franken durch einen Träger via Meiringen <strong>und</strong> Grosse<br />

Scheidegg ins Hotel Adler nach Grindelwald bringen lassen.<br />

Noch bevor sie zum Unteraargletscher kommen, holen sie<br />

einen <strong>Gentleman</strong> <strong>aus</strong> Deutschland ein. Er will sich <strong>der</strong> Gruppe<br />

16


für die Tour anschliessen. Melchior hat nichts dagegen, es gibt<br />

genug Vorrat für alle. Obschon das Gehen auf dem steinigen,<br />

aber zuweilen steilen Pfad einfach ist, fällt <strong>der</strong> Deutsche immer<br />

weiter zurück. Oben auf <strong>der</strong> Moräne müssen sie einige Zeit auf<br />

ihn warten. Als die fünf kurz vor sieben im letzten Anstieg zum<br />

«Pavillon» sind, dunkelt es ein, <strong>und</strong> sie erleben einen Moment,<br />

den Hinchliff als «selten schön» in Erinnerung bleibt: «Der<br />

Mond ging in seiner vollen Pracht hinter <strong>der</strong> gigantischen Bergkette<br />

auf <strong>und</strong> brachte die Schneegipfel wie in Silber getaucht<br />

zum Leuchten. Wir standen da <strong>und</strong> schauten in aller Stille <strong>und</strong><br />

Bewun <strong>der</strong>ung zu, bis uns <strong>der</strong> Trägerbursche entgegeneilte<br />

<strong>und</strong> rief: ‹Das ist <strong>der</strong> Mond!› Wir alle mussten herzlich lachen.<br />

Dass uns <strong>der</strong> arme Kerl erklärte, dass das <strong>der</strong> Mond war, hatte<br />

etwas Absurdes. Wie klein <strong>der</strong> Schritt vom Erhabenen zum<br />

Lächerlichen doch sein kann!»<br />

Die Hütte ist in zwei Kammern aufgeteilt. Eine für die<br />

«Herrschaften», eine für die Bergführer. Als Schlafunterlage steht<br />

ein Haufen Heu zur Verfügung. Neben einer kleinen Grube,<br />

die als Küche dient, stehen Tisch <strong>und</strong> Bänke. Der Bursche hat<br />

schon vor ihrer Ankunft mit dem mitgetragenen Holz angefeuert.<br />

Es gibt kaltes Schaffleisch, Brot <strong>und</strong> Käse, dazu heissen<br />

Milch kaffee. «Danach verbrachten wir den Abend angenehm<br />

mit Wein <strong>und</strong> einer Pfeife», so Hinchliff. Gegen neun Uhr<br />

wickeln sie sich in die Decken, liegen «wie Mumien nebeneinan<strong>der</strong>»<br />

<strong>und</strong> hätten sehr komfortabel genächtigt, «wären wir<br />

Menschen die einzigen Lebewesen in den Heubetten gewesen».<br />

Hinchliff versucht, die Flöhe gelassen zu nehmen <strong>und</strong> kann<br />

«recht gut schlafen», bis ihn das Geräusch <strong>der</strong> Türe aufweckt.<br />

«Als ich aufschaute, sah ich die dunkle Kontur Melchiors vor<br />

mir. Er sagte, es sei halb vier <strong>und</strong> Zeit für das Frühstück. Also<br />

standen wir auf, assen wie<strong>der</strong> Schaffleisch <strong>und</strong> tranken Kaffee.<br />

Der Deutsche sass ebenfalls mit uns am Tisch.» Der Mut hat<br />

ihn verlassen. «Ohne um den heissen Brei zu reden, sagte er, die<br />

Expedition sei nichts für ihn, er gehe mit dem Träger zurück.<br />

Wir wollten ihn nicht davon abhalten. Als wir mit unseren zwei<br />

Führern gegen fünf Uhr rechts von <strong>der</strong> Hütte wegmarschierten,<br />

gingen er <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bursche hinab zur Grimsel.»<br />

