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Saargeschichten Ausgabe 1_21

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saargeschichte|n<br />

62 heft 1_<strong>21</strong><br />

magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />

der krieg, die saar und das reich<br />

zur rückkehr der monumentalgemälde anton von werners nach saarbrücken<br />

Einzelpreis 5,– EUR 17. Jahrgang


Kleine Abbildung:<br />

<strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />

Nach dem erfolgreichen Restart des Landkreis-Neunkirchen-Buches im Jahr 2017, liegt nun<br />

der zweite Band des beliebten Buches vor. In der 2. <strong>Ausgabe</strong> finden Sie einen Sonderteil<br />

zum 150-jährigen Bestehen der Kreissparkasse Neunkirchen sowie viele weitere spannende<br />

Berichte zur Geschichte und Entwicklung des Landkreises.<br />

Sie erhalten die Bände im Buchhandel oder direkt in unserem Shop: edition-schaumberg.shop<br />

Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> I – 2017<br />

288 Seiten, Festeinband, großes Format, durchgeh.farbig, ISBN 978-3-941095-47-2, 25,00 EUR<br />

Das Landkreis-Neunkirchen-Buch, <strong>Ausgabe</strong> II – 2020<br />

288 Seiten, Ausführung wie <strong>Ausgabe</strong> I, ISBN 978-3-941095-70-0, 25,00 EUR<br />

Brunnenstraße 15 · 66646 Marpingen · Telefon 06853 502380 · info@edition-schaumberg.de<br />

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das ding aus der saargeschichte<br />

saargeschichte|n 3<br />

Einen Schönheitspreis würde man für dieses eiserne Ding aus der Saargeschichte<br />

wohl kaum vergeben. Einen Friedenspreis erst recht nicht. Denn das, was hier<br />

auf dem Raum einer kleinen Platte vereinigt ist, sorgte einst für tausendfachen<br />

Tod. Ob Kartätschenkugel, Granate oder das Geschoss eines Zündnadelgewehrs:<br />

Es braucht keine große Phantasie, um sich vorzustellen, welche Folgen es hatte,<br />

wenn diese Dinge auf Menschen trafen. Und genau das taten sie an dem Tag, der<br />

auf der gusseisernen Platte verewigt ist. Am 6. August 1870 tobte vor den Toren<br />

Saarbrückens eine der ersten Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges. Die<br />

Schlacht von Spichern, die die Region und ihr politisches Selbstverständnis so<br />

nachhaltig geprägt hat wie kaum ein anderes Kapitel der Saargeschichte.<br />

Die Verwandlung der Mordinstrumente zum Briefbeschwerer folgte einstmals<br />

natürlich nicht der Devise »Schwerter zu Pflugscharen«. Als Preußen und Franzosen<br />

im August 1870 mit schrecklichen Folgen aufeinander schossen, war der<br />

Krieg noch ein legitimes Mittel der internationalen Politik. Am Ende des neunmonatigen<br />

Waffengangs war in Frankreich das Seconde Empire untergegangen,<br />

in Deutschland das Zweiten Kaiserreich unter preußischer Führung entstanden.<br />

In der Euphorie um die Geburt des langersehnten Nationalstaats wurden die<br />

Kriegserinnerungen gerade an der Saar in unendlich vielen Facetten festgehalten<br />

und verklärt. Ein heute bestenfalls skurril wirkender Briefbeschwerer gehörte<br />

dazu ebenso wie ein monumentaler Gemäldezyklus, der zum zehnjährigen<br />

Jahrestag von Spichern 1880 im Alt-Saarbrücker Rathaus installiert wurde.<br />

Die Historienbilder des preußischen<br />

Hofmalers Anton von Werner machten<br />

das Saarbrücker Rathaus einst zu<br />

einer Ruhmeshalle des kaiserzeitlichen<br />

Deutschland und zu einer Pilgerstätte<br />

für saarländische Lokal-Patrioten.<br />

Nach fast 80-jähriger Pause kehren<br />

die Monumentalgemälde<br />

jetzt an den Ort ihrer langlebigen<br />

Verehrung zurück. Im<br />

Historischen Museum am<br />

Schlossplatz werden sie<br />

künftig eine herausragende<br />

Gelegenheit<br />

bieten, um über<br />

elementare Dinge aus<br />

Geschichte und Gegenwart<br />

zu diskutieren: über Krieg und Frieden,<br />

über Nationalismus und Internationalismus, über<br />

Frankreich, Deutschland und das Saarland. In der Titelstory<br />

dieses Heftes beginnen wir schon mal mit der Diskussion.<br />

Foto: © Fabian Barbknecht


impressum<br />

inhalt<br />

Herausgeber Edition Schaumberg, Brunnenstr. 15,<br />

66646 Marpingen, info@edition-schaumberg.de<br />

Die saargeschichte|n im Internet saargeschichten.<br />

online<br />

Gegründet 2005 vom Historischen Verein für die<br />

Saargegend e.V. und vom Landesverband der historisch-kulturellen<br />

Vereine des Saarlandes e.V.<br />

Redaktion Ruth Bauer, Dr. Paul Burgard,<br />

Bernhard W. Planz, Dr. Jutta Schwan<br />

Redaktionsanschrift Brunnenstraße 15, 66646<br />

Marpingen, info@edition-schaumberg.de (Redaktion<br />

<strong>Saargeschichten</strong>)<br />

Anzeigenverwaltung connection line<br />

Langes Gewann 9, 78052 Villingen-Schwenningen<br />

T 077<strong>21</strong> 990176, info@connection-line.de<br />

Gesamtherstellung Edition Schaumberg<br />

ISSN 1866-573x<br />

Vertriebspartner PVG Presse-Vertriebs-Gesellschaft<br />

mbH & Co. KG, Am Martinszehnten 13, 60437 Frankfurt,<br />

T 069 92057-0, F 069 92057-124<br />

info@pvg-group.com<br />

Erscheinungsweise Viermal jährlich im<br />

März, Juni, September, Dezember.<br />

Einzelausgabe 5,– EUR, Bei Bestellung über den<br />

Verlag zzgl. Versandkosten; Doppelausgabe 10,– EUR.<br />

Jahresabonnement 22,– EUR (incl. Versand<br />

innerhalb Deutschland); Ausland zzgl. anfallende<br />

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Hinweis zu den Beiträgen Namentlich gekennzeichnete<br />

Beiträge geben nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion wieder. Der Verlag haftet<br />

nicht für unverlangt eingereichte Manuskripte und<br />

Fotos. Die Redaktion behält sich vor, nach Absprache<br />

mit dem jeweiligen Autor, insbesondere in Überschriften<br />

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Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt.<br />

Das Ding aus der Saargeschichte 3<br />

Werner Klär Bürgermeister ausgewiesen! 5<br />

Beamtenstreik mit Folgen<br />

Paul Burgard Der Krieg, die Saar, das Reich 12<br />

Geschichte auf 55 Quadratmetern: Zur Rückkehr der Monumentalgemälde<br />

Anton von Werners nach Saarbrücken<br />

Sabine Graf St. Wendel und Gurs –<br />

Verbindungen über Zeit und Raum hinaus 30<br />

Vom Leben und Sterben des Bildhauers und Malers Otto Freundlich in Zeiten<br />

des NS-Terrors und dem Weiterleben seiner Idee in St. Wendel<br />

Kathrin Elvers-Svamberg Welt – Bühne – Traum 40<br />

»Die Brücke« im Atelier<br />

Christel Bernard Ein seltenes Fundensemble 46<br />

Die Filterzisterne der Liebenburg nebst Einlaufstein<br />

Bernhard H. Bonkhoff Saar-Dank- und Saar-Befreiungskirche 49<br />

Die evangelische Saarpfalz im Umbruch des Jahres 1935<br />

regionalgeschichte im unterricht<br />

Eva Kell Die Jahrtausendfeier 1925 an der Saar 60<br />

»… diese wuchtige Ballung eines stählernen Willens …«<br />

oder: »Riesenparty für das Deutsche Reich«<br />

Ausstellungen + Neue Publikationen 62<br />

Ach du liebe Zeit … Die Glosse in den saargeschichte|n 64<br />

saargeschichte|n bildet … 66<br />

Hinweis zum Titelbild<br />

Ankunft König Wilhelm I. von Preußen<br />

in Saarbrücken am 9. August 1870.<br />

[(DHM, Inv. Nr. 1987/304) © Deutsches<br />

Historisches Museum, A. Psille]


ürgermeister ausgewiesen!<br />

saargeschichte|n 5<br />

Beamtenstreik mit Folgen<br />

von werner klär<br />

Der Zufall machte auf die folgende brisante historische<br />

Episode aufmerksam. Auf eine Anfrage<br />

aus Eppelborn wurde im Stadtarchiv Friedrichsthal<br />

die Personalakte von Ernst Ballke, dem<br />

ehemaligen Bürgermeister von Friedrichsthal<br />

(1915–1920), gezogen 1 , der elf Jahre in Eppelborn<br />

Bürgermeister war, sodass es einige Berührungspunkte<br />

gibt. Die Personalakte enthält neben dem<br />

Schriftverkehr über Gehaltsfortzahlungen des<br />

1920 aus dem Saargebiet ausgewiesenen Bürgermeisters<br />

auch Unterlagen, wie die Gemeinde mit<br />

diesem Problem umgegangen ist.<br />

Ernst Ballke, Jahrgang 1871, geboren in Mönchengladbach,<br />

war nach einer Ausbildung in der<br />

Kommunalverwaltung Mülheim von 1897 bis<br />

1904 Beigeordneter in Neunkirchen, von 1904<br />

bis 1915 Bürgermeister in Eppelborn, bis er am 12.<br />

Dezember 1915 zum Bürgermeister von Friedrichsthal<br />

berufen wurde. 2 In seine Amtszeit während<br />

des Ersten Weltkrieges fallen laut Schaetzing<br />

vor allem die öffentliche Lebensmittelbewirtschaftung,<br />

die Einrichtung der Milchwirtschaft,<br />

eine kommunale Schuhwerkstatt, die Solbadanlage<br />

im Rathaus, die Wohnungsbeschaffung<br />

und »Pflege des vaterländischen Gedankens«.<br />

Schaetzing bewertet die Amtszeit durchaus als<br />

positiv, nur die Auflösung der Realschule und<br />

die Nutzung des Gebäudes als Rathaus habe<br />

1 Stadtarchiv Friedrichsthal Inv. Nr. 1651/2.<br />

2 Vgl. Schaetzing, Wilhelm: Friedrichsthal-Bildstock. Eine geschichtliche<br />

Heimatkunde. Saarbrücken 1926, S. 52f.; ebenso:<br />

Die Bürgermeister von Friedrichsthal, in: Friedrichsthal<br />

1880–1980. Festbuch, hrsg. vom Heimat- und Verkehrsverein<br />

Friedrichsthal-Bildstock e.V. aus Anlass des 100-jährigen<br />

Bestehens der Gemeindeverwaltung. Juni 1980, S. 79.<br />

Dort steht noch zusätzlich, dass der französische oberste<br />

Militärbefehlshaber des Saargebietes seine Ausweisung<br />

verfügt habe. Er sei in seiner Dienstwohnung festgenommen<br />

worden und einige Tage später an der Rheinbrücke<br />

in Mannheim ins Rechtsrheinische abgeschoben worden.<br />

bei manchen Eltern keine<br />

Zustimmung erhalten. Lapidar<br />

ist auch zu lesen, dass<br />

»er in der Nacht vom 10. zum<br />

11. August von den Franzosen<br />

verhaftet und ausgewiesen«<br />

worden sei. Gründe hierfür<br />

führt der Lokalhistoriker hier<br />

nicht auf, was zu Spekulationen<br />

Anlass gab und gibt.<br />

Der Beamtenstreik im August 1920<br />

Nach dem verlorenen Krieg und dem Versailler<br />

Vertrag wurde das neugeschaffene Saargebiet<br />

für 15 Jahre einer internationalen Regierungskommission<br />

des Völkerbundes unterstellt. Nachdem<br />

am 10. Januar 1920 das Saarstatut in Kraft<br />

getreten war, übernahm am 26. Februar die Kommission<br />

die Regierung, wobei die Einwohner von<br />

politischer Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen<br />

waren. Französische Besatzungstruppen<br />

blieben im Land, viele ausländische<br />

Funktionäre, vor allem Franzosen, übernahmen<br />

Regierungsämter und Spitzenpositionen in Verwaltung<br />

und Justiz. 3 Konflikte waren so vorprogrammiert.<br />

Zu einem großen Streit kam es<br />

über die Frage der Einstellung der Beamtenschaft<br />

in den Dienst der Regierungskommission.<br />

Dabei geht es zunächst um die »Verfügung betr.<br />

die Beamten im Saargebiet« 4 vom 16. März 1920.<br />

Darin heißt es unter anderem:<br />

»§1. […] Indessen steht es jetzt schon und während<br />

eines Verlaufes von 6 Monaten vom Tage<br />

an gerechnet, an dem die Verhandlungen bezüglich<br />

der Übernahme der Beamten mit Deutschland<br />

abgeschlossen sein werden, der Regierungs-<br />

3 Vgl. Behringer, Wolfgang/ Clemens, Gabriele: Geschichte<br />

des Saarlandes. München 2009, S. 94f.<br />

4 Vgl. Amtsblatt der Regierungskommission des Saargebietes,<br />

Nr. 1 vom 17. April 1920, S. 3f.<br />

Ernst Ballke (1871–<br />

1955), Bürgermeister<br />

von Friedrichsthal<br />

1915–20. (Foto aus:<br />

Schaetzing, S.52)


Titelseite der Nr.<br />

9 des Amtsblattes<br />

der Regierungskommission<br />

des<br />

Saargebietes vom<br />

14. August 1920 aus<br />

dem Stadtarchiv<br />

Friedrichsthal, Band<br />

original mit einem<br />

Lesezeichen auf<br />

dieser Seite 51! Das<br />

Statut umfasst die<br />

Seiten 51–54. Original<br />

mit zwei Brandlöchern<br />

oben links im<br />

und über dem »Das«,<br />

Handschriftliche<br />

Notiz (rechts oben):<br />

»Geändert durch Verordnung<br />

v. 25./1.33.<br />

(Reg. Amtsbl. 1933,<br />

S.22«)<br />

Rechts: Aus Amtsblatt<br />

der Regierungskommission<br />

des Saargebietes,<br />

S. 69.<br />

kommission frei, auf ihre Dienste zu verzichten<br />

[…].« Dies sahen die Beamten mit Sorge, denn<br />

man befürchtete die Suspendierung und die Einstellung<br />

von französischer Beamten, wobei im<br />

Raume stand, Französisch als Amtssprache einzuführen.<br />

5 Gerade in den durch den Friedensvertrag<br />

abgetrennten Gebieten war die Beamtenfrage<br />

kompliziert. 6 Bereits vor Antritt der<br />

Regierungskommission war es durch die fran-<br />

5 Vgl. Eingabe der politischen Parteien des Saargebiets an<br />

den Völkerbund in der Beamtenfrage (Anfang Juli 1920)<br />

(Nr.1<strong>21</strong>), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens<br />

und des Vertrages von Versailles.<br />

Als Weißbuch von der deutschen Regierung dem<br />

Reichstag vorgelegt. Berlin 19<strong>21</strong>, S. 184f. (online abrufbar<br />

unter https://archive.org/details/dassaargebietunt-<br />

00germ/page/n6).<br />

6 Vgl. zum Folgenden Jacoby, Fritz: Die nationalsozialistische<br />

Herrschaftsübernahme an der Saar. Die innenpolitischen<br />

Probleme der Rückgliederung des Saargebietes bis<br />

1935. Saarbrücken 1973 (Veröffentlichungen der Kommission<br />

für Landesgeschichte und Volksforschung VI), S. 27–29.<br />

Zu den Ausweisungen vor 1920 vgl. Eckler, Otto: Die Ausweisungen<br />

aus dem Saargebiet, in: Vogel, Theodor: Der<br />

Saar-Befreiungskampf im Reich 1918–1925. Berlin 1935, S.<br />

<strong>21</strong>2–<strong>21</strong>4.<br />

zösische Militärverwaltung zu Ausweisungen<br />

höherer Beamter gekommen, was den Einfluss<br />

der deutschen Beamtenschaft minderte. Verschiedene<br />

Landratsämter waren so neu besetzt<br />

worden und auch in der Kommunalverwaltung<br />

gab es Ende 1920 unbesetzte Bürgermeisterstellen,<br />

etwa Ottweiler, Saarlouis, Friedrichsthal<br />

und Sulzbach.<br />

Die Einflussnahme der deutschen Reichsregierung<br />

zeigte sich unmittelbar nach Amtsantritt<br />

der Regierungskommission darin, dass<br />

man über den Reichskommissar für die Übergabe<br />

des Saargebietes von Groote in Verhandlungen<br />

über die Beamtenfrage mit dieser<br />

trat. 7 Die deutschen Beamten wurden der<br />

Regierungskommission zur Verfügung gestellt,<br />

weitere Zusagen von der Regierungskommission<br />

gemacht. Allerdings legte dann die Kommission<br />

einen Entwurf des Beamtenstatuts vor, der<br />

die vorher gemachten Zusagen nicht zu verwirklichen<br />

schien und die Gegenvorschläge<br />

der Beamtenschaft nicht berücksichtigte 8 , was<br />

schließlich zu einem Streik der Beamtenschaft<br />

führte, dem sich die saarländische Bevölkerung<br />

in einem eintägigen Sympathiestreik anschloss. 9<br />

Der Belagerungszustand war am 6. August<br />

wegen des Streiks des Eisenbahnpersonals<br />

verhängt worden 10 , Zeitungsverbote wurden<br />

7 Vgl. Bericht über die Verhandlungen zwischen dem Reichskommissar<br />

für die Übergabe des Saargebietes und der Regierungskommission<br />

für das Saargebiet über Beamtenfragen<br />

am 24. April 1920 (Nr. 109), in: Das Saargebiet unter<br />

der Herrschaft …, S. 154–158.<br />

8 Vgl. die Übersicht über die Verhandlungen in: Das Saargebiet<br />

unter der Herrschaft …, S. 154–189; dort auch die Gegenvorschläge<br />

der Beamtenschaft (Nr. 120), S. 174–182.<br />

9 Vgl. Zenner, Maria: Parteien und Politik im Saargebiet unter<br />

dem Völkerbundsregime 1920–1935. (Veröffentlichungen<br />

der Kommission für saarländische Landesgeschichte<br />

und Volksforschung III) Saarbrücken 1966, S. 60.<br />

10 Vgl. Verhängung des Belagerungszustandes im Saargebiet<br />

(Nr. 124), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …,<br />

S. 190.


saargeschichte|n 7<br />

ausgesprochen. 11 Am 14. August endete der<br />

Belagerungszustand. 12<br />

Der Beamtenstreik im August 1920 war die erste<br />

große Machtprobe zwischen der Regierungskommission<br />

und Saarbevölkerung, was allerdings<br />

in der neueren Geschichtsforschung wenig<br />

Aufmerksamkeit findet. 13 In der zeitgenössischen<br />

Literatur ist das anders. Der als »Weißbuch« von<br />

der deutschen Regierung dem Reichstag 19<strong>21</strong> vorgelegte<br />

Band mit dem Titel »Das Saargebiet unter<br />

der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens<br />

und des Vertrages von Versailles« widmet diesen<br />

Ereignissen unter Kapitel XI. (Beamtenfrage,<br />

Beamtenstreik, Massenausweisungen) mehr als<br />

ein Viertel der 362 Seiten aus der Zeit vom 16.<br />

März 1920 bis 24. Juni 19<strong>21</strong>. 14 Hugo Anschütz veröffentlichte<br />

1922 das Buch »Der Kampf der Saarbeamten<br />

unter der Völkerbundsregierung«, das<br />

sich ausgiebig mit den Ereignissen beschäftigt. 15<br />

Die Ausweisung des Bürgermeisters<br />

Über die Aktion gegen Bürgermeister Ballke gibt<br />

ein »Bericht ausgewiesener Bürgermeister« im<br />

»Weißbuch« Auskunft. In der Nacht vom 10. zum<br />

11. August wurde Ballke zusammen mit dem<br />

Bürgermeister von Sulzbach Rudolf Eymael 16 von<br />

der französischen Militärbehörde verhaftet und<br />

nach Saarbrücken gebracht. Bereits am 8. August<br />

hatten Hausdurchsuchungen stattgefunden.<br />

Zusammen mit weiteren 17 Inhaftierten wurden<br />

die Bürgermeister dann weiter nach Zweibrücken<br />

verbracht und am nächsten Morgen<br />

nach Germersheim auf die rechte Rheinseite<br />

weitertransportiert und abgeschoben. Über die<br />

Gründe der Verhaftung und Abschiebung wurde<br />

ihnen, laut Aussage der beiden Bürgermeister,<br />

keine Mitteilung gemacht. Es scheint so zu sein,<br />

dass willkürlich Personen verhaftet wurden, denn<br />

es finden sich neben den beiden Bürgermeistern,<br />

ein Amtsgerichtsrat, ein evangelischer Pfarrer,<br />

vier Lehrer, drei Kommunalbeamtensekretäre, ein<br />

Gemeindebaumeister, ein Rechtsanwalt, zwei<br />

Redakteure, ein »Cafetier« sowie drei »Privatbeamte«.<br />

17<br />

In einem »Bericht über den Verlauf des Beamtenstreiks<br />

und die Massenausweisungen« 18 ist zu<br />

lesen, dass im Zuge des Streiks auch das saarländische<br />

Regierungskommissionsmitglied Alfred<br />

von Boch sein Mandat zurückgab. 19 Die<br />

Bevölkerung habe sich ruhig verhalten, denn es<br />

11 Vgl. Zeitungsverbote im Saargebiet (Nr. 128), in: Das Saargebiet<br />

unter der Herrschaft …, S. 195f. Betroffen hiervon<br />

waren die Saarbrücker Zeitung mit ihrem Ableger Völklinger<br />

Zeitung (128a), die Landeszeitung (Nr. 128b) sowie<br />

die Saar-Zeitung (128c). Über die Vorgänge bei der Saarbrücker<br />

Zeitung berichtet ausführlich der ehemalige Redakteur<br />

Ludwig Bruch, in: 200 Jahre Saarbrücker Zeitung<br />

(1761–1961), S. 154…160.<br />

12 Vgl. Beendigung des Streiks; Aufhebung des Belagerungszustandes<br />

(14. August 1920). (Nr. 141), in Das Saargebiet<br />

unter der Herrschaft …, S. 205.<br />

13 Als neuere Arbeit ist z.B. zu nennen Becker, Frank G:<br />

»Deutsch die Saar, immerdar!« Die Saarpropaganda des<br />

Bundes der Saarvereine 1919–1935, Saarbrücken 2007<br />

(Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische<br />

Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. 40), S. 134/135.<br />

Er handelt das Thema Beamtenstreik knapp in Zusammenhang<br />

mit der Einflussnahme deutscher Stellen auf<br />

den Streik ab.<br />

14 Die Dokumentensammlung ist im Tenor naturgemäß<br />

eher gegen die Regierungskommission des Saargebietes<br />

gerichtet und betont die prodeutschen Aspekte.<br />

15 Vgl. Anschütz, Hugo: Der Kampf der Saarbeamten unter<br />

der Völkerbundsregierung. Frankfurt (Main), 1922.<br />

16 Zu Eymael vgl. Schichtel, Horst Dieter: Die Entwicklung<br />

der Kommunalverwaltung und Kommunalvertretung in<br />

Sulzbach von 1727 bis heute, in: Sulzbach/Saar mit Altenwald,<br />

Brefeld, Hühnerfeld, Neuweiler, Schnappach. Eine<br />

Stadt im Wandel der Zeiten. Hrsg. von Jüngst, Karl Ludwig/<br />

Staerk, Dieter im Auftrag der Stadt Sulzbach. Sulzbach<br />

1993. » […] es war bekannt, daß Bürgermeister Eymael<br />

im Grunde seines Herzens kein Anhänger der<br />

neuen politischen Verhältnisse war. In Zusammenhang<br />

mit dem großen Beamtenstreik im August 1920 wurde<br />

Eymael von den Franzosen aus dem Saargebiet als politisch<br />

mißliebige Person ausgewiesen.«, S. 283, mit Anmerkung<br />

102) SAS [Stadtarchiv Sulzbach] Tagebuch Eymaels,<br />

S. 12.<br />

17 Vgl. Bericht ausgewiesener Bürgermeister (Nr. 144), in:<br />

Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. <strong>21</strong>6<br />

18 Vgl. Bericht über den Verlauf des Beamtenstreiks und die<br />

Massenausweisungen (Nr. 143), in: Das Saargebiet unter<br />

der Herrschaft …, S. <strong>21</strong>3–<strong>21</strong>5. Vgl. auch Eckler, S. <strong>21</strong>4.<br />

19 Vgl. hierzu Société des Nations, Journal Officiel, Genf I,7<br />

(1920), S. 400–404. Dort wird Dr. Jakob Hector aus Saarlouis<br />

als Nachfolger von Bochs ernannt (S. 404). (online<br />

abrufbar unter https://gallica.bnf.fr/ark:/1<strong>21</strong>48/<br />

bpt6k97859916). Im Amtsblatt des Völkerbundes wird<br />

immer wieder die Selbstständigkeit der Regierungskommission<br />

betont, vgl. Zenner, S. 61–63., was dazu führte,<br />

dass »der Prozess zur eindeutigen Festlegung der Saarbevölkerung<br />

gegen die Regierungskommission rasch<br />

fort[schritt].«, Zenner, S. 63.


Aus: Das Saargebiet<br />

unter der Herrschaft<br />

des Waffenstillstandsabkommens<br />

und des Vertrages<br />

von Versailles. Als<br />

Weißbuch von der<br />

deutschen Regierung<br />

dem Reichstag vorgelegt.<br />

(Berlin 19<strong>21</strong>,<br />

S. <strong>21</strong>6)<br />

sei zu keinen Zusammenstößen mit dem Militär<br />

gekommen. Allerdings sollen einige kleine<br />

Sabotageakte an Bahn- und Telegrafeneinrichtungen<br />

erfolgt sein. Das Militär sei äußerst<br />

brutal gegen die dem Dienst ferngebliebenen<br />

Beamten vorgegangen und soll sogar in den Wäldern<br />

»eine regelrechte Jagd« nach geflüchteten<br />

Beamten veranstaltet haben. Die Wiederaufnahme<br />

der Gespräche mit der Regierungskommission<br />

seien zunächst daran gescheitert,<br />

dass man vonseiten der Kommission behauptete,<br />

»der ganze Streik sei eine von alldeutschen Elementen<br />

und Drahtziehern außerhalb des Saargebiets<br />

eingefädelte Meuterei.« Nach einigen<br />

Zugeständnissen habe die Streikleitung<br />

die Arbeitsaufnahme am 14. August wieder<br />

angeordnet. Aber das Militär habe »mit Gewalt<br />

durchgegriffen und häufig jedes Maß überschritten.«<br />

Anfänglich sei es nur gegen Beamte<br />

vorgegangen, doch dann habe man dies benutzt,<br />

»um mißliebige Elemente zu entfernen.« So hätten<br />

bereits am 8. August Haussuchungen, Verhaftungen<br />

und Ausweisungen stattgefunden:<br />

»Scheinbar wahllos wurden im ganzen Saargebiet<br />

Leute aller Stände aufgegriffen.« Dies<br />

deckt sich mit den Angaben der beiden ausgewiesenen<br />

Bürgermeister. Die Zahl der Ausgewiesenen<br />

habe annähernd 200 betragen. 20<br />

Interessant ist der Hinweis, dass die Regierungskommission<br />

von den Ausweisungen überrascht<br />

worden sei. Sie habe sie nicht gebilligt<br />

und wohl auch Schritte unternommen, sie einzuschränken.<br />

Zwischen dem Präsidenten der<br />

Regierungskommission und dem General Brissaud-Desmaillet<br />

sei es zu Auseinandersetzungen<br />

wegen der Übergriffe einzelner Militärpersonen<br />

gekommen. <strong>21</strong> Auch ist die Rede davon, dass die<br />

Massenausweisungen bei der Bevölkerung einen<br />

ungeheuren Eindruck gemacht hätten. Die Ausweisungen<br />

hätten sie »mit aller Wucht« gerührt.<br />

Von den Ausgewiesenen sei ein Teil bereits wieder<br />

zurückgekehrt. Abschließend heißt es: »Ob<br />

die Regierungskommission alle Ausweisungen<br />

als hinfällig betrachtet, ist nicht feststellbar.«<br />

So wurden auch die Bemühungen des Gemeinderates<br />

von Friedrichsthal am 25. August 1920 um<br />

die Rückkehr des Bürgermeisters abschlägig<br />

beschieden: »[…] wird mitgeteilt, dass nicht<br />

beabsichtigt wird, den während des letzten<br />

Streikes von hier rechtsrheinisch ausgewiesene<br />

Bürgermeister Ballke zurückkommen zu lassen.«,<br />

so der stellvertretende Regierungskommissar<br />

für die Abteilung des Innern Jean<br />

20 Vgl. die Liste bei Eckler, S. <strong>21</strong>6f.; dort werden 230 Personen<br />

aufgeführt, die von den Ausweisungen 1919/20 betroffen<br />

waren. Ballke taucht dort gleich zweimal auf, einmal<br />

unter B mit richtiger Schreibweise, dann auch unter H als<br />

Halke. Was die Namen der 1919 ca. 400 ausgewiesenen<br />

Bergleute betrifft, weist Eckler darauf hin, dass es nicht<br />

möglich gewesen sei, die Namen zu ermitteln.<br />

<strong>21</strong> Vgl. Société des Nations, Journal Officiel, 2/7 (19<strong>21</strong>), S. 687,<br />

( online abrufbar unter https://gallica.bnf.fr/ark:/1<strong>21</strong>48/<br />

bpt6k9782608q) was dem widerspricht, denn dort wird<br />

auf den Bericht Raults an den Völkerbund vom 18. August<br />

1920 Bezug genommen, in dem es u.a. heißt: »Au cours<br />

de la grève, des troupes de garnison mises à ma disposition<br />

pour le maintien de l’ordre m’ont prêté le plus précieux<br />

et le plus dévoué concours. Le général Brissaut-Desmaillet,<br />

commandant les troupes du Territoire de la Sarre,<br />

s’est tenu en rapports constants avec le Président de la<br />

Commission de gouvernement, plein de déférence pour<br />

ses conseils. De mon côté, je lui ai laissé complète liberté<br />

d’assurer l’ordre par les moyens à sa convenance. Il a cru<br />

devoir prendre des arrêtés d’expulsion contre une centaine<br />

de pangermanistes notoires, presque tous Allemands<br />

étrangers à la Sarre, et qu’il considérait comme susceptibles<br />

d’entretenir l’agitation … .«.


saargeschichte|n 9<br />

Morize am 27. August 1920. 22 Interessant hierbei<br />

ist der Hinweis im Beschlussbuch des Gemeinderates<br />

von Friedrichsthal, der unter Vorsitz von<br />

Bezirksvorsteher Nikolaus Schnuer tagte, dass<br />

der Gemeinderat »dem Wunsche Ausdruck<br />

[gibt], daß bei eventl. wieder vorzunehmenden<br />

Verhaftungen in der Gemeinde unter allen<br />

Umständen auch der Gemeinderat über den<br />

Leumund des Verhafteten gehört werden möge,<br />

damit nicht Unschuldige dem Denunzianten zum<br />

Opfer fallen.« 23 Die Antwort enthält auch den<br />

wichtigen Hinweis, dass die vorgenommenen<br />

Verhaftungen unter dem Belagerungszustand<br />

stattgefunden hätten, bei welchem die Entscheidung<br />

allein der Militärbehörde zukomme.<br />

Nach Aufhebung des Belagerungszustandes<br />

würden keine weiteren Verhaftungen mehr vorgenommen.<br />

Am 23. September beschließt der Gemeinderat<br />

vor Eintritt in die Tagesordnung auf einen Dringlichkeitsantrag<br />

der U.S.P. (Unabhängige Sozialistische<br />

Partei) hin, dem 1919 ausgewiesenen Steiger<br />

E. vorläufig 500 Mk. als Entschädigung zu<br />

zahlen, während das Gehalt des Bürgermeisters<br />

Ballke gesperrt bleibt bis zur Klärung des Sachverhaltes,<br />

wobei bis zur nächsten Gemeinderatssitzung<br />

geklärt werden soll, ob eine Sperrung<br />

des Gehaltes gesetzlich zulässig ist. Dies<br />

wird an den Landrat weitergeleitet. Die Sitzung<br />

am 1. Oktober beschließt dann, gegen Ballke ein<br />

Disziplinarverfahren einzuleiten. Am 28. Oktober<br />

teilt der Landrat mit, dass eine Sperrung des<br />

Gehaltes gesetzlich unzulässig sei, allerdings<br />

könne über die Einbehaltung des Gehaltes erst<br />

nach Eröffnung des Disziplinarverfahrens eine<br />

Entscheidung ergehen. Das Verfahren sei aber<br />

bis jetzt noch nicht eröffnet, sogar noch nicht<br />

einmal beantragt. Dies lässt darauf schließen,<br />

dass der Antrag aus Friedrichsthal sich verzögert<br />

hatte, denn dort sollte ein Kontrollausschuss die<br />

Sachlage klären. Am 9. November liegt ein mehrseitiges<br />

Protokoll vor. Am 24. November wird dem<br />

Landrat mitgeteilt, dass gegen Ballke »kein strafgerichtliches<br />

Verfahren wegen den Tatsachen,<br />

aufgrund deren das Disziplinarverfahren eingeleitet<br />

werden soll«, schwebt und auch ein solches<br />

nicht beantragt sei. In der Folge finden sich<br />

dann die weiteren Aktenstücke/Gutachten über<br />

die Rechtmäßigkeit von Gehaltszahlungen an<br />

ausgewiesene Beamte.<br />

Die Bemühungen um eine neue Stelle<br />

Ernst Ballke kam nicht als Bürgermeister zurück.<br />

Für die Zeit ab Ausweisung bis Jahresende 1920<br />

war die Gemeinde Friedrichsthal mit der Gehalts-<br />

Siegelabdruck des<br />

Bürgermeisteramtes<br />

Friedrichsthal<br />

mit dem durch<br />

Verordnung vom<br />

28. Juli 1920 neu<br />

geschaffenen Wappen<br />

des Saargebietes.<br />

Die Gemeinden<br />

wurden verpflichtet,<br />

dieses Wappen im<br />

Gemeindesiegel zu<br />

führen (aus: Klär,<br />

Werner: Das Wappen<br />

von Friedrichsthal, in:<br />

Friedrichsthaler Hefte<br />

1 [1981], S. 6.)<br />

22 Vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte Bürgermeister<br />

Ernst Ballke; vgl. auch Edelmann, Fritz: Unter der Verwaltung<br />

des Völkerbundes 19<strong>21</strong> bis 1925. Denkschrift über<br />

die Tätigkeit der Gemeindeverwaltung Friedrichsthal seit<br />

Uebernahme der Geschäfte durch Bürgermeister Kondruhn,<br />

in: Schaetzing, S. 73. Er berichtet, dass anstelle des<br />

ausgewiesenen Bürgermeisters der Bezirksvorsteher von<br />

Bildstock Nikolaus Schnuer vertretungsweise mit der<br />

Wahrnehmung der Dienstgeschäfte des Bürgermeisters<br />

durch den Landrat beauftragt und durch die Regierungskommission<br />

bestätigt wurde. Am 15. Februar 19<strong>21</strong><br />

wurde Paul Kondruhn zunächst kommissarisch, dann<br />

ab 23. Dezember 19<strong>21</strong> endgültig zum Bürgermeister ernannt.<br />

Siehe auch Verwaltungsbericht der Bürgermeisterei<br />

Friedrichsthal für die Jahre 19<strong>21</strong>–1924, S. 17f. mit fast<br />

identischem Wortlaut (Stadtarchiv Friedrichsthal, Inv.Nr.<br />

366 A 60, Box 3).<br />

23 Vgl. hierzu Linsmayer, Ludwig: Politische Kultur im Saargebiet<br />

1920–1932: symbolische Politik, verhinderte Demokratisierung,<br />

nationalisiertes Kulturleben in einer abgetrennten<br />

Region. St.Ingbert 1992, S. 200f, der unter der<br />

Überschrift »Politik mit anderen Mittel« die Bespitzelung<br />

und Ausgrenzung behandelt. Er betont auch, dass sich<br />

zahlreiche Gemeinderatssitzungen während der Völkerbundszeit<br />

mit den Denunziationsverdächtigungen und<br />

politisch motivierten Kündigungen beschäftigten.<br />

Französische Soldaten<br />

aus Nordafrika<br />

zu Pferd auf dem<br />

Rathausvorplatz in<br />

Friedrichsthal um<br />

1920. (Foto: Privat,<br />

Stadtarchiv<br />

Friedrichsthal)


