Beiträge zur Sozialen Phantasie
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Dies ist zwar eine leicht idyllische Interpretation des Mords und Totschlags, wie er im<br />
Mittelalter auf der Tagesordnung stand; diese Sicht der Verhältnisse stimmt aber insofern, als<br />
im dünnbesiedelten Europa noch genügend Raum zum Ausweichen vorhanden war. Mit der<br />
Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaft wurde diese "symbolische Solidarität" in<br />
Frage gestellt. Die im bürgerlichen Eigentumsrecht formulierte Trennung der Unterklassen<br />
von ihren Subsistenzmitteln und die hieraus resultierende Freisetzung von Arbeitskraft<br />
beförderte das "Recht auf Existenz" als Klassenforderung von unten in Widerspruch <strong>zur</strong><br />
bürgerliche Revolution. Das "Recht auf Existenz" geriet in Gegensatz <strong>zur</strong> kapitalistischen<br />
Ökonomie. Die Forderung, daß das Korn vor allem in Zeiten des Mangels in der Region<br />
konsumiert werden sollte, in der es produziert wurde, ließ sich nicht so einfach mit der<br />
Tendenz der Herausbildung überregionaler Märkte vereinbaren. Der Versuch, das<br />
ökonomische Muster der feudalistischen "Wirtschaftpolitik" wiederherzustellen, widersprach<br />
dem kapitalistischen Profitinteresse. Die Unterklassen revoltierten.<br />
"Die Lebensmittelrevolte im England des 18. Jahrhunderts war eine hochkomplexe Form von<br />
direkter Volksaktion, diszipliniert und mit klaren Zielen (...) Die Proteste bewegten sich im<br />
Rahmen eines im Volk vorhandenen Konsenses darüber, welche Handlungsweisen auf dem<br />
Markt, in der Mühle, beim Bäcker etc. legitim und welche illegitim seien. Dieser Konsens<br />
wiederum beruhte auf einer traditionsbezogenen Auffassung der sozialen Normen und<br />
Verpflichtungen und der jeweiligen ökonomischen Funktion der verschiedenen Gruppen<br />
innerhalb der Community." (S.107)<br />
D. h., die "Marktethik" des Feudalismus kollidierte mit dem Profitinteresse des Kapitals,<br />
welches noch nicht mit einer staatlichen Sozial- und Konjunkturpolitik gekoppelt war, wie<br />
dies seit der Epoche des Faschismus der Fall ist. Die "moralische Ökonomie" war jedoch<br />
keine "Marktethik" im modernen Sinne. Mit politischer Ökonomie hat sie relativ wenig zu<br />
tun. Die Lohnfrage stand noch nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Arbeit<br />
und Kapital.<br />
"Die Lohnfrage wirft in dem Maße kein <strong>zur</strong>eichendes Licht auf die moralische Ökonomie,<br />
wie der Lohn - obwohl er deren ökonomischen Inhalt absorbiert (obwohl der Arbeitslohn die<br />
Reproduktion des Arbeiters sichert) - diesem Inhalt nicht wertmäßig gleich ist. In der<br />
Wertabstraktion und in der Äquivalenz von Arbeitskraft und Reproduktionskosten im Lohn<br />
erscheint ein Moment sozialer Reproduktion aufgehoben (weshalb die moralische Ökonomie<br />
als Kampfform nicht mehr funktionierte), das nicht allein "moralisch" zu bestimmen wäre -<br />
letztlich aus kulturellen Traditionen oder konservativen Konsumgewohnheiten heraus ( ... )<br />
Sondern dies Moment, dieser Inhalt ist "ökonomisch" zu fassen innerhalb selbstbestimmter<br />
Reproduktionszusammenhänge." (S.109)<br />
Die Arbeit war noch nicht zum Selbstzweck geworden, wie sich dies heute im "Recht auf<br />
Arbeit" ausdrückt; gearbeitet wurde nur so lange, bis die Reproduktion gesichert war. Der<br />
"blaue Montag" war eher die Regel als die Ausnahme. Die Unterklassen waren ökonomisch