17


SCHRECKEN BEIM<br />

BERGSCHRUND<br />

Melchior führt seine Truppe über den Unteraargletscher hinauf<br />

zum Finsteraargletscher. Mit dem Stock sondiert er verborgene<br />

Schründe unter dem trügerischen Schnee <strong>und</strong> mahnt die Englän<strong>der</strong><br />

zu sorgfältigem Gehen. Zwischendurch müssen sie über<br />

Spalten springen, was Hinchliff nicht Angst, son<strong>der</strong>n Spass<br />

macht. Nach drei St<strong>und</strong>en erreichen sie den Strahleggfirn <strong>und</strong><br />

legen einen Frühstückshalt ein. Beson<strong>der</strong>s «fürstlich» ist <strong>der</strong><br />

Trunk <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Blechflasche,<br />

die sie sorgfältig mit Schnee<br />

gekühlt haben.<br />

Die steigende Sonne<br />

weicht den Firn auf, was<br />

den Marsch mühsam macht.<br />

Im Steilhang zum Strahleggpass<br />

binden sie erstmals<br />

auf dieser Tour das Seil<br />

um <strong>und</strong> stapfen in einer<br />

Reihe weiter, Melchior voran,<br />

gelegentlich bis zu den<br />

Hüften einsinkend. Beim<br />

offenen Bergschr<strong>und</strong> erlebt<br />

Hinch liff einen Schrecken.<br />

Melchior überwindet die<br />

Kluft, stampft auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite mit den Füssen<br />

einen Standplatz in den Firn<br />

<strong>und</strong> for<strong>der</strong>t Hinchliff auf,<br />

nachzukommen. Beim<br />

ersten Versuch verschwindet<br />

dieser bis zum Hals im<br />

Schr<strong>und</strong>. Vom Seil festgehalten<br />

<strong>und</strong> gezogen, kann er<br />

sich schwitzend emporarbeiten.<br />

D<strong>und</strong>as <strong>und</strong> Huggler<br />

folgen mit weniger Kapri o-<br />

len. Melchior spricht kein<br />

18


Wort, bis sie den Übergang auf <strong>der</strong> Strahlegg auf 3332 Meter<br />

gegen zehn Uhr erreichen.<br />

Zeit für das frühe Mittagessen. Die Sonne glüht, <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

mit Schnee «frappierte» Wein schmeckt wie<strong>der</strong> köstlich. Inzwischen<br />

macht die Sonneneinstrahlung <strong>und</strong> die Hitze den<br />

Englän<strong>der</strong>n zu schaffen. Trotz Schleier verbrennt ihre Gesichtshaut.<br />

Sie schauen sich noch eine Weile die Aussicht an, dann<br />

geht es über die langen, mit Fels durchsetzten Schneefel<strong>der</strong><br />

zum Oberen Eismeer hinunter. Um rascher vorwärtszukommen,<br />

bewerkstelligen sie diesen Abstieg zwischendurch auf<br />

Von <strong>der</strong> Grimsel<br />

über den Strahleggpass<br />

nach<br />

Grindelwald –<br />

o<strong>der</strong> umgekehrt:<br />

Eine fast dreissig<br />

Kilometer lange<br />

Gletschertour.<br />

19


dem Hosenboden: Sie setzen sich nah hintereinan<strong>der</strong> in den<br />

Schnee, umfassen die Beine des Hintermannes <strong>und</strong> rutschen<br />

los. Bei einer dieser «Schlittelfahrten» über den buckligen<br />

Untergr<strong>und</strong> bricht <strong>der</strong> Zug <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>. Unter Gelächter s<strong>aus</strong>en<br />

sie die Bahn hinab, wobei ein Fläschchen Schnaps verloren geht.<br />

Später, beim Queren einer steilen <strong>und</strong> gefrorenen Schneepassage,<br />