Eine Militärkapelle,<br />

bestehend aus französischen<br />

Soldaten<br />

der nordafrikanischen<br />

Kolonien, auf dem<br />

Friedrichsthaler<br />

Marktplatz, wahrscheinlich<br />

am französischen<br />

Nationalfeiertag<br />

Anfang der<br />

1920er Jahre. (Foto:<br />

Privat. Stadtarchiv<br />

Friedrichsthal)<br />

zahlung in Vorlage getreten, was sie nun von<br />

verschiedenen amtlichen Stellen zurückhaben<br />

wollte. Ballke sollte zunächst mit der Vertretung<br />

des Bürgermeisters der Gemeinde Windesheim<br />

bei Bad Kreuznach beauftragt werden,<br />

was allerdings nicht erfolgte, da die Rheinlandkommission<br />

dagegen Einspruch erhoben hatte.<br />

24 In einem Schreiben vom 31. Januar 19<strong>21</strong> teilt<br />

er dem Friedrichsthaler Rathauschef mit, dass er<br />

»nach Kräften und ernstlich bemüht« sei, »sobald<br />

als möglich eine anderweitige gleichwertige<br />

Anstellung zu bekommen«, um »die Gemeinde<br />

von weiteren Verpflichtungen zu entlasten.« Am<br />

29. April 19<strong>21</strong> wurde Ballke zum stellvertretenden<br />

Bürgermeister von Dabringhausen ernannt,<br />

mehr als drei Jahre später, im August 1924 dann<br />

zum Bürgermeister gewählt. 25<br />

Welche Rolle Ballke beim Beamtenstreik gespielt<br />

hatte, wird aus der Personalakte nicht deutlich.<br />

Schaetzing führt »seine treu-deutsche<br />

Gesinnung« 26 als Grund für die Ausweisung an.<br />

Als Bürgermeister war er für seine Beamten und<br />

Angestellten verantwortlich, die vermutlich im<br />

August 1920 auch die Arbeit niederlegten. Daraus<br />

könnte sich ableiten lassen, dass er nun eine<br />

Persona non grata war, was aus dem Schrift-<br />

24 Vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte Ballke,<br />

handschriftliches Schreiben von Ballke an Bürgermeister<br />

Kondruhn vom 14.1.19<strong>21</strong>, in dem es um Gehaltsfortzahlung<br />

geht.<br />

25 Vgl. Wintgen, Thomas: Wermelskirchen in der Weimarer<br />

Republik, die Jahre 1918 bis 1932 im Spiegel der Lokalpresse,<br />

in: Wermelskirchen Beiträge zu unserer Geschichte,<br />

Band 6, S. 148. [Freundliche Mitteilung von Gerd. W. Gries<br />

vom Bergischen Geschichtsverein Wermelskirchen] Dabringhausen<br />

ist neben Dhünn der größte Stadtteil von<br />

Wermelskirchen in Nordrhein-Westfalen und war lange<br />

Zeit eine selbstständige Gemeinde. Ballke war dort Bürgermeister<br />

bis 1933. Er reichte Ende März 1933 »aus gesundheitlichen<br />

Gründen« (ausdrücklich nicht aus politischen<br />

Gründen) sein Pensionsgesuch ein, das im Juni<br />

genehmigt wurde. Er starb am 1.3.1955 in Dabringhausen.<br />

Schätzing (S. 53) schreibt, dass Ballke seit dem 29. April<br />

19<strong>21</strong> »Bürgermeister in Dabringhausen« ist.<br />

26 Schaetzing, S. 73.<br />

wechsel mit der Regierungskommission deutlich<br />

wird, die kategorisch seine Rückkehr ablehnte.<br />

Dass es sich nicht um ein Einzelschicksal handelte,<br />

macht die Note der deutschen Regierung an<br />

die Regierungskommission vom 31. März 19<strong>21</strong> 27<br />

deutlich, in der auf die Problematik der Ausweisungen<br />

mit Nachdruck hingewiesen wird: Die<br />

Regierungskommission habe zwar »der Mehrzahl<br />

der Ausgewiesenen schon nach wenigen<br />

Wochen die Rückkehr gestattet, jedoch warte<br />

eine nicht geringe Anzahl noch heute auf diese<br />

Erlaubnis.« Anderen sei die Rückkehr ausdrücklich<br />

verweigert worden, »ohne daß sie die genauen<br />

Gründe dafür erfahren konnten.« Die Note<br />

zweifelt dann auch an, dass die Kommission die<br />

Ausweisungen kurzer Hand aufgehoben, sondern<br />

sich eine Prüfung jedes einzelnen Falls vorbehalten<br />

habe. Sie sei also der Ansicht, dass die<br />

Ausweisungen rechtsgültig ergangen seien und<br />

diese sogar mit Aufhebung des Belagerungszustandes<br />

nicht von selbst ihre Wirksamkeit verloren<br />

hätten.<br />

Auch Ballkes späteres Bemühen um eine Stelle in<br />

der Nähe von Bad Kreuznach wurde abschlägig<br />

beschieden, weil die Rheinlandkommission<br />

Erkundigungen über ihn bei der der Regierungskommission<br />

in Saarbrücken eingezogen hatte.<br />

27 Vgl. Note der deutschen Regierung an die Regierungskommission<br />

des Saargebietes vom 31. März 19<strong>21</strong> (Nr.<br />

159), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. 240-<br />

242. Dort wird betont, dass die Ausweisungen der Rechtgrundlage<br />

entbehren, »da sie dem auch im Saargebiet<br />

geltenden Freizügigkeitsgesetz widersprechen.« (S. 241).<br />

Schon die Übertragung der vollziehenden Gewalt an<br />

einen französischen General sei nach dem Vertrag von<br />

Versailles unzulässig, da die Aufrechterhaltung der Ordnung<br />

nach ausdrücklicher Bestimmung des Vertrages<br />

nur durch eine örtliche Gendarmerie erfolgen dürfe. Vgl.<br />

auch Société des Nations, Journal Officiel 2/7 (19<strong>21</strong>), S.<br />

486–487. Dort handelt es sich um einen Bericht des chinesischen<br />

Diplomaten Vi Kyuin Wellington Koo (1887–<br />

1985), der Vertreter Chinas bei dem Völkerbund war, unter<br />

der Überschrift: PRÉTENDUES EXPULSIONS EN MASSE<br />

D’HABITANTS (Angebliche Massenausweisungen von<br />

Einwohnern). Er empfiehlt, in Fällen, in denen die Ausweisungsverfügung<br />

gegen bestimmte Personen noch<br />

in Kraft ist, eine neue Untersuchung durchzuführen, um<br />

die Zahl der ausgewiesenen Personen auf das mit der<br />

Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Saarbecken<br />

zu vereinbarende Minimum zu beschränken. Das<br />

Ergebnis jeder Untersuchung, die für jede noch mit einem<br />

Einreiseverbot belegte Person einzeln durchgeführt<br />

werden soll, sollte dem Völkerbund zur Information so<br />

schnell wie möglich mitgeteilt werden.


saargeschichte|n 11<br />

Dies moniert die Note der deutschen Regierung<br />

vom 31. März 19<strong>21</strong> damit, dass es eine »Zuständigkeitsüberschreitung«<br />

gewesen sei, dass »die Ausweisungen<br />

nicht nur für das Saargebiet, sondern<br />

auch für das besetzte Rheinland ausgesprochen<br />

wurden.« In einer Fußnote hierzu wird deutlich,<br />

dass der Präsident der Regierungskommission<br />

im August 1920 die interalliierte Rheinlandkommission<br />

ersucht habe, »den von der<br />

Regierungskommission ausgewiesenen Individuen<br />

– ‘Agitatoren, Anarchisten, Streikstifter usw.‘<br />

– die Aufenthaltserlaubnis auch für das besetzte<br />

Gebiet zu versagen.« Die Rheinlandkommission<br />

habe allerdings den Standpunkt vertreten, dass<br />

sie sich nicht verpflichten könne, »sämtliche aus<br />

dem Saargebiet ausgewiesenen Personen nicht<br />

im besetzten Gebiet zu dulden,« sie sei aber<br />

bereit, «die einzelnen Fälle zu prüfen, und bitte<br />

deshalb die Regierungskommission, ihr eine Liste<br />

der ausgewiesenen Personen unter Angabe der<br />

Ausweisungsgründe zu gehen zu lassen.« 28<br />

Ende gut, alles gut?!<br />

In Friedrichsthal wurden dem ehemaligen<br />

Bürgermeister zwei Ehren zuteil: 1928 bittet der<br />

damalige Bürgermeister Paul Kondruhn Ballke<br />

um ein Porträtfoto, das dieser gerne in seinem<br />

Amtszimmer aufhängen möchte. Ballke<br />

kommt diesem Wunsch etwas verspätet nach.<br />

Heute hängen die Porträts der ehemaligen und<br />

des jetzigen Bürgermeisters im Treppenhaus des<br />

Rathauses und nicht mehr im Amtszimmer. Am<br />

7. Januar 1932 schreibt Kondruhn nach Dabringhausen,<br />

dass die Gemeindevertretung auf seinen<br />

Vorschlag hin, in Anerkennung der Verdienste um<br />

die Gemeinde Friedrichsthal, beschlossen habe,<br />

28 Bereits am 6. September 1920 hatte der Reichskommissar<br />

für die besetzten rheinischen Gebiete die interalliierte<br />

Rheinlandkommission ersucht, die Ausweisungsbefehle<br />

nicht auf das Gebiet ihrer Zuständigkeit<br />

auszudehnen (Nr. 152), was die Rheinlandkommission<br />

am 2. November dahingehend beantwortet, dass sie keine<br />

Überschreitung der Befugnisse des kommandierenden<br />

Generals im Saargebiet entdecken könne, »da nicht<br />

angeordnet ist, daß die Ausgewiesenen sich nicht im besetzten<br />

Gebiet niederlassen dürfen.« Allerdings hebt die<br />

Kommission »ihr unbedingtes Ausweisungsrecht aufgrund<br />

des Artikel 10 der Verordnung Nr. 3 gegenüber den<br />

aus dem Saargebiet ausgewiesenen Personen, die sich in<br />

den besetzten Gebieten niederzulassen suchen, hervor,<br />

sofern ihre Anwesenheit im besetzten Gebiet ihr als der<br />

Sicherheit der Besatzungstruppen abträglich erscheint.«<br />

(Nr. 153), in: Das Saargebiet unter der Herrschaft …, S. 225–<br />

227. Vgl. auch Eckler, S. <strong>21</strong>4f.<br />

eine Straße nach seinem Namen zu benennen.<br />

Ballke bedankt sich mit Schreiben vom 11. Januar:<br />

»Wenn ich auch nur bestrebt gewesen bin, in den<br />

schweren Jahren, in welchen mir die Verwaltung<br />

des Amtes Friedrichsthal oblag, zum Wohle der<br />

Bürgerschaft von Friedrichsthal meine Pflicht<br />

zu tun, so gereicht es mit doch zur besonderen<br />

Genugtuung, diese Pflichterfüllung heute<br />

anerkannt zu sehen und in der Namensgebung<br />

eine dankbare Ehrung zu erblicken.« 29 Er werde<br />

seinen Dank bei Gelegenheit persönlich vor Ort<br />

zum Ausdruck bringen.<br />

Betrachtet man den Beamtenstreik im August<br />

1920 hinsichtlich seines Ergebnisses, so kann man<br />

sagen, dass dies für die betroffenen Beamten<br />

sehr »mager« war. Die Regierungskommission<br />

setzte ihr Statut fast unverändert durch und<br />

stellte die ihr nicht genehmen Beamten bis zum<br />

15. Dezember 1920 der deutschen Regierung zur<br />

Verfügung. Massenausweisungen und der verhängte<br />

Belagerungszustand zeigten die Machtposition<br />

der Regierungskommission nur allzu<br />

deutlich auf. 30 Dennoch kann man sagen, dass<br />

durch den Streik die Solidarität zwischen Beamten<br />

und Arbeitern wuchs und gesellschaftliche<br />

Unterschiede überbrückt wurden. Obwohl die<br />

Stellung der Regierungskommission nach dem<br />

Streik sehr stark war, hatte sich eine breite Opposition<br />

gegen sie organisiert, die im Laufe der Zeit<br />

immer wichtiger wurde. 31<br />

29 Zu beiden Ehrungen vgl. Stadtarchiv Friedrichsthal, Personalakte<br />

Ballke.<br />

30 Vgl. Jacoby, S. 29.<br />

31 Vgl. Zenner, S. 61f.<br />

Ausschnitt aus dem<br />

amtlichen Schreiben<br />

von Jean Morize, dass<br />

Bürgermeister Ballke<br />

nicht zurückkehren<br />

darf. (Stadtarchiv<br />

Friedrichsthal)<br />

Aus dem Saargebiet<br />

1919/20 ausgewiesene<br />

Bürgermeister<br />

(nach Eckler):<br />

Ballke, Friedrichsthal<br />

Becker, Büren<br />

Blank, Ottweiler<br />

Eyloff, Ittersdorf<br />

Eymael, Sulzbach<br />

Dr. Gilles, Saarlouis<br />

John, Lisdorf<br />

Junges, Saarwellingen<br />

von Korff, Wallerfangen<br />

Dr. Mettlich, St. Wendel<br />

Dr. Pint, Merzig<br />

Rüther, Bisten<br />

Schöneberger, St. Ingbert<br />

Thiel, Merzig<br />

Wagner, Dillingen


von kurzfristigen Revitalisierungsbemühungen<br />

im Rahmen der Planungen für ein Spichernmuseum,<br />

das erst 1936 das Licht der Welt erblickte,<br />

um in den Bomben des Zweiten Weltkriegs endgültig<br />

unterzugehen. Wie lange die Strahlkraft<br />

der Monumentalgemälde in der Praxis wirkte,<br />

wie lange Einheimische und Auswärtige sie<br />

unbedingt sehen wollten, ist eine andere Frage.<br />

So lange der Spichernkult seine gesellschaftliche<br />

Funktion erfüllte, dürften die Bilder Anton von<br />

Werners vermutlich fleißig besichtigt worden<br />

sein. Die 40-Jahresfeier von Spichern 1910 und<br />

die Einweihung des Ulanendenkmals vor dem<br />

Rathaus im Jahr 1913 könnten die letzten großen<br />

Anlässe gewesen sein, bei denen die Menschen<br />

noch in Strömen in den Saarbrücker Rathaussaal<br />

pilgerten.<br />

Folgt man den Informationen aus zeitgenössischen<br />

Stadt- und Reiseführern, dann<br />

waren die Von-Werner-Bilder zumindest 40 Jahre<br />

lang eine regionale Attraktion. Sie gehörten<br />

zu den Sehenswürdigkeiten einer vor der Jahrhundertwende<br />

mit Anziehungspunkten nicht<br />

gerade gesegneten Stadtlandschaft, sie gehörten<br />

aber vor allem zum Pflichtprogramm für<br />

die Spichern- und Schlachtfeldtouristen aus<br />

Nah und Fern. Trotz der Nutzung zu amtlichen<br />

Zwecken stand der Rathaussaal fast täglich für<br />

Besichtigungen zur Verfügung, und offenbar<br />

gab es im Haus auch immer einen Mann, der<br />

mehr oder weniger fachkundig durch von Werners<br />

Bildprogramm führen konnte: Man solle<br />

dem Führer ein kleines Trinkgeld geben, heißt es<br />

am Ende der Ausführungen zum Rathauszyklus<br />

beispielsweise in Wilhelm Lichnocks Stadtführer<br />

von 1895. Obwohl also vermutlich tausende Saarländer<br />

und Touristen, unzählige Schulklassen<br />

und Veteranen den Saarbrücker Rathauszyklus<br />

besichtigt haben, gibt es bisher keine Zeugnisse<br />

von Besuchern, die darüber Auskunft geben könnten,<br />

wie die Zeitgenossen den Saal und die Bilderder<br />

krieg, die saar, das reich<br />

Geschichte auf 55 Quadratmetern: Zur Rückkehr der Monumentalgemälde<br />

Anton von Werners nach Saarbrücken<br />

von paul burgard<br />

Der Beitrag ist die Vorabpublikation<br />

eines Kapitels aus einem<br />

Buch des Autors über die Schlacht<br />

von Spichern, das in der Reihe<br />

»Echolot« des Saarländischen<br />

Lan des archivs erscheinen wird.<br />

Dort ist der Text auch mit den<br />

zugehörigen Fußnoten zu lesen.<br />

Das diesen Seiten vorangehende<br />

Kapitel über die Vorgeschichte des<br />

Zyklus beleuchtet den weiteren<br />

Kontext.<br />

Viele Orte und Namen in und um die saarländische<br />

Landeshauptstadt erinnern noch<br />

heute an den Deutsch-Französischen Krieg von<br />

1870/71. Am Anfang dieses Krieges stand die<br />

Schlacht bei Spichern, am Ende die Gründung des<br />

zweiten Deutschen Kaiserreichs. Kurze Zeit später<br />

entstand als »Geschenk des Kaisers« an Saarbrücken-St.<br />

Johann ein monumentaler Gemäldezyklus,<br />

der seit 1880 in einem eigens errichteten<br />

Anbau des Alt-Saarbrücker Rathauses hing. Die<br />

Erinnerung an den Feldzug und die besonderen<br />

Ereignisse an der Saar wurde von Anton von<br />

Werner, dem bekanntesten Historienmaler des<br />

Reichs, auf sieben großformatigen Bildern festgehalten.<br />

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren<br />

diese Bilder in der Öffentlichkeit nicht mehr zu<br />

sehen. Jetzt kehrt der Gemäldezyklus an den<br />

Saarbrücker Schlossplatz zurück. Er ist reif fürs<br />

Historische Museum und wird dort in Zukunft<br />

ziemlich viel lebendige Geschichte aus einer 150<br />

Jahre alten Vergangenheit erzählen können.<br />

Kunst Macht Geschichte<br />

Wie viele Menschen die Gemälde Anton von<br />

Werners an ihrem angestammten Platz jemals<br />

gesehen haben, ist nur noch zu vermuten. Gut<br />

sechs Jahrzehnte hing<br />

der Zyklus in dem für ihn<br />

erbauten Rathaussaal, seit<br />

der Städtevereinigung von<br />

1909 und dem Abzug der<br />

(Alt-) Saarbrücker Stadtverordneten<br />

gewissermaßen<br />

mit alleinigem Platzrecht.<br />

Allerdings währte die<br />

Hochzeit des nationalen<br />

Musentempels wohl nur<br />

bis zum Ende des Kaiserreichs.<br />

Danach begann<br />

ein langer Dornröschenschlaf,<br />

allein unterbrochen


saargeschichte|n 13<br />

Auf dem Luftbild von<br />

1927 ist der Anbau<br />

des Rathauses zu<br />

erkennen, in dem<br />

die Gemälde Anton<br />

von Werners untergebracht<br />

waren. Es<br />

ist die bisher einzig<br />

bekannte Aufnahme,<br />

die eine Gesamtansicht<br />

des Gebäudes<br />

zeigt. (Fotoarchiv<br />

LPM, LPM 8650)<br />

schau erlebten. Ob die monumentalen Gemälde<br />

ihre Wirkung wie gewünscht entfalteten. Ob<br />

und inwiefern die kunstfertige Beurkundung –<br />

so nannte von Werner seine Arbeit selbst – des<br />

nationalen Einigungskampfes sogar diejenigen<br />

beeindrucken konnte, die ihn nicht vor Ort miterlebt<br />

hatten, die Auswärtigen etwa oder die<br />

Nachgeborenen.<br />

Was war das Besondere an der Kunst des 19. Jahrhunderts,<br />

wie sie von Werner exemplarisch vertrat,<br />

warum spielte die künstlerische Repräsentation<br />

der staatstragenden Geschichte »auf<br />

einmal« eine so außergewöhnliche Rolle? Die<br />

neuere Historienmalerei in der zweiten Jahrhunderthälfte<br />

wollte dokumentieren, Ereignisse<br />

festhalten, natürlich auch beindrucken, ja überwältigen,<br />

das war ihr Selbstverständnis und ihr<br />

Daseinszweck. Jahrzehnte nach der Säkularisation<br />

hatte die Geschichte, die man dem Geist<br />

der exakten Naturwissenschaft verpflichtet sah,<br />

in mancher Hinsicht das Erbe der Religion übernommen;<br />

sie war zum Instrument der übergeordneten<br />

Sinnstiftung geworden. Staat, Nation<br />

und Volk wurden zum Telos, zur Bestimmung<br />

menschlichen Handelns erklärt, die Geschichte<br />

bezeugte mit quasi gesetzmäßiger Zwangsläufigkeit<br />

den Lauf der Dinge. Die Kunst, die nun<br />

historische Ereignisse der Gegenwart dokumentierte,<br />

die so besagtes Verständnis von Geschichte<br />

zum Ausdruck brachte, handelte nicht nur im<br />

staatlichen Auftrag, sie verkörperte in Farben<br />

und Formen vielmehr den Staatszweck. So wie<br />

die Kunstwerke früherer Jahrhunderte erst den<br />

Kirchen, dann den Palästen ihre metaphysische<br />

Legitimation eingeschrieben hatten, so besetzte<br />

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die<br />

Historienmalerei mit der durch sie verbürgten<br />

Legitimität staatlichen Handelns den öffentlichen<br />

Raum: Schulen und Universitäten, Bahnhöfe,<br />

Gerichte und Rathäuser. In den 1870er Jahren,<br />

als Anton von Werner seinen Rathauszyklus<br />

schuf, erlebte die Historienmalerei in Deutschland,<br />

extrem befeuert durch die Reichsgründung,<br />

ihren quantitativen Höhepunkt. Die gewaltigen<br />

Ereignisse der Geschichte erforderten nach zeitgenössischer<br />

Vorstellung zwangsläufig eine<br />

Auf- und Grundriss<br />

des Anbaus am Alt-<br />

Saarbrücker Rathaus.<br />

Revisionszeichnung<br />

von 1880. (StA SB,<br />

Best. Bgm Alt-SB 1141)


monumentale Kunst, deren schiere Dimensionen,<br />

deren realistische und drastische Darstellungsformen<br />

historische Momente unmittelbar und<br />

emotional nachvollziehbar machen sollten. Die<br />

Malerei wurde in jeder Hinsicht zur Staatskunst,<br />

und von Werner wurde für die neue Kaiserdynastie<br />

zum Staatsfreund Nummer Eins.<br />

Man kann davon ausgehen, dass die Besucher<br />

und Besucherinnen des Saarbrücker Rathaussaales<br />

im Jahr 1880 von Werners Bilder bereits mit<br />

offenen Augen aufnahmen. Nichts störte dabei<br />

bereits vertraute Sehgewohnheiten, wobei die<br />

mittlerweile auch in der Provinz etablierte Fotografie<br />

den »Realitätssinn« der Betrachter zusätzlich<br />

geschult haben dürfte. Selbst die im Bildprogramm<br />

enthaltenen Insiderinformationen,<br />

symbolische Botschaften oder allegorische Darstellungen<br />

waren für die meisten kein Problem,<br />

für das bürgerliche Publikum schon gar nicht.<br />

Diesem Publikum war auch die ziemlich düstere<br />

Salonatmosphäre vertraut, die es beim Betreten<br />

des neuen Rathaussaals umfing. Zehn Meter<br />

waren es vom Eingang zur gegenüberliegenden<br />

Wand, gerade einmal achteinhalb von der Wand<br />

zur Linken bis zur Fensterfront an der Schlossstraße;<br />

es gab Gründerzeitvillen und -schlösschen<br />

in Saarbrücken-St. Johann, deren »Wohnzimmer«<br />

deutlich mehr Platz boten. Die drei<br />

Fenster waren zwar fast raumhoch, aufgrund<br />

ihrer Bemalung, ihrer Ausrichtung nach Norden<br />

und der geringen Breite der Schlossstraße war ihr<br />

Beitrag zur Beleuchtung des sechseinhalb Meter<br />

hohen, annähernd bis zur Decke mit dunklem<br />

Holz getäfelten Saales dennoch bescheiden. Das<br />

fehlende Licht und das durch die unproportionale<br />

Höhe des kleinen Saals bedingte Raumgefühl<br />

wird die Blicke der Betrachter automatisch nach<br />

oben geführt haben, zu den großformatigen<br />

Bildern, vielleicht auch sofort zur kassettierten<br />

Stuckdecke mit ihren Bemalungen und Sinnsprüchen.<br />

Dies Bildnis ist zum Sterben schön<br />

Da man den Rathaussaal nicht mittig, sondern<br />

nahe der Seite gegenüber den Fenstern betrat,<br />

fiel der erste »Lichtblick« fast zwangsläufig auf<br />

die gegenüberliegende Wand, auf die Erstürmung<br />

der Spicherer Höhen, namentlich und thematisch<br />

das sinnstiftende Zentrum des gesamten Bildprogramms.<br />

Im Gegensatz zu den landläufigen<br />

Vorstellungen von einem Schlachtenbild ist<br />

von Werners Erstürmung ziemlich übersichtlich.<br />

Keine Menschenmassen, die sich durch die Weiten<br />

der Landschaft kämpfen, keine Überfülle<br />

von einzelnen Gefechtsszenen keine brennenden<br />

Häuser, keine dystopischen Kampfszenen<br />

mit bis zum letzten entschlossenen Kombattanten.<br />

Die optisch bildbestimmende Diagonale<br />

teilt Himmel und Erde, kennzeichnet den spärlich<br />

bewachsenen Abhang des Roten Berges als<br />

besonders steile Herausforderung für die Soldaten,<br />

die diesen Berg im Sturm bezwingen müssen.<br />

Statt Heerscharen von Kämpfern ist nur eine<br />

Gruppe von 25–30 Soldaten auf dem Weg nach<br />

oben zu sehen, deren Wille zum Sturmangriff in<br />

emporgereckten Gewehren und geballten Fäusten<br />

zu erkennen ist. Angetrieben werden sie von<br />

den beiden Personen, die eindeutig im Zentrum<br />

des Geschehens stehen: der Mann mit Horn,<br />

gerade im Begriff, zum Sturm zu blasen, sowie<br />

der Offizier neben ihm, unübersehbar der Chef<br />

der Truppe, der mit erhobenem Säbel und seiner<br />

energisch zum Nachrücken auffordernden Linken<br />

den Angriff mimisch vorexerziert. Der Feind<br />

ist auf dem Bild kaum zu sehen (auch das nicht<br />

unbedingt üblich für ein Schlachtgemälde) und<br />

doch sehr präsent in Form von Tod, Verwundung<br />

und Schmerz. Im Deutsch-Französischen Krieg,<br />

das wird damit deutlich gesagt, wurde anders als<br />

in früheren Zeiten aus großer Entfernung, gleichsam<br />

anonym getötet.<br />

Um Werners Erstürmung wirklich zu verstehen<br />

und dabei auch die vom Autor sicher<br />

gewünschten Emotionen zu entwickeln, war es<br />

eigentlich notwendig, den Kontext zu kennen.<br />

Das Wissen darum hatte sich in den 1870er Jahren<br />

schlagartig verbreitet, durch Augenzeugenberichte,<br />

durch zahllose Publikationen, durch<br />

Neu- und Nacherzählungen. In ihnen nahm<br />

die Anekdote um den Tod des Generals François,<br />

auf die von Werners Gemälde fokussierte,<br />

einen ziemlich prominenten Platz ein, und zwar<br />

nicht nur in den saarländischen Überlieferungen.<br />

Selbst in dem von Werner konsultierten Generalstabswerk<br />

wurde die Szene geschildert, und zwar<br />

für ein derartiges Werk ungewöhnlich detailliert.<br />

Zum moment décisif in von Werners »Aufnahme«<br />

heißt es hier: Da erreichte aber auch die 9. Kompagnie,<br />

angefeuert durch den Zuruf des Generals<br />

v. François, den Höhenrand. Der General setzte<br />

sich selbst an die Spitze und mit den Worten »Vorwärts<br />

meine braven Neununddreißiger!«, führte<br />

er mit hocherhobenem Degen, den schlagenden<br />

Tambour neben sich, die kleine Schaar dem überlegenen<br />

Feinde entgegen. Von Werner hatte die<br />

Ausgestaltung des ihm vorgegebenen Motivs<br />

also nach den »authentischen« Schilderungen<br />

der offiziellen Militärgeschichtsschreibung vorgenommen,<br />

die Realität hatte, wie bei einem<br />

Historiengemälde gefordert, Modell gestanden.


saargeschichte|n 15<br />

Nur beim Hornisten, den er aus dramaturgischen<br />

Gründen dem Trommler vorzog, erlaubte sich<br />

von Werner eine Abweichung vom »Original«;<br />

über die historischen Hintergründe wird noch<br />

zu reden sein. Ungeachtet dieser kleinen künstlerischen<br />

Korrektur an der vergangenen Wirklichkeit<br />

konnte das Gemälde bei den Betrachtern<br />

sofort Assoziationen wecken, es wirkte als Präzisierung<br />

bereits vorhandener Kopfbilder.<br />

Es lag aber nicht nur am Bekanntheitsgrad der<br />

Geschichte von General François, dass von Werner<br />

die beschriebene Szene für den Saarbrücker<br />

Rathauszyklus malte. Dahinter standen auch<br />

thematische und pragmatische Motivationen.<br />

Der Angriff auf den Roten Berg war ja quasi der<br />

eigentliche Grund dafür gewesen, dass die Ereignisse<br />

des 6. August 1870 überhaupt zu einer völlig<br />

ungeplanten Schlacht eskalierten. Weil seine<br />

Eroberung nur mit unverhältnismäßig vielen<br />

Opfern gelang, musste diese militärische Aktion<br />

danach zu der zentralen Heldentat stilisiert werden,<br />

der ein exponierter Platz im lokalen wie im<br />

nationalen Gedächtnis gebührte. Mit dem Exempel<br />

des tapfer voranschreitenden Generalmajors,<br />

dessen Heldentod in Stadt und Land rasch<br />

Berühmtheit erlangte, ließ sich der gewünschte<br />

Zusammenhang individueller und emotionaler<br />

visualisieren als durch eine anonyme Massenszene:<br />

ein guter Grund für von Werner, den<br />

ursprünglich geplanten Entwurf des Schlachtenbildes<br />

nicht weiter zu verfolgen. Zum anderen lag<br />

die individualisierend-episodische Darstellungsweise<br />

im Zug der Zeit, sie brachte »ein neues Bild<br />

des Krieges« hervor, das auch der Realität des<br />

Waffengangs vor Spichern entsprochen hat, wo<br />

viele Offiziere ähnlich wie François ihren Mannschaften<br />

quasi vorangeschritten – und gerade<br />

deshalb gefallen sind. Der dritte Grund für die<br />

Änderung des Motivs lag in den Raumverhältnissen,<br />

in dem Saal von mäßigen Dimensionen,<br />

wie ihn schon Werners Bestallung im Jahr 1875<br />

umschrieben hatte. In ihm hätte ein Schlachtenpanorama<br />

im Cinemascope-Format, das zudem<br />

nur sehr zeit- und kostenaufwändig produziert<br />

Der »Sturm auf den<br />

Spicherer Berg« mit<br />

General François im<br />

Mittelpunkt. Rechts<br />

sind die Straße von<br />

Saarbrücken nach<br />

Forbach mit den<br />

Gebäuden an der<br />

Goldenen Bremm<br />

sowie die rauchenden<br />

Schlote des de<br />

Wendel’schen Werkes<br />

in Stieringen zu<br />

erkennen. (Format:<br />

350 x 375 cm. © Historisches<br />

Museum Saar,<br />

Thomas Roessler)