verliert Hinchliff den Halt <strong>und</strong> schiesst «wie ein Blitz»<br />

in die Tiefe. «Unter mir sah ich ein Meer von Spalten, auf das<br />

ich hilflos zusteuerte. Zum Stillstand kam ich glücklicherweise<br />

in einer kleinen Spalte, die schmal genug war, um mich aufzuhalten,<br />

aber nicht breit genug, mir Harm anzutun.» Melchior<br />

steigt aufgeregt zu ihm ab. Für den Rest des Abstiegs nimmt er<br />

die Englän<strong>der</strong> ans Seil. An steilen <strong>und</strong> schwierigen Felsen<br />

sichert er die beiden daran hinab. So gelangen sie zum Unteren<br />

Grindelwaldgletscher <strong>und</strong> über einen schmalen Pfad hinab<br />

ins Dorf. Um 16.30 Uhr treffen sie im «Adler» ein.<br />

Die Bergführer bekommen je dreissig Franken <strong>und</strong> ein<br />

Trinkgeld. Im Preis mitberechnet ist ihr Rückmarsch auf die<br />

Grimsel. Hinchliff ist begeistert. «Wir haben die Strahlegg-Reise<br />

sehr genossen. In <strong>der</strong> Freude über die Abenteuer des Tages<br />

betrachten wir uns als über<strong>aus</strong> entschädigt für die Kosten <strong>und</strong><br />

die Mühe.»<br />

Es ist die erste, im einzelnen bekannte Tour von Melchior<br />

An<strong>der</strong>egg. Von Huggler, dem zweiten Führer, vernimmt man<br />

eigentlich nur, dass er den Weinkeller getragen hat.<br />

VOM SCHNITZER ZUM<br />

GRIMSEL-KNECHT<br />

In seiner Heimat Haslital macht Melchior An<strong>der</strong>egg erstmals<br />

als Fünfjähriger von sich reden. Sein Götti besitzt einen stattlichen,<br />

aber störrischen Wid<strong>der</strong>. Scherzhaft sagt er zu dem Buben:<br />

«Wenn du mir den fängst, so soll er dein sein!» Das lässt sich<br />

Melchior nicht zweimal sagen. Wie eine Katze schleicht er sich<br />

an das Tier heran, packt es im Sprung <strong>und</strong> klammert sich an<br />

seinem Hals fest. Mit aller Kraft versucht <strong>der</strong> streitbare «Bänz»<br />

frei zu werden. Melchior krallt sich wie ein Geier mit beiden<br />

Fäusten in <strong>der</strong> Wolle fest. Als nach langem Ringen die wilde Jagd<br />

über Stock <strong>und</strong> Stein zu Ende geht, hängt <strong>der</strong> Bub noch immer<br />

20


drin <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong> Sieger.<br />

Später wird Melchior einer<br />

<strong>der</strong> ganz «bösen» Schwinger<br />

im östlichen Berner<br />

Oberland. An den Festen<br />

holt er immer wie<strong>der</strong> ein<br />

Schaf. Aber nie mehr ein so<br />

prächtiges Exemplar.<br />

Am 28. März 1828<br />

geboren, wächst er im abgelegenen<br />

Weiler Zaun auf,<br />

vierh<strong>und</strong>ert Meter oberhalb von Meiringen. Die kin<strong>der</strong>reiche<br />

Familie lebt wie <strong>der</strong> Grossteil <strong>der</strong> Bevölkerung von <strong>der</strong> Landwirtschaft.<br />

Fleissige, einfache Leute. Viehhaltung, Alpgang,<br />

Nutzung <strong>der</strong> Allmenden <strong>und</strong> Wäl<strong>der</strong> gelingt nur dank des starken<br />

Zusammenhalts in <strong>der</strong> Familie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Nachbarschaft.<br />