Das Porträtbild Graf<br />

Moltkes, des Chefs<br />

des preußischen<br />

Generalstabs, zeigt<br />

die fotorealistische<br />

Kunstfertigkeit des<br />

Anton von Werner<br />

sehr deutlich. Neben<br />

Moltke wurden Kanzler<br />

Bismarck, Kronprinz<br />

Friedrich und<br />

Prinz Friedrich Karl<br />

als gemalte »Denkmäler«<br />

im Saarbrücker<br />

Rathauszyklus<br />

verewigt.<br />

(Format: 350x120<br />

cm. © Historisches<br />

Museum Saar, Thomas<br />

Roessler)<br />

werden konnte, kaum seine Wirkung entfalten<br />

können, es hätte vielmehr den ästhetischen<br />

Zusammenhang mit den anderen Gemälden<br />

des Saals zerstört. Ein visueller Kontext, zu dem<br />

vor allem die vier lebensgroßen Einzelfiguren<br />

gehörten, die in denkmalähnlicher Präsentation<br />

die beiden größten Gemälde ergänzten, sie<br />

zu einer Art nationalhistorischem Triptychon<br />

erweiterten.<br />

Wir können annehmen, dass die Zuordnung der<br />

vier großen Männer aus der preußischen Heldengalerie<br />

nicht zufällig so erfolgte, wie sie hier erfolgt<br />

ist. Wenn Graf Moltke und Fürst Bismarck (und<br />

nicht etwa die beiden hohenzollerischen Armeechefs)<br />

als »Schutzheilige« des Erstürmungsbildes<br />

auftraten, dann sollten damit offenbar nicht nur<br />

die Macher des geeinten Nationalstaats gezeigt,<br />

sondern auch die Bedeutung des Feldzuges<br />

gegen Frankreich für die Entstehung des Kaiserreichs<br />

untermauert werden. Dass Bismarck gerade<br />

während des Krieges mit den Militärs (und<br />

ganz besonders mit Moltke) heftig über Kreuz<br />

lag, dass Moltkes strategische Planung durch die<br />

unerwünschte Schlacht von Spichern fast über<br />

den Haufen geworfen wurde, man könnte es als<br />

ironische Fußnote der von Werner’schen Installation<br />

bezeichnen – oder eben als Versuch, auf<br />

ästhetischem Weg zu versöhnen, die Geschichte<br />

in nationaler Zielsetzung glattzubügeln. Im Grunde<br />

war im Zentrum des Gemäldes auch General<br />

François in denkmalwürdiger Positur verewigt<br />

worden. Vielleicht haben Bismarck und Moltke<br />

ein wenig dazu beigetragen, dass aus dieser<br />

ästhetischen Assoziation Jahre später skulpturale<br />

Wirklichkeit werden sollte. Zur 25-Jahr-Feier<br />

von Spichern wurde ein Denkmal in Gips entworfen,<br />

das den General in eben jener auf dem<br />

Bild zu sehenden Haltung zeigte, inklusive seines<br />

Hornisten Hasselhorst, der ebenfalls den Sprung<br />

aus dem Bild in die 3-D-Fassung auf dem Sockel<br />

schaffte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt im<br />

Jahr 1895 war klar, wie populär General François<br />

durch sein Konterfei im Rathaussaal geworden,<br />

dass er von den Saarländern als einer der ihren<br />

vereinnahmt worden war. Umgekehrt zeigte das<br />

Verrotten des niemals ausgeführten, später im<br />

Volksgarten platzierten Gipsmodells, dass auch<br />

der so wirkmächtige Spichernkult irgendwann<br />

rapide an Bedeutung verlor.<br />

Beim Entwurf für das Spichernbild hatte die<br />

preußische Landeskunstkommission moniert,<br />

dass er nicht großartig genug sei. Wohl auch deswegen,<br />

so präzisierte es von Werner später in<br />

seinen Erinnerungen, weil damit nur eine kleine<br />

Gefechtsepisode gemalt worden sei, die nicht als<br />

Glied in einer Kette bedeutungsvoller Aktionen<br />

erscheine. Dass das ursprünglich anders gedacht<br />

war und warum sich von Werner schließlich für<br />

die einzelne Episode entschied, wurde bereits thematisiert.<br />

Wie es dem Künstler gelang, den Sturm<br />

trotzdem großartiger zu machen, zeigt sich beim<br />

Vergleich des Entwurfs von 1877 mit der Ausführung<br />

im Rathaussaal. Zum einen wurde das<br />

Geschehen dramaturgisch effektvoll verdichtet,<br />

durch das Einsetzen vorher nicht vorhandener<br />

Figuren. Besonders auffällig dabei die beiden


saargeschichte|n 17<br />

Soldaten im mittleren Vordergrund, wobei man<br />

von dem einen fast nur Rücken und Gepäck sieht,<br />

damit belegend, mit welcher physischen Last der<br />

Aufstieg zu bewältigen war. Noch wichtiger war<br />

aber der andere Kamerad, der gerade von einer<br />

(tödlichen?) Kugel getroffen wurde, dessen Sturz<br />

nur durch die Hilfe des Hintermanns abgefangen<br />

wird. Direkt unter General François situiert,<br />

lag der assoziative Sprung vom getroffenen<br />

Infanteristen zum bevorstehenden Tod des Heerführers<br />

natürlich nahe, das ist in der Literatur zu<br />

diesem Bild oft zur Sprache gekommen. Etwas<br />

subtiler sind die »tödlichen« Hinweise, die am<br />

Baum über dem General zu sehen sind: frisch<br />

gebrochene Äste, die auf das anhaltende Feuer<br />

hinweisen, unter dem die nach oben stürmende<br />

Truppe beständig stand. Insgesamt ist in die<br />

Gefechtsszene im Vergleich zum Entwurf deutlich<br />

mehr Bewegung gekommen, angefangen<br />

von der noch drängender den Sturm nach oben<br />

fordernden Körperhaltung des Generals über<br />

die bewegten, verdrehten Soldatenkörper mit<br />

vor Anstrengung oder Schmerz gezeichneten<br />

Gesichtern (die vorher nicht zu sehen waren) bis<br />

zu den aufgepflanzten Bajonetten, die jetzt viel<br />

energischer in den Himmel überm Roten Berg<br />

ragen. Und oben, zum Gipfel hin, wo die Franzosen<br />

in ihren Schützengräben den Feind erwarten,<br />

haben sich Nebelwände aus Pulverdampf<br />

gebildet; viele Beteiligte der Schlacht erzählen<br />

davon, wie sehr die Sicht durch das permanente<br />

Gewehr- und Geschützfeuer beeinträchtigt<br />

war. Ganz folgerichtig hat sich in der Endfassung<br />

des Bildes auch die Zahl der toten Krieger vermehrt,<br />

zwei von ihnen ragen jetzt mit ihren leblosen<br />

Körpern am unteren Rand fast aus dem<br />

Bild heraus. Wie sehr sich Anton von Werner bei<br />

all dem um Realitätstreue bemühte, zeigen nicht<br />

nur die deutlich individualisierten Gesichtszüge<br />

der namentlich bekannten Kämpfer, ihre Uniformen,<br />

Gepäckstücke und Waffen; man könnte das<br />

Dreyse-Zündnadelgewehr mit der präzisen Vorlage<br />

von Werners fast nachbauen. Auch das Terrain<br />

ist buchstäblich »der Natur nachgebildet«,<br />

wie Landschaftsskizzen belegen, die von Werner<br />

anlässlich seines Besuchs an der Saar 1876<br />

vom Abhang und vom Talgrund Richtung Stieringen<br />

angefertigt hatte. Allein die Begrünung des<br />

Hangs am Roten Berg ist für den trockenheißen<br />

August 1870 dann doch viel zu saftig ausgefallen,<br />

aber vielleicht waren diese klimatischen Details<br />

knapp zehn Jahre später, bei der Ausführung des<br />

Bildes, bereits in Vergessenheit geraten.<br />

Man mag von Werners nicht ganz freiwillige Änderungen<br />

am Spichern-Bild als Ausschmückung<br />

historischer Fakten mit theatralischen Effekten<br />

begreifen, die dem Sensationsbedürfnis des Publikums<br />

entgegenkamen. Vielleicht entspricht<br />

diese Perspektivierung aber auch eher (kunsthistorischer)<br />

Konvention bei der Interpretation<br />

solcher und ähnlicher Historien- oder Schlachtengemälde<br />

als den Rezeptionsgewohnheiten der<br />

Betrachter von 1880. Immerhin hatte die von vielen<br />

Zeitgenossen persönlich beobachtete Realität<br />

der Schlacht von Spichern wesentlich »theatralischere«<br />

Effekte zu bieten als sie von Werner auf<br />

seinem Bild überhaupt visualisieren konnte und<br />

wollte. Außerdem war die Präsenz des Todes und<br />

des Sterbens, auch des gewalthaften Sterbens, in<br />

der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts<br />

sogar in der alltäglichen Erfahrungswelt ungleich<br />

normaler als heute, also per se weniger sensationell.<br />

Die von Werner in die Ausführung eingebrachte<br />

dramatische Steigerung dürfte also<br />

tatsächlich mehr von den Forderungen der Kritik<br />

und der quasi »politischen« Verpflichtung<br />

zur Realitätstreue motiviert worden sein als von<br />

antizipierter bürgerlicher Sensationsgier. Indes<br />

schuf die fast photorealistische Darstellung<br />

eines historischen Moments der Schlacht von<br />

Spichern schon durch die Art ihrer Präsentation<br />

eine theatralische Situation, in der der Betrachter<br />

die gezeigte Situation unmittelbar und emotional<br />

nacherleben konnte. Und dennoch: Wenn<br />

es damals schon Erhebungen zur Verweildauer<br />

der Besucher vor den einzelnen Bildern gegeben<br />

hätte, dann hätte sehr wahrscheinlich das<br />

Gemälde mit General François ohnehin nicht den<br />

Spitzenplatz eingenommen. Zumindest nicht<br />

bei den Besuchern des Rathaussaals, die aus<br />

der Region kamen. Die hätten nämlich nach der<br />

Betrachtung des Sturmbildes eine Drehung um<br />

90 Grad nach links gemacht, um sich dann quasi<br />

heimisch zu fühlen.<br />

Er kam und siegte, wie Werner es sah<br />

Dort, an der Wand neben dem Eingang, hing<br />

das größte Gemälde im Zyklus, eine besonders<br />

realitätsnahe Darstellung, die dem staunenden<br />

Betrachter auf fünf mal dreieinhalb Metern eine<br />

künstlerische Ansicht aus dem Hier und Jetzt<br />

zu zeigen schien. Hier, weil das Bild mit seinem<br />

Motiv von der Alten Brücke nur wenige hundert<br />

Meter vom Rathaussaal entfernt situiert war,<br />

Jetzt insofern als viele der auf von Werners Panorama<br />

verewigten Bürger und Bürgerinnen 1880,<br />

bei der Eröffnung des Rathaussaals, noch immer<br />

zu den bekannten und lebenden Gesichtern der<br />

Stadt gehörten. Dem Einzug Seiner Majestät am<br />

9. August 1870 konnte man weder thematisch


noch stilistisch ansehen, dass es in seiner Entstehungsgeschichte<br />

das umstrittenste Bild des<br />

Rathauszyklus gewesen war. Vor allem die bereits<br />

erwähnte Saarbrücker Ablehnung kann man<br />

ohne das Wissen um die Vorgeschichte kaum<br />

verstehen, waren doch die Stadt und ihre Bürger<br />

hier von einem Meister seines Fachs eigentlich<br />

glänzend in Szene gesetzt. Obwohl selbstverständlich<br />

der König und sein Gefolge optisch<br />

wie thematisch im Zentrum des monumentalen<br />

Werks standen, gewannen auch die Stadt und<br />

ihre Bewohner eine Prominenz, wie sie ihnen bis<br />

dahin weder auf künstlerischem noch auf kulturpolitischem<br />

Wege zuteilgeworden war. Saarbrücken-St.<br />

Johann durfte sich durch die Arbeit<br />

Anton von Werners geadelt fühlen – und war es<br />

trotz der vorherigen Bedenken gegen das Bild<br />

vermutlich auch.<br />

Wenn man die Ankunft einer königlichen Persönlichkeit<br />

in den Saarstädten bebildern wollte, dann<br />

war die Alte Brücke seit undenklichen Zeiten eine<br />

gute Motivwahl. Mit Karl V. hatte das Bauwerk<br />

bereits einen kaiserlichen Stammvater, und seit<br />

dem 16. Jahrhundert hatten etliche mehr oder<br />

weniger bedeutende Herrscher die Saar hier passiert,<br />

nicht zuletzt auch Napoleon Bonaparte, der<br />

Begründer der französischen Kaiserwürde, der zu<br />

Beginn des Jahrhunderts an dieser Stelle durch<br />

Saarbrücker Ehrenpforten reiten durfte. Schon<br />

deswegen schien es nicht verkehrt, Wilhelm I.<br />

am selben Ort auftreten zu lassen, auf seinem<br />

Weg zum Feldzug nach Frankreich, wo er nach<br />

dem preußisch-deutschen Selbstverständnis die<br />

imperiale Krone zurückeroberte. Schon lange vor<br />

der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die<br />

Alte Brücke zu einem Symbol der Verständigung<br />

zwischen den ehemaligen Erbfeinden geworden<br />

war, hatte sie also eine deutsch-französische<br />

Geschichte, die allerdings weniger freundschaftlich<br />

ausfiel als nach 1945. Im August 1870 war die<br />

Saarüberquerung vier Tage lang sogar die heftig<br />

beschossene Demarkationslinie zwischen Frankreich<br />

und Preußen gewesen, ein gefährlicher Ort,<br />

von dessen Bewehrung auf St. Johanner Seite<br />

noch die randständigen Sandsäcke auf Anton<br />

von Werners Gemälde zeugen. Die »reale Fiktion«<br />

der Ankunft Seiner Majestät hatte schließlich am<br />

9. August, nur drei Tage nach der Schlacht von<br />

Spichern stattgefunden.<br />

Auch wenn sich der von Werner inszenierte Empfang<br />

faktisch nicht ereignet hat, hätte er an diesem<br />

Ort und in dieser Form mit großer Plausibilität<br />

stattfinden können. Denn der König und<br />

oberste Kriegsherr war mit großem Gefolge an<br />

jenem 9. August wirklich von der Mainzer Straße<br />

gekommen, musste über den St. Johanner<br />

Markt zur Brücke und über die Saar fahren, um<br />

sein Saarbrücker Quartier in der Friedrichstraße<br />

zu erreichen. Der von Werner gewählte Ort der<br />

Begegnung des Königszugs mit den Bürgern der<br />

Doppelstadt hatte als Brückenplatz damals einen<br />

eigenen Namen, er war der letztmögliche Ort<br />

auf St. Johanner Terrain, auch insofern eine gute<br />

Wahl, als ja beiden Städten für ihr Engagement<br />

in den Kriegstagen auf künstlerische Weise Reverenz<br />

erwiesen werden sollte. Mehr noch als alles<br />

andere war die Alte Brücke seit Jahrhunderten<br />

Symbol der Verbindung zwischen den beiden<br />

Saarstädten, sie war nicht zuletzt deswegen zeitübergreifend<br />

eines der am häufigsten gewählten<br />

Motive in der gemeinsamen Stadtgeschichte.<br />

Und überwiegend wurde dabei von den Bildproduzenten<br />

der Standpunkt eingenommen, den<br />

auch Werner bezogen hatte, also von St. Johann<br />

Richtung (Alt-)Saarbrücken, was lange Zeit ästhetisch<br />

reizvoller war als die umgekehrte Perspektive,<br />

zumal so der mittelalterliche Ursprung<br />

des Gemeinwesens beleuchtet werden konnte.<br />

Im Fall des Ankunftbildes kam noch ein weiterer<br />

gewichtiger Grund dazu: Der Blick fiel damit<br />

auf jene Seite der preußischen Doppelstadt, auf<br />

der die Franzosen einige Tage lang die uneingeschränkte<br />

Herrschaft hatten, auf deren Höhen<br />

sie ihre Besatzungslager eingerichtet hatten, der<br />

einzige deutsche Ort, wie es später so oft hieß,<br />

der während des Krieges in Feindeshand war.<br />

Diesen Ort als Hintergrund für die Huldigung<br />

Wilhelm des Siegreichen zu illustrieren, war im<br />

Sinne nationaler Heldengeschichte sicher nicht<br />

die schlechteste Idee.<br />

Anton von Werner hat seinen Empfang genau<br />

in dem Moment stattfinden lassen, in dem die<br />

königliche Kutsche die Auffahrt zur Alten Brücke<br />

nimmt. Pferde und Sattelreiter des Vierspänners<br />

befinden sich bereits auf der Brücke, auf der<br />

dichtgedrängtes Publikum zu sehen ist, das mit<br />

erhobenen Tüchern oder Hüten winkt, dergestalt<br />

dem Kriegsherren sein Hurra ausbringend. Im<br />

Hintergrund der Jubelszene, jenseits der unsichtbaren<br />

Saar, sind Häuser und Dächer Saarbrückens<br />

zu erkennen, die Bebauung am Schlossberg mit<br />

dem charakteristischen Turm der Schlosskirche,<br />

davor die Häuser am Saarufer Diese Häuserzeile<br />

endet rechts zwischen den Bäumen mit<br />

einem Gebäude, von dem man nur den aufgesetzten<br />

Rundturm sieht, der in der Silhouette<br />

Saarbrückens jedoch einzigartig und deswegen<br />

jederzeit identifizierbar war. Es war das Haus des<br />

Kaufmanns Friedrich Quien, in dem der künftige<br />

Kaiser in seinen Saarbrücker Tagen Quar-


saargeschichte|n 19<br />

tier nahm, gewissermaßen unmittelbar nach<br />

der auf dem Gemälde gezeigten Ankunft. Von<br />

Werner hat sich bei der Darstellung der Stadtlandschaft<br />

sehr um Detailtreue und Präzision<br />

bemüht. Vom Straßenpflaster und dem Brückengeländer<br />

bis zu den Laternen und den Bäumen<br />

war alles so in den 1870er Jahren vorzufinden,<br />

wie man anhand zeitgenössischer Fotografien<br />

nachvollziehen kann. Und natürlich sind auch die<br />

gezeigten Menschen mit ihrem Habit den realistischen<br />

Anforderungen eines Historiengemäldes<br />

der Gründerzeit gerecht geworden.<br />

Der Bildvordergrund ist fast wie eine Bühne<br />

aufgebaut, auf der der Empfang Seiner Majestät<br />

dargeboten werden kann. Die Personengruppen<br />

links und rechts sind nicht einfach eine<br />

Ergänzung der Jubelschar. Sie sind so positioniert,<br />

dass sie fast wie ein Vorhang wirken, genau so<br />

weit auseinandergezogen, dass sie das eigentliche<br />

Geschehen im Zentrum freigeben. Anders<br />

als die jubelnde, gesichtslose Menge sind hier<br />

alle Personen individuell gezeichnet. Ernsthaft<br />

und kollektiv auf die Königskutsche fokussiert,<br />

leiten sie den Blick des Bildbetrachters zwangsläufig<br />

auf den Bereich der Leinwand, auf den<br />

es ganz besonders ankommt. Auffällig sind die<br />

unterschiedlichen Profilierungen der Menschen<br />

auf beiden Seiten. Während zur Linken Handwerker<br />

und (verwundete) Soldaten die Szene<br />

beherrschen, dominiert rechts offenbar das »bessere«<br />

bürgerliche Publikum, besonders akzentuiert<br />

durch die modischen Roben der jungen<br />

Damen im Zentrum. Die Präsenz des Krieges ist<br />

in diesem Saarbrücken zwar noch greifbar, das<br />

gute Ende aber bereits absehbar: Barrikaden aus<br />

Fässern und Säcken sind zur Seite geräumt, die<br />

Verwundeten sind versorgt und können die Nähe<br />

ihres Königs erleben.<br />

Neben den beschriebenen Flügelgruppen ist<br />

rund um die Kutsche eine weitere Gruppe Saarbrücker<br />

Bürger auszumachen, die schon durch<br />

ihre Bekleidung mit Frack und Zylinder als städtische<br />

Honoratioren zu identifizieren sind. Auf<br />

einen von ihnen – und nicht etwa, wie es verschiedentlich<br />

hieß: auf die Verletzten – zeigt der<br />

Monarch mit leicht vorgebeugtem Oberkörper.<br />

Der angezeigte Herr mit gezücktem Zylinder ist<br />

niemand anderes als Friedrich Quien, neben seinem<br />

Zivilberuf als Kaufmann wichtiger Saarbrücker<br />

Stadtverordneter und Beigeordneter,<br />

Wilhelms Quartiergeber, bei dem der hohe Gast<br />

zwischen dem 9. und 11. August 1870 nächtigen<br />

sollte. Dass Quien und nicht der links neben<br />

ihm stehende Bürgermeister Carl Schmidtborn<br />

den Preußenkönig empfängt, hat einerseits mit<br />

der königlichen Übernachtung in Quiens Haus<br />

zu tun, könnte aber auch eine Anspielung auf<br />

Wilhelms Empfang als Kaiser am Saarbrücken<br />

Hauptbahnhof im März 1871, also bei einer tatsächlich<br />

stattgefundenen Begegnung, gewesen<br />

sein. Damals nämlich war es Quien, der als Saarbrücker<br />

Beigeordneter vor den versammelten<br />

Bürgermeistern der rheinischen Städte Kaiser<br />

Wilhelm begrüßte, und eben dieses Motiv war es<br />

ja auch gewesen, das die Saarländer ursprünglich<br />

statt des dann von Werner realisierten gemalt<br />

Von der »Ankunft Seiner<br />

Majestät in Saarbrücken«<br />

sind bisher<br />

nur Schwarz-weiß-<br />

Aufnahmen bekannt<br />

Das Original wird<br />

demnächst im HMS<br />

restauriert. Mit einer<br />

bemalten Fläche von<br />

350 x 515 cm ist es das<br />

größte Gemälde im<br />

Saarbrücker Rathauszyklus.<br />

(Foto: Universität<br />

der Künste<br />

Berlin, Universitätsarchiv)


Das »who-is-who« von 1870:<br />

1. König Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen<br />

2. Paul Armand von Loucadou (Flügeladjudant)<br />

3. Johann Wirtz (Polizeikommissar)<br />

4. Leibjäger Schulz<br />

5. Johann Adam Kipper (Brandmeister)<br />

6. Waisenvater Johann Riemer<br />

7. Sophie Alwine Küpper<br />

8. Stephanie Küpper<br />

9. Johanna Schlachter<br />

10. Anton von Werner (vermutlich)<br />

11. Gottfried Schirmer (Superintendent)<br />

haben wollten. Quien gegenüber, auf der anderen<br />

Seite der Kutsche, steht ein weiterer Frackund<br />

Zylinderträger, der fast den Eindruck erweckt,<br />

als würde er das feierliche Empfangszeremoniell<br />

überwachen. Dieser optisch am nächsten zum<br />

König platzierte Saarbrücker ist der Superintendent<br />

und Pfarrer an der Ludwigskirche,<br />

Gottfried Schirmer, der damals wohl wichtigste<br />

Protestant der Region. Seine zentrale Platzierung<br />

unmittelbar neben der Königskutsche verdankte<br />

er weniger seinem regen geistlichen Engagement<br />

während der Saarbrücker Kriegstage, als<br />

Prediger in der Kirche, als Seelsorger bei Kranken<br />

und Verwundeten, als Verteidiger des gerechten<br />

Krieges oder auch als Laudator des neuen Reichs.<br />

Schirmers unangefochtener Spitzenplatz war<br />

vielmehr die künstlerische Übersetzung einer<br />

religionspolitischen Botschaft von epochaler<br />

Bedeutung. Wilhelm I. war nämlich der erste<br />

protestantische Herrscher auf einem deutschen<br />

Kaiserthron und das neue Reich ein Staat unter<br />

preußisch-protestantischer Dominanz. Eine Botschaft,<br />

die im noch weitgehend evangelischen<br />

Saarbrücken gerne gehört wurde, ganz anders<br />

als in weiten Teilen der wachsenden katholischen<br />

Bevölkerung des Saarlands.<br />

12. Friedrich Quien (Kaufmann)<br />

13. Bürgermeister Carl Schmidborn<br />

14. Friedrich Christian Böcking (Advokat-Anwalt)<br />

15. Eduard Karcher (Fabrikant)<br />

16. Ferdinand Reith (Dienstmann)<br />

17. Carl Benzel (Kreis- und Kommunalbaumeister)<br />

18. Katharina Weisgerber (Schulze Kathrin)<br />

19. Gustav Johnen (Eisenbahnsekretär)<br />

20. Christian Nagel (Schmied)<br />

<strong>21</strong>. Friedrich Ziegler (Metzger)<br />

22. Philipp Simon (Kürschner)<br />

23. Bäcker Fritz<br />

Saarbrücker Wimmelbild, anno 1870<br />

Dank der oft namentlich gekennzeichneten<br />

Porträtstudien, die Werner im Vorfeld gemacht<br />

hatte, und einiger anderer Hilfsmittel lassen sich<br />

nicht nur die zentralen Figuren des Ankunftbildes,<br />

sondern fast alle mit individuellen Gesichtern<br />

dargestellte Personen identifizieren. Bei den<br />

Abgebildeten handelte es sich, wie kaum anders<br />

zu erwarten, vor allem um die besseren Saarbrücker<br />

Kreise, aber auch um einige nicht zu<br />

den Honoratioren gehörende ehrbare Bürger<br />

der Doppelstadt, die in aller Regel in irgendeiner<br />

Weise mit den Ereignissen des August 1870<br />

in Zusammenhang zu bringen sind. Außerdem<br />

belegt die Liste dieser Persönlichkeiten, dass die<br />

allermeisten von ihnen aus (Alt-) Saarbrücken<br />

stammten, während St. Johann nur wenige Mitbürger<br />

auf von Werners Gemälde unterbringen<br />

konnte. Bei der damals herrschenden Konkurrenz<br />

zwischen den Stadtschwestern ist stark anzunehmen,<br />

dass dies Anlass zu einigen ernsthaften<br />

Gesprächen über die jeweiligen Verdienste fürs<br />

Vaterland gegeben haben dürfte, ein potenzieller<br />

Konfliktstoff, der sich noch zehn Jahre später<br />

als virulent erweisen sollte. Aber immerhin war<br />

ja der linksseitige Teil des heutigen Saarbrücken<br />

auch stärker von den Kriegsläuften der August-


saargeschichte|n <strong>21</strong><br />

tage betroffen (zumindest, was die Anwesenheit<br />

der Franzosen betraf), und nicht zuletzt waren<br />

es die Alt-Saarbrücker, die den Bau des Ratssaals<br />

finanzierten, in dem der von Werner’sche Zyklus<br />

zur Aufstellung kam.<br />

Der Mann, der von städtischer Seite für den<br />

Anbau am Rathaus verantwortlich war, ist ebenfalls<br />

auf von Werners Bild verewigt worden. Es ist<br />

der Kreis- und Kommunalbaumeister Carl Benzel,<br />

dessen markanten Kopf man über Bürgermeister<br />

Schmidtborn, links neben der Laterne, herausragen<br />

sieht. Als Baumeister und Stadtverordneter<br />

gehörte Benzel ebenfalls zum inneren Zirkel der<br />

Saarbrücker Macht, hatte außerdem seine eigene<br />

aufregende Geschichte aus den Besatzungstagen<br />

zu bieten, als das Haus seiner Familie in<br />

der Talstraße am 2. August zu den am heftigsten<br />

unter Feuer stehenden gehört hatte. Zwischen<br />

Benzel, Schmidtborn und Quien schaut ein<br />

schnauzbärtiges Gesicht in Richtung des Monarchen,<br />

das in dieser Position unmittelbar vor<br />

der Kutsche natürlich auch einem bedeutenden<br />

Mann aus den Saarstädten gehören musste. Der<br />

Advocat-Anwalt Friedrich Christian Böcking, dessen<br />

Bruder das Neunkircher Eisenwerk vor dem<br />

Eintritt Carl Ferdinand Stumms geleitet hatte,<br />

gehörte als Justizrat und Mitglied einer weitverzweigten<br />

Familie zu den Saarbrücker Notabeln.<br />

Er war bereits im ersten Kapitel der Tage von Spichern<br />

als derjenige hervorgetreten, der bei der<br />

Bekanntgabe der französischen Kriegsabsichten<br />

am 15. Juli im Garten des damals neuen Kasinos,<br />

des heutigen Landtagsgebäudes, das erste<br />

Hoch auf den preußischen König und das Hurra<br />

auf den kommenden Krieg angestimmt hatte.<br />

Die auffälligste Figur unter den Honoratioren<br />

neben der Königskutsche ist sicher der Herr mit<br />

Karl-Marx-Bart und Brille, links von der Kutschenlampe<br />

stehend. Eduard Karcher, Unternehmer,<br />

Fabrikbesitzer, Eisenindustrieller und Politiker,<br />

gehörte nicht nur dem Saarbrücker Stadtrat,<br />

sondern als Mitglied der Fortschrittspartei auch<br />

dem Preußischen Abgeordnetenhaus an. Noch<br />

wenige Tage vor Kriegsbeginn findet sich angesichts<br />

der anstehenden Abgeordnetenwahlen in<br />

der SZ ein von ihm und seinen Kollegen unterzeichneter<br />

Aufruf für eine Wahlversammlung,<br />

anberaumt ausgerechnet für den 16. Juli, den<br />

ersten »inoffiziellen« Saarbrücker Kriegstag. Als<br />

Quartiermeister hatte er in der Folgezeit dann<br />

aber zunächst andere schwierige Aufgaben zu<br />

lösen; als Patriot – er war Mitbegründer des<br />

Saarbrücker Nationalvereins – hat er trotz seiner<br />

Gegnerschaft zu Bismarck das neue Kaiserreich<br />

ebenso freudig begrüßt wie seine Standesgenossen.<br />

Wie nahe sich die bessere Gesellschaft und<br />

das einfache Volk in Saarbrücken sein konnten,<br />

beweist zumindest auf diesem Bild der Mann<br />

links neben Eduard Karcher. Der Herr mit Schirmmütze<br />

und Reitstiefeln war der Dienstmann Ferdinand<br />

Reith, der in der damaligen Hintergasse,<br />

unweit des Saarbrücker Schlossplatzes wohnte.<br />

Am 6. August 1870 tat er genau das, was er hier<br />

auch auf von Werners Bild tut: Er war bei den Verbandsplätzen<br />

am Schlachtfeld von Spichern mit<br />

der Versorgung der Verwundeten beschäftigt.<br />

Sein Blick geht wie der der mehr oder weniger<br />

lädierten Soldaten selbstverständlich in Richtung<br />

Königskutsche, das verbindet die Krankenträger<br />

und Versehrten mit den dahinter stehenden<br />

Handwerkern zu einer abgrenzbaren Personengruppe.<br />

Der vordere der verletzten Soldaten, in<br />

Decke gewickelt und mit Krücken in den Händen,<br />

ist einer der zahlreichen saarländischen Helden<br />

bei der Schlacht um den Roten Berg. Gustav Johnen<br />

hieß er, war im Zivilberuf Eisenbahnbetriebssekretär<br />

und wohnte passenderweise in der Saarbrücker<br />

Eisenbahnstraße. Der Schmied Christian<br />

Nagel und der Metzger Friedrich Ziegler, die hinter<br />

der Verletztenbank stehen und aufmerksam<br />

den Empfang des Königs betrachten, sind zwei<br />

von wenigen Figuren auf dem Gemälde, die mit<br />

Ganzkörperporträt auftreten können, durch<br />

ihr Erscheinungsbild im Vordergrund nahezu<br />

unübersehbar. Womit sie sich in den Tagen von<br />

Spichern besonders verdient gemacht haben<br />

oder was sonst ihre Ausnahmestellung auf von<br />

Werners Bild rechtfertigte, ist nicht bekannt. Am<br />

Schlossberg und in der Friedrichstraße wohnend,<br />

also dort, wo es nach dem 2. August einige Turbulenzen<br />

gab, haben sie sich möglicherweise bereits<br />

in den Tagen vor dem 6. August um das Wohl und<br />

Wehe der preußischen Soldaten gekümmert oder<br />

als Handwerker bei der Versorgung von Truppen<br />

und Bevölkerung für die Überbrückung kritischer<br />

Engpässe gesorgt. Namentlich erwähnt wird in<br />

den Saarbrücker Erinnerungen an die Kriegszeit<br />

auf jeden Fall jener Herr, der hinter Friedrich Ziegler,<br />

unmittelbar vor dem Eckpfeiler der Brückenbrüstung<br />

zu sehen ist: Der Kürschner Philipp<br />

Simon hatte ein Geschäft an der Alten Brücke,<br />

aus dem er zum Beispiel während des Gefechts<br />

am 2. August heraustrat, um die preußischen vor<br />

den französischen Soldaten zu warnen. Nicht<br />

ohne Probleme lässt sich die Identität des Mannes<br />

klären, dessen Gesicht unmittelbar rechts<br />

neben dem von Simon zu sehen ist. Obwohl er<br />

auf Anton von Werners Entwurf als »Bäcker Fritz«


eindeutig bezeichnet ist, fehlt doch der Nachweis<br />

einer Saarbrücker Person dieses Berufs und<br />

Nachnamens in den verfügbaren Unterlagen.<br />

Weil der »Bäcker Fritz« aber in der Handwerker-<br />

Gruppe platziert wurde und Bäcker während der<br />

kritischen Augusttage 1870 eine wichtige Rolle<br />

gespielt hatten, möchte man hier für einen der<br />

drei Saarbrücker Bäcker plädieren, die den Vornamen<br />

Friedrich trugen und – wie die meisten<br />

Menschen auf dem Gemälde – am oder nicht<br />

weit entfernt vom Schlossberg wohnten.<br />

Bei der bürgerlichen Zuschauergruppe auf der<br />

rechten Seite fällt auf den ersten Blick auf, wie<br />

weiblich sie besetzt ist. Das war in der ersten<br />

Fassung des Bildes noch wesentlich eindeutiger,<br />

bevor der Korrekturpinsel dafür zu sorgen hatte,<br />

dass Frauen verschwanden oder in den Hintergrund<br />

gedrängt wurden, so wie das in der politischen<br />

Öffentlichkeit des Kaiserreichs nun mal<br />

üblich war. Dennoch konnten einige Damen gut<br />

sichtbar ihre Position behaupten, vor allem die<br />

beiden mit fast identischen Tournürenkleidern<br />

hervorgehobenen Personen, die dergestalt wie<br />

zweieiige Zwillingsschwestern daherkommen.<br />

In der Tat handelte es sich bei den beiden<br />

Abgebildeten um Schwestern, um die zwei Töchter<br />

des St. Johanner Kreisphysikus und Sanitätsrats<br />

Dr. Friedrich Wilhelm Küpper, der seit dem 6.<br />

August wie seine vielen Kollegen im Dauereinsatz<br />

war. Mit großer Sicherheit haben sich die 25-jährige<br />

Stephanie (links) und ihre sieben Jahre jüngere<br />

Schwester Sophie Alwine nach geschlagener<br />

Schlacht ebenfalls im wohltätig-pflegerischen<br />

Bereich hervorgetan. Schwester Stephanie stand<br />

sogar auf der Liste der 51 Damen aus Saarbrücken-<br />

St. Johann, die 1874 von Kaiser Wilhelm mit dem<br />

Verdienstkreuz für Frauen und Jungfrauen ausgezeichnet<br />

wurden. Die gleiche Ehrung erfuhr<br />

Frau Johanna Schlachter, deren Gesicht im Profil<br />

noch gerade so an den rechten Bildrand passte.<br />

Frau Kommerzienrat wohnte nur ein paar Schritte<br />

von dem Ort entfernt, an dem von Werner sie<br />

auf Leinwand gebracht hatte, in der Villa Schlachter<br />

(aus der später die Kablé-Schule wurde), in der<br />

von Werner möglicherweise 1876 die Skizzen von<br />

der Alten Brücke und dem Saarbrücker Saarufer<br />

gemacht hat. Es ist mehr als naheliegend, dass<br />

sich Frau Schlachter und die Schwestern Küpper<br />

im Vaterländischen Frauenverein ihrer Städte<br />

engagiert haben, deren Vorsitzende Ida Röchling<br />

und Ida Schmidt zwar nicht in von Werners<br />

Gemäldegalerie aufgenommen wurden, dafür<br />

aber auf Medaillons auf der Eingangstür zum<br />

Rathaussaal ein dauerhaftes Andenken erhielten.<br />

Zur Frauengruppe beim Königsempfang gehörten<br />

thematisch und ikonographisch einige Männer,<br />

manche von ihnen sind in früheren Entwürfen<br />

»Frauen gewesen«. Direkt über dem Hut<br />

von Fräulein Küpper schaut ein weißhaariger<br />

Mann leicht nach oben aus der Menschenmenge<br />

in Richtung der königlichen Kutsche. Hier handelt<br />

es sich um den Saarbrücker Waisenvater Johann<br />

Riemer, der von Werner gemeinsam mit seiner<br />

Frau abkonterfeit worden war, jetzt aber hier<br />

allein seinen Platz als städtischer Wohltäter einnahm.<br />

Links von Riemer, in der ersten Reihe dieser<br />

Gruppe, steht ein weiterer Saarbrücker Stadtverordneter,<br />

der ein gerade in Kriegszeiten wichtiges<br />

Amt verwaltete. Johann Adam Knipper war<br />

nämlich nicht nur Maurermeister, sondern auch<br />

Stadtverordneter und Oberbrandmeister, ein<br />

Job, der ihm vor allem in den Tagen und Nächten<br />

der Bombardierungen bei Löscharbeiten einige<br />

außerplanmäßige Arbeitsstunden eingebrockt<br />

hatte. Schließlich ist sogar der Herr in Pickelhaube,<br />

der sich vor Knipper direkt neben der Kutsche<br />

postiert hat, kein Mann aus dem Tross des<br />

Königs, sondern ein besonderer St. Johanner Bürger.<br />

Er hieß Hermann Wirtz, war Polizeikommissar<br />

der Stadt St. Johann, wohnte in der Marktstraße<br />

300 (damals wurden die Nummern aller Häuser<br />

der Kommune noch durchgezählt) und hatte hier,<br />

am Ausgang St. Johanns nach Saarbrücken, für<br />

die ordnungsgemäße Durchführung des Empfangs<br />

zu sorgen. In dieser Eigenschaft achtet er<br />

in der auf dem Bild festgehaltenen Szene darauf,<br />

dass das zur Kutsche eilende Blumenkind erst<br />

nach der offiziellen Begrüßung durch die Stadtväter<br />

sein Gebinde übergibt. Der Kommissar war<br />

übrigens Mitglied des Historischen Vereins für<br />

die Saargegend und hielt in dieser Eigenschaft<br />

nach dem Krieg Vorträge über die Ereignisse von<br />

Spichern, unter anderem zum Frontbesuch Kaiser<br />

Napoleons und seines Sohnes am 2. August<br />

am nachmaligen Lulustein. Last not least die beiden<br />

jungen Männer im Vordergrund, von denen<br />

der Jüngere den beinverletzten Soldaten stützt.<br />

Auch ihr Erscheinen auf der Bühne des Historiengemäldes<br />

soll wahrscheinlich an bestimmte Episoden<br />

während der Augusttage 1870 erinnern,<br />

nämlich an die eifrige Beteiligung der Gymnasiasten<br />

am Kriegsgeschehen, nicht zuletzt<br />

an deren Unterstützung beim Bergen der Verwundeten.<br />

Die Tatsache, dass der spätere Von-<br />

Werner-Schüler Carl Röchling den Akademiedirektor<br />

bei dessen Besuchen an der Saar in die<br />

Interna des örtlichen Geschehens einweihte und<br />

noch als Schüler bereits selbst solche und ähn-


saargeschichte|n 23<br />

liche Kriegserlebnisse gezeichnet hatte, machen<br />

diesen Zusammenhang noch wahrscheinlicher.<br />

Bleiben zum Schluss der von Werner’schen Tabula<br />

personae noch die Figuren aus dem Tross des<br />

Preußenkönigs. Wenn man bedenkt, dass Wilhelm<br />

am 9. August von insgesamt 900 Personen<br />

begleitet wurde, dann ist das, was wir auf dem<br />

Gemälde zu sehen bekommen, wahrhaftig nur<br />

eine sehr, sehr kleine Auswahl. Tatsächlich sind<br />

es gerade einmal fünf Personen, die auf von Werners<br />

Bild neben dem Preußenkönig das große<br />

Gefolge vertreten müssen. In der Kutsche, an der<br />

Seite des Monarchen, ist Paul Armand von Loucadou<br />

zu sehen, seit 1866 Wilhelms dienstleistender<br />

Flügeladjutant, der im Generalstab den Feldzug<br />

nach Frankreich mitmachte. In erhöhter Position<br />

hinter der Kutsche, vermutlich auf dem entsprechenden<br />

Platz für königliche Wachen postiert,<br />

ist ein Mann mit Schirmmütze dargestellt,<br />

der in seiner augenfällig präsentierten Form<br />

eigentlich auch eine besondere Stellung im preußischen<br />

Tross innegehabt haben sollte. Es handelt<br />

sich bei ihm aber nicht um eine herausragende<br />

Militärpersönlichkeit, sondern um den Leibjäger<br />

Wilhelms I., der seinen König im Moment der<br />

»Aufnahme« ganz genau beobachtet. Dass dieser<br />

Herr Schulz, der auf dem Entwurf von 1878 nicht<br />

ganz so exponiert porträtiert wird, auf dem Saarbrücker<br />

Rathausbild in jeder Hinsicht so nahe am<br />

König gezeigt wird, verstärkt vor allem die Rolle<br />

Wilhelms in von Werners Komposition: Nicht die<br />

Großen des neuen Kaiserreichs, nicht die Moltkes,<br />

und Bismarcks, nicht einmal die Hohenzollernprinzen<br />

oder andere hochadlige Heeresführer des<br />

Feldzugs folgen dem König, sondern eine bestenfalls<br />

zweitrangige Person seines besonderen Vertrauens.<br />

Am Ende des sichtbaren Königszuges sind weitere<br />

drei Militärs zu erkennen, deren Köpfe unter dem<br />

rechten Baum über die Zuschauermenge hinausragen,<br />

die also ganz offenkundig zu Pferd unterwegs<br />

sind. Während der letzte Herr rechts mit<br />

Pickelhaube und individuellem Gesicht potentielle<br />

Bildbetrachter anschaut (und schon deswegen<br />

eine besondere, leider mir unbekannte Identität<br />

gehabt haben muss), geben die beiden sich<br />

anschauenden Männer mit den außergewöhnlichen<br />

Kopfbedeckungen sehr wahrscheinlich<br />

einen Hinweis auf ein besonderes Kapitel der<br />

Saarbrücker Kriegstage. Auch diese beiden waren<br />

bereits auf dem Entwurfsbild von 1878 zu sehen,<br />

hier noch wesentlich deutlicher als Abschluss des<br />

königlichen Zuges reitend. Während der rechte<br />

der beiden hochrangigen Soldaten schon da die<br />

Tschapka, die charakteristische Kopfbedeckung<br />

der Ulanen, trug, war sein Gegenüber im Entwurf<br />

noch mit einer normalen Schirmmütze<br />

behütet. In der endgültigen Fassung lässt von<br />

Werner den Ulanen, hinter dem man im Saarbrücker<br />

Kontext am sinnvollsten Oberst von Pestel<br />

als Standortkommandeur sehen sollte, mit<br />

der gleichen Pose auftreten wie beim Entwurf. Er<br />

tippt beim Anblick seines Kollegen ganz offenkundig<br />

mit dem Zeigefinger der rechten Hand an<br />

seine Tschapka und gibt damit wohl einen Hinweis<br />

auf den ungewöhnlichen Helm, den sein<br />

Gegenüber auf dieser Endfassung des Gemäldes<br />

trägt: eine Art Dreispitz, der nur schwerlich unter<br />

den Kopfbedeckungen zu finden sein dürfte, mit<br />

denen die preußisch-deutschen Truppen in diesem<br />

Krieg kämpften. Man kann sich hinter dieser<br />

mimischen Kommunikation eigentlich kaum<br />

etwas anderes vorstellen als den Hinweis auf<br />

jenes karnevaleske Theater, jene einfallsreichen<br />

Verkleidungsstücke, mit denen die Ulanen während<br />

der sogenannten Saarbrücker Vorpostenzeit<br />

die lauernden Franzosen über die wahre Stärke<br />

der preußischen Truppen zu täuschen und damit<br />

aufzuhalten versuchten.<br />

Katharina geht, Victoria kommt<br />

Von Werners Ankunft Seiner Majestät war im<br />

ersten Anlauf wie die Erstürmung der Spicherer<br />

Höhen und die fünf anderen Gemälde für den<br />

Rathauszyklus bei der preußischen Landeskunstkommission<br />

durchgefallen. Wie der Erstürmung<br />

fehle auch der Ankunft das Monumentale, außerdem<br />

sei speziell dieses Bild zu genrehaft. Obwohl<br />

von Werner diese Kritik noch viele Jahre später<br />

in zum Teil deutlichen Worten als irrelevant<br />

abkanzelte, ist sie beim Blick auf das Entwurfsbild<br />

nicht ganz von der Hand zu weisen. Und tatsächlich<br />

hat der Akademiedirektor hier genau<br />

wie beim Spichernbild letztlich mehr geändert,<br />

als er selbst zugab, mehr, als man auf den ersten<br />

Blick noch heute zu sehen vermeint, so viel jedenfalls,<br />

dass er damit den Wünschen der Kommission<br />

entgegengekommen war. Bis heute ist das<br />

farbige, »impressionistischere« Entwurfsbild in<br />

der Öffentlichkeit bekannter als die viele Jahrzehnte<br />

den Augen eben dieser Öffentlichkeit entzogene<br />

endgültige Fassung. Dennoch lässt schon<br />

der Vergleich des Entwurfs mit der Schwarzweiß-Fotografie<br />

aus alten Rathaustagen deutlich<br />

erkennen, wie viel Arbeit von Werner noch in<br />

die Realisierung des gewünschten Monumentalbildes<br />

investieren musste. Denn diese Änderungen<br />

beschränkten sich keineswegs auf die Verbannung<br />

der bildprägenden Figur von Schultze<br />

Kathrin aus dem Vorder- in den Hintergrund,


Das »volkstümlichere«<br />

Entwurfsbild<br />

von 1877 hängt heute<br />

als »Ankunft König<br />

Wilhelm I. von Preußen<br />

in Saarbrücken<br />

am 9. August 1870«<br />

im Deutschen Historischen<br />

Museum in<br />

Berlin. Schultze Kathrin,<br />

die Saarbrücker<br />

Heldin der Schlacht<br />

von Spichern, spielt<br />

im Vordergrund eine<br />

herausragende Rolle.<br />

(Format: 120 x 70 cm.<br />

© Deutsches Historisches<br />

Museum / A.<br />

Psille)<br />

betrafen viel mehr Details, als bisher in den meisten<br />

einschlägigen Publikationen aufgeführt wurden.<br />

Als zu genrehaft (eine im Kern leicht missverständliche<br />

Kritik, entwickelte sich die Historienmalerei<br />

einschließlich der ihr eigenen Realistik<br />

doch aus der Genremalerei) dürfte der Kommission<br />

vor allem der fast schon pittoreske Charakter<br />

einer Straßenszene vorgekommen sein, als die<br />

von Werners Entwurf daherkam: im Vordergrund<br />

eine Frau mit Schürze und Marktkorb, an deren<br />

Kittel zwei Kinder hängen, mittendrin ein neugieriger,<br />

barfüßiger Straßenjunge, daneben Pferde<br />

und Handwerker, eine eher gemütlich-bieder<br />

wirkende Häuserfront mit Kirche im Hintergrund,<br />

vorne viel leerer Platz fürs Straßenpflaster; in all<br />

dem drohte die zentrale Handlung des Bildes fast<br />

zur Nebensache zu werden. Von Werner musste<br />

es also zuvörderst um eine dramaturgische<br />

Zuspitzung gehen, die er einerseits, ähnlich wie<br />

bei der Erstürmung, durch eine Verdichtung<br />

der Menschenmenge, andererseits aber auch<br />

durch kleine effektive Verschiebungen von Bildelementen<br />

und nicht zuletzt durch ein perspektivisches<br />

Abkippen des gesamten Motivs erreichte.<br />

Die Menschenmenge wirkte danach viel imposanter,<br />

unmittelbarer auch, der Betrachter wird<br />

stärker ins Bild hineingezogen. Von der Saarbrücker<br />

»Skyline« sind fast nur noch die Dächer<br />

übrig geblieben, das auffälligste Gebäude ist<br />

zwischen den Bäumen fast verschwunden, nur<br />

noch in seinem signifikanten Rest erkennbar.<br />

Die Augen der Betrachter sind ohne die Aussicht<br />

aufs jenseitige Saarbrücken nicht mehr verführt,<br />

in die Ferne zu schweifen, sondern können sich<br />

auf das Zentrum des Bildes, die Königskutsche,<br />

konzentrieren. Diesem Zweck dient auch die Verschiebung<br />

der Bäume im Hintergrund, die den<br />

eigentlichen Empfang des Königs nun quasi<br />

zusätzlich markieren. Auf der anderen Seite, im<br />

unmittelbaren Vordergrund, wurden aus ähnlichen<br />

Gründen jene Frau und ihr »Anhang«<br />

getilgt, die geeignet waren, dem König buchstäblich<br />

die Schau zu stehlen. Die Schultze Kathrin<br />

und »ihre« Kinder mussten zwar nominell aus<br />

sozial-distinktiven Aspekten verschwinden, doch<br />

wie es sich bei dem dann realisierten Ersatz zeigte,<br />

ging es auch hier vor allem um eine zusätzliche<br />

Fokussierung auf Kaiser (bzw. noch König),<br />

Krieg und Reich. Der Gymnasiast mit »seinem«<br />

Verletzten bezeugt das ebenso eindrucksvoll wie<br />

der kleine Schlachtenbummler mit Säbel und<br />

Reichsfahne und vor allem das im Anmarsch auf<br />

die Kutsche befindliche Blumenmädchen. Mit<br />

diesem Mädchen wurde vermutlich ein weiteres<br />

Mal auf diesem Bild eine historische Szene aus<br />

den Augusttagen zitiert, hatte nach der Überlieferung<br />

doch Friedrich Quiens Enkeltochter<br />

dem König vor dem Haus des Kaufmanns einen<br />

Rosenstrauch überreicht.<br />

Man kann noch einige weitere Veränderungen<br />

zwischen dem Entwurf und der Endfassung<br />

benennen. Die nach vorne gebrachten Sandsäcke<br />

und das aufgerissene Pflaster, die den Leerraum


saargeschichte|n 25<br />

vor der Kutsche verkürzen und die Erinnerungen<br />

an die dramatischen Kampfszenen um die Alte<br />

Brücke verstärken. Das Verschwinden des Schildes<br />

an der Brücke, dessen Hand mit ausgestrecktem<br />

Zeigefinger – ein verbreitetes zeitgenössisches<br />

Piktogramm für besondere Hinweise – genau<br />

auf die Villa Quien gerichtet war. Die Rochade<br />

von einigen charakteristischen Köpfen wie dem<br />

des Bärtigen von der rechten Brückenseite hinter<br />

den Brückenpfeiler links, ein Mann, der Ähnlichkeiten<br />

mit dem allerdings viel jüngeren St.<br />

Arnualer Förster Bergmann besaß, dem wackeren<br />

»Scout« der Preußen vor den Gefechten. Die<br />

von rechts ins Bild wehende Reichsfahne, die nun<br />

viel steifer im Wind steht als auf dem Entwurf<br />

von 1878, auch das wohl ein Zugeständnis an<br />

den noch schneidigeren Zug, den sich die preußische<br />

Kommission gewünscht hatte. Dafür sind<br />

viele der (auch preußischen) Fahnen, die in der<br />

ersten Fassung die Saarbrücker Häuser schmückten,<br />

dem Perspektivwechsel zum Opfer gefallen.<br />

Schließlich und vor allem sei noch auf ein Gesicht<br />

hingewiesen, dass sich in der Menschenmenge<br />

rechts ziemlich gut versteckt hat, etwas unterhalb<br />

des rechten Baumstamms, zwischen den<br />

Köpfen der Küpper-Damen taucht es ziemlich<br />

unvermittelt auf. Weil dieses Gesicht an diesem<br />

Ort schlechterdings niemand zuzuordnen ist<br />

und uns seine Augen anders als alle anderen Blicke<br />

des Bildes unmittelbar, ja frontal anschauen,<br />

kann es sich dabei nur um einen handeln: Es ist<br />

Anton von Werner selbst, der sich unter den Saarbrücker<br />

Bürgerinnen eingeschlichen hat, ganz in<br />

der Tradition alter Meister, mit denen er sich in<br />

jenen Jahren ja auch in seinem Selbstporträt verglich.<br />

Das Saarbrücker »Wimmelbild« war schwerlich<br />

dazu geeignet, beim schlichten Betrachten<br />

vaterländisches Pathos oder nationale Hochgefühle<br />

hervorzurufen, sofern diese Emotionen<br />

beim Betrachter nicht ohnehin immer vorhanden<br />

waren. Dagegen dürften viele Besucher aus Stadt<br />

und Land hier abwechslungsreiche Momente<br />

des Suchens und Entdeckens erlebt haben, was<br />

die Liebe zu den Gemälden und ihren nationalen<br />

Botschaften auf Umwegen dann doch befördert<br />

haben kann. Außerdem werden sich einige einheimische<br />

Bürger vermutlich öfter dazu veranlasst<br />

gesehen haben, sich gerade vor dem<br />

Ankunft-Bild stolz im imaginären monarchischen<br />

Glanz zu sonnen.<br />

Im Vergleich zu diesen eher subkutanen »Verführungskünsten«<br />

der Ankunft ging es beim<br />

letzten Monumentalbild des Rathaussaales viel<br />

direkter, übersichtlicher, pathetischer und feierlicher<br />

zu. Nur sechs Figuren brauchte von Werner<br />

hier, um das neue Reich der Deutschen zu verklären<br />

und den historischen Akt der Vereinigung<br />

zur Nation in goldenes Licht zu tauchen. Aus<br />

sphärischen Höhen kommt Victoria angeschwebt,<br />

bringt den Siegeslorbeer und die Reichskrone für<br />

die nord- und süddeutschen »Stämme«, die das<br />

Kaiserreich im Kampf gegen Frankreich errungen<br />

haben. Im Mittelpunkt des Bildes steht eindeutig<br />

der Händedruck zwischen Nord und Süd, dessen<br />

Bedeutung schon dadurch offenbar wird, dass auf<br />

exakt der gleichen, vertikalen Mittelachse des Bildes<br />

die Reichskrone an Victorias ausgestrecktem<br />

Arm platziert ist, bereit zum Krönungsakt. Nicht<br />

einem der Kriegsfürsten, soll das heißen, sondern<br />

ihrer Vereinigung gebührt die Kaiserwürde.<br />

Am Boden sitzt ein junger Mann, der seinen<br />

Arm offenkundig mit letzter Kraft nach den verbundenen<br />

Händen von Nord und Süd ausstreckt,<br />

in der vermutbaren Absicht, den Bund für das<br />

neue Deutsche Reich zu segnen, ähnlich wie ein<br />

Priester einen Ehebund für die Ewigkeit heiligt.<br />

Da der Mann nur mit einem Lendentuch bekleidet<br />

ist und seine halb geschlossenen Augen einen<br />

bereits verlöschenden Blick signalisieren, scheint<br />

es sich hier um ein reines Opfer zu handeln. Ein<br />

Opfer jenes Einigungskrieges, der gerade erfolgreich<br />

beendet wurde, ein Opfer, das augenscheinlich<br />

dokumentiert, welchen überirdischen Sinn der<br />

Tod fürs Vaterland gehabt haben soll. Unmittelbar<br />

neben der Sitzfläche des »Opferlamms« kommt<br />

der starke Arm eines Mannes zum Vorschein, von<br />

dem sonst nur der Ansatz seines Panzerhemdes<br />

zu sehen ist, nichts mehr, der Rest des Körpers ist<br />

unter dem Tuch der germanischen Krieger verborgen.<br />

Aus dem Nichts und offenbar am Boden<br />

liegend greift der Unbekannte nach einem zwischen<br />

den deutschen Füßen liegenden Stab. Er<br />

gehört zu einem Feldzeichen, dessen Identität<br />

bei einem Blick auf das fast am Bildrand liegende<br />

Bruchstück deutlich wird. Ein N im Lorbeerkranz<br />

unter einem goldenen Adler, der aigle de drapeau<br />

und die Krönungsinsignien Napoleon Bonapartes,<br />

des Begründers des französischen Kaisertums:<br />

Das Empire français liegt am Boden, im<br />

Staub, mehrfach gebrochen zu Füßen der deutschen<br />

Sieger, auf die die imperiale Würde damit<br />

übergeht. Diese Botschaft des Bildes ist mehr<br />

als deutlich, auch wenn sie nur am Rande eingespielt<br />

wird. Es ist das einzige Mal, dass der französische<br />

Erbfeind in von Werners Rathauszyklus


Die »Victoria« firmierte<br />

ursprünglich<br />

als »Die Vereinigung<br />

von Nord- und Süddeutschland«,<br />

was<br />

ihre zentrale Aussage<br />

korrekter umschrieb.<br />

Das Gemälde befand<br />

sich bereits anfangs<br />

des 20. Jahrhunderts<br />

in einem ruinösen<br />

Zustand und wurde<br />

1903 von Anton von<br />

Werner komplett<br />

übermalt. (Format:<br />

350 x 245 cm. © Historisches<br />

Museum Saar,<br />

Thomas Roessler)<br />

zumindest andeutungsweise vorkommt, durchaus<br />

ungewöhnlich bei einer Gemäldegalerie, die<br />

ja den deutsch-französischen Krieg vor den Toren<br />

Saarbrückens dokumentieren sollte.<br />

Eine Nebenrolle spielt der blondgelockte Schildknappe,<br />

der am rechten Rand neben seinem<br />

germanischen Herren zu sehen ist. Der Reichsadler<br />

auf dem von ihm betreuten Schild zeigt<br />

aber, für wen dieser Herr gekämpft hat und<br />

wofür er jetzt die Schwurhand erhebt. Dass er<br />

das mit links tut, ist natürlich kein Hinweis auf<br />

die Leichtigkeit der Übung, sondern alleine der<br />

Tatsache geschuldet, dass er die Rechte zur Verbindung<br />

mit seinem deutschen Waffenbruder<br />

braucht. Welche allegorische Figur welchen Part<br />

in diesem Vereinigungswerk übernommen hat,<br />

ist nicht ganz einfach zu klären. Sofern von Werner<br />

eine eindeutige Zuordnung des Nord- und<br />

des Südgermanen überhaupt intendiert hatte<br />

und er die historische Vorlage von 1870 wörtlich,<br />

eigentlich bildlich interpretierte, müsste die Rolle<br />

der Südstaaten eher dem Mann mit dem Flügelhelm<br />

zufallen. Er ist sichtlich jünger als sein<br />

Gegenüber, und es waren nun einmal die bisher<br />

eigenstaatlichen Süddeutschen, die de facto<br />

(wenn auch nicht de jure) dem Norddeutschen<br />

Bund beitraten. Die Jugend und die Schwurhand<br />

würden also für den Krieger rechts als Verbildlichung<br />

der Neuen im Bunde sprechen. Gleichwohl<br />

ist die politische Ikonographie des Bildes<br />

nicht so eindeutig, dass sie diese Sichtweise ganz<br />

sicher unterstützen würde. Denn der ältere Krieger<br />

links, der nach der eben definierten Logik den<br />

Norden, will sagen Preußen, präsentieren könnte,<br />

ist beim gemeinsamen Schwur nicht in schwarzweiß<br />

oder schwarz-weiß-rot, sondern in blauweiß<br />

gehüllt, die Farbkombination der Fahne, auf<br />

die er seinen Eid ablegt. Blau-weiß waren und<br />

sind aber bekanntlich die bayerischen Farben,<br />

das ebenso berühmte Preußisch-Blau kommt<br />

dagegen wesentlich dunkler daher. Ebenso ambivalent<br />

wie das Farbenspiel sind der Löwe und das<br />

Eichenlaub auf dem Helm des älteren Kriegers;<br />

das waren Symbole, die sowohl in der preußischen<br />

wie in der bayerischen Herrschaftsikonographie<br />

ihren Platz hatten. Nicht auszuschließen,<br />

dass Anton von Werner bewusst die symbolischen<br />

Grenzen der politischen Hemisphären verwischt<br />

hat, um die Symbiose von Nord und Süd<br />

noch unauflöslicher zu gestalten.<br />

Schließlich sollte man die Möglichkeiten nicht<br />

außer Acht lassen, die das freie Spiel mit der historischen<br />

Phantasie erbrachten. Zum Historismus<br />

gehörten die Antikenrezeption, die Orientierung<br />

an Stoffen einer mythischen Vergangenheit,<br />

das Vergnügen, die Ereignisse der Gegenwart in<br />

eine scheinbar archaische Zeit der Vorväter zu<br />

transportieren. In den sogenannten lebenden<br />

Bildern, einer Art »Szenenfoto« mit historisch<br />

gewandeten Darstellern, konnte man solche auf<br />

uns heute meist komisch wirkenden Zeitsprünge<br />

ebenso inszenieren wie auf den Darstellungen der<br />

Historienmaler. Wenn die Geschichte als objektive<br />

Lehrmeisterin der Gegenwart anerkannt war,<br />

dann schien es durchaus opportun, den Beweis<br />

für die besondere Identität, Wahrhaftigkeit und<br />

Größe der eigenen Nation in einer lange vergangenen<br />

Zeit zu suchen. Es ist dies vor allem<br />

ein Beleg für den neuen Reichsnationalismus<br />

der 1870er Jahre: In den mythischen Urzeiten<br />

des eigenen Volkes begann jene preußisch-deutsche<br />

Mission, die jetzt mit der nationalen Einigung<br />

vollendet wurde. Auch das ist ein Grund<br />

für die Germanophilie der Gründerzeit, für das<br />

Ausschlachten von nordischen Mythen und die<br />

geistigen Brücken, die aus der Epoche der Hochindustrialisierung<br />

in die Sagenwelt der Nibelungen<br />

gebaut wurden. Viele Künste und Künstler<br />

bauten mit an einem Bild der allgegenwärtigen<br />

Vergangenheit, die das eigene Volk und die<br />

Nation zu einer ewigwährenden Wahrheit stilisierte:<br />

die Literatur, die Malerei, die Musik, ein<br />

Richard Wagner, dessen Opern man fast wie<br />

eine romantisch-historisierende Intonierung<br />

der Gründerzeit hören konnte, dessen Bühnenbilder<br />

unzählige Germanen wiederauferstehen<br />

ließen. Wenn die Saarbrücker also die gerade erst<br />

geschehene Vereinigung ihrer Nation von Anton<br />

von Werner in germanischen Gewändern serviert<br />

bekamen, dann war das für sie ein politisch plausibles<br />

und ästhetisch vertrautes Erlebnis. Zumal<br />

dies auch dem Ton in der Tagespresse entsprach,<br />

die in den Jahren der Reichsgründung immer von<br />

der Vereinigung der deutschen Stämme schrieb.<br />

Bekanntlich war die Vereinigung von Nord und<br />

Süd zum Deutschen Reich allerdings nicht ganz<br />

so unproblematisch, wie es der feste Händedruck<br />

über dem in gemeinsamem Kampf niedergerungenen<br />

Erbfeind auf von Werners Victoria<br />

suggerieren konnte. Immerhin hatten die Süddeutschen<br />

nebst einigen weiteren Mittelstaaten<br />

wenige Jahre zuvor, beim Bruderkrieg von 1866,<br />

auf der Seite von Preußens Feinden gestanden.<br />

Immerhin wurden in der Öffentlichkeit sogar<br />

noch nach der französischen Kriegserklärung im<br />

Juli 1870 nervöse Debatten darüber geführt, ob<br />

sich die »Partikularisten« im Süden tatsächlich<br />

für einen gesamtdeutschen Kampf an der Seite<br />

Preußens entscheiden oder Neutralität wahren<br />

würden (und manche befürchteten gar noch


saargeschichte|n 27


Schlimmeres). Zwar wurde der Bündnisfall rasch<br />

vollzogen, sorgte der Krieg dann in der Tat für<br />

zuvor kaum möglich gehaltene nationale Euphorie<br />

in den Südstaaten, zwar war die Begeisterung<br />

für das neue Reich nach dessen Gründung selbst<br />

in den Königreichen Württemberg und Bayern<br />

unübersehbar. Die antipreußischen Ressentiments<br />

blieben nichts desto trotz bestehen, vor<br />

allem der Argwohn gegenüber einer borussischen<br />

Hegemonie im neuen Staatsverbund. Um<br />

ihn zu überwinden und die Kaiserkrone für Preußen<br />

zu sichern, musste Bismarck erneut mit<br />

»sanftem« Druck nachhelfen, er musste Bayern<br />

mit dem Zugeständnis von Sonderrechten und<br />

erheblichen finanziellen Beträgen regelrecht<br />

kaufen: Das von Ludwig II. gebaute Schloss Neuschwanstein<br />

zeugt noch heute von dieser Situation,<br />

nicht ohne Komik, weil auf diesem Weg ein<br />

urbayerisches Heiligtum mit preußischem Geld<br />

errichtet werden konnte. Natürlich waren die<br />

alten Rivalitäten auch in der saarländischen Provinz<br />

nicht vergessen. Sie waren vielmehr gerade<br />

unter den jetzt zunehmend national-liberalen<br />

Saarbrücker Honoratioren noch in lebendiger<br />

Erinnerung, also unter solchen Männern, wie sie<br />

auf dem von-Werner-Bild zu sehen sind. Und die<br />

Animositäten waren angesichts der nahen preußisch-bayerischen<br />

Grenze sogar sehr gegenwärtig:<br />

Als die preußischen Vorposten in den<br />

ersten Kriegstagen im bayerischen Bliesgau operierten,<br />

berichteten sie von vielen Dorfbewohnern,<br />

die den Franzosen freundlicher gesinnt gewesen<br />

wären als ihnen. Das gegenseitige Misstrauen<br />

blieb noch lange über die Reichsgründung hinweg<br />

erhalten, unter den Vorzeichen des in den<br />

1870ern stattfindenden Kulturkampfs sogar mit<br />

neuer Intensität. Unter solchen Umständen<br />

könnte so mancher Besucher im Saarbrücker Rathaussaal<br />

den im Zeichen der Victoria vollzogenen<br />

Handschlag noch 1880 mit durchaus gemischten<br />

Gefühlen betrachtet haben.<br />

Ein Monument für Nationalismus und<br />

Bellizismus?<br />

Die zeitgenössischen Ambivalenzen beim Zugang<br />

zur Victoria lassen erahnen, wie schwierig es ist,<br />

Bedeutung und Wirkung des Saarbrücker Rathauszyklus<br />

angemessen zu bestimmen. Die<br />

ästhetische Kraft und die gesellschaftliche Relevanz<br />

eines Gemäldes erschöpfen sich ja niemals<br />

allein im Wollen des Künstlers oder in den politischen<br />

Absichten des Auftraggebers. So wie sich<br />

die Vorstellungen von Kunst, von Stil und Ästhetik<br />

oder den Gebrauchsweisen der Kunst, beständig<br />

verändert haben, so wandeln sich auch die Botschaften,<br />

die die Kunstwerke für ihr Publikum<br />

haben. Um ein oft vorkommendes Missverständnis<br />

beim Betrachten von Kunst aus »politisch<br />

kontaminierten« Epochen vorab zu benennen:<br />

Die Vorstellungen, dass die Gemälde Anton von<br />

Werners immer noch die Erbsünden der Gründerzeit<br />

virulent in sich tragen, dass Nationalismus,<br />

Militarismus oder Frankophobie (und zwar in der<br />

gleichen Konnotation, die man heute mit ihnen<br />

verbindet) wie in einer hermetischen Zeitkapsel<br />

den Weg über 140 Jahre zu uns gefunden haben<br />

und deswegen noch im Jahr 20<strong>21</strong> nur mit »kritischer«<br />

Vorsicht zu beobachten sind – diese Vorstellungen<br />

sind dann doch ein ganzes Stück zu<br />

naiv, um wahr sein zu können. Das Problem liegt<br />

bei solchen Vorstellungen, plakativ ausgedrückt,<br />

nicht in den Gemälden, sondern in den Köpfen,<br />

die sie betrachten.<br />

Womöglich wird sogar die propagandistische<br />

Wirkung, die von diesen Kunstwerken in ihrer Zeit<br />

ausgehen konnte, generell überschätzt. Wobei<br />

es keineswegs am nötigen Zuspruch fehlte. Im<br />

Gegenteil, die Menschen wollten solche Gemälde<br />

sehen. Man weiß von Ausstellungen in vielen<br />

Städten, dass die zahllosen realistischen Bilder<br />

aus den Schlachten des Deutsch-Französischen<br />

Krieges zeitweise Zuschauermagneten waren.<br />

Aber gingen die Menschen, die 1880 die Panoramen<br />

oder Monumentalgemälde anschauten, als<br />

neugierige und politisch indifferente Besucher<br />

ins »Museum« und kamen, überspitzt formuliert,<br />

als glühende Nationalisten oder Bellizisten wieder<br />

heraus? Wohl kaum. Denn es bedurfte natürlich<br />

viel mehr als nur eines volkspädagogischen<br />

Impulses, damit aus den Bildern von Kaiser, Reich<br />

und Nation gesellschaftliche Handlungsmuster<br />

entstehen konnten. Es bedurfte entsprechender<br />

Sozialisationsinstanzen (Elternhaus, Schule, Militär,<br />

Arbeitsplatz), Medien (Denkmäler, Zeitungen,<br />

Bildpublikationen) und vor allem kollektiver<br />

Erlebnisse (allen voran der Krieg selbst und<br />

die an ihn gebundenen Feiern und Rituale der<br />

Erinnerung), um jenen »Gläubigen« zu formen,<br />

der seine Nation und deren Feinde im Kunstwerk<br />

erkennen und emotional verarbeiten konnte.<br />

Erst nach vielen Geschichtsstunden fingen<br />

die Augen der Schüler vor der Victoria so richtig<br />

an zu Leuchten, die Erstürmung der Spicherer<br />

Höhen wurde erst durch die leibhaftigen Kriegserinnerungen<br />

von Veteranen und Augenzeugen<br />

zu einem rauschhaften Erlebnis (oder aber zu<br />

einer Zitterpartie), erst durch die zunehmende<br />

Mythologisierung des Kaisers und die Realität<br />

der örtlichen »Helden« gewann die Ankunft seiner<br />

Majestät ihre besondere Aura. Die Rezeption


saargeschichte|n 29<br />

der Gemälde entfaltete ihre Wirkung im Rahmen<br />

einer viel breiteren kulturellen Praxis. Schon deshalb<br />

war es sehr sinnvoll, den Rathaussaal in ein<br />

umfassendes touristisches Erlebnisprogramm zu<br />

integrieren, in dem die geschichtsträchtigen Orte<br />

in der »Frontstadt« Saarbrücken ebenso sinnlich<br />

erfahrbar wurden wie die Schlachtfelder von Spichern.<br />

Man sollte solche komplexen Zusammenhänge<br />

und langwierigen Prozesse der Wirkungsgeschichte<br />

im Kopf behalten, bevor man den<br />

Saarbrücker Rathauszyklus zu einer außergewöhnlichen<br />

Ikone des Nationalismus sowie<br />

der Glorifizierung von Kaiser und Krieg erklärt.<br />

Eine Historisierung des Nationalismus der 1870er<br />

Jahre (statt einer nicht hinterfragten Identifikation<br />

mit seiner heutigen Lesart) tut genauso<br />

not wie eine Einordnung des Bildprogramms in<br />

vergleichbare zeitgenössische Werke und in den<br />

Rahmen von Werners eigenem Œuvre während<br />

der Gründerzeit. Auch wenn diese kunst-historische<br />

Untersuchung hier im Einzelnen nicht<br />

geleistet werden kann, sprechen doch einige<br />

Indizien dafür, die propagandistische Botschaft<br />

der Bilder nicht zu hoch zu taxieren. Obwohl<br />

von Werner in den 1870ern fraglos der oberste<br />

malende »Bildungsbeauftragte« des kaiserzeitlichen<br />

Systems wurde, der sich als »pflichtbewußer<br />

Reichsherold«, wie es einmal polemisch<br />

gesagt wurde, »wie viele andere nicht scheute,<br />

siegestrunken auf die Stufe der Kultursoldaten<br />

herabzusteigen«, hielt sich seine martialische<br />

Begeisterung für das im Kampf errungene<br />

Reich auf den Saarbrücker Bildern doch sehr in<br />

Grenzen. Wenn eine unterschwellige Botschaft<br />

die drei Monumentalgemälde verband, dann<br />

war es der bildliche Appell an die Einheit<br />

der Nation, an einen standesübergreifenden<br />

Nationalismus auch, der die<br />

leise Erinnerung an seine demokratischen<br />

Ursprünge nicht verloren hatte, der bis<br />

zu einem gewissen Grade noch in jenem<br />

national-liberalen Geist lebte, der bis 1870<br />

herrschte und dem sich von Werner selbst<br />

bis dahin verbunden gefühlt hatte.<br />

Bei der Erstürmung der Spicherer Höhen<br />

ging es nicht um einen strahlenden Sieger<br />

des Kampfes gegen die Franzosen, sondern<br />

um den Helden, der sichtbar als primus inter<br />

pares ins Gefecht zog und sein Leben fürs<br />

Vaterland opferte, der am Ort seines Heldentods<br />

auch deshalb volkstümlich werden konnte.<br />

Auf der Ankunft Seiner Majestät standen<br />

zwar die städtischen Honoratioren im Zentrum<br />

und damit am nächsten zum König. Im<br />

Volk, das dem künftigen Kaiser zujubelte, ihm<br />

naherückte, waren aber alle Stände, Klassen und<br />

Geschlechter vertreten, vor allem in von Werners<br />

erstem Entwurf, in dem er – ähnlich wie<br />

bei der ersten Kaiserproklamation – die Nation<br />

auf eine möglichst breite gesellschaftliche<br />

Basis stellte. Es war die Einheit von Kaiser und<br />

dem im Volk verkörperten Reich, die hier zelebriert<br />

wurde, wobei die Bedeutung des Kaiserhauses<br />

durch die Rahmung des Ankunftsbildes<br />

mit den Hohenzollernprinzen erheblich verstärkt<br />

wurde. Schließlich stand sogar auf der Victoria,<br />

die den Sieg über Frankreich als Wiedergeburt<br />

eines deutschen Imperiums feierte, im Zentrum<br />

nicht die Erniedrigung des Erbfeinds, sondern<br />

die Verbrüderung der deutschen »Stämme«. Die<br />

Erfahrung der hier verbildlichten Waffenbrüderschaft<br />

war das entscheidende Moment beim<br />

Vollzug der Einheit des Kaiserreichs. Als von Werners<br />

Victoria 20 Jahre nach der Eröffnung des<br />

Saarbrücker Ratssaals zum Motiv einer Briefmarke<br />

der Reichspost wurde, fand der Händedruck<br />

mit dem Segen der Siegesgöttin zwischen<br />

Alpenpanorama und Meeresstrand statt, ohne<br />

jede Spur des geschlagenen Frankreich. Seid<br />

einig, einig, einig, stand auf einer Banderole unter<br />

den Waffenbrüdern, die mit dieser Botschaft ins<br />

ganze weite Reich verschickt wurde. Vielleicht<br />

war der Appell zur Einheit der neuen Nation<br />

auch das, was von Werner in seinen Saarbrücker<br />

Bildern an die Adresse der zuvor nicht immer<br />

preußenfreundlichen Saarländer zum Ausdruck<br />

bringen wollte – verbunden mit vielen persönlichen<br />

»Komplimenten« für die im August 1870<br />

gebrachten Opfer.