Im Tal sind die Schulklassen überfüllt, <strong>und</strong> die Lehrer verdienen<br />

so wenig, dass sie noch an<strong>der</strong>en Verdienstmöglichkeiten<br />

nachgehen müssen. Von einem weiss man, dass er we<strong>der</strong> schreiben<br />

noch rechnen, von einem an<strong>der</strong>en, dass er nicht schreiben<br />

kann. Zu Melchiors Einschulung 1835 tritt das Bernische Primarschulgesetz<br />

in Kraft, <strong>und</strong> die Lehrer werden verpflichtet, zur<br />

Ausübung des Berufes eine theoretische Prüfung abzulegen. Zu<br />

den obligatorischen Unterrichtsfächern gehören nun: Christliche<br />

Religion, Muttersprache, Kopf- <strong>und</strong> Zifferrechnen, Schönschreiben,<br />

Gesang. In <strong>der</strong> Oberstufe auch Linearzeichnen,<br />

Geschichte, Erdbeschreibung, Naturk<strong>und</strong>e, Verfassungsk<strong>und</strong>e,<br />

Buchhaltung, H<strong>aus</strong>wirtschaft <strong>und</strong> Landwirtschaft.<br />

Nach Abschluss <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>schule hilft Melchior weiterhin<br />

auf dem elterlichen Bauernhof mit. In den ruhigeren Wintermonaten<br />

widmet er sich seiner künstlerischen Begabung, <strong>der</strong><br />

Holzschnitzerei. Bären, Murmeltiere <strong>und</strong> Chalets sind beliebte<br />

Souvenirs bei den Touristen. Für den Fremdenverkehr liegt<br />

das Haslital ideal. Die Gäste kommen von Interlaken her, von<br />

Luzern über den Brünig, von <strong>der</strong> Gotthardstrasse via Wassen<br />

über den Susten, vom Oberwallis über die Grimsel, von Engelberg<br />

über den Jochpass <strong>und</strong> von Grindelwald über die Grosse<br />

Scheidegg. Zudem kommt Meiringen das «milde Klima» zugut.<br />

Das Dorf liegt auf lediglich sechsh<strong>und</strong>ert Metern über Meer.<br />

Der Dorfkern<br />

von Meiringen,<br />

ca. 1888: Dunkle<br />

Holzhäuser<br />

inmitten einer<br />

pittoresken<br />

Wald- <strong>und</strong> Gipfellandschaft.<br />

So haben sich die<br />

<strong>aus</strong>ländischen<br />

Gäste «ein wahres<br />

Bergdorf»<br />

vorgestellt.<br />

21


Schon seit den frühen 1840er-Jahren verbringen hier<br />

<strong>aus</strong>ländische Gäste längere Sommeraufenthalte <strong>und</strong> schwärmen<br />

von <strong>der</strong> «lieblichen Umgebung inmitten eines echten alpinen<br />

Tales». Beson<strong>der</strong>s gefällt ihnen <strong>der</strong> Blick auf die hohen Schneegipfel<br />