st.wendel und gurs – verbindungen<br />

über zeit und raum hinaus<br />

Vom Leben und Sterben des Bildhauers und Malers Otto Freundlich<br />

in Zeiten des NS-Terrors und dem Weiterleben seiner Idee in St. Wendel<br />

von sabine graf<br />

Der St. Wendeler<br />

Künstler Leo Kornbrust<br />

folgte der Idee<br />

von Otto Freundlich<br />

und begründete<br />

1979 die in St. Wendel<br />

beginnende »Straße<br />

der Skulpturen«.<br />

Am 22. Oktober 1940 wurden auf Veranlassung<br />

des Gauleiters »Saarpfalz«, Josef Bürckel und<br />

des Gauleiters von Baden, Robert Wagner, 6.500<br />

Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und<br />

dem Saarland in das Internierungslager Gurs in<br />

den Pyrenäen verschleppt. Im Saarland wurden<br />

145 Jüdinnen und Juden von der sogenannten<br />

»Wagner-Bürckel-Aktion« erfasst. Aus dem heutigen<br />

Kreis St. Wendel bzw. aus St. Wendel und<br />

Tholey wurden 17 Menschen nach Gurs verbracht<br />

und zwei Jahre später über Drancy nach Auschwitz<br />

deportiert und ermordet. Aus Anlass des 80.<br />

Jahrestages erinnert eine von der Gedenk- und<br />

Bildungsstätte »Haus der Wannsee-Konferenz«<br />

erarbeitete Ausstellung »Gurs 1940. Deportation<br />

und Ermordung südwestdeutscher Jüdinnen<br />

und Juden« an die Ereignisse vom Oktober 1940.<br />

Die Ausstellung sollte am 80. Jahrestag , dem<br />

22. Oktober 2020 in St. Wendel, Saarbrücken<br />

und Rehlingen-Siersburg sowie in den anderen<br />

Landkreisen eröffnet werden. Die Corona-<br />

Situation bedingte, dass die aus 26 Wandtafeln<br />

bestehende Ausstellung nun am 8. April 20<strong>21</strong>,<br />

dem jüdischen Gedenktag Yom HaShoah zeitgleich<br />

in allen Landkreisen sowie im Regionalverband<br />

Saarbrücken eröffnet wird.<br />

Eine weitere Spur der Erinnerung führt von St.<br />

Wendel nach Gurs. Als der St. Wendeler Bildhauer<br />

Leo Kornbrust 1978 daran ging, die Skulpturen,<br />

die seit 1970/1971 bei Bildhauersymposien auf<br />

der Baltersweiler Höhe entstanden waren, mit<br />

der 1979 offiziell eingeweihten Skulpturenstraße<br />

zu vereinigen, entdeckte er, dass diesen Plan rund<br />

30 Jahre zuvor ein anderer schon gefasst hatte.<br />

Der Maler und Bildhauer Otto Freundlich hatte<br />

um das Jahr 1936 die Idee zweier durch Europa<br />

verlaufender Skulpturenstraßen<br />

entwickelt. Daraufhin widmete Leo<br />

Kornbrust die Symposien und die<br />

1979 daraus erwachsene »Straße<br />

der Skulpturen« in St. Wendel dem<br />

von Gurs über Drancy nach Sobibor<br />

deportierten und dort ermordeten<br />

Otto Freundlich. Seit 1988 erinnert<br />

zudem auf dem Fruchtmarkt von<br />

St. Wendel eine von Leo Kornbrust<br />

geschaffene Pyramide an Leben<br />

und Sterben von Otto Freundlich<br />

und seiner für die Skulpturenstraße<br />

St. Wendel so bedeutende Idee. Das<br />

erste Steinbildhauer-Symposion,<br />

aus dem sich dieses europaweit<br />

ausgreifende Kunstprojekt entwickelt<br />

hat, jährt sich in 20<strong>21</strong> zum<br />

50. Mal.<br />

Leo Kornbrust beließ es nach dem<br />

Abschluss der Skulpturenstraße in<br />

St. Wendel nicht dabei, sondern griff<br />

im Jahr 2001 den Plan Freundlichs


erneut auf und machte sich daran, diesen umzusetzen.<br />

Dieser hatte zwei Straßen, eine von Norden<br />

nach Süden zu Ehren von Paul Cézanne und<br />

Vincent van Gogh, eine »voie de la fraternité«, und<br />

die zweite von Paris nach Moskau, durch Frankreich,<br />

Deutschland, Polen und Russland geplant.<br />

Diese von Westen nach Osten verlaufende Straße<br />

sollte den Namen »voie de la solidarité en souvenir<br />

de la libération« tragen. Am Schnittpunkt der<br />

beiden Straßen, in Auvers-sur-Oise, hat er den<br />

»Leuchtturm der sieben Künste« vorgesehen.«<br />

Es blieb für Freundlich eine Idee in einer Zeit,<br />

in der sich Grenzen ausdehnten, jedoch nicht<br />

um Herrschaftsbereiche aufzuheben, und die<br />

Begegnung der Menschen zu fördern, sondern<br />

um diejenigen, die als Gegner und Feinde ausgemacht<br />

oder aufgrund ihrer Religion oder<br />

»Rasse« als »Volksschädlinge« denunziert wurden,<br />

daraus zu vertreiben. NS-Deutschland hatte<br />

mit militärischer Macht, dem Pakt mit anderen<br />

Staaten und der Politik des Appeasements zuerst<br />

seinen Herrschaftsraum nach Westen und nach<br />

1941 nach Osten in Europa ausgedehnt. Zugleich<br />

wurde der für die vom Nationalsozialismus zu<br />

Gegnern und Feinden erklärte Raum enger. In<br />

Frankreich, wo Otto Freundlich lebte, war es am<br />

Ende ein Verschlag in Gestalt eines Kriechbodens<br />

unter dem Dach eines Bauernhauses gewesen,<br />

in dem man ihn schließlich verhaftete, von Gurs<br />

aus deportierte und in Sobibor ermordete. In dieser<br />

Zeit, genauer: »1936 formulierte Otto Freundlich<br />

seine Idee einer völkerverbindenden Straße.<br />

1936 haben es die politischen Ereignisse nicht zu<br />

einer Realisation kommen lassen.« Das ist angesichts<br />

des im besetzten wie nach dem 10. November<br />

1942 auch im ehemals unbesetzten Teil Frankreichs<br />

obwaltenden des NS-Terrors, dem Otto<br />

Freundlich als in Frankreich lebender deutscher<br />

Jude ausgesetzt war, eine zurückhaltende und<br />

geradezu moderate Formulierung.<br />

Von der künstlerischen Wahlheimat zum Ort des<br />

Exils: Otto Freundlich in Paris<br />

Der 1878 in Slupsk/Pommern im heutigen Polen<br />

geborene Künstler kam 1908 zum ersten Mal<br />

nach Paris. Es blieb auch im Folgejahr nur bei<br />

einem mehrwöchigen Aufenthalt, wenn auch<br />

in dem Atelierhaus »Bateau-Lavoir«, wo neben<br />

anderen Künstlern der Zeit Pablo Picasso sein<br />

Atelier hatte. Aus dieser Zeit rührt die Bekanntschaft<br />

mit dem Jahrhundertkünstler, den er zu<br />

dessen 50. Geburtstag 1931 mit einem Por trät<br />

würdigte. Nach Stationen in München, Berlin und<br />

Aufenthalten in Hamburg meldete sich Freundlich,<br />

wie so viele Künstler seiner Generation, als<br />

Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und wurde<br />

aufgrund einer Verwundung als Sanitätssoldat<br />

eingesetzt. Die 1920er Jahre waren auch im<br />

Schaffen Freundlichs von der ausschließlich verbal<br />

radikal beschworenen Verbindung von Kunst<br />

und Kommunismus, Dada, Novemberrevolution<br />

und den Hoffnungen auf eine grundlegende<br />

Veränderung in Kunst und Gesellschaft geprägt.<br />

Dahinter stand die Hoffnung auf Umwälzung<br />

in der und durch die Kunst. Es sollte eine neue<br />

Kunst für neue Menschen einer neuen Gemeinschaft<br />

entstehen, von Solidarität, Gleichheit und<br />

Brüderlichkeit bestimmt. Otto Freundlich erwies<br />

sich damit als Mann und Künstler seiner Zeit, der<br />

sich als Avantgarde in Kunst und Gesellschaft<br />

verstand. Politisch war er insofern, als er seinen<br />

Platz »an der Seite des revolutionären Proletariats«<br />

sah. Aber er war ungeachtet aller verbalen<br />

Entschlossenheit kein Macht- oder Parteipolitiker<br />

im Dienst der Kommunistischen Partei. Der von<br />

ihm so bezeichnete »kosmische Kommunismus«<br />

war eher von Beethovens Neunter im Sinne eines<br />

weltumspannenden Humanismus bestimmt als<br />

von Stalin:<br />

»Wir müssen Seite an Seite des revolutionären<br />

Proletariats kämpfen. Was wir gedacht und<br />

geschaffen haben, ist ohne Wert für den gegenwärtigen<br />

Kampf. Dennoch ist es nicht wertlos.


Ausstellung<br />

»Gurs 1940. Deportation und<br />

Ermordung südwestdeutscher<br />

Jüdinnen und Juden.«<br />

Die Ausstellung besteht aus 28 Wandtafeln<br />

im Format DIN A1. Die Landeszentrale für politische<br />

Bildung des Saarlandes stellt jeweils<br />

eine Ausführung der Ausstellung allen saarländischen<br />

Aber es fehlt die mithelfende<br />

Landeskreisen sowie dem Regio-<br />

Kraft der Menschen, der<br />

nalverband Saarbrücken kostenlos und zum Genossen. Warum sollten<br />

dauerhaften Verbleib zur Verfügung. sie nicht bereit sein, das<br />

Die Ausstellung kann von Schulen, Vereinen Schwierige zu verstehen,<br />

oder Initiativen des jeweiligen Landkreises<br />

bzw. des Regionalverbandes Saarbrücken<br />

ausgeliehen werden.<br />

Die Ausstellung eröffnet unter den geltenden<br />

Hygieneregeln am 8. April 20<strong>21</strong>:<br />

• in der VHS im Regionalverband Saarbrücken<br />

im Alten Rathaus, Schlossplatz 2<br />

• im Stadtarchiv Homburg/Saar, Kaiserstraße<br />

41<br />

• in der Evangelischen Stadtkirche St. Wendel,<br />

Beethovenstraße 1<br />

wenn sie wissen, dass es für<br />

sie gedacht und geschaffen<br />

wurde? Aber zuerst müssen<br />

sie das wissen, dass<br />

wir uns den harten Pflichten<br />

revolutionärer Solidarität<br />

nicht entziehen und sie<br />

mit Freude erfüllen wollen.<br />

(...) Wir müssen dazu bereit<br />

sein, diese künstlerische Entwicklung,<br />

der wir uns ausschließlich<br />

ein ganzes Leben<br />

Weitere Ausstellungen sind vorgesehen lang widmeten und die uns<br />

• im Hochwald-Gymnasium, Wadern Boykott und Armut eintrug,<br />

• im Landratsamt Saarlouis, Saarlouis<br />

• in der Gemeinschaftsschule Lothar-Kahn-<br />

Schule, Rehlingen-Siersburg<br />

• in der Gemeinschaftsschule Mühlbachschule,<br />

Schiffweiler<br />

als abgeschlossen zu<br />

betrachten«, schreibt Otto<br />

Freundlich in eigener Sache<br />

in »Bekenntnisse eines revolutionären<br />

Malers«<br />

Das heißt, wovon Otto<br />

Die Ausstellung ist zudem digital verfügbar Freundlich pathetisch und<br />

unter www.gurs1940.de.<br />

gewiss auch mit großer<br />

Informationen zum Lager Gurs und die dort<br />

internierten Saarländer*innen auch unter<br />

Überzeugung sprach, hatte<br />

wenig mit dem Kommunismus<br />

https://gurs.saarland sowie in der auf der<br />

stalinscher Prägung<br />

dort angeschlossenen Datenbank.<br />

zu tun, der die Säuberung<br />

der Partei von einstigen<br />

Genossen vorantrieb, die er<br />

zu Gegnern erklärt, inhaftiert und hingerichtet<br />

hatte. Wie manch’ anderer seiner Künstlerkollegen<br />

stellte sich Distanz zum eher idealistisch,<br />

denn realistisch gesehenen Kommunismus<br />

aufgrund der Schauprozesse in Moskau und dem<br />

Umgang Stalins mit den aus dem Spanischen<br />

Bürgerkrieg zurückgekommen Genossen ein, der<br />

jedem Anflug eines romantischen bzw. »kosmischen<br />

Kommunismus« abhold war. Den gab es<br />

ohnehin nur als Vorstellung und festen Überzeugung<br />

des Künstlers von einer anderen, besseren<br />

Welt.<br />

Pablo Picasso war für ihn das Vorbild des »neuen<br />

Menschen« Karl Marxscher Prägung, sprich frei<br />

und sich sowie der Natur nicht entfremdeten<br />

Menschen, wie er in seinem Porträt Picassos<br />

aus Anlass dessen 50. Geburtstag feststellt. Das<br />

»Freiheitsbedürfnis Picassos« galt ihm dabei als<br />

»Grundvoraussetzung für jede künstlerische Veränderung,<br />

eine Erkenntnis, die er mittels seiner<br />

Überzeugung, im Kunstwerk ein Gleichnis zu<br />

sehen, auf die angestrebten Veränderungen im<br />

gesellschaftlich-politischen Bereich überträgt.«<br />

Die Realität war und ist, insbesondere in totalitären<br />

Systemen wie dem als Rettung betrachteten<br />

Kommunismus, freilich eine andere.<br />

Otto Freundlich stellte seine Kunst in den Dienst<br />

der Idee von einer gerechten, solidarischen<br />

Gesellschaft. Er wandte sich der Welt zu, anstatt<br />

fern davon in einem Elfenbeinturm zu verharren.<br />

Das zeichnet ihn aus. Auch, dass er selbstbewusst<br />

dies mittels seiner Bildsprache tat, anstatt vordergründig<br />

mit seiner Kunst Propaganda zu machen.<br />

Für ihn ging es um den neuen Menschen, der solidarisch<br />

und friedfertig sein sollte. Dass er dafür<br />

eine neue Bildsprache nutzte, ist daher nur folgerichtig.<br />

Doch seine Kunst, die abstrakt und gegenstandslos<br />

oder um der aktuellen Bezeichnung<br />

die Ehre zu geben: »gegenstandsfrei« war, hatte<br />

wenig mit der Staatskunst im Kommunismus<br />

und einem plakativen Realismus zu tun, der<br />

zum Dogma erhoben wurde. In Dikaturen ist die<br />

künstlerische Freiheit kein schützenswertes Gut.<br />

Im Gegenteil, der Kommunismus hätte ihn als<br />

»Formalist« geschmäht und seine Kunst verboten.<br />

Auch hier hätte ihn nur das Exil erwartet, um sich<br />

und seine Kunst zu retten. Doch diese Erfahrung<br />

blieb ihm erspart. Die nationalsozialistische Diktatur<br />

hatte ihn bereits als Künstler verfemt. 14<br />

Arbeiten Freundlichs wurden aus deutschen<br />

Museen entfernt und zerstört. Zwei seiner Plastiken,<br />

»Der neue Mensch« (1912) und »Kleiner<br />

Kopf« (1916) wurden in der die Kunst der Moderne<br />

und die ihr verbundenen Künstler diffamierenden<br />

Wanderausstellung »Entartete Kunst« im<br />

Jahr 1937 gezeigt.<br />

Es waren gerade Freundlichs Kopfplastiken, in<br />

denen sich seine Vorstellung von Abstraktion als<br />

Akt der Befreiung hin zu einem von Solidarität<br />

geprägten Kollektiv ins Werk setzten und seine<br />

dafür unabdingbare Vorstellung eines neuen<br />

Menschen zeigten.<br />

Doch seine Kopf-Skulptur sollte zum von den<br />

Nationalsozialisten geschändeten und verhöhnten<br />

Symbol werden. Die Plastik »Der neue<br />

Mensch« wurde in verzerrter Darstellung auf<br />

das Titelblatt des Ausstellungskataloges gesetzt.<br />

Aus seiner Wahlheimat Frankreich war nach 1933<br />

ein Exil geworden. Auf die Verfemung als Künstler<br />

sollte zwei Jahre später die Internierung und<br />

danach die Verfolgung und die Vernichtung des<br />

Menschen Otto Freundlich folgen. Und dies sogar<br />

mit Billigung des Landes, in das er geflohen war:<br />

Frankreich.


saargeschichte|n 33<br />

Vom Wahlfranzosen zum »feindlichen Ausländer«,<br />

vom »Unerwünschten« zum Opfer des<br />

NS-Terrors<br />

In Otto Freundlichs Leben und Sterben spiegelt<br />

sich die Politik gegen Jüdinnen und Juden in<br />

Frankreich nach Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />

und in Folge dessen der Besetzung Frankreich<br />

durch NS-Deutschland.<br />

1925 war Freundlich nach Paris zurückgekehrt.<br />

Frankreich wurde fortan zu seinem Lebensmittelpunkt.<br />

Er hielt sich nun dauerhaft in Paris<br />

und an anderen Orten in Frankreich auf. Er lebte<br />

zuerst in verschiedenen Hotels und nach 1931 in<br />

Wohnungen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die bildende<br />

Künstlerin Jeanne Kosnick-Kloss zu seiner<br />

Lebensgefährtin.<br />

1936 bezog er ein Atelier in der 38, rue Denfert-<br />

Rochereau (heute: rue, Henri Barbusse). Dort<br />

hatte er seine private Kunstakademie »Le Mur«<br />

eröffnet. In dieser Zeit entstand auch der Text<br />

»Sculptures-Montagnes«, die das Projekt des<br />

Leuchtturms der sieben Künste (1943) vorwegnahm<br />

und die Idee einer Skulpturenstraße skizzierte.<br />

Im selben Jahr, als seine Werke aus Museen<br />

in Deutschland entfernt und seine Arbeit in der<br />

Ausstellung »Entartete Kunst« geschmäht wurden,<br />

bat er Sonia und Robert Delaunay darum,<br />

ihm einige ihrer Arbeiten für eine in Zürich<br />

geplante Tombola zu überlassen. Deren Erlös<br />

sollte den in Konzentrationslagern Inhaftierten<br />

zukommen. 1938 wurde er Mitglied des Freien<br />

Deutschen Künstlerbundes in Paris, der von ins<br />

Exil nach Paris getriebenen Künstlern gegründet<br />

worden war und der sich gegen die nationalsozialistische<br />

Kulturpolitik richtete.<br />

Otto Freundlich geriet, obzwar künstlerisch<br />

anerkannt, immer stärker in Existenznot. Als die<br />

Pariser Galerie Jeanne Bucher-Myrbor ihm zu seinem<br />

60. Geburtstag eine Ausstellung ausrichtete,<br />

riefen in Frankreich lebende und für die Kunst der<br />

Moderne maßgebende Künstlerinnen und Künstler,<br />

darunter Picasso, Braque, Léger, Kandinsky,<br />

Kokoschka, Sophie und Hans Arp sowie Sonia und<br />

Robert Delaunay und viele andere zum Kauf einer<br />

Arbeit Freundlichs auf. Mit dem auf diesem Weg<br />

zusammengetragenen Geld konnte die Gouache<br />

»Hommage aux peuples aux couleur« – eine Vorstudie<br />

für das gleichnamige Mosaik – erworben<br />

und dem Museum Jeu de Paume überlassen werden.<br />

Freundlich schickte daraufhin eine Dankadresse<br />

an den Direktor des Museums und dankte<br />

dabei Frankreich, der Kulturnation, der er seit<br />

seiner Jugend verbunden war. Aber es rettete ihn<br />

nicht, als der Zweite Weltkrieg ausbrach.<br />

Die Folgen daraus waren für diejenigen ein<br />

Schock, die vor und erst recht nach 1933 in Frankreich<br />

Zuflucht gesucht, gefunden und sich mit<br />

dem Gastland identifiziert hatten. So glaubte<br />

sich etwa Hans Fittko, der Ehemann von Lisa Fittko<br />

bei Ausbruch des Krieges in Frankreich, wo er,<br />

seine Frau, seine Familie und andere vom NS-Terror<br />

ins Exil nach Paris Vertriebene sich aufhielten,<br />

auf der Seite des Landes, das ihn aufgenommen<br />

hatte. Doch dieses sah nach Kriegsausbruch<br />

in den Emigranten aus Deutschland nur noch<br />

»Feindliche Ausländer«:<br />

»Egal, unser Feind ist das Hitlerregime. Wir<br />

gehören zu denen, die es bekämpfen. Wir müssen<br />

mitkämpfen.« (...) Zwei Tage später, unmittelbar<br />

nach der Kriegserklärung Frankreichs und<br />

Englands an Deutschland, erschienen an allen<br />

Mauern die großen roten Plakate: »Feindliche<br />

Ausländer. Männer bis zu 65 Jahren hatten sich<br />

unverzüglich im Stade Colombe einzufinden<br />

zwecks Einlieferung in Camps de Concentration.<br />

Die feindlichen Ausländer, das waren unsere<br />

Männer. Alle, die aus Deutschland und Österreich<br />

stammten: Juden, politische Emigranten, ›Reichsdeutsche‹,<br />

Nazis oder Nicht-Nazis.«<br />

Diese Situation rührte daher, dass Gegner oder<br />

Verfolgte des Nationalsozialismus, die sich nach<br />

Frankreich gerettet hatten, nachdem Frankreich<br />

zusammen mit England Deutschland am<br />

3. September 1939 den Krieg erklärte hatte, nun<br />

»Staatsbürger eines Feindstaates« waren.<br />

Daher entsprach es auch internationaler<br />

Gepflogenheit, die wehrfähigen Männer des<br />

Kriegsgegners zu internieren, einerseits aus<br />

Furcht vor Spionage und Sabotage im eigenen<br />

Land, andererseits, um zu verhindern, dass sie<br />

in ihr Land zurückkehrten, um von dort aus am<br />

Krieg teilzunehmen.<br />

Davon waren alle deutschen oder deutschstämmigen<br />

Männer zwischen 17 und 56 Jahren<br />

sowie ab Mai 1940 alle Männer bis zum 65.<br />

Lebensjahr betroffen. Diese Regelung traf auch<br />

den damals 61-jährigen Otto Freundlich. Er<br />

Porträt des Otto<br />

Freundlich.


wurde bald nach Kriegsbeginn als »feindlicher<br />

Ausländer« von der französischen Polizei verhaftet<br />

und am 15. September für zwei Wochen im<br />

Stade Colombe in Paris interniert. Danach wurde<br />

er nach Blois im Département Loir-et-Cher und<br />

von dort nach Francillon-par-Villebarou verlegt.<br />

Seine Lebensgefährtin schickte ihm Farben, seine<br />

Pariser Galeristinnen Berthe Weill und Marie Cuttoli<br />

setzten sich für ihn ein. Sie bezeugten seine<br />

Verbundenheit mit seiner Wahlheimat. Sie scheiterten<br />

jedoch mit ihrem Werben um seine Freilassung.<br />

Im Januar 1940 wurde er in ein anderes<br />

Lager in Marolles im selben Département und<br />

daraufhin nach Fossé verlegt. Von dort brachte<br />

man ihn nach Cepoy im Départment Loiret, wo<br />

er Anfang Februar 1940 entlassen wurde.<br />

In Paris stellte er unmittelbar danach einen<br />

Antrag auf Einbürgerung. Bereits 1934 hatte<br />

Freundlich, mit Unterstützung von Georges<br />

Braque, einen Antrag auf Naturalisation (Einbürgerung)<br />

gestellt. Damals konnte er die<br />

dafür anfallenden Gebühren von 1.400 Francs<br />

nicht aufbringen. Er hatte stattdessen eines<br />

seiner Bilder als Bezahlung angeboten, was<br />

jedoch abgelehnt worden war. Die Chance, dass<br />

er nach Kriegseintritt, der Besetzung eines Teiles<br />

von Frankreich durch NS-Deutschland und<br />

der eingesetzten Vichy-Regierung nun erfolgreich<br />

sein würde, war nicht gegeben. Zumal<br />

bereits die in Frankreich vorhandene Rechte für<br />

die Aufhebung der seit den 1920er Jahren erfolgten<br />

Einbürgerungen eingetreten war.<br />

Die französische Judenpolitik nach 1940 richtete<br />

sich, was Internierung und Deportation<br />

betraf, vor allem gegen deutsche und ausländische<br />

Juden. Darin unterschied sie sich von<br />

dem Vorgehen der Nationalsozialisten: »Ging<br />

es in Deutschland unmittelbar um die Ausschaltung<br />

jüdischer Bürger, so verfolgte der französische<br />

Gesetzgeber seine Ziele zunächst über<br />

den Umweg der Nationalität, ein Phänomen,<br />

das sich wie ein roter Faden durch die gesamte<br />

Judenpolitik des Vichy-Regimes gegen die deutsche<br />

Besatzung durchzieht: insgesamt ist das<br />

Moment der Fremdenfeindlichkeit stärker ausgeprägt<br />

als das des Antisemitismus, was auch<br />

durch die weitere Judenpolitik der Vichy-Regierung<br />

zum Ausdruck kommt.« Demgemäß unterschied<br />

die Vichy-Regierung zwischen Juden mit<br />

französischem und nicht-französischem Pass.<br />

Das galt vor allem für diejenigen im von Deutschland<br />

damals noch nicht besetzten Teil Frankreichs,<br />

dem Einflussbereich der mit Deutschland kollaborierenden<br />

Regierung unter Marshall Petain:<br />

»Anfangs entschieden sich die französischen


saargeschichte|n 35<br />

Machthaber dafür, die Juden mit französischem<br />

Pass zu schützen. (…) Auf nicht-französische<br />

Juden nahm die Vichy-Regierung keine Rücksicht;<br />

sie konnten deportiert werden. Im Laufe der Zeit<br />

entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit<br />

zwischen der Vichy-Regierung und dem deutschen<br />

Deportationsapparat. Nach statistischen<br />

Angaben wurden ca. 24.500 französische und<br />

etwa 56.500 der ausländischen oder staatenlosen<br />

Juden deportiert.«<br />

Das am 4. Oktober 1940 von der Vichy-Regierung<br />

erlassene Gesetz zur Internierung und Auslieferung<br />

nichtfranzösischer Juden in Kriegszeiten<br />

vollzog diese Haltung. Als französischer<br />

Jude hätte Freundlich wenigstens eine kleine<br />

Chance gehabt, den Internierungen und den Razzien<br />

der französischen Polizei, bei der nach ausländischen,<br />

vor allem deutschen Juden gesucht<br />

wurde, bis 1942 zu entgehen.<br />

Im Mai 1940 wurde Freundlich daher nach dem<br />

Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich erneut<br />

in Paris, diesmal im Stadion Buffalo interniert,<br />

ganz so wie viele andere in Paris im Exil lebende<br />

Deutsche:<br />

»Die Deutschen überfielen Holland, Belgien,<br />

Luxemburg. Die großen roten Plakate erschienen<br />

wieder an den Mauern. Alle aus Deutschland<br />

stammenden Männer, die während des Winters<br />

aus irgendwelchen Gründen aus den Lagern entlassen<br />

worden waren, mussten sich wieder melden.<br />

Mein Bruder Hans (...) wurde mitten in der<br />

Nacht von Zuhause abgeholt und in das Pariser<br />

Stadion Buffalo gebracht.«<br />

Dieses Schicksal teilte er mit vielen seiner<br />

Künstlerkollegen, die wie er nach Paris geflohen<br />

waren, so auch mit dem Schriftsteller Franz Pfemfert,<br />

dessen Ehefrau darüber verzweifelte: »Franz<br />

Pfemfert, Frankreichs treuer alter Freund, eingesperrt<br />

in einem französischen Lager! Als feindlicher<br />

Ausländer.« Aus Paris wurde Freundlich mit<br />

den anderen in Paris Internierten nach Bassens<br />

im Département Gironde verbracht. Als er am 20.<br />

Juni freikam, floh er sofort in die unbesetzte Zone<br />

im Süden Frankreichs in einem Zug mit dem Ziel<br />

Perpignan. In dem Dorf Saint-Paul-de-Fenouillet<br />

kam er in dem Hotel Le Galamus unter, überwacht<br />

von der örtlichen Polizei. Er erwog die Ausreise<br />

nach USA, konnte jedoch dafür die Kosten<br />

nicht aufbringen, da auch seine Gefährtin Jeanne<br />

Kosnick-Kloss zu ihm geflohen war. Im Jahr darauf<br />

versuchte er es im Oktober 1941 erneut, in<br />

die USA auszureisen, weswegen er dort lebende<br />

Freunde um Hilfe bat. Er scheiterte wiederum.<br />

Selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte er<br />

kaum noch ein Ausreisevisum erhalten können.<br />

Bis Mai 1941 wurde noch die Auswanderung von<br />

deutschen Jüdinnen und Juden aus Deutschland<br />

gefördert, was zur Folge hatte, dass die in Gurs<br />

internierten Jüdinnen und Juden keine Ausreisevisa<br />

mehr erhielten, obschon ihre in den USA<br />

lebenden Angehörigen die Kosten für Visum und<br />

Überfahrt tragen wollten. Die vorhandenen Visa<br />

waren für die aus Deutschland ausreisenden<br />

Jüdinnen und Juden vorgesehen. Zudem wurde<br />

es seit dem Kriegseintritt der USA schwieriger für<br />

deutsche Juden, ein Einreisevisum in die USA zu<br />

erhalten. Auch war die Durchreise durch Spanien<br />

unmöglich geworden, so dass nun der Weg in die<br />

Freiheit über Casablanca führte. Hinzu kam noch,<br />

dass durch das am 25. November 1941 erlassene<br />

»Reichsbürgergesetz« die in Südfrankreich versteckten<br />

oder in Lagern internierten Jüdinnen<br />

und Juden aus Deutschland ihre Staatsbürgerschaft<br />

verloren.<br />

In Vorbereitung der Wannsee-Konferenz, die<br />

bereits für Anfang Dezember 1941 geplant, am 20.<br />

Januar 1942 stattfand, verfügte ein Schnellbrief<br />

von Adolf Eichmann an das Auswärtige Amt am<br />

19. November 1941, dass die Auswanderung von


Jüdinnen und Juden aus den von Deutschland<br />

besetzten Gebieten verboten wurde. In Deutschland<br />

war Jüdinnen und Juden bereits aufgrund<br />

eines Erlasses der Reichssicherheitshauptamtes<br />

vom 23. Oktober 1941 die Ausreise für die Dauer<br />

des Krieges verboten.<br />

Als Otto Freundlich im Jahr 1941 seine »Biographische<br />

Notiz« in seiner Zuflucht in Saint-<br />

Paul-de-Fenouillet verfasst, endet er mit dem<br />

Hinweis, dass er 1939 und 1940 sein Atelier »Le<br />

Mur« in Paris habe verlassen müssen. Dabei fällt<br />

auf, dass er auf sein Pariser Atelier im Präsens -<br />

»befindet sich« – verweist. Es scheint, als ob er die<br />

Hoffnung hatte, dorthin wieder zurückkehren zu<br />

können. Auch in dem kleinen Dort Saint-Paulde-Fenouillet<br />

versuchen er und Jeanne Kosnick-<br />

Kloss weiterhin künstlerisch zu arbeiten. Dafür<br />

baten sie ihre Freunde, ihnen Pinsel und Farben<br />

zuzuschicken. Doch das künstlerische (Weiter)Arbeiten<br />

geschah unter mittlerweile sich<br />

zuspitzenden Bedingungen für das Leben<br />

von jüdischen Deutschen in Frankreich, insbesondere<br />

in der unbesetzten Zone. Die<br />

Razzien gegen ausländische Juden in Paris<br />

am 16./17. Juli 1942, die daraufhin im Pariser<br />

Radstadion »Velodrome d’Hiver« (Vel d’Hiv)<br />

interniert wurden, waren ein »Warnsignal für<br />

die Juden in der unbesetzten Zone«. Denn vier<br />

Wochen später wurde den Regionalpräfekten<br />

telegrafisch mitgeteilt, dass die Kriterien für<br />

Verhaftungen bzw. Abschiebungen deutlich<br />

eingeschränkt wurden. Das bedeutete, dass<br />

die französische Polizei staatenlose und ausländische<br />

Juden an ihren jeweiligen Wohnorten<br />

verhaften konnte, was ab dem 26.<br />

August 1942 erfolgte.<br />

In dieser Zeit soll Freundlich laut den biografischen<br />

Angaben von Joachim Heusinger<br />

zu Waldegg ein Gesuch an den Präfekten des<br />

Départments Pyrénées-Orientales gerichtet<br />

haben. Das genaue Anliegen wurde nicht<br />

mitgeteilt. Ungeachtet worum Otto Freundlich<br />

den Präfekten bat – vermutlich ihn nicht<br />

mehr zu verfolgen – war es aufgrund der anderslautenden<br />

Direktiven der Vichy-Regierung ein<br />

hoffnungsloses Unterfangen, wie Lisa Fittko resigniert,<br />

jedoch ohne Frankreich dafür die Schuld<br />

zu geben, feststellte:<br />

»Frankreich, unser Gastland, war uns zur Falle<br />

geworden. Frankreich musste sich ergeben; Der<br />

Waffenstillstandsvertrag – der Schandvertrag –<br />

gab die Emigranten aus Deutschland ihrer ehemaligen<br />

Heimat preis.«<br />

Nach der Besetzung der ehemals »freien« Zone<br />

im Süden Frankreichs durch Deutschland am<br />

10. November 1942 verschärfte sich die Lage für<br />

Otto Freundlich abermals. Er floh in das höher<br />

gelegene Dorf Saint-Martin-de-Fenouillet. Dort<br />

fand er in einem Kriechboden unter dem Dach<br />

eines Bauernhauses eine Zuflucht. In diesem<br />

Verschlag arbeitete er weiter. In den frühen<br />

1980er Jahren entdeckte die Kunsthistorikerin<br />

Rita Wilde gans in einem Ofen seine versteckten<br />

Pinsel und Farben.


saargeschichte|n 37<br />

Dort wurde Otto Freundlich am <strong>21</strong>. Februar 1943<br />

aufgrund der Denunziation eines Nachbarn von<br />

zwei Feldgendarmen verhaftet und von Perpignan<br />

in das Lager Gurs gebracht. Nach einem<br />

Anschlag auf zwei deutsche Offiziere mussten<br />

als »Sühnemaßnahme« 2.000 Jüdinnen und<br />

Juden aus der vormals unbesetzten Zone verhaftet<br />

werden. Dazu zählten nicht nur in Arbeitstrupps<br />

abgeordnete Juden und Internierte aus<br />

dem Lager Nexon, sondern auch isoliert lebende<br />

Juden wie Otto Freundlich. Das Lager Gurs war für<br />

»die im Südwesten der freien Zone Verhafteten«<br />

zum Sammellager geworden. Die Belegzahlen<br />

waren am 28. Februar 1943 auf 2.775 Personen<br />

angestiegen, obwohl am Vortag ein Transport<br />

mit 975 Juden von Gurs nach Drancy abging, dem<br />

auch Otto Freundlich angehörte.<br />

Wenige Monate zuvor waren dort im Vergleich<br />

zu dem Jahr 1940 »nur« noch 719 Personen interniert<br />

gewesen. Diese verhältnismäßig geringe<br />

Belegung war die Folge der Deportationen über<br />

Drancy nach Auschwitz im August und September<br />

1942. Davon waren auch die meisten der Jüdinnen<br />

und Juden aus dem Saarland, der Pfalz und<br />

Baden betroffen, die in Folge der sogenannten<br />

»Wagner-Bürckel-Aktion« am 22. Oktober 1940 in<br />

das Internierungslager Gurs verschleppt worden<br />

waren. Sie gilt als erste große Deportation vor<br />

den Deportationen in die Vernichtungslager in<br />

Osteuropa in Folge der Wannsee-Konferenz vom<br />

20. Januar 1942.<br />

In Frankreich galten die ausländischen Internierten<br />

als »Unerwünschte/Indésirables«. Deren<br />

Kreis erweiterte sich nach Kriegsbeginn und<br />

noch einmal ab Mai 1940 nach dem Einmarsch<br />

der Wehrmacht in Frankreich. Nun kamen Menschen<br />

in das Lager, die aus Deutschland geflohen<br />

waren und von dort zurück in den Tod geschickt<br />

wurden. Darunter waren auch Saarländerinnen<br />

und Saarländer, die nach 1935 nach Luxemburg,<br />

in die Niederlande, nach Belgien und Frankreich<br />

emigriert waren und von dort in das Lager Gurs<br />

verbracht wurden. Otto Freundlich gehörte zu<br />

denen, die verhältnismäßig spät »geraffelt« wurden:<br />

»Unter den vielen Frauen und Männern, die<br />

draußen in der sogenannten Freiheit ‘geraffelt’<br />

worden waren und im Sammelilot in Gurs eingesperrt<br />

hinter doppeltem Stacheldraht und<br />

bewacht von SS-Milizen saßen, fand ich immer<br />

wieder Bekannte.« »Raffeln« ist eine Ableitung<br />

des französischen Wortes für »Razzia« und in<br />

einem »Ilot«, dem französischen Wort für »Insel«<br />

festgehalten wurden. Ein »Ilot« im Lager Gurs<br />

bestand aus 25–27 Baracken.<br />

Otto Freundlich verbrachte höchstens sechs und<br />

mindestens vier Tage in Gurs, bevor er mit 975<br />

Juden in einem Transport nach Drancy und von<br />

dort mit weiteren Menschen in einem 1003 Personen<br />

zählenden Transport am 4. März in das<br />

Vernichtungslager Sobibor gebracht wurde. Darunter<br />

befanden sich 268 Deutsche. Nach Ankunft<br />

am 10. März in Chelm wurden 40 Männer selektiert<br />

und in das KZ Majdanek-Lublin verbracht.<br />

Otto Freundlich befand sich nicht darunter. In<br />

Sobibor wurden keine Namenslisten geführt.<br />

Daher ist es wahrscheinlich, dass er dort bald<br />

nach seiner Ankunft ermordet wurde. Das ist<br />

nur eine Annahme, denn es ist ebenfalls möglich,<br />

dass er, geschwächt von den erlittenen Strapazen<br />

in seinem Versteck, der Haft in Gurs und<br />

Drancy sowie aufgrund des mehrtägigen Transports<br />

in einem Viehwaggon auf dem Weg in das<br />

Vernichtungslager verstorben war. Ein genaues<br />

Todesdatum lässt sich daher nicht angeben.<br />

Die Dokumente: Interniertenkarte, Verhaftungsprotokoll,<br />

Steckbrief und Bittbrief<br />

Im Departementsarchiv in Pau sind sowohl die<br />

Interniertenkartei des Lagers Gurs als auch die<br />

zu den Internierten angelegten Akten (Dossiers)<br />

verwahrt.<br />

Es existiert eine Karte für Otto Freundlich in der<br />

Interniertenkartei. Sie verzeichnet seinen Nachund<br />

Vornamen sowie sein Geburtsdatum, den<br />

10. Juli 1878, und mit »all« für »allemagne« seine<br />

Nationalität. Alle weiteren Angaben wie Beruf,<br />

Name der Eltern, Ankunftstag im Lager, Aufenthaltsort,<br />

Guthaben und Wertgegenstände<br />

sowie »Rasse« fehlen. Lediglich der Tag seiner<br />

Deportation mit dem Convoi am 27. Februar<br />

1943 ist vermerkt. Die unvollständig gebliebene<br />

Karte legt nahe, dass die in diesem Zeitraum verhafteten<br />

und in Gurs Internierten nur kurze Zeit<br />

im Lager bleiben sollten. Sonst wäre die Karte korrekt<br />

ausgefüllt worden. Die fehlenden Angaben<br />

verweisen auf die in diesem Zeitraum veränderte<br />

Funktion des Lagers Gurs als Sammellager für<br />

Jüdinnen und Juden, die von dort aus in die Vernichtungslager<br />

deportiert wurden. Ein längerer<br />

Aufenthalt, der eine ausgefüllte Interniertenkarte<br />

verlangt hätte, war nicht vorgesehen, denn zu<br />

diesem Zeitpunkt war Gurs zum Sammel- und<br />

Durchgangslager geworden.<br />

Das zu Otto Freundlich im Departementsarchiv<br />

Pau vorhandene Dossier verzeichnet drei Schriftstücke:<br />

Das Verhaftungsprotokoll, eine Personenbeschreibung<br />

des Verhafteten sowie in Bittbrief<br />

von Jeanne Kosnick-Kloss an den Präfekten des<br />

Département Pyrénées-Orientales und ein kur-


zes Adressanschreiben, das mit den drei Schriftstücken<br />

von der Präfektur an den Leiter des Lagers<br />

Gurs für dessen Ablage zum Verbleib geschickt<br />

wurde.<br />

Das Festnahmeprotokoll weist den <strong>21</strong>. Februar<br />

um 8.15 Uhr als Zeitpunkt aus, an dem zwei Feldgendarme<br />

namens Delpech und Cousseau Otto<br />

Freundlich in seinem Versteck in Saint-Paul-de-<br />

Fenouillet festnahmen und damit den am 20. Februar<br />

1943 ausgestellten Haftbefehl vollstreckten.<br />

In der Literatur zu Freundlich wird der 23. Februar<br />

1943 genannt, was sich daher als nicht zutreffend<br />

erweist. Aus dem Protokoll geht hervor, dass<br />

Freundlich als »sujet israëlite« bezeichnet wurde,<br />

was als Grund für seine Festnahme galt. Der Vorgang<br />

wurde dabei im Diktum der Kollaboration<br />

– erst Nachname, dann Vorname – als »l’arrestation<br />

de l’israëlite Freundlich, Otto« bezeichnet.<br />

Das Protokoll vermeldet als wörtliches Zitat in der<br />

Schrift Freundlichs Angaben zu Alter, Geburtsdatum,<br />

Herkunft, Name der Eltern, Familienstand<br />

und Nationalität. Im Weiteren heißt es, dass<br />

er diese Angaben durchgelesen, bestätigt und<br />

geschrieben habe.<br />

Es wurde ihm erklärt, dass er im Namen des<br />

Gesetzes verhaftet sei und man ihn nach Perpignan<br />

begleite. Er hatte einen Ausweis bei sich, der<br />

am 23. Februar 1942 auf seinen Namen von der<br />

Präfektur Pyrénées-Orientale ausgestellt worden<br />

war. In seiner Geldbörse wurden zum Zeitpunkt<br />

der Festnahme 100 Francs sichergestellt, die man<br />

ihm zu seiner freien Verfügung überließ.<br />

Die Festnahme begleitet eine Personenbeschreibung,<br />

die frei von antisemitischen und<br />

rassistischen Zuschreibungen ist, was seine Physiognomie<br />

betraf. Bei einer Größe von 1,69 Meter<br />

sei er von mittlerer Statur, mit braunen Augen,<br />

ergrautem Haar, und was Stirn, Nase und Mund<br />

betreffe, durchschnittlich gebaut. Jedoch hatten<br />

die Wochen in dem Verschlag unterm Dach<br />

Spuren in seiner Erscheinung hinterlassen. Diese<br />

wurde als »completement raté«, völlig daneben<br />

oder wohl eher als »komplett heruntergekommen«<br />

beschrieben. Otto Freundlich trug<br />

eine beige Schiebermütze, mahagonifarbene<br />

Schuhe und einen schwarzen Mantel mit grauen<br />

Streifen. Es handelte sich dabei um die Kleidung,<br />

die er auch auf Fotografien aus den Vorjahren<br />

getragen hatte. Mehr war ihm neben seinen Malutensilien<br />

nicht mehr geblieben. Zuvor hatte er<br />

noch seiner Lebensgefährtin das Modell seines<br />

»Leuchtturms der sieben Künste« überlassen.<br />

Ihr blieb es nun überlassen, ihren Lebensgefährten<br />

aus dem Lager Gurs zu befreien. Es<br />

war jedoch ein aussichtsloses Unterfangen, so<br />

wie es bereits im Vorjahr gewesen war, als Otto<br />

Freundlich noch selbst ein Gesuch an den Präfekten<br />

gestellt hatte, denn der Präfekt des Départements<br />

Pyrénées-Orientale war ebenso verantwortlich<br />

für das Lager Gurs wie auch für die<br />

Festnahme ausländischer Juden und deren Internierung<br />

in Gurs. Jeanne Kossnick-Kloss richtete<br />

am 24. Februar, drei Tage nach der Festnahme von<br />

Otto Freundlich, ein Schreiben an den Präfekten.<br />

Daraus geht hervor, dass er von Saint-Martin-de-<br />

Fenouillet zuerst nach Perpignan und von dort<br />

nach Gurs verbracht worden war.<br />

Sie nannte darin seine Herkunft und sein Alter,<br />

das auf seine Konstitution – »n’est pas solide« –<br />

Einfluss habe. So höre er nicht mehr gut. Der Brief<br />

war im Folgenden darauf angelegt, die politischen<br />

Aktivitäten Freundlichs, der sich als Künstler<br />

zur Revolution des Proletariats bekannte, an<br />

dessen Seite er stand, notwendig klein zu reden,<br />

wenn nicht komplett zu ignorieren.<br />

Freundlich wurde von ihr als ganz für seine Kunst<br />

lebender Künstler geschildert, der sich für Politik<br />

nicht interessiere, ja ihr gleichgültig gegenüber<br />

stehe und sofern er politisch handele, dann als<br />

Altruist den Menschen zugewandt und im Grunde<br />

harmlos. Sie erwähnte seine Bekanntschaft<br />

mit Picasso und das Atelier Freundlichs in Paris.<br />

Genau besehen, traf ihre Schilderung auf den<br />

politischen Otto Freundlich der 1920er und frühen<br />

1930er Jahre zu: Politik, das war ein Gefühl<br />

der Solidarität und der Brüderlichkeit. Das hatte,<br />

ungeachtet der rotgefärbten Rhetorik wenig<br />

mit Parteikommunismus zu tun. Freundlichs<br />

Kommunismus war ein »kosmischer«, der wenig<br />

mit der Realität zu tun hatte. Jeanne Kosnick-<br />

Kloss beschrieb in ihren Worten genau diesen<br />

Umstand. Zugleich versuchte sie die Verbundenheit<br />

Freundlichs mit Frankreich hervorzuheben. Er<br />

habe sich um die Einbürgerung bemüht, jedoch<br />

habe dies der Kriegsbeginn verhindert. Sie schilderte<br />

dessen Internierung durch ein Land, dem<br />

er immer mit Respekt und Zuneigung begegnet<br />

sei. Sie bat daher den Präfekten um die Freilassung<br />

Freundlichs, der nichts Verbotenes getan<br />

oder sich jemals gegen Frankreich, das ihn aufgenommen<br />

habe, schlecht verhalten habe.<br />

Dem Verhaftungsgrund begegnete sie mit dem<br />

Hinweis, dass Otto Freundlich kein praktizierender<br />

Jude oder überhaupt religiös sei und dessen<br />

Familie zum Protestantismus konvertiert sei. Eindringlich<br />

batt sie daher für ihn, der »ein großes<br />

Kind« sei und für sich um Gnade und Erbarmen.<br />

Auch stehe er einen Aufenthalt in einem<br />

Konzentrationslager nicht durch, da er medizinische<br />

Versorgung brauche. Angst und Sorge


saargeschichte|n 39<br />

bestimmten diesen Brief, den Jeanne Kosnick-<br />

Kloss an den Präfekten richtete. Der Schriftvergleich<br />

von Unterschrift und Brieftext legt nahe,<br />

dass sie den Brief nicht selbst geschrieben hat,<br />

sondern, dass eine Muttersprachler*in ihn für sie<br />

aufgesetzt hatte. Er bleibt ein Zeugnis für eine<br />

große Verzweiflung über den Verlust jeglicher<br />

Sicherheit in einem Land, das man zu seiner<br />

Wahlheimat gemacht hatte, und von dem man<br />

kaum glauben konnte, dass es einen nun verriet.<br />

Diese Hoffnung wollte sich Jeanne Kosnick-Kloss,<br />

ebenso wie auch Lisa Fittko nicht nehmen lassen.<br />

Doch die Bitte von Jeanne Kosnick-Kloss wurde<br />

nicht erhört. Otto Freundlich blieb im Ilot 18, wie<br />

am Rand des Schreibens vermerkt ist. Von Gurs<br />

wurde er am 27. Februar 1943 nach Drancy verbracht.<br />

Im Lager Gurs hielt er sich, sofern er von<br />

Perpignan noch am selben Tag nach Gurs verlegt<br />

wurde, frühestens ab <strong>21</strong>. Februar auf. Es war eine<br />

knappe Woche, ein Aufschub, bevor man ihn verschleppte<br />

und ermordete.<br />

Ein letztes Dokument findet sich im Dossier<br />

über Freundlich in Pau. Es ist das Deckblatt einer<br />

abgestempelt am 18. März 1943. Diese wurde von<br />

der Präfektur dem Leiter des Lager Gurs für dessen<br />

Gebrauch geschickt. Sie enthielt das Schreiben<br />

Jeanne Kosnick-Kloss’ an den Präfekten und<br />

das Festnahmeprotokoll. Der Name Otto Freundlich<br />

war darauf handschriftlich vermerkt wie<br />

auch das Datum seiner Deportation aus Gurs und<br />

die lapidare Anordnung, was mit diesen Schriftstücken<br />

zu tun sei: »a classer«, für die Ablage. Zu<br />

diesem Zeitpunkt war Otto Freundlich seit mehr<br />

als einer Woche tot. Etwas mehr als zwei Wochen,<br />

nachdem man ihn in seinem Versteck verhaftet<br />

hatte, war er nach Tagen der Qualen eines Transportes<br />

über viele Tausend Kilometer in einem<br />

Vernichtungslager ermordet worden.<br />

Nur wenige Wochen später begann sich die<br />

Situation in der ehemals unbesetzten Zone zu<br />

ändern, in die Otto Freundlich drei Jahre zuvor<br />

geflohen war. Die allmählich sich abzeichnende<br />

Niederlage Deutschlands an der Front im Osten,<br />

insbesondere in Stalingrad, die Landung der<br />

Allierten in Nordafrika und die Einführung des<br />

verpflichtenden Arbeitsdienstes für junge Franzosen<br />

veränderten das Klima in der Bevölkerung<br />

wie auch in der für die Verfolgung zuständigen<br />

Polizei- und Gendarmerie. Vielleicht hätte in<br />

einer solchen Situation der Nachbar, der Otto<br />

Freundlich denunziert und ihn damit in den Tod<br />

geschickt hatte, es unterlassen. Wer weiß.<br />

Nachleben und Weiterleben der Idee<br />

»Wir haben eine Aufgabe. Unsere Aufgabe ist<br />

jetzt, aus dieser Falle zu entkommen«, hatte Lisa<br />

Fittko für sich beschlossen und hatte anderen<br />

geholfen, dass sie ihren Verfolgern entkamen<br />

und auf einen anderen Kontinent fliehen konnten.<br />

Otto Freundlich war dies nicht möglich<br />

gewesen. Seine Ehefrau trug seine Idee von Europa<br />

im Zeichen von Brüderlichkeit und Solidarität<br />

querenden Skulpturenstraße in den 1950er Jahren<br />

weiter. In Auvers-sur-Oise, dem Begräbnisort<br />

von Vincent van Gogh, sollten sich die beiden<br />

Straßen kreuzen. Dort sollte der »Leuchtturm der<br />

sieben Künste« entstehen, gedacht als eine Art<br />

Kunstzentrum und Gedenkstätte. Dass daraus<br />

schließlich viele Jahre später doch eine Europa<br />

durchziehende Straße der Skulpturen entstand,<br />

ist dem St. Wendeler Bildhauer Leo Kornbrust,<br />

seinen Bildhauerkolleginnen und -kollegen, Mitstreiterinnen<br />

und Mitstreitern zu verdanken.<br />

Als man in St. Wendel Bildhauersymposien veranstaltete,<br />

entdeckten die Künstler, dass die Idee<br />

einer europaweiten Skulpturenstraße bereits ein<br />

anderer viele Jahrzehnte zuvor entwickelt hatte:<br />

Der Bildhauer und Maler Otto Freundlich. Darauf<br />

verweist Leo Kornbrust: »Und da haben wir das<br />

Symposion sofort ihm gewidmet. Gedanken, die<br />

wir heute haben, hatte er schon ‘26 (sic!) gedacht.<br />

An dieser Idee ändert sich nichts.« So wurde<br />

Freundlichs Idee weitergetragen, ganz so wie er<br />

es einmal formuliert hatte: »Das Werk des Künstlers<br />

ist eine Summe konstruktiver Akte. Künstlerische<br />

Kultur war und ist immer dasselbe: Vorbereitung<br />

für die Zukunft.«<br />

Die Ironie im Leben Freundlichs liegt darin, dass<br />

er, der Grenzen überwinden wollte, an denen des<br />

Nationalismus und Rassismus gescheitert ist.<br />

Kunst bietet jedoch immer auch die Möglichkeit,<br />

dies zu ignorieren. Sie lässt der Utopie Raum. Sie<br />

feiert den Mythos unter Ausblendung der Realität.<br />

Kunst erweist sich dann als blinder Spiegel<br />

der Realität. Oder ist die Kunst doch ein Teleskop,<br />

mit dem man in eine ferne Zukunft schauen<br />

kann? Wie es um Freundlich und seine Idee<br />

bestellt ist, dass Kunst die Menschen und Länder<br />

zu verbinden vermag? Schaut man auf dessen<br />

von Verfolgung und Vernichtung geschundenes<br />

Künstlerleben, war ihm diese Idee ein Zeichen der<br />

Hoffnung.<br />

Mein besonderer Dank gilt Roland Paul für die<br />

Bereitstellung des Quellenmaterials aus den Archives<br />

Départementale Pau.


welt – bühne – traum<br />

Die Brücke im »Atelier«<br />

von kathrin elvers-svamberg<br />

Mit Ernst Ludwig Kirchners monumentaler<br />

Atelierszene Badende im Raum besitzt das Saarlandmuseum<br />

eines der Haupt- und Schlüsselwerke<br />

des deutschen Expressionismus. Thema<br />

des Bildes ist Kirchners Dresdner Wohnatelier der<br />

Jahre 1909–11. Hier ließ das Künstlerkollektiv der<br />

frühen »Brücke«-Jahre einen Kosmos erstehen,<br />

der sich als radikaler Gegenentwurf zu den konservativen<br />

Idealen der wilhelminisch geprägten<br />

Gesellschaft verstand.<br />

Die unkonventionelle Atmosphäre dieses Raumes,<br />

seine exotisierende Ausgestaltung, die<br />

hier zelebrierten Zusammenkünfte mit Modellen,<br />

Freund*innen und Sammler*innen wurden<br />

in zahllosen Gemälden, Zeichnungen und Fotografien<br />

verbildlicht. Das Atelier ist nicht nur<br />

Ort der ästhetischen Auseinandersetzung mit<br />

dem eigenen Werk, es ist zugleich ein Biotop, in<br />

dem die »Brücke« neue Lebensformen und neue<br />

Inhalte der Kunst zu verwirklichen suchte. Der<br />

Arbeitsraum wird zum »Gesamtkunstwerk« und<br />

zur Bühne für die Erschaffung einer von künstlerischer<br />

Energie durchwirkten Lebenswelt, die<br />

das Ideal eines ursprünglichen, »unverfälschten«<br />

Daseins propagiert.<br />

Zentrale Themen sind der nackte, von zivilisatorischen<br />

Zwängen befreite Körper und die<br />

Ernst Ludwig Kirchner,<br />

Badende im<br />

Raum, 1909–1910 /<br />

nach 1926.<br />

(Saarlandmuseum<br />

– Moderne Galerie<br />

Saarbrücken, Stiftung<br />

Saarländi scher<br />

Kulturbesitz<br />

Foto: André Mailänder,<br />

Stiftung Saarländischer<br />

Kulturbesitz)


Aneignung von Motiven der ozeanischen und<br />

afrikanischen Kunst. Damit einher geht die<br />

Inszenierung der vermeintlichen »Natürlichkeit«<br />

von Frauen, Kindern und People of Color. Die Ausstellung<br />

nimmt so nicht nur den Reichtum der<br />

künstlerischen Neuerungen der frühen »Brücke«-<br />

Jahre in den Blick, sie beleuchtet auch deren problematische<br />

Facetten: den fragwürdigen Umgang<br />

mit dem weiblichen und kindlichen Akt ebenso<br />

wie die Repräsentation außereuropäischer<br />

Menschenbilder vor dem Hintergrund der rassistischen<br />

Kategorien des kaiserzeitlichen<br />

Kolonialismus.<br />

Einen weiteren Schwerpunkt des Projekts bilden<br />

die maltechnische Analyse und konservatorische<br />

Sicherung von Badende im Raum. Voraussetzungen<br />

und Perspektiven der umfassenden<br />

Restaurierungsmaßnahme werden in einer eigenen<br />

Sektion der Ausstellung präsentiert.<br />

Die »Brücke«<br />

Am 7. Juni 1905 gründeten die Architekturstudenten<br />

Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich<br />

Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden die<br />

Künstlergruppe (KG) »Brücke«. 1906 trat Max<br />

Pechstein der Gemeinschaft bei. Kurzzeitig zählten<br />

ferner Emil Nolde und Kees van Dongen zum<br />

Kollektiv, in späteren Jahren u.a. auch Otto Mueller<br />

und Cuno Amiet. Im Jahr 1913 löste die »Brücke«<br />

sich auf.<br />

Der einprägsame Name der Gruppe erlaubte eine<br />

Vielzahl von Assoziationen und unterstrich den<br />

programmatischen Willen der jungen Künstler,<br />

die konservativen Normen des akademischen<br />

Kunstbetriebs zu überwinden und zu neuen<br />

Ufern aufzubrechen. In ihrem 1906 publizierten<br />

Manifest heißt es: »Mit dem Glauben an Entwicklung,<br />

an eine neue Generation der Schaffenden<br />

wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend<br />

zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt,<br />

wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen<br />

gegenüber den wohlangesessenen, älteren<br />

Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar<br />

und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen<br />

drängt.«<br />

Die »Brücke« war dabei nicht nur ein idealistischer<br />

Freundesbund, sondern zugleich ein strategisch<br />

agierender Interessenverband: Man organisierte<br />

und bestückte gemeinsam Ausstellungen,<br />

gab Publikationen heraus, warb neue Mitglieder<br />

(»aktive«, gleichgesinnte Künstler sowie »passive«,<br />

beitragszahlende Fördernde und Sammler*innen)<br />

und betrieb eine europaweite Vernetzung<br />

mit der progressiven Kunstszene jener<br />

Zeit.<br />

Lebensraum Atelier<br />

Die gemeinsame Arbeit im Atelier gehörte seit<br />

Gründung der »Brücke« zu den Fundamenten<br />

ihres künstlerischen Selbstverständnisses. Für<br />

die jungen Autodidakten war das Atelier ein<br />

Ort gemeinschaftlichen Erlebens und wechselseitiger<br />

Inspiration.<br />

Zur maßgeblichen Heimstatt ihres Schaffens<br />

wurde ab November 1909 Kirchners Wohnung im<br />

Erdgeschoss des Mietshauses Berliner Straße 80<br />

im Arbeiterbezirk Friedrichstadt. In diesen überschaubaren<br />

Räumlichkeiten kamen die Künstler<br />

mit ihren Modellen, Freund*innen und Partnerinnen<br />

zusammen, um in buchstäblich engem Miteinander<br />

die Entfremdung zwischen Kunst und<br />

Leben aufzuheben. Auch die Ausgestaltung des<br />

Ateliers und die hier ins Werk gesetzten Aktivitäten<br />

stehen für den antibürgerlichen Lebensentwurf<br />

und den kollektiv empfundenen Wunsch,<br />

das Ideal eines freien schöpferischen Tuns zu verwirklichen.<br />

Die Einrichtungen dieser besonderen Räume<br />

fertigten die Künstler nach eigenen Entwürfen:<br />

Möbel, Textilien und Hausrat wurden eigenhändig<br />

gezimmert, bemalt und geschnitzt. Dabei<br />

galten ihnen Artefakte aus außereuropäischen<br />

Kulturkreisen als wichtige und vorbildhafte<br />

Inspirationsquelle. Die Formensprache der ozeanischen<br />

oder afrikanischen »Naturvölker« beeinflusste<br />

die Gestaltung der Räume und Möbel<br />

ebenso wie die Zeugnisse der indischen oder<br />

japanischen Kunst. Insbesondere Darstellungen<br />

erotischen Inhalts faszinierten die »Brücke«-<br />

Ernst Ludwig Kirchner,<br />

Drei nackte Mädchen<br />

im Raum, 1909,<br />

(Privatsammlung,<br />

Dauerleihgabe an das<br />

Museum Pfalzgalerie<br />

Kaiserslautern [mpk]<br />

Foto: A. Kusch)


des utopischen Orts der Einheit von Natur und<br />

Mensch, die sie bei den »Naturvölkern« oder in<br />

der unbedarften Daseinsfreude des Kindes verwirklicht<br />

sahen. Als dieses Arkadien und zugleich<br />

als Quellpunkt ihrer Kunst inszenierten sie das<br />

Atelier in unzähligen Werken.<br />

Ernst Ludwig Kirchner,<br />

Akt auf blauem<br />

Grund, 1911, Buchheim.<br />

(Museum der<br />

Phantasie, Bernried<br />

am Starnberger See<br />

Foto: Nikolaus Steglich,<br />

Starnberg)<br />

Akteure: Archaische Liebespaare zierten Wandbehänge,<br />

Sitzgelegenheiten, Paravents oder<br />

Türrahmen und standen sinnfällig für die Gleichsetzung<br />

von sexueller und schöpferischer Energie<br />

an diesem Ort.<br />

So schufen die Künstler sich ein Interieur, in dem<br />

alle kulturellen Kräfte und Traditionen vertreten<br />

waren, auf die sie sich berufen wollten. Das Atelier<br />

war nicht nur Werkstatt, Refugium und Gesamtkunstwerk<br />

in einem, sondern auch ein Sinnbild<br />

Akt<br />

Der menschliche Körper galt den »Brücke«-<br />

Künstlern von Anbeginn als das grundlegende<br />

Thema aller bildenden Kunst. So kommen dem<br />

Aktstudium und der Bildgattung des Aktes<br />

in ihrem Schaffen besonderes Gewicht zu. In<br />

dem Bestreben, eine gesteigerte Vitalität und<br />

Unmittelbarkeit des Ausdrucks zu erreichen,<br />

lehnten sie indes die Arbeit mit herkömmlichen<br />

Berufsmodellen und deren Standardposen ab.<br />

Stattdessen beanspruchten sie ihre Freund*innen<br />

und Lebensgefährtinnen als Modelle.<br />

Ihr Interesse galt vor allem dem beiläufigen,<br />

absichtslosen Agieren der Dargestellten und<br />

ihrem ungezwungenen Miteinander. Aus diesem<br />

Grund arbeiteten die Künstler ab 1909 auch<br />

mit minderjährigen Modellen, deren kindlichursprüngliche<br />

Bewegungsfreude ihrer Programmatik<br />

am direktesten entsprach. Kunst und reales<br />

Leben sollten sich im Szenario des Wohnateliers<br />

verbinden – und hieraus neue Impulse für das<br />

kreative Schaffen entstehen. Auch das freizügige<br />

Verhalten der Maler selbst und ihre aktive Teilnahme<br />

an den Ereignissen im Atelier eröffnete<br />

der Praxis des Aktstudiums neue Perspektiven:<br />

Von der statischen, distanzierten Beobachtung<br />

eines posierenden Modells fand man nun zum<br />

bewegten, spontan erfassten (Gruppen-)Akt in<br />

szenischem Rahmen.<br />

Ausgangspunkt hierfür war der von den »Brücke«-Akteuren<br />

ab 1905 praktizierte »Viertelstundenakt«:<br />

Die Zeichnenden wechselten nach<br />

wenigen Minuten ihre Position oder ließen das<br />

Modell eine neue Haltung einnehmen, um die<br />

immer raschere und konzentriertere Wiedergabe<br />

der wesentlichen formalen Zusammenhänge zu<br />

trainieren. Beliebt war das Skizzieren etwa mit<br />

Zimmermannsbleistift, Rohrfeder oder Wachskreide<br />

– Zeichenmedien, welche das spontane<br />

Seherlebnis in expressiven Linien pointiert verdichten.<br />

Max Pechstein, Liegender Rückenakt, 1911.<br />

(Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren,<br />

© Pechstein / Hamburg-Tökendorf. Foto: Peter Hinschläger)


saargeschichte|n 43<br />

Das Atelier als Bühne<br />

Zu den markantesten Ausstattungselementen<br />

des »Brücke«-Ateliers zählte der in Batiktechnik<br />

gestaltete Medaillon-Vorhang, den Kirchner am<br />

Übergang von Vorraum und Hauptraum in der<br />

Berliner Straße 80 installiert hatte. Vorbild für<br />

die figürlichen Bildfelder waren erotische Darstellungen<br />

aus dem indischen Höhlentempel<br />

von Ajanta. Ein vergleichbares Textil fand sich<br />

auch in Heckels Arbeitsräumen jener Jahre. Als<br />

klassisches Bühnenrequisit ist der bemalte Vorhang<br />

ein direkter Verweis auf die Bedeutung<br />

des Ateliers als Bühne. Der Arbeitsraum war für<br />

die »Brücke«-Künstler immer auch ein Ort von<br />

Spiel, Schau und Darbietung – hier setzten sie<br />

ihren alternativen Lebens- und Kunstbegriff<br />

»in Szene«. Als begeisterte Besucher von Theater-<br />

und Varietéaufführungen faszinierte sie die<br />

Dynamik und Rhythmik des Bühnengeschehens.<br />

Insbesondere der freie, ekstatische Ausdruckstanz<br />

wirkte äußerst inspirierend auf ihr Schaffen<br />

– nicht zuletzt, weil sie mit Vorliebe auch Tänzerinnen<br />

als Modelle engagierten.<br />

Ihrer Ausbildung nach Architekten, waren die<br />

»Brücke«-Künstler gleichwohl Generalisten:<br />

Maler, Grafiker, Bildhauer, Fotografen, Kunsthandwerker,<br />

Raumgestalter… Umso weniger<br />

überrascht es, dass sie ihre ganzheitlich durchgestalteten<br />

Interieurs auch als szenischen Raum,<br />

als vitalen Bestandteil ihrer Kunstpraxis verstanden.<br />

Die im Grunde sehr schlichte Architektur<br />

von Kirchners enger Parterrewohnung<br />

erscheint stets untrennbar verwoben mit dem<br />

extravaganten Mobiliar, den figürlichen Wandbildern,<br />

Spiegeln, Gemälden und »Exotika«. Als<br />

stimmungsgeladenes »Environment« tritt der<br />

Raum so in Dialog mit den Bildfiguren. In vielen<br />

Werken verschwimmen dabei die Realitätsgrenzen:<br />

Den seltsam belebten Möbeln und Dekorationen<br />

wächst scheinbar eine magisch-rituelle<br />

Dimension zu. Gleich Idolen oder Fetischen treten<br />

sie als Gegenspieler der dargestellten Modelle<br />

auf. Und auch die Modelle legen auf dieser<br />

Bühne ihre klassische passive Rolle ab und interagieren<br />

aktiv mit den Malern. Dabei scheinen<br />

die Gezeigten sich ihrer Bedeutung und Funk-<br />

dittgen<br />

Wegbereiter<br />

seit 1897.<br />

dittgen Bauunternehmen GmbH<br />

Saarbrücker Straße 99 | D-66839 Schmelz | Telefon 06887/307-0 | www.dittgen.de<br />