<strong>und</strong> die vielen Wasserfälle, etwa die Kaskaden des<br />

tosenden Reichenbachfalls, in dem später Arthur Conan Doyle<br />

seinen Sherlock Holmes verschwinden<br />

lässt. «Die Einheimischen», so<br />

berichten die Reisehandbücher,<br />

«sprechen einen eigenen, angenehmen<br />

Dialekt <strong>und</strong> unterscheiden<br />

sich von den an<strong>der</strong>en Oberlän<strong>der</strong>n<br />

durch feineren, dennoch kraftvollen,<br />

fast durchgängig schönen Körperwuchs.»<br />

Und: «Die Frauen geniessen<br />

den Ruf, hübscher zu sein als jene<br />

<strong>der</strong> meisten Täler <strong>der</strong> Schweiz.»<br />

Reich wird Melchior mit seinen<br />

Holzschnitzereien nicht. 1854 lässt<br />

er sich bei seinem Vetter Johann Frutiger<br />

im Grimsel-Hospiz als <strong>Knecht</strong><br />

an stellen. Einst war das steinerne<br />

Gebäude auf dem historischen Passübergang<br />

eine wohltätige Stiftung,<br />

um Säumern eine Station zum Ausruhen<br />

zu bieten <strong>und</strong> mittellosen<br />

Wan<strong>der</strong>ern eine kostenlose Zufluchtsstätte<br />

zu gewähren. Inzwischen ist<br />

es ein offenes Gasth<strong>aus</strong>, «in welchem<br />

für sehr dürftige Einrichtung, aber<br />

gute Verpflegung Preise <strong>der</strong> Hotels<br />

ersten Ranges gezahlt werden»,<br />

wie ein Reisehandbuch informiert.<br />

Die Übernachtung in einer engen<br />

Bret terzelle mit Bett kostet 2 Franken,<br />

Abendessen ohne Wein 3 Franken,<br />

Kaffee 1.50 Franken, Service 1 Franken.<br />

Hinter dem H<strong>aus</strong> liegen zwei<br />

fischlose kleine <strong>Alpen</strong>seen, die auch<br />

Oben: Zu<br />

schmal <strong>und</strong><br />

steinig für eine<br />

Kutsche: Auf<br />

dem Saumweg<br />

zur Handeck<br />

<strong>und</strong> auf den<br />

Grimselpass,<br />

um 1850.<br />

22


Unten: Das histo rische<br />

Grimsel-Hospiz,<br />

1852 durch Brandstiftung<br />

in Schutt <strong>und</strong> Asche<br />

gelegt, 1853 neu aufgebaut<br />

<strong>und</strong> in den<br />

1930er-Jahren im<br />

Grimsel st<strong>aus</strong>ee untergegangen.<br />

im Hochsommer nicht selten nachts von einer dünnen Eisdecke<br />

überzogen werden.<br />

Melchior hilft bei <strong>der</strong> Führung des Gasth<strong>aus</strong>es <strong>und</strong> in den<br />

dazugehörenden Alpbetrieben. Zu tun gibt es hier auf zweit<strong>aus</strong>end<br />

Meter über Meer r<strong>und</strong> um die Uhr. An schönen Tagen geht<br />

es zu wie in einem Taubenschlag. Säumer, Kaufleute <strong>und</strong> Touristen<br />

kommen <strong>und</strong> gehen – zu Fuss, zu Pferd o<strong>der</strong><br />

mit dem Tragsessel. Für einen Karrwagen o<strong>der</strong> gar<br />

Kutsche ist <strong>der</strong> Saumpfad zu schmal <strong>und</strong> steinig.<br />

Die Wan<strong>der</strong>ung von Innertkirchen bis zum Hos piz<br />

dauert sechs St<strong>und</strong>en. Zwischenstation bietet die<br />

grosse Sennhütte an <strong>der</strong> Handeck, wo ein Matratzenbett<br />

1.50 Franken pro Nacht kostet.<br />

Wie viele Berggasthäuser damals vermietet<br />

auch das Grimsel-Hospiz seine stämmigen <strong>Knecht</strong>e<br />

als Bergführer. Durch die Gletscherforscher in<br />

den 1840er-Jahren habe sich das Hospiz zur «Brutstätte<br />

für die künftige Generation Führer entwickelt»,<br />

schreibt Carl Egger in «<strong>Pionier</strong>e <strong>der</strong> <strong>Alpen</strong>».<br />

Jäger, Strahler <strong>und</strong> Hirten <strong>aus</strong> dem Haslital begleiteten<br />

die Wissenschaftler auf ihren Exkursionen<br />

im vergletscherten Gebiet. «Junge Wagehalse», die<br />

«flink wie ein Affe» waren <strong>und</strong> sich im Gebirge<br />

«mit unerschrockener Kühnheit <strong>aus</strong> allen schlimmen<br />

Lagen her<strong>aus</strong>zuziehen wussten». Gemäss<br />

Egger haben sie in <strong>der</strong> Entwicklung des touristischen<br />

Bergsteigens aber noch keine Bedeutung<br />

erlangen können.<br />

Das än<strong>der</strong>t sich, als Anfang <strong>der</strong> 1850er-Jahre<br />