Telefax 06887/307-199


Max Pechstein, Inder<br />

und Frauenakt, 1910.<br />

(Sammlung Hinterfeldt<br />

© Pechstein /<br />

Hamburg-Tökendorf)<br />

Erich Heckel, Sitzender<br />

junger Mann,<br />

um 1910, Saarlandmuseum<br />

– Moderne<br />

Galerie Saarbrücken.<br />

(Stiftung Saarländischer<br />

Kulturbesitz,<br />

Foto: Raphael<br />

Maaß / Stiftung Saarländischer<br />

Kulturbesitz,<br />

© VG Bild-<br />

Kunst, Bonn 2020)<br />

tion als »Darsteller« bewusst, sie posieren, tanzen<br />

oder »thronen« und richten ihren bildauswärts<br />

gewandten Blick nicht selten direkt auf die<br />

Betrachter*innen.<br />

»Völkerschauen«<br />

Seit den 1870er Jahren fanden in zahlreichen<br />

Städten Europas sogenannte »Völkerschauen«<br />

statt. Vielfach von Zoo-Mogulen wie Carl Hagenbeck<br />

oder den Gebrüdern Marquardt organisiert,<br />

stellten diese Darbietungen Menschen aus<br />

außereuropäischen Kulturkreisen in zoologischen<br />

Gärten zur Schau. In umzäunten Arealen hatten<br />

sie über mehrere Wochen hinweg<br />

einem zahlenden Publikum<br />

»authentische« Bräuche, Jagdszenen,<br />

kultische Tänze oder<br />

handwerkliche Aktivitäten ihrer<br />

Heimat vorzuführen. Vor Ort<br />

gefertigte Artefakte wurden oft<br />

in angeschlossenen Bazaren feilgeboten.<br />

Diese Menschenzoos, wenngleich<br />

von ihren Veranstaltern<br />

als »Bildungserlebnis« tituliert,<br />

waren zu keiner Zeit darauf ausgelegt,<br />

ein adäquates Bild von<br />

der Lebenswirklichkeit und den<br />

Traditionen der kolonialisierten<br />

Bevölkerung Afrikas oder Ozeaniens<br />

zu zeichnen. Vielmehr<br />

reproduzierten diese Schaustellungen<br />

zuweilen geraubter oder mit falschen<br />

Versprechungen nach Europa gelockter Menschen<br />

ein von Klischees, Ignoranz und Vorurteilen<br />

durchzogenes Bild von den »Exoten«. Im Vordergrund<br />

stand das unterhaltsame Spektakel für ein<br />

westliches Massenpublikum, stand die Schaffung<br />

von Fantasiebildern des »Fremden« und »Primitiven«.<br />

Zumal im Lichte der kolonialpolitischen<br />

Propaganda des Kaiserreichs waren diese Projektionen<br />

grundlegend rassistisch geprägt.<br />

In Dresden war im Frühjahr 1909 die Schau Das<br />

Sudanesendorf zu sehen und im Folgejahr ( –<br />

teilweise unter Mitwirkung derselben »Darsteller*innen«<br />

– ) Das afrikanische Dorf. Neue<br />

Sittenbilder aus Afrika, darunter ein Hochzeitsfest<br />

in Zentralafrika. Kirchner besuchte diese Darbietungen<br />

und skizzierte vor Ort.<br />

Auch Zirkusunternehmen wie der Dresdner Cirkus<br />

Sarrasani ermöglichten zu jener Zeit die<br />

Begegnung mit dem »Fremden«. Der Truppe des<br />

Cirkus Schumann, der 1909 und 1910 in Dresden<br />

gastierte, gehörten die Schwarzen Artisten Sam,<br />

Milly und Nelly an, die Kirchner und Heckel in privatem<br />

Kontakt als Modelle gewannen und die sie<br />

in ihren Ateliers prominent inszenierten.<br />

Exotismen<br />

Auf der Suche nach neuen Ausdrucksdimensionen<br />

wandten sich die »Brücke«-Künstler<br />

ab etwa 1909 verstärkt den Zeugnissen und<br />

Lebensweisen außereuropäischer Völker und<br />

Kulturen zu. Anschauungsmaterial boten die<br />

ethnologischen Sammlungen der großen Völkerkundemuseen<br />

in Dresden und Berlin. Gegründet<br />

in engem Zusammenhang mit den Kolonialinteressen<br />

Deutschlands, fanden diese dicht


estückten Häuser ebenso großen Zuspruch wie<br />

die auflagenstarken ethnographischen Fachzeitschriften<br />

jener Jahre (die auch die »Brücke« studierte).<br />

In der Begegnung mit den Kunstäußerungen der<br />

indigenen Völker bestaunte das europäische Publikum<br />

jenes »Fremde« und »Wilde«, in dem sich<br />

der vermeintliche »Urzustand« des Menschen<br />

manifestierte. Mit den ästhetischen Normen<br />

eines zivilisierten Abendlandes war die Kunst<br />

der »Primitiven« offensichtlich nicht kompatibel.<br />

Gerade deshalb begeisterten sich die »Brücke«-Akteure<br />

für Formwesen und Bildwelten<br />

dieser fernen Kulturen: In ihren Augen verkörperten<br />

sie jene »Ursprünglichkeit« und jenen<br />

Ausdruck anarchischer Vitalität und Naturverbundenheit,<br />

den sie in ihrem eigenen Schaffen zu<br />

erreichen suchten. Entstehungszusammenhang,<br />

Bedeutung und kulturelle Einbettung der fremden<br />

»Exotika« spielten für die Betrachter*innen<br />

jener Epoche jedoch kaum eine Rolle. Auch in den<br />

Kunst- und Lebenswelten des »Brücke«-Ateliers<br />

treffen wir auf eine unreflektierte Aneignung<br />

der unterschiedlichsten völkerkundlichen Eindrücke<br />

und Objekte. Diese inspirierten zum einen<br />

die Formgebung der selbstgeschnitzten und<br />

-gemalten Ausstattung, bewirkten zum anderen<br />

aber auch markante Veränderungen in Stil und<br />

Figurenauffassung der Künstler.<br />

Ebenso nährt die Begegnung mit dem idealisierten<br />

»Fremden« das Verlangen nach zwanglosen,<br />

enthemmten Lebensformen in der Ateliergemeinschaft.<br />

Die Arbeit mit den Schwarzen<br />

Modellen Milly, Nelly und Sam ist fraglos auch<br />

vor dieser Folie zu sehen. Das »fremde« Leben<br />

kannte auch die »Brücke« nur aus Zirkus und<br />

Völkerschau – und auch ihr Schaffen trug unausweichlich<br />

zur Weiterverbreitung ethnischer und<br />

rassistischer Stereotype bei.<br />

Die nachträgliche Übermalung birgt indes tiefgreifende<br />

konservatorische Probleme. Kirchner<br />

hatte im Zuge der Überarbeitung nicht nur auf<br />

der Vorderseite zusätzlich Farbe aufgebracht,<br />

sondern auch die Rückseite der Leinwand<br />

angestrichen. Hierdurch ist zusammen mit der<br />

vorderseitigen Grundierung und den mehreren<br />

Malschichten der Darstellung ein vielschichtiges,<br />

schwer zu behandelndes und zu sicherndes<br />

Materialgefüge entstanden. Die genauere Untersuchung<br />

der beiden sich überlagernden Fassungen<br />

und die Festigung der Farbschichten<br />

stellt schon länger ein wichtiges Forschungsvorhaben<br />

dar, dessen Umsetzung im Rahmen dieser<br />

Sonderschau in Angriff genommen wurde.<br />

Ernst Ludwig Kirchner,<br />

Akt auf Hocker<br />

(Kamerun) – Kauernde<br />

Dodo, ca. 1910.<br />

(Galerie Ludorff,<br />

Düsseldorf. Foto:<br />

Achim Kukulies,<br />

Düsseldorf)<br />

Badende im Raum unter die Lupe genommen<br />

Ernst Ludwig Kirchners 1960 für die Sammlung<br />

des Saarlandmuseums erworbene Gemälde<br />

Badende im Raum (1909–10/nach 1926) gewährt<br />

intimen Einblick in den Kosmos der frühen »Brücke«-Ateliers.<br />

Zugleich steht es exemplarisch<br />

für die – auch konservatorisch relevante – Problematik<br />

der nachträglichen Umgestaltung von<br />

Schlüsselwerken durch den Künstler.<br />

Ursprünglich 1909–10 in Dresden gemalt, ist das<br />

Gemälde in seiner heutigen Fassung wie viele von<br />

Kirchners Vorkriegsbildern Ergebnis einer großflächigen<br />

Überarbeitung aus den 1920er Jahren.<br />

Bisherige Untersuchungen zeigen, dass die erste<br />

Fassung noch an zahlreichen Stellen sichtbar ist.<br />

Badende im Raum unter die Lupe genommen erhellt zum einen<br />

die komplexe Entstehungsgeschichte des Kunstwerks. Andererseits<br />

vermittelt die Präsentation einen Einblick in die Methoden<br />

und Grundlagen der konservatorischen Untersuchung<br />

und zeigt Perspektiven seiner weiteren Bearbeitung auf. Die<br />

Besucher*innen sind eingeladen, in Ernst Ludwig Kirchners<br />

wechselnde Lebens- und Bildwelten einzutauchen. Zugleich<br />

gewährt das Projekt erstmals einen umfassenden Blick hinter<br />

die Kulissen der Restaurierungswerkstatt und stellt die Arbeit<br />

der Restauratorinnen am Saarlandmuseum vor.


ein seltenes fundensemble<br />

Die Filterzisterne der Liebenburg nebst Einlaufstein<br />

von christel bernard<br />

Blick in den Zisternenschacht<br />

während<br />

der Freilegung. (Foto<br />

Landesdenkmalamt<br />

Saarland)<br />

Als 1972–74 Freilegungsarbeiten auf der Ruine<br />

der Liebenburg erfolgten, fand man nicht allein<br />

Überreste verschiedener Baulichkeiten, sondern<br />

man stieß auch auf relativ gut erhaltene<br />

Relikte der einstigen Wasserbevorratung, deren<br />

ausgefeilte technische Details auf Burgen oft<br />

im Verborgenen bleiben. Dabei war es von entscheidender<br />

Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit<br />

einer solchen Anlage, auch in Notzeiten<br />

über Trinkwasser zu verfügen.<br />

Der tägliche Wasserbedarf einer Burg sollte nicht<br />

unterschätzt werden; er wurde nicht allein durch<br />

die Menschen, sondern vor allem die Nutztiere<br />

innerhalb der Befestigung bestimmt. Während<br />

man in Friedenszeiten mit Eseln oder Pferden täglich<br />

frisches Wasser zur Burg transportierte, entfiel<br />

diese Versorgungsmöglichkeit etwa im Falle<br />

einer Belagerung. Gab es keine Quelle und keinen<br />

Brunnen innerhalb einer Burg, boten sich Zisternen<br />

als Reservoir an, und zwar entweder in Form<br />

einfacher Tankzisternen oder als Filterzisternen.<br />

Meistens hieb man für diese Wasserspeicher Gruben<br />

aus, die mit einer Tonschicht abgedichtet und<br />

zusätzlich mit Steinplatten ausgekleidet wurden.<br />

Wenn jedoch der Untergrund die Eintiefung einer<br />

genügend großen Grube nicht zuließ, legte man<br />

das Reservoir teilweise oberirdisch an. Auch auf<br />

der Liebenburg entschied man sich für eine teilweise<br />

obertägige Anlage der Zisterne, indem man<br />

die Filterzisterne nur partiell im anstehenden<br />

Fels eintiefte, einem Trachyandesit (Tholeyit),<br />

der sich schlecht bearbeiten ließ. 1 Das darüberhinaus<br />

notwendige Fassungsvermögen stellte<br />

man durch eine Aufmauerung her. Im Bericht der<br />

Staatlichen Denkmalpflege von 1975 findet man<br />

folgende kurze Beschreibung des Befunds: »Die<br />

völlig verschüttete Turmruine wurde freigelegt<br />

und ausgeräumt. Es war ein Rundturm mit sorgfältiger<br />

Sandsteinquaderung, in den in späterer<br />

Zeit ein Brunnen eingebaut worden war. Da die<br />

Liebenburg nach den archivalischen Unterlagen<br />

zu keiner Zeit einen Brunnen mit Grundwasser<br />

hatte, ist es wahrscheinlich, daß der untere Teil<br />

des Kellers zumindest zeitweilig als Zisterne verwendet<br />

worden ist.« 2 Heute steht die damalige<br />

Interpretation der vorgefundenen Mauern als<br />

Turmrest infrage; Achim Zeune spricht den Baubefund<br />

als »niedrigen Zisternenrundbau (1976/77<br />

zu einem Aussichtsturm aufgebaut)« an. 3<br />

Fotografien, die während der Freilegung aufgenommen<br />

wurden, lassen einige Rückschlüsse<br />

auf den Befund zu. Sie zeigen im unteren Bereich<br />

eine Mauerschale aus sorgfältig gearbeiteten<br />

Glattquadern, von denen mindestens fünf Lagen<br />

1 Mitteilung des Mineralogen Gerhard Müller: »So sehr<br />

auch das Gestein zersetzt werden kann, so ist es, falls<br />

noch frisch angetroffen, sehr zäh und ausgesprochen<br />

schlecht zu bearbeiten, vor allem wenn es noch im Verband<br />

eingespannt ist.«<br />

2 22. Bericht der Staatlichen Denkmalpflege im Saarland<br />

1975, 15.<br />

3 Achim Zeune, Die Baugeschichte der Liebenburg. Infotafel<br />

auf der Burgruine, Stand 2020.


saargeschichte|n 47<br />

zu erkennen sind, während oberhalb davon Bruchsteinmauerwerk<br />

folgt (Abb. 1). Der zylindrisch<br />

aufgemauerte Schöpfschacht – 1975 als Brunnen<br />

bezeichnet – besteht ebenfalls aus Glattquadern<br />

mit konkaver Innenseite, deren Außenseiten grob<br />

gebrochen sind. 4 Den größten Anteil des Raumvolumens<br />

hatte ursprünglich ein Filterkörper eingenommen;<br />

ob er zum Zeitpunkt der Freilegung<br />

noch vorhanden war, ist unbekannt. Üblicherweise<br />

bestand er aus Sand und Schotter und<br />

wurde an der Oberfläche durch einen Belag,<br />

häufig aus Steinplatten, gegen Verschmutzung<br />

abgedeckt (Abb. 2). Niederschlagswasser wurde<br />

wahrscheinlich vom Dach des unmittelbar<br />

anschließenden großen Gebäudes 5 sowie den<br />

Dachflächen benachbarter Bauten durch Rinnen<br />

und Röhren zu dem Einlaufstein auf dem Filterkörper<br />

geleitet. Das eingeleitete Wasser durchsickerte<br />

zunächst diesen Filter, bevor es sich am<br />

Grund der Zisterne sammelte. Solch ein Filter<br />

funktionierte dabei nicht nur mechanisch, indem<br />

er Partikel aussiebte: Durch die Mikroorganismen,<br />

die ihn besiedelten, hatte er auch eine biologisch<br />

reinigende Wirkung, die im Zersetzen und Binden<br />

verschiedener Inhaltsstoffe des Wassers bestand.<br />

Den Vorteil der Filterzisterne gegenüber der einfachen<br />

Tankzisterne beschrieb ein unbekannter<br />

Verfasser 1567: »[…] mit sand dadurch sich das<br />

4 Leider blieb unbeobachtet, ob die Anlage mehrere Bauphasen<br />

aufwies und in welchem Umfang die Filterzisterne<br />

zu Beginn der damaligen Freilegung noch intakt war.<br />

Eine Abdichtung der Wände ist auf den Fotografien nicht<br />

erkennbar.<br />

5 Zeune a. a. O.: Bau über dem großen Keller.<br />

wasser reinigt und purgirt<br />

angefüllt […] und bleibt das<br />

wasser frisch und gut darinnen.«<br />

6 Das gereinigte Wasser<br />

konnte anschließend<br />

aus dem zentralen Schacht<br />

geschöpft werden.<br />

Auf der Liebenburg barg man<br />

zudem einen durchbohrten<br />

Werkstein, bei dem es sich<br />

zweifellos um den Einlaufstein<br />

der oben genannten<br />

Filterzisterne handelt (Abb.<br />

3–5). Dieser Sandstein ist in<br />

Form eines runden Beckens<br />

auf einem kurzen achteckigen<br />

Sockel gearbeitet<br />

und insgesamt 40 cm hoch,<br />

wobei das Becken etwa die<br />

Hälfte der Höhe einnimmt.<br />

Sein Rand hat ca. 49 cm Durchmesser. Eine quadratische<br />

Aussparung mit ca. 16 cm Seitenlänge<br />

und 2 cm Tiefe auf dem Grund des Beckens<br />

weist Rostspuren auf; sie zeugen von einem ehemals<br />

eingelegten, eisernen Gitter oberhalb der<br />

7,5 cm weiten Abflussöffnung, das grobe Partikel<br />

zurückhalten sollte. Der<br />

sorgfältig<br />

geglättete, achteckige Sockel trägt noch geringe<br />

Reste einer Kalktünche; demnach war der Stein<br />

vermutlich so aufgestellt, dass er in Gänze sichtbar<br />

blieb.<br />

6 Tiroler Landesarchiv Innsbruck, Auszug aus einem Schreiben<br />

vom 20.6.1567 an Erzherzog Ferdinand II., Transkription<br />

der Deutschen Burgenvereinigung, Mappe Hohkönigsburg,<br />

zitiert nach René Kill 2012, <strong>21</strong>9.<br />

Filterzisterne<br />

der Liebenburg,<br />

Rekonstruktionsvorschlag<br />

zur Funktionsweise.<br />

In welcher Art<br />

der Boden und die<br />

Wände abgedichtet<br />

waren und wie<br />

das aufgehende<br />

Zisternengebäude<br />

gestaltet war, ist<br />

nicht bekannt.<br />

Der Einlaufstein der<br />

Filterzisterne besteht<br />

aus einem Becken auf<br />

achteckigem Sockel.<br />

Auf dem Beckengrund<br />

war ein Gitter eingelegt.


Der Einlaufstein der<br />

Filterzisterne.<br />

Zeichnung des Einlaufsteins<br />

als Schnitt<br />

und Draufsicht. Höhe<br />

40 cm, oberer Durchmesser<br />

49 cm, Durchmesser<br />

der Durchbohrung<br />

7,5 cm (Abb.<br />

2–5 Bernard)<br />

Filterzisternen<br />

legte man<br />

ab dem Hochmittelalter<br />

auf Burgen<br />

im deutschsprachigen Raum an. Außer in der<br />

Schweiz, Deutschland, Österreich und Südtirol<br />

kommen sie im Elsass und einem Teil Lothringens<br />

vor, das nach dem derzeitigen Forschungsstand<br />

bis auf wenige Ausnahmen die westliche Grenze<br />

des Verbreitungsgebiets darstellt. Ihre Häufigkeit<br />

innerhalb des o.g. Raums ist recht unterschiedlich,<br />

wobei zwei Regionen mit zahlreichen<br />

Filterzisternen hervorzuheben sind: ein Teil der<br />

nördlichen Schweiz und das Elsass mit einer Ausdehnung<br />

bis in die angrenzende Pfalz. René Kill<br />

dokumentierte in seiner umfassenden Untersuchung<br />

auf 45 Burgen im Osten Frankreichs<br />

insgesamt 54 Filterzisternen. 7 Die meisten dieser<br />

Burgen liegen in den Nordvogesen zwischen<br />

Saverne und dem Pfälzer Bergland. Auf weitere<br />

neun ehemalige Filterzisternen konnte er nur<br />

indirekt aufgrund des Vorhandenseins von Elementen<br />

zur Wassereinleitung schließen. Einlaufsteine<br />

sowie die zuleitenden Rinnen und Röhren<br />

sind selten überliefert, was höchstwahrscheinlich<br />

darin begründet ist, dass diese Objekte später<br />

an anderer Stelle weiter verwendet wurden.<br />

Dementsprechend lückenhaft ist der Forschungsstand.<br />

Die Recherche nach vergleichbaren Fundobjekten<br />

von Filterzisternen anderer Burgen<br />

in Deutschland erbrachte einen rechteckigen<br />

Zulaufstein der Zisterne von Burg Rheingrafenstein<br />

und einen achteckigen Stein der Zisterne der<br />

Kyrburg, beide an der Nahe gelegen, einen rechteckigen<br />

Einlaufstein auf Burg Nanstein in der<br />

Westpfalz sowie den Fund eines Einlaufsteins in<br />

Form eines runden Beckens von der Zisterne der<br />

Burg Wildenberg im Odenwald. 8<br />

Vor diesem Hintergrund hat der Einlaufstein von<br />

der Liebenburg einen besonderen wissenschaftlichen<br />

Wert für die Burgenforschung, soweit es<br />

die Wasserversorgung betrifft. Aufgrund seiner<br />

schwachen Bindigkeit erleidet der Sandstein<br />

einen kontinuierlichen Substanzverlust. Hoffentlich<br />

gelingt es, ihn durch eine Konservierung vor<br />

dem weiteren Zerfall zu bewahren und für die<br />

Nachwelt zu retten.<br />

Literatur:<br />

Frontinus-Gesellschaft [Hg.]: Wasser auf Burgen im Mittelalter.<br />

Geschichte der Wasserversorgung 7, Mainz 2007.<br />

G. Ulrich Grossmann: Gewöhnliche und ungewöhnliche<br />

Wege zur Wasserversorgung von Burgen. Mitteilungen<br />

der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters<br />

und der Neuzeit, Bd. <strong>21</strong>. Paderborn 2009. Online: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/mitt-dgamn/article/<br />

view/17304 [Abruf vom 11.1.20<strong>21</strong>]<br />

Nina Günster: Von Brunnen, Eseln und anderem: Wasserversorgung<br />

auf Höhenbugen am Beispiel des Karstgebietes<br />

Nördliche Frankenalb. Veröffentlichungen der Deutschen<br />

Burgenvereinigung, Reihe A: Forschungen, Band 16, Braubach<br />

2013.<br />

René Kill: L‘approvisionnement en eau des châteaux forts<br />

de montagne alsaciens. Publications du Centre de Recherches<br />

Archéologiques Médiévales de Saverne, Saverne 2012.<br />

7 Kill 2012, 184–185.<br />

8 Mein Dank für freundliche Mitteilungen zum Thema gilt<br />

Reinhard Friedrich, Klaus Grewe, Holger Groenwald, René<br />

Kill, Stefan Köhl, Gerhard Müller, Stefan Ulrich, Uwe Welz<br />

und Achim Zeune.


saar-dank- und saar-befreiungskirche<br />

saargeschichte|n 49<br />

Die evangelische Saarpfalz im Umbruch des Jahres 1935<br />

von bernhard h. bonkhoff<br />

Nur noch eine kleine Minderheit in der<br />

Bevölkerung in Homburg, Bexbach oder St. Ingbert<br />

weiß, dass die evangelischen Christen im<br />

Saarpfalzkreis Glieder der Evangelischen Kirche<br />

der Pfalz sind. Man fühlt sich nicht als Pfälzer,<br />

sondern als Saarländer, und Speyer ist weit. Dass<br />

dies so ist, hat historische Gründe. Beide Kirchen,<br />

die protestantische und die katholische, haben<br />

sich nach 1919 und nach 1945 nicht angepasst,<br />

als Frankreich ein Saargebiet bzw. ein Saarland<br />

einrichtete. 1 Und darum gehört die Saarpfalz<br />

weiterhin zur Pfälzischen Landeskirche bzw. zum<br />

Bistum Speyer. Hier gelten weiterhin die im Wiener<br />

Kongress 1814/15 festgelegten Grenzen. Und<br />

damit es noch komplizierter wird: Der Homburger<br />

Stadtteil Einöd gehört zum Dekanat Zweibrücken,<br />

ebenso der gesamte Bliesgau bis St. Ingbert.<br />

Aber die St. Ingberter Stadtteile Hassel und<br />

Rohrbach (auch Niederwürzbach) gehören zum<br />

Dekanat Homburg. Der Zweibrücker Stadtteil<br />

Mörsbach gehört kirchlich ebenfalls nach Homburg.<br />

Die Hälfte des Dekanats Homburg liegt in<br />

der Pfalz, bis nach Breitenbach, Miesenbach und<br />

Kindsbach, von Landstuhl bis Kirchenarnbach,<br />

Wiesbach und Großbundenbach. Warum: Folgen<br />

der bayerischen Verwaltungsgrenzen von 1816.<br />

Und der (große) Rest des Saarlandes gehört zur<br />

Ev. Kirche im Rheinland bzw. zum Bistum Trier.<br />

schen und zur pfälzischen Republik führte und<br />

der 1924 mit der Erstürmung des Bezirksamts Pirmasens<br />

blutig niedergeschlagen und deren Präsident<br />

Franz Josef Heinz gen. Heinz-Orbis (1884-<br />

1924) in Speyer ermordet wurde.<br />

Bereits im Mai 1919 bestellte General Charles<br />

Mangin Pfarrer Hermann Risch 3 aus St. Ingbert<br />

und den Homburger Dekan Ernst D‘ Alleux<br />

4 (genannt »Alex«) nach Saarbrücken ein,<br />

zusammen mit Stadtpfarrer Hermann Jung, und<br />

winkte mit Ämtern und Titeln in der geplanten Ev.<br />

Kirche an der Saar. Der Limbacher Pfarrer Ziegler 5<br />

sollte sogar saarländischer Kultusminister werden.<br />

Aber die drei Saarpfarrer blieben standhaft<br />

und erklärten, man müsse mit der Bildung einer<br />

eigenen Saarkirche bis zur im Versailler Vertrag<br />

für 1935 angesetzten Saar-Abstimmung warten.<br />

Als Pensionär hat 1935 Ernst d‘Alleux diese Verhandlungen<br />

6 veröffentlicht. Sein Bericht endet:<br />

»Nun sind wir frei. Am 13. Januar 1935 hat die<br />

Befreiungsstunde geschlagen. Nun haben wir<br />

wieder einen Präsidenten. Das ist kein Ausländer,<br />

es ist unser herrlicher Führer und Reichskanzler<br />

Adolf Hitler. […] Es gibt im Saargebiet evangelische<br />

Gemeinden, die den höchsten Hundertsatz<br />

deutscher Stimmen aufgebracht haben. [...] Da<br />

ist keiner zurückgeblieben, auch nicht einer.« 7<br />

Vortrag vor dem<br />

Historischen Verein<br />

Homburg und der<br />

Volkshochschule<br />

Homburg am 18.<br />

Oktober 2017 im<br />

Siebenpfeiffer-Haus<br />

Homburg, ergänzt<br />

um den kritischen<br />

Apparat.<br />

Französische Separatismusversuche<br />

Zweimal hat Frankreich versucht, eine Ev. Kirche<br />

an der Saar und ein Saar-Bistum einzurichten. 2<br />

Der Versuch war Bestandteil der Neutralisierung<br />

des linken Rheinufers, denn der Rhein sollte die<br />

neue Ostgrenze Frankreichs werden. Das war ein<br />

Stück französischer Separatismus, der zur rheini-<br />

1 Vgl. Bernhard H. Bonkhoff, Geschichte der Vereinigten<br />

Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz<br />

1918–1978, St. Ingbert 2016.<br />

2 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 3 f. und S. 177.<br />

3 Vgl. Georg Biundo, Die evangelischen Geistlichen der Pfalz<br />

seit der Reformation, Neustadt / Aisch 1968, Nr. 4370.<br />

4 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 58.<br />

5 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 6092.<br />

6 Vgl. Ernst d’Alleux, Die »Saarpfalz«, ihre Herkunft, Entstehung<br />

und das nationale Ringen ihrer evangelischen Gemeinden,<br />

in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte 11<br />

(1935), S. 1–13.<br />

7 Ebd., S. 1.


von Dekan d‘Alleux, Theodor Risch 11 , war von<br />

1926 bis 1940 protestantischer Pfarrer von Blieskastel.<br />

Am Turm seiner Kirche hing noch beim<br />

Einmarsch der Amerikaner ein übergroßes, mit<br />

Glühbirnen besetztes Hakenkreuz, wie die Kirche<br />

in Beeden und in Rohrbach ein eindeutiges<br />

Bekenntnis des pfälzischen und saarpfälzischen<br />

Protestantismus zum Nationalsozialismus. Aber<br />

im Städtchen fand sich keine ausreichend lange<br />

Leiter und wohl auch kein mutiger Mann, der dieses<br />

nun peinlich gewordene Bekenntniszeichen<br />

abmontiert hätte. Es war dann ein amerikanischer<br />

Soldat, der hinaufstieg und das beleuchtbare<br />

Hakenkreuz als Souvenir mit in die US-<br />

Staaten nahm. 12 Aber wir haben ein Foto des<br />

politischen Bekenntnisses am ev. Kirchturm von<br />

Blieskastel. 13<br />

Grundsteinlegung der<br />

Saar-Dank-Kirche in<br />

Rohrbach: Hinter dem<br />

Rundfunkmikrophon<br />

Ortspfarrer Heinrich<br />

Oberlinger, mit dem<br />

Amtskreuz Landesbischof<br />

Ludwig Diehl<br />

(Sammlung Bonkhoff).<br />

Landesbischof Ludwig<br />

Diehl (rechts) und<br />

Ortspfarrer Heinrich<br />

Oberlinger (links) bei<br />

der Grundsteinlegung<br />

(Sammlung Bonkhoff).<br />

Rechts: Die Saar-<br />

Dank-Kirche nach<br />

Vollendung (Abb.:<br />

Jörg Rauber)<br />

Und weiter: »Mimbach, die Bliesgemeinde, hatte<br />

restlos für Deutschland gestimmt.« 8<br />

Aber 1935 wurde politisch der alte Zustand nicht<br />

wieder hergestellt, dass der pfälzische Teil des<br />

Saargebietes zur Pfalz, dem achten Regierungsbezirk<br />

des Freistaats Bayern, und der Westteil des<br />

Landes zur preußischen Rheinprovinz zurückgegliedert<br />

worden wäre, denn mit dem »Heim<br />

ins Reich« kam nicht nur das Deutsche Reich, sondern<br />

ebenso der Nationalsozialismus des Gauleiters<br />

Josef Bürckel – wegen seiner Trinkfestigkeit<br />

»Bierleiter Gaukel« genannt – und die braune<br />

pfälzische Beamtenschaft überfluteten das<br />

Land der Saar-Befreiung. Hier hat das bis heute<br />

bekannte Sprichwort: »Uff die Bääm, die Pälzer<br />

kumme!« seinen Sitz im Leben. Und hier, im Saarpfalzkreis,<br />

kam es zu zwei politisch motivierten<br />

Kirchenneubauten: 1935 die »Saar-Befreiungskirche«<br />

in Beeden 9 und 1937 die »Saar-Dank-Kirche«<br />

in Rohrbach 10 , deren Baugenehmigung die<br />

Unterschrift Hitlers trägt. Der Schwiegersohn<br />

8 Ebd., S. 12.<br />

9 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 415 f.; ders., Die<br />

Kirchen im Saar-Pfalz-Kreis, Saarbrücken 1987, S. 56–58.<br />

10 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 416; ders., Kirchen<br />

[wie Anm. 10], S. <strong>21</strong>5 f.<br />

11 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 4373.<br />

12 Private Niederschrift des von 1947–1965 in Blieskastel als<br />

Pfarrer tätigen Werner Ernst Linz, vgl. Biundo, Die evangelischen<br />

Geistlichen [wie Anm. 4], Nr. 3166.<br />

13 Vom Verfasser 2015 entdeckt. Das Stadtarchiv Blieskastel<br />

erhielt einen Abzug.


saargeschichte|n 51<br />

Was sind die Ursachen für diese einseitige politische<br />

Orientierung des pfälzischen und speziell<br />

des saarpfälzischen Protestantismus?<br />

Die drängende Soziale Frage<br />

Erste und wichtigste Ursache hierfür ist die<br />

Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts. 14 Bergleute<br />

und Hüttenarbeiter hatten gefährliche, schwere<br />

Berufe. In den Schlafhäusern und Gasthäusern<br />

wurde Politik gemacht. Carl Ferdinand Freiherr<br />

von Stumm-Halberg, der »Scheich von Saarabien«,<br />

war bewusst und entschieden evangelisch<br />

und suchte auf seine Art die Soziale Frage zu lösen,<br />

indem er tief in das Privatleben seiner Arbeiter<br />

eingriff, zum Beispiel Eheschließungen vor dem<br />

24. Lebensjahr und Mischehen verbot. Die evangelischen<br />

Pfarrer der Industriegemeinden der<br />

Saargegend und der Westpfalz sammelten sich<br />

zur preußisch-pfälzischen Pastoralkonferenz,<br />

deren Zeitschrift »Der Arbeiterbote« in Homburg<br />

gedruckt wurde. 15 Die Innere Mission,<br />

getragen von den Stadtmissionen, entfaltete<br />

ihre Tätigkeit, zusammen mit den Speyerer und<br />

den Kreuznacher Diakonissen. Der Stellvertreter<br />

von Gauleiter Bürckel, »Landeshauptmann«<br />

Ernst Leyser (1896–1973) 16 ist aus der Homburger<br />

Stadtmission hervorgegangen. In den 1960er<br />

Jahren war er in Bergzabern wieder Presbyter<br />

und Bezirkssynodaler und bald auch Mitglied der<br />

pfälzischen Landessynode.<br />

Seit den 1830er Jahren war die protestantische<br />

Kirche Deutschlands im Innern deutlich geteilt<br />

zwischen links und rechts, zwischen liberal und<br />

konservativ, großbürgerlich und althergebracht<br />

(die sog. »Positive Union«). Das Engagement für<br />

die kleinen Leute, die Mühseligen und Beladenen,<br />

14 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 171–183.<br />

15 Vgl. Roland Paul, Die evangelischen Arbeitervereine der<br />

Pfalz, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte 70<br />

(2003), S. 109–122.<br />

16 Robert Hansel, Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde<br />

Bad Bergzabern, Zweibrücken 1993, S. 675f.;<br />

Franz Maier, Biographisches Organisationshandbuch der<br />

NSDAP, Mainz 2007, S. 331–338.<br />

die Verlierer und Entrechteten, war<br />

wichtigster Programmpunkt der altgläubigen<br />

Richtung. Homburg war wie<br />

Zweibrücken ein eindeutig mit konservativen<br />

Dekanen besetzter Kirchenbezirk.<br />

Kirchenparteien sichern sich Einfluss<br />

Als 1843 Philipp Jakob Siebenpfeiffers Parteigänger<br />

Dekan Carl Gottfried Weber 17 seine<br />

Stelle in Homburg aufgab, wurde 1844 mit Friedrich<br />

Scholler 18 ein Vertreter der Erweckungsbewegung<br />

Dekan in Homburg. Diese Serie sollte<br />

sich ungebrochen bis 1939 mit Jakob Ludwig Göppel<br />

19 , Erhard Wündisch 20 , Ludwig Ritter <strong>21</strong> , Johann<br />

Philipp Rettig 22 , Wilhelm Henn 23 , Ludwig Mettel 24 ,<br />

17 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 5745.<br />

18 Ebd., Nr. 4875.<br />

19 Ebd., Nr. 1642.<br />

20 Ebd., Nr. 6047.<br />

<strong>21</strong> Ebd., Nr. 4388.<br />

22 Ebd., Nr. 4287.<br />

23 Ebd., Nr. 2054.<br />

24 Ebd., Nr. 3443.<br />

Die 1935 als Saar-<br />

Befreiungskirche<br />

eingeweihte Protestantische<br />

Kirche in<br />

Beeden mit seitlich<br />

angebautem<br />

Gemeindesaal, Aufnahme<br />

1965 (Sammlung<br />

Bonkhoff).<br />

Abb. 5 »Glaubensbekenntnisse«<br />

in<br />

Blieskastel um 1935:<br />

An einem Hausgiebel<br />

ist zu lesen: »Deutsch<br />

sollen unsere Kinder<br />

sein, drum setzen<br />

wir uns für Deutschland<br />

ein.« Und am<br />

Turm der Protestantischen<br />

Kirche prangt<br />

ein großes, nachts<br />

erleuchtetes Hakenkreuz<br />

als politischideologisches<br />

Bekenntnis der evangelischen<br />

Kirche. Das<br />

Protokollbuch des<br />

Presbyteriums verzeichnet<br />

zur Montage<br />

dieses Symbols<br />

keinen Beschluss<br />

(Sammlung Bonkhoff).