neuerdings <strong>aus</strong>ländische Gäste auf <strong>der</strong> Grimsel<br />

eintreffen, die nach Führern verlangen, um mit<br />

ihnen in diese noch immer weitgehend jungfräuliche<br />

Gletscherwelt vordringen. Melchior An<strong>der</strong>egg,<br />

<strong>der</strong> auch ein passionierter Gemsjäger war, trifft<br />

im Hospiz seine ersten englischen «Herren». Wie<br />

<strong>und</strong> wann er seine erste Gletscherfahrt unternommen<br />

hat, ist nicht überliefert.<br />

23


WIEDERSEHEN<br />

IM «SCHWARENBACH»<br />

Den Sommer 1856 verbringt Melchior An<strong>der</strong>egg nicht mehr auf<br />

<strong>der</strong> Grimsel, son<strong>der</strong>n im Gasth<strong>aus</strong> Schwarenbach auf dem<br />

Gemmi pass, <strong>der</strong> einzigen Unterkunft zwischen Kan<strong>der</strong>steg <strong>und</strong><br />

Leukerbad. Man hat ihm das Angebot gemacht, dort seine Holzschnitzereien<br />

an die Touristen zu verkaufen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

als Lokalführer zu arbeiten. Thomas Hinchliff, den Melchior im<br />

Vorjahr über die Strahlegg geführt hat, weiss von diesem Wechsel<br />

nichts <strong>und</strong> staunt nicht schlecht, als er im «Schwarenbach»<br />

den Speisesaal betritt <strong>und</strong> Melchior sieht. Dieser trägt einen grünen<br />

Schurz <strong>und</strong> ist von einer Schar Gäste umringt, die ihm<br />

beim Schnitzen zuschauen. Erfreut schütteln sich die beiden die<br />

Hand, <strong>und</strong> Hinchliff teilt Melchior mit, dass er den Altels (3629<br />

Meter) besteigen möchte.<br />

Am Abend sitzen die beiden vor dem H<strong>aus</strong> auf <strong>der</strong> Holzbank,<br />

rauchen eine Pfeife <strong>und</strong> besprechen die Details für die<br />

Tour. Melchior war wenige Tage zuvor auf dem Altels <strong>und</strong> weil<br />

er Hichliff kennt, trägt er keine Bedenken, ihn allein auf den<br />

Gipfel zu führen. Für damalige Verhältnisse ein unerhörtes<br />

Wagnis, da sehr steile Eispassagen zu überwinden sind. Hinzu<br />

kommt, dass es geschneit hat <strong>und</strong> das Wetter noch immer<br />

nicht wirklich gut ist.<br />

Wie<strong>der</strong>um macht Melchior den Nagelschuster. Um 3.30<br />

Uhr weckt er Hinchliff, um 4.30 Uhr verlassen die zwei das<br />

H<strong>aus</strong>. Melchior trägt im Rucksack Brot, kaltes Fleisch, ein paar<br />

Flaschen Wein <strong>und</strong> ein Seil. Am Le<strong>der</strong>gürtel hat er ein Handbeil<br />

befestigt. Über Weidhänge, Geröll <strong>und</strong> Schneefel<strong>der</strong> gelangen<br />

sie an den Rand des mächtigen Hängegletschers, wo unaufhörlich<br />

Eistücke herunterfallen. Die Sache sieht bedenklich <strong>aus</strong>.<br />

Aber Melchior versichert Hinchliff, dass sich <strong>der</strong> Haupteissturz<br />

nur etwa alle h<strong>und</strong>ert Jahre ereigne <strong>und</strong> das zuletzt vor etwa<br />

sechzig Jahren geschehen sei.<br />

Ganz falsch liegt Melchior mit seiner zeitlichen Einschätzung<br />

nicht: Ein gewaltiger Eisabbruch ging dort am 18. August<br />

1782 nie<strong>der</strong>, dabei starben auf <strong>der</strong> Alp unterhalb zwei Kin<strong>der</strong>,<br />

zwei Erwachsene <strong>und</strong> gegen h<strong>und</strong>ertvierzig Tiere wurden «jämmerlich<br />

erschlagen <strong>und</strong> zerschmettert», wie Urk<strong>und</strong>en von<br />

24


Leukerbad <strong>und</strong> Kan<strong>der</strong>steg zu entnehmen ist. Der nächste, noch<br />

verheeren<strong>der</strong>e Absturz folgte dann am 11. September 1895 um<br />

5.10 Uhr. Im «Schwarenbach» nahm man ein anhaltendes, donnerähnliches<br />

Getöse wahr <strong>und</strong> sah eine weissliche, wolkenähnliche<br />

Lawine. Das Getöse <strong>und</strong> Erzittern ging bis Kan<strong>der</strong>steg.<br />

Etwas später fiel für kurze Zeit ein kalter Regen <strong>aus</strong> heiterem<br />

Himmel herab, «entstanden durch Schmelzung des Eisstaubes».<br />

Um 9.30 Uhr kam <strong>der</strong> <strong>Knecht</strong> vom «Schwarenbach» nach Kan<strong>der</strong>steg<br />

gerannt, «schweisstriefend <strong>und</strong> fürchterlich erregt». Er verkündete:<br />

«Der Altels ist herunter fallen, alles ist tot – Menschen<br />

<strong>und</strong> Vieh – alles!» Später wurde festgestellt, dass 4,5 Millionen<br />

Kubikmeter Eis abgestürzt waren. Vier Männer kamen darin ums<br />

Leben, darunter Kan<strong>der</strong>stegs Vize-Gemeindepräsident, welcher<br />

wie immer zwei bis drei Tage vor <strong>der</strong> Alpabfahrt zur Teilung<br />

von Käse <strong>und</strong> Butter auf <strong>der</strong> Alp Spittelmatte weilte. Getötet<br />

wurden zudem 220 Tiere. Auch die Vernichtung des gesamten<br />

«Sommernutzens», des Vorrats für den Winter, war für viele<br />

Familien ein unermesslicher Verlust. Diese Tragödie ereignete<br />

sich 39 Jahre nach An<strong>der</strong>eggs <strong>und</strong> Hinchliffs Fahrt, heute ist<br />

<strong>der</strong> Gletscher stark zurückgeschmolzen.<br />

HAND IN HAND ÜBER DIE<br />

STEILE FLANKE<br />

Am steilen Gipfelkegel schlägt Melchior Stufen in das Eis.<br />

Hinchliff macht es sich zur Ehrensache, das Seil, mit dem sie<br />

verb<strong>und</strong>en sind, nie straff werden zu lassen. Melchior ist mit<br />

dem Marschtempo sehr zufrieden, was er durch wie<strong>der</strong>holtes<br />

«Gut, gut!» bezeugt. Als <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> die Frage aufwirft, was<br />

geschehen könnte, wenn einer auf diesem Eishang <strong>aus</strong>glitte,<br />

zeigt ihm Melchior, wie er im schlimmsten Falle seine Axt<br />

einhauen <strong>und</strong> sich daran halten würde. Trotz eintretenden Wetterumschlags<br />

steigen sie weiter <strong>und</strong> betreten bereits um 8.15<br />

Uhr den Gipfel, <strong>der</strong> von einer zehn Fuss hohen Stange markiert<br />

wird.<br />

Im Enthusiasmus klettert erst Melchior, dann Hinchliff an<br />

<strong>der</strong> Signalstange empor. Oben stösst Melchior den «Oberlän<strong>der</strong><br />

Kriegsruf <strong>aus</strong>, als ob ihn irgendjemand in <strong>der</strong> R<strong>und</strong>e hätte hören<br />

können». Hinchliff wird im Wind <strong>der</strong> Hut Richtung Gasterntal<br />

25


weggeweht, <strong>und</strong> <strong>der</strong> riskante Versuch Melchiors, diesen zu erhaschen,<br />

wird durch das Seil, das die beiden noch verbindet,<br />

rasch gehemmt. Melchior seilt seinen «Herrn» los, knüpft das<br />

Seilende <strong>und</strong> sich an den Signalpfahl <strong>und</strong> will sich auf die überhängende<br />

Wächte hin<strong>aus</strong>wagen, um nach dem Hut zu spähen.<br />

Hinchliff schau<strong>der</strong>t es beim Zuschauen, er zieht ihn am Seil<br />

zurück, lehnt auch Melchiors Anerbieten ab, ihm seinen Hut<br />

zu leihen, <strong>und</strong> bedeckt das Haupt mit einem Taschentuch.<br />

Um sich während des Mahls vor <strong>der</strong> Kälte zu schützen,<br />

graben sie die Beine bis zu den Knien in Schneehöhlen ein.<br />

Der «berühmte Gemsjäger» Melchior erzählt, dass er schon oft<br />

in selbstgegrabenen Schneehöhlen übernachtet <strong>und</strong> bis zum<br />

Morgen herrlich darin geschlafen habe. Beim Abstieg schreitet<br />

Melchior über das harte Eis voran, tritt in die im Aufstieg geschlagenen<br />

Stufen, Hinchliff dicht hinter ihm. Als <strong>der</strong> Schnee<br />

weicher wird, gehen sie Hand in Hand, die genagelten Absätze<br />

<strong>der</strong> Schuhe fest einstossend, wobei Melchior von Zeit zu Zeit<br />

sein «Gut, gut!» hören lässt. Es beginnt zu regnen, sie beeilen<br />

sich <strong>und</strong> gelangen um elf Uhr zum «Schwarenbach», wo man<br />

erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass sie lediglich sechseinhalb<br />

St<strong>und</strong>en für die ganze Tour gebraucht haben, während man normalerweise<br />

nur für den Aufstieg <strong>der</strong>en sieben berechnet.<br />

Sie trocknen ihre vom Nie<strong>der</strong>schlag durchnässten Haare,<br />

geniessen eine Pfeife <strong>und</strong> einen Kaffee. Hinchliff will weiter<br />

nach Leukerbad, wo im Hotel des Alpes seine Reisebegleiter auf<br />

ihn warten. Bei diesem Wetter möchte Melchior seinen «Herrn»<br />

nicht alleine gehen lassen. Gutmütig gibt er vor, in Leukerbad<br />

«seinen Bru<strong>der</strong>» besuchen zu müssen. Arm in Arm, Hinchliff<br />

nun mit Melchiors Hut geschmückt, treten sie den Weg<br />

unter einem Regenschirm an. Hinchliff schreibt später: «Mit<br />

Bedauern schied ich von Melchior, indem ich ihn für einen ganz<br />

<strong>aus</strong>gezeichneten <strong>und</strong> zuverlässigen Gefährten halte, eines von<br />

jenen treuen <strong>und</strong> mannhaften Herzen, mit denen es immer<br />

ein Vergnügen ist, verb<strong>und</strong>en zu sein.» Sie nehmen sich zum<br />

Ziel, im nächsten Jahr gemeinsam den Wildstrubel zu besteigen<br />

– was sie 1858 zusammen mit Hinchliffs Fre<strong>und</strong> Leslie<br />

Stephen machen werden.<br />

26


DER STEINIGE<br />

WEG ZUM<br />

ALPINISMUS<br />

DIE ENGLÄNDER KOMMEN — KRIEGS-<br />

RHETORIK IN DEN BERGEN — RÜCKBLICK:<br />

DIE ALPEN SIND SCHRECKLICH,<br />

BERGBESTEIGUNGEN VERBOTEN UND<br />

«KEINESWEGS LUKRATIV» — MIT<br />

PAN TOFFELN AUF DEN MONT BLANC —<br />

«WO IST JETZT DIE JUNGFRAU?»

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!