Das von Friederich<br />

Larouette entworfene<br />

Evangelische<br />

Gemeindehaus<br />

gegenüber dem<br />

Schwesternhaus:<br />

Im Erdgeschoss der<br />

Ev. Gemeindedienst,<br />

das Büro der Kirchengemeinde,<br />

die Nähschule,<br />

die Kochschule<br />

und die Toiletten. Im<br />

1. Obergeschoss der<br />

Gemeindesaal, der<br />

durch eine Faltwand<br />

halbiert werden<br />

konnte. Im 2. Obergeschoss<br />

die Pfarrwohnung<br />

des 3. Pfarrers,<br />

der 1936 seinen<br />

Sitz in Erbach bekam,<br />

im Dachgeschoss<br />

die Wohnung des<br />

Kirchendieners. Das<br />

Gemeindehaus wurde<br />

1925 eingeweiht<br />

und 1982 abgerissen<br />

(Sammlung Bonkhoff).<br />

Drescher 25 , Ernst d‘Alleux 26 und Friedrich Karl<br />

Albrecht 27 fortsetzen. Auch die Stelle des Stadtpfarrers<br />

war mit Männern der gleichen Richtung<br />

besetzt. Da aber mit der Kirchenverfassung<br />

von 1920 bei größeren Kirchengemeinden stark<br />

auf einen Ausgleich 28 zwischen links und rechts,<br />

positiv und liberal gesehen wurde, kam 1928 bei<br />

der Errichtung der Pfarrstelle III in Homburg mit<br />

Kurt Foell 29 (1890–1950) ein entschiedener Vertreter<br />

des pfälzischen Protestantenvereins in die<br />

Stadt. Er bezog die große neue Pfarrwohnung mit<br />

Zentralheizung im 1925 fertiggestellten prächtigen<br />

Gemeindehaus gegenüber dem 1899 eingeweihten<br />

Schwesternhaus 30 , das noch heute<br />

den Ev. Kindergarten beherbergt. Darin war nicht<br />

nur der Ev. Gemeinde- und Sozialdienst und die<br />

Kirchendienerwohnung untergebracht, sondern<br />

auch ein vornehmer Gemeindesaal, eine Nähschule<br />

und Kochschule, auch alle Gemeindegruppen,<br />

Kinder- und Jugendgruppen, die Pfadfindergruppe<br />

der Bekennenden Kirche und der<br />

Mädchen-Bibelkreis, der Kirchenchor mit über<br />

achtzig Sängerinnen und Sängern und die Tagungen<br />

der Bezirkssynoden. Damals war Homburg<br />

eine von regem evangelischen Leben erfüllte<br />

Gemeinde, die in rascher Folge dafür sorgte, dass<br />

die Außenorte durch den gleichen Stararchitekten<br />

Friedrich Larouette 31 aus Frankenthal<br />

25 Ebd., Nr. 1013.<br />

26 Ebd., Nr. 58.<br />

27 Ebd., Nr. 46.<br />

28 Vgl. Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S. 10–30.<br />

29 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 1373.<br />

30 Ecke Schwesternhausstraße/ Lagerstraße.<br />

31 Vgl. Friedrich Larouette, Die Rheinpfalz und ihre Bauten.<br />

Festschrift des Pfälzischen Architekten- und Ingenieurvereins,<br />

Berlin-Halensee 1928. Abb. des Gemeindehauses,<br />

vgl. Bernhard H. Bonkhoff, Bild-Atlas zur pfälzischen Kirchengeschichte,<br />

Speyer/ Regensburg 2000, S. 536: Christuskirche<br />

Bruchhof-Sanddorf.<br />

eigene Kirchen bekamen: 1928 Bruchhof-Sanddorf<br />

32 und 1931 Erbach-Reiskirchen 33 . Übrigens:<br />

Die katholische Kirchengemeinde besaß ein noch<br />

größeres Gruppen- und Verbindungs-Gemeindeleben,<br />

das sich – ganz anders als bei den Protestanten<br />

– vom NS-System abgrenzte und in Gefahr<br />

begab.<br />

Bei dem Stichwort Kurt Foell kann der Verfasser<br />

direkt auf familiäre Überlieferungen<br />

zurückgreifen, denn seine Mutter war Klassenkameradin<br />

der Tochter Ruth Foell. Sie – bis zu<br />

ihrem Tod in Homburg Gemeindehelferin – und<br />

ihre Freundin verkehrten häufig in der Familie.<br />

Dort war der Herr Stadtpfarrer ein lockerer,<br />

fröhlicher Familienvater. Im Schulunterricht und<br />

auf der Kanzel war Foell bigottisch und weinerlich,<br />

voller Verklemmungen und Verrenkungen,<br />

um sich an den in der damaligen Zeit herrschenden<br />

Pastoralstil anzugleichen und um dem vermuteten<br />

Umgangston in der protestantischen<br />

Kirchengemeinde Homburg zu entsprechen.<br />

Von 1919 bis 1927 war er Pfarrer in Walsheim<br />

an der Blies gewesen, jenem Außenposten des<br />

pfälzischen Protestantismus an der lothringischen<br />

Grenze, wo Arbeitslosigkeit, Grenzland-<br />

Depression und ein drückender Katholizismus<br />

den Alltag der Menschen bestimmten. Zu Foells<br />

Gemeindebezirk gehörte Beeden, wo die Protestanten<br />

schon seit der Kaiserzeit daran dachten,<br />

eine eigene Kirche zu errichten. Die Saar-<br />

Befreiungskirche Beeden von 1935 ist das Werk<br />

von Kurt Foell. In der Kirchenzeitung »Union« des<br />

pfälzischen Protestantenvereins ist seine Einweihungspredigt<br />

abgedruckt 34 , und das große<br />

Wandbild auf der Stirnseite über der mächtigen<br />

Kanzel in der Mitte ist – in mehreren Fotos<br />

abgebildet – die Saar-Befreiung des Landauer<br />

Malers Hermann Sauten. 35 Das Motiv hatte der<br />

Ortspfarrer wie folgt überschrieben: »Freiheit<br />

und Kraft im Aufblick zu Gott.« Zwei Männer blicken<br />

auf zu den Lichtstrahlen, die von der Taube<br />

des Heiligen Geistes im Wolkenband über der<br />

Kanzel ausgehen: links der saarländische Arbeiter<br />

mit nacktem Oberkörper; die Kette, die seine<br />

Hände fesselten, ist durchtrennt. Auf der andern<br />

Seite der Saar-Befreier in silberner Rüstung;<br />

32 Vgl. Bonkhoff, Kirchen [wie Anm. 10], S. 97 f.<br />

33 Vgl. Bonkhoff, Kirchen [wie Anm. 10], S. 109.<br />

34 Vgl. Kurt Foell, Befreiungskirche! Predigt bei der Weihefeier<br />

der Befreiungskirche Beeden am 29. Sept. 1935, in:<br />

Union 74 (1935), S. 537<br />

35 Abbildungen bei Bonkhoff, Bild-Atlas [ wie Anm.32], S.<br />

563 f.


saargeschichte|n 53<br />

Links: Der befreite<br />

Saarländer auf der<br />

Altarwand der 1935<br />

eingeweihten Saar-<br />

Befreiungskirche in<br />

Beden (Sammlung<br />

Bonkhoff).<br />

Rechts: Der Saar-<br />

Befreier auf der<br />

Altarwand in Beeden<br />

(Sammlung Bonkhoff).<br />

seine Hände halten das Schwert, das die Fesseln<br />

zerschlagen hat. Auch ohne einen schwarzen<br />

Schnäuzer erkannte jeder gleich, wer das sein<br />

sollte. In der Einweihungspredigt 36 hieß es dazu:<br />

»Ein ohnmächtig Deutschland unterschrieb den<br />

Versailler Vertrag! Nie vergessen, wodurch wir<br />

siegten: das neue, unter Adolf Hitler geeinte Reich<br />

holte das Saargebiet zurück! Daran soll allezeit<br />

diese Befreiungskirche erinnern. Nie wird euch<br />

das Reich entrissen, wenn ihr einig seid und treu?<br />

Deß zum Gedächtnis haben wir eine Befreiungskirche<br />

errichtet [...]. Und um auch Gott unsern<br />

Dank darzubringen, daß er uns in unserm Führer<br />

den Mann sandte, der ein starkes Deutschland<br />

schuf und damit die Fremdstaaten zur Achtung<br />

vor den Verträgen zwang. Eine Befreiungskirche<br />

haben wir gebaut, um zum Ausdruck zu bringen,<br />

daß die evang. Kirche wie im Saarbefreiungskampf<br />

treu zum deutschen Reiche stehen und<br />

alle politischen Diffamierungsversuche Lügen<br />

strafen wird. Eine Befreiungskirche haben wir<br />

heute geweiht, weil wir der festen Zuversicht<br />

sind, daß unser deutsches Volk die religiösen<br />

Kräfte des Christentums nicht entbehren kann,<br />

wenn es auch in Zukunft frei und stark bleiben<br />

will. Deutsches Volk und christliche Kirche<br />

gehören zusammen!”<br />

Die Biblische Grundlage dieser »Predigt« sollte<br />

2. Tim. 2,8 sein: »Halte im Gedächtnis Jesum<br />

Christ!« Die drei Glocken der neuen Kirche waren<br />

zudem eine Stiftung von Reichskirchenminister<br />

36 In dem Sammelband »Protestanten ohne Protest«, Speyer/<br />

Leipzig 2016, wird das Bild des Saar-Befreiers Hitler<br />

als Abbildung des heilige Mauritius identifiziert!<br />

Hanns Kerrl 37 . Auf der großen Glocke ist noch<br />

heute zu lesen:<br />

»bestehet in der freiheit. gal. 5, v. 1. freiheit.<br />

gegossen im jahr der saarbefreiung 1935«<br />

Sie blieb bei der Glockenabnahme von 1942<br />

wegen ihrer politischen Inschrift erhalten, genau<br />

wie die 1935 für die protestantische Kirche von<br />

Wolfersheim gegossene Glocke. 38 Wie Kurt Foell<br />

waren etliche der härtesten Deutschen Christen<br />

der Pfalz, z.B. Emil Lind 39 in Speyer, Dekan Karl<br />

Emrich 40 in Ludwigshafen oder der Breitfurter<br />

Nationalkirchler Wilhelm Gruber 41 mit seiner Freilichtbühne<br />

dem kirchlichen Liberalismus zuzurechnen.<br />

Sie waren Vertreter einer Genie-Christologie,<br />

bei der Jesus Christus nur eine besondere<br />

Größe an Persönlichkeit war, nicht anders als<br />

etwa Luther und Goethe, Barbarossa und Wilhelm<br />

II., und jetzt eben der »Führer”. Dagegen<br />

war für den konservativ ausgerichteten Teil des<br />

37 Auch die übrigen Glocken der Pfalz mit politischen Inschriften<br />

aus der NS-Zeit wurden bei der Glockenbeschlagnahmung<br />

von 1942 nicht abgenommen; vgl.<br />

Bernhard H. Bonkhoff, Pfälzisches Glockenbuch, Kaiserslautern<br />

2008, S. 125–128.<br />

38 Abb. vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S. 565.<br />

39 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 3156; siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />

S. 86–90 u.ö.<br />

40 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 1119, siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />

S. 136–138 u.ö.<br />

41 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 1759 siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2],<br />

S. 81. 90 u.ö.


In der Turmhalle der<br />

Saar-Dank-Kirche in<br />

Rohrbach steht das<br />

Denkmal. Das die<br />

Parole von 1935 versinnbildlicht:<br />

Deutsche<br />

Mutter: Heim<br />

zu Dir! (Sammlung<br />

Bonkhoff).<br />

Protestantismus der »Sozialismus der Tat«, gerade<br />

auch im Bereich des »roten Gauleiters« Bürckel,<br />

ein wichtiger Anknüpfungspunkt an den<br />

Nationalsozialismus.<br />

Lebendige, blühende Kirchengemeinden<br />

Die saarpfälzischen Gemeinden, gerade die in<br />

der Diaspora von St. Ingbert und am Höcherberg,<br />

waren für die Protestantische Kirche der<br />

Pfalz lange der aktivste Teil. So konnten Kirchenchor<br />

und Instrumentalkreis der ev. Gemeinde<br />

Höchen um 1930 die Johannespassion von Bach<br />

aufführen, ganz ohne Hilfe von außen, wie es der<br />

von 1930 bis 1937 dort wirkende spätere Homburger<br />

Pfarrer Karl Bruch 42 berichtete. Ein Kronzeuge<br />

dieses evangelischen Lebens ist übrigens der von<br />

1926 bis 1929 in Homburg tätige spätere Kirchenpräsident<br />

Theo Schaller, der Mitbegründer und<br />

Dozent der Heimvolkshochschule Diemerstein,<br />

der während des Zweiten Weltkriegs in Bexbach<br />

und Erbach den Pfarrdienst versah. Seine Lebenserinnerungen<br />

43 gewähren genauen Einblick in<br />

das kirchliche und politische Leben der Saarpfalz<br />

und dessen stark nationale Ausrichtung.<br />

Er sang mit seiner Homburger Jugendgruppe<br />

das »Saarlied« von Hans Maria Lux: »Ihr Himmel<br />

hört: Jung Saarvolk schwört: Laßt es uns in<br />

42 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 614.<br />

43 Vgl. Biundo, Die evangelischen Geistlichen [wie Anm. 4],<br />

Nr. 4634, siehe auch Bonkhoff, Geschichte [wie Anm. 2], S.<br />

242; Theodor Schaller, Erinnerungen. Unveröffentlichtes<br />

Manuskript, abgeschlossen 1987, im Besitz des Verfassers.<br />

Die gedruckte Version (siehe: Klaus Bümlein/ Ulrich A.<br />

Uzen (Hg.), Theo Schaller Erinnerungen, Speyer 2014) ist<br />

eine stark gekürzte Version.<br />

den Himmel schrein: Wir wollen niemals Knechte<br />

sein!« Er, wie viele Pfarrer der jüngeren Generation,<br />

gehörte damals der Bekennenden Kirche<br />

an. Und wenn er aus dieser Zeit erzählte, öffnete<br />

er seine Brieftasche und holte seinen Mitgliedsausweis,<br />

die Rote Karte 44 heraus, die er immer bei<br />

sich trug. Und einmal sagte er zu mir, dass solche<br />

Karten wohl eines Tages in der Gegenwartskirche<br />

wieder nötig sein könnten. Inzwischen versucht<br />

die pfälzische Kirche, ihre Vergangenheit im Dritten<br />

Reich aufzuarbeiten. 45 Aber da entstehen<br />

auch Märchen: So hielt eine Kunsthistorikerin<br />

den Saarbefreier auf der Altarwand in Beeden<br />

für eine Darstellung des heiligen Mauritius mit<br />

negroiden Zügen, einen stillen Protest gegen das<br />

arische Herrenmenschentum der NS-Ideologie. 46<br />

Die einst so starke Stimme des saarpfälzischen<br />

Protestantismus ist heutzutage recht schwach<br />

geworden.<br />

Als 1939 der letzte aus der altgläubigen Reihe der<br />

Homburger Dekane, Dekan Friedrich Karl Albrecht,<br />

abtrat, ernannte die Speyerer Kirchenregierung<br />

den gleichermaßen dem Liberalismus wie dem<br />

Nationalsozialismus verpflichteten Stadtpfarrer<br />

Kurt Foell zu seinem Nachfolger. 1950, bald nach<br />

der Wiedereinweihung der am Schluss des Zweiten<br />

Weltkriegs stark beschädigten Stadtkirche,<br />

verstarb er. Direkt nach Kriegsende musste er<br />

anordnen, das allegorische Wandbild zur Saarbefreiung<br />

in der Kirche von Beeden zu beseitigen. 47<br />

Auch er musste lernen, dass die Kirche nicht politischen<br />

Strömungen, gerade modernen Ideologien<br />

und dem zu dienen hat, was gerade »in«<br />

ist, sondern von ihrem Herrn und Meister Jesus<br />

Christus nur einen einzigen Auftrag hat: Gehet<br />

hin und lehret alle Völker, tauft sie und lehrt sie<br />

zu halten alles, was ich euch befohlen habe!<br />

44 Abb. vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S. 557, Text<br />

siehe Bernhard H. Bonkhoff, Quellen und Texte zur pfälzischen<br />

Kirchengeschichte, Speyer/ Regensburg 2005, S.<br />

1169 f.<br />

45 Vgl. Hanns-Christoph Picker u.a.: Protestanten ohne. Protest.<br />

Die Evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus,<br />

Speyer/ Leipzig 2016.<br />

46 Das Bild der Saar-Befreiung wurde direkt nach dem Ende<br />

der NS-Diktatur entfernt, nicht erst bei der Kirchenrenovierung<br />

der 1970er Jahre.<br />

47 In der Saar-Dank-Kirche in Rohrbach ist die Plastik des<br />

saarländischen Ehepaars in der Eingangshalle noch immer<br />

erhalten, vgl. Bonkhoff, Bild-Atlas [wie Anm. 32], S.<br />

567.


mon trésor.<br />

europas schatz im saarland<br />

saargeschichte|n 55<br />

von armin leidinger<br />

Mit »Mon Trésor. Europas Schatz im Saarland«<br />

richtet das Weltkulturerbe Völklinger Hütte den<br />

Blick programmatisch auf die europäische Kernregion<br />

um sie herum. Herausragende Objekte<br />

der Archäologie, Technik, Kulturgeschichte und<br />

Kunst vom Saarkarbon bis heute, aber auch überraschende<br />

Funde verdeutlichen die kulturelle und<br />

humane Dimension dieser multinationalen Weltgegend.<br />

Der Titel »Mon Trésor« ist dabei wörtlich<br />

zu nehmen. Denn: Jeder Schatz ist zuallererst privater<br />

Natur, auch wenn er später zu nationalem<br />

Kulturgut wird. »Mon Trésor« wählt damit einen<br />

persönlichen, subjektiven Ansatz. »Mein Schatz«,<br />

das kann ein Gegenstand sein, ebenso aber ein<br />

Baum, Tier oder Mensch. Für die BesucherInnen<br />

stellt sich damit die Frage: Was ist überhaupt<br />

ein Schatz? Was ist wann warum bedeutend?<br />

Und was ist mir persönlich wirklich wichtig?<br />

»Am Beispiel der Schätze der SaarLorLux-Region<br />

werden in dieser Ausstellung exemplarisch universelle<br />

Fragen für jeden von uns verhandelt«,<br />

konstatiert Dr. Ralf Beil, Generaldirektor des<br />

Weltkulturerbes Völklinger Hütte.<br />

Schatzkammer Europas<br />

»Mon Trésor« ist eine Ausstellung der gesamten<br />

Großregion. Weder Kelten noch Römer kannten<br />

ein festumrissenes »Saarland«, die Grenzziehung<br />

hat sich über Jahrhunderte hinweg<br />

immer wieder verändert.<br />

Verbunden sind das heutige Saarland, Lothringen<br />

und Luxemburg insbesondere durch die<br />

gemeinsame Industriekultur. Das Erz in Lothringen,<br />

die Kohle an der Saar, das war die Ausgangssituation<br />

bei der Gründung der Völklinger Hütte,<br />

die auch im weiteren Verlauf ihrer Geschichte<br />

prägend blieb. Von der europäischen Dimension<br />

der Großregion zeugen in »Mon Trésor« Keramiken<br />

aus Sarreguemines, Schmuckpreziosen aus<br />

dem Musée Lalique oder etwa die Rekonstruktion<br />

des Luxemburger Weltdokumentenerbes,<br />

der bahnbrechenden Fotoausstellung »Family of<br />

Man«. Ort der Ausstellung ist die auratische<br />

Gebläsehalle: Sie ist das größte Exponat der<br />

Schau.<br />

»Mon Trésor« ist eine veritable Wunderkammer<br />

der Gegenwart, eine Schatzhalle der Geschichte<br />

und Geschichten aus der Mitte Europas«, so<br />

Generaldirektor Dr. Ralf Beil.<br />

Ein neuer Schauplatz für Ausstellungen<br />

Die Gebläsehalle der Völklinger Hütte präsentiert<br />

sich anlässlich von »Mon Trésor« erstmals seit<br />

zwanzig Jahren wieder in ihrer originalen Substanz.<br />

Nahezu alle Stellwände wurden abgebaut,<br />

Das Plakat zur Ausstellung<br />

zeigt ein<br />

Detail der Gebläsemaschine<br />

10 aus der<br />

Gebläsehalle, fotografiert<br />

von Franz<br />

Mörscher 1999/2000,<br />

digital bearbeitet von<br />

der Glas AG.<br />

[Copyright Foto: ©<br />

Weltkulturerbe Völklinger<br />

Hütte / Glas AG<br />

/ Franz Mörscher]


Dillinger Triptychon<br />

Mit dem »Dillinger<br />

Triptychon« besitzt<br />

die Pfarrgemeinde<br />

Hl. Sakrament in<br />

Dillingen/Saar eines<br />

der wichtigsten<br />

historischen Kunstwerke<br />

des Saarlands.<br />

Das dreiteilige, aus<br />

einem Mittelstück<br />

und zwei schmalen<br />

Flügeln bestehende<br />

Gemäldeensemble<br />

stellt Szenen aus<br />

der Weihnachtsgeschichte<br />

dar. Es<br />

stammt ursprünglich<br />

aus der Kapelle des<br />

Alten Schlosses<br />

in Dillingen. Als<br />

Geschenk soll es in<br />

den Besitz der Pfarrei<br />

Dillingen gekommen<br />

und Anfang des 20.<br />

Jahrhunderts in Vergessenheit<br />

geraten<br />

sein. Erst in den<br />

1950er-Jahren wurde<br />

das Triptychon stark<br />

beschädigt wieder<br />

aufgefunden und restauriert.<br />

Nach aktuellem<br />

Forschungsstand<br />

könnte es aus dem<br />

Umkreis des flämischen<br />

Malers Pieter<br />

Coecke van Aelst<br />

(1502–1550) stammen.<br />

[1. Hälfte des 16. Jahrhunderts.<br />

Öl auf Holz<br />

Mitteltafel 88 x 56<br />

cm, Breite der Seitentafeln<br />

26 cm<br />

Kath. Kirchengemeinde<br />

Hl. Sakrament<br />

Dillingen<br />

Copyright Foto: ©<br />

Weltkulturerbe Völklinger<br />

Hütte / Tom<br />

Gundelwein]<br />

so dass sich ein gänzlich neuer Blick auf die weltweit<br />

einmaligen Gebläsemaschinen und eine<br />

neue Form der Ausstellungsinszenierung ergibt.<br />

Im Vordergrund steht nun die Arbeit mit der vorhandenen<br />

Industriearchitektur: Schächte werden<br />

für Objektinszenierungen genutzt, Emporen für<br />

Räume im Raum. Die Gebläsehalle ist bei »Mon<br />

Trésor« doppelt bedeutsam: Sie ist nicht nur eine<br />

hochauratische Schatzkammer, sondern offenbart<br />

sich selbst mitsamt ihrer historischen Einrichtung<br />

und Gestaltung als außergewöhnlicher<br />

Schatz des Saarlandes von weltweiter Bedeutung.<br />

Im Echoraum der Geschichte(n)<br />

»Lieber Vater, wir müssen fort. Alois Bernhard<br />

Johannes Gruß u. K. Kätchen«. In Saarbrücken-<br />

Burbach wird Familie Peitz bereits am 1. September<br />

1939 evakuiert, dem Tag des deutschen Überfalls<br />

auf Polen. Morgens kommt die Aufforderung<br />

zum Packen und bereits nachmittags geht es los<br />

nach Thüringen. Der Vater, Nikolaus Peitz, Schlosser<br />

auf der Burbacher Hütte, muss arbeiten. Zum<br />

Abschied schreibt Alois (sieben Jahre) dem Vater<br />

einen Zettel. Auch Bernhard (11) und Johannes<br />

(4) setzen ihren Namen darunter, zum Schluss<br />

die Mutter »Kätchen«, mit abgekürztem »Gruß<br />

und Kuss«. Ihre Jüngste, Katharina (1) hat sie auf<br />

dem Arm. Im thüringischen Eichsfeld werden die<br />

»Saarfranzosen« getrennt: Mutter Peitz kommt<br />

mit den beiden Kleinsten zu einem Bauern, die<br />

beiden größeren Jungs zu einem anderen. Am<br />

Zweiten Weihnachtsfeiertag 1939 ist die Familie<br />

wieder vereint: beim Vater in Braunschweig, der<br />

zu den Dornier Werken dienstverpflichtet worden<br />

ist. Der Zettel zum Abschied aber hat sich<br />

über all die Jahre bis heute erhalten, der Vater hat<br />

ihn sein Leben lang aufbewahrt: Das kleine Stück<br />

Papier ist zum Schatz geworden.<br />

»Mon Trésor« erzählt die Geschichte(n) einer<br />

Region und zeigt zugleich Schätze wie das Dillinger<br />

Triptychon, die Entwürfe Gerhard Richters<br />

für die Fenster der Abteikirche in Tholey oder die<br />

Glaskunst aus Lothringen. Die Ausstellung behält<br />

dabei stets ihren assoziativen Charakter. Der<br />

Abschiedsbrief von Alois Peitz liegt neben dem<br />

Ring eines Kindes aus der Römerzeit, der ebenfalls<br />

von Gefahr und Flucht erzählt. Die BesucherInnen<br />

wandern durch einen Echoraum der<br />

Geschichte(n).<br />

»In »Mon Trésor« geben die Geschichten den Takt<br />

vor. Sie berichten von dem, was die Menschen<br />

in der Region geleistet haben, und verleiten uns<br />

zum Wundern und Reflektieren. Wer bereit ist,<br />

sich dem zu öffnen, was die archäologischen<br />

Funde und vergilbten Fotoalben, die privaten<br />

Besitztümer und Schatzkarten des Mittelalters<br />

mitzuteilen haben, ganz zu schweigen von den<br />

nur scheinbar verstummten Maschinen in der<br />

Gebläsehalle, wird sich unweigerlich bei dem<br />

Gedanken ertappen, dass viele von ihnen auch<br />

von seiner eigenen Geschichte erzählen«, sagt<br />

Kurator Frank Krämer.<br />

Das Staunen lernen<br />

»Wir möchten unsere BesucherInnen im schönsten<br />

Sinne des Wortes zum Staunen bringen.<br />

Kunst beginnt nicht erst in zwei Metern Entfernung<br />

in einem Rahmen oder hinter Vitrinenglas.<br />

Wir suchen andere Wege der Inszenierung<br />

und verbinden die Objekte bestenfalls wieder mit<br />

den Geschichten, die zu ihnen gehören«, sagt Ralf


saargeschichte|n 57<br />

Beil, Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger<br />

Hütte.<br />

In einem Treppenabgang, wo eigentlich ein<br />

Keltengrab inszeniert werden sollte, fand sich ein<br />

Arbeiterspind, der seit der Schließung des Werks<br />

1986 nicht mehr geöffnet wurde. Nun ist er ein<br />

Memorial für den Arbeiter, der dort seine Schuhe<br />

und seine Schraubenschlüssel untergebracht<br />

hat, in einer Holzkiste für Handgranaten.<br />

Die BesucherInnen schauen hinab in ein Merowinger-Grab:<br />

Warum liegen in diesem Grab<br />

geköpfte Pferde? Sie werfen einen exklusiven<br />

Blick in das Interieur der »Olympic«, das nahezu<br />

baugleiche Schwesterschiff der »Titanic«. Beide<br />

Schiffe wurden vom Maschinenraum bis zur ersten<br />

Klasse mit Bodenfliesen aus dem Hause Villeroy<br />

& Boch (mit Sitz in Mettlach) ausgestattet.<br />

Die kostbare Innenausstattung der Olympic aus<br />

Eiche wurde versteigert. Und so kamen Wände<br />

des Gymnastiksaals und des Treppenhauses der<br />

ersten Klasse in die Schatzkammer eines saarländischen<br />

Sammlers. Es gibt nichts, was dem<br />

Original der Titanic näher käme. Sogar der mehr<br />

als sechs Meter hohe Gollenstein, der größte<br />

Menhir Mitteleuropas, steht jetzt in monumentaler<br />

Größe in der Gebläsehalle der Völklinger<br />

Hütte.<br />

Le Boulevard<br />

Die Industriekultur der Region ist grenzübergreifend, »Mon Trésor« zeigt dieses<br />

gemeinsame Erbe. Neben der Keramik von Villeroy & Boch aus Mettlach für den Oceanliner<br />

»Olympic« sind so auch Fayencen aus Saargemünd, Glaskunst aus Lothringen<br />

und Jugendstilschmuck aus dem Musée Lalique im Elsass zu sehen. Ohne Frage zählen<br />

sie zu den wichtigen Schätzen der Europaregion.<br />

Die Produktion von Keramikfliesen erlebte im 19. Jahrhundert in ganz Frankreich<br />

einen neuen Aufschwung, denn neue Techniken ermöglichten die Herstellung großer<br />

Mengen zu erschwinglichen Preisen. In Saargemünd begann man um 1880 mit<br />

der Herstellung von Fliesen, an denen die Kundschaft sofort Gefallen fand. Zahlreiche<br />

Kunsthandwerker schufen einfallsreiche Motive für die Produktionsstätten in Saargemünd<br />

sowie für die beiden Tochterfabriken. Die Steingutmanufaktur in Saargemünd<br />

hatte ihr goldenes Zeitalter um 1900. Ihre Keramikfresken schmückten Hausfassaden,<br />

Speisesäle und Badezimmer; sie dienten als hygienische Wandverkleidung,<br />

zu Dekorations- oder Reklamezwecken. Die schönsten Arbeiten wurden auf großen<br />

Ausstellungen gezeigt und trugen das Können der Keramiker aus Saargemünd in die<br />

ganze Welt.<br />

Das wandfüllende Keramikfresko »Le Boulevard« gehört zu den bekanntesten Werken.<br />

Es besteht aus <strong>21</strong>6 Fliesen. Das Motiv stammt von Théophile Steinlen (nicht zuletzt<br />

bekannt durch seine Plakatkunst für das Pariser Kabarett »Le Chat Noir«). Großbürger<br />

in steifen Posen treffen auf fröhliche Zeitungsverkäufer und Blumenmädchen – ein<br />

sinnfälliges Abbild der gesellschaftlichen Unterschiede jener Zeit.<br />

[Faïencerie de Sarreguemines. Dekoratives Keramikfresko aus feiner Fayence. Nach<br />

einem Plakat von Théophile Steinlen Höhe 230 cm x Breite 350 cm.<br />

Fabrikmarke »Sarreguemines – Paris«, um 1902. Musées de Sarreguemines<br />

Copyright Foto : © Musées de Sarreguemines]


Der Geislauterner Dampfwagen<br />

Die erste Lokomotive in Deutschland, der »Adler« fuhr bekanntlich zwischen Nürnberg<br />

und Fürth. Um ein Haar aber wäre der Geislauterner Dampfwagen die erste Eisenbahn<br />

in Deutschland geworden. Er zählt zu den halben Dutzend weniger erfolgreichen Eisenbahnprojekten<br />

vor Nürnberg-Fürth in Deutschland. Gedacht war er für den Kohlentransport<br />

im Saarrevier. 1819 kam die Lokomotive in Einzelteilen im Geislauterner Eisenwerk<br />

an. Der Zusammenbau gelang zwar und der Dampfwagen ist sogar gefahren. Für seine<br />

Bestimmung, Kohlen zu transportieren, war er aber ungeeignet. Allein sein schieres<br />

Gewicht, der Dampfkessel war aus Gusseisen, machte das unmöglich.<br />

Die »Völklinger Mythenjäger«, eine Gruppe von Stadthistorikern, die den Geschichten<br />

um die Stadt Völklingen nachspüren, haben den Dampfwagen vor einigen Jahren im<br />

Wasserhochbehälter der Völklinger Hütte rekonstruiert. Initiator des Projekts war Hendrik<br />

Kersten, im Hauptberuf Projektleiter am Weltkulturerbe Völklinger Hütte und seit<br />

Jahren eine treibende Kraft der Mythenjäger. Von Völklingen kam das Modell in die<br />

Dauerausstellung des »DB Museum Nürnberg«, dem ältesten Eisenbahnmuseum der<br />

Welt. Für einige Monate ist die Rekonstruktion des Dampfwagens wieder am Ort seiner<br />

Entstehung zu sehen, im Weltkulturerbe Völklinger Hütte in der Ausstellung »Mon<br />

Trésor – Europas Schatz im Saarland«.<br />

[Der Geislauterner Dampfwagen, 1819 (Nachbau 2014). Holz mit Farbfassung, Höhe 350<br />

cm. DB Museum, Nürnberg (Dauerleihgabe Völklinger Mythenjäger). Copyright Foto: ©<br />

Völklinger Mythenjäger]<br />

Was ist ein Schatz?<br />

Unser Aufruf zu »Mon Trésor«<br />

Was ist ein Schatz? Ein archäologisches Objekt,<br />

das einen hohen Geldwert besitzt? Oder ist es<br />

das Werk Otto Steinerts, der von Saarbrücken aus<br />

der internationalen Stilrichtung der »Subjektiven<br />

Fotografie« ihren Namen gab? Mit Sicherheit ist<br />

es die sogenannte Sackarbeit, saarländisch »Saggarwed«.<br />

Gemeint sind die Objekte, die die oft<br />

äußerst talentierten Handwerker der Völklinger<br />

Hütte aus Rohren, Stahl oder Messingblech herstellten<br />

– Dinge, die sie in ihrer Arbeitstasche,<br />

dem »Schaffsagg«, heimlich mit nach Hause<br />

nahmen. Der Ehering aus Messing oder das Spielzeugpferd<br />

aus Rohr und Stahlblech stehen in keinem<br />

Buch der Kunstgeschichte. Und doch sind<br />

gerade sie die heimlichen Stars der Ausstellung,<br />

die den Betrachter auf<br />

sich selbst zurückführen:<br />

Was ist eigentlich »Dein<br />

Schatz«?<br />

Genau diese Frage hat<br />

die Völklinger Hütte<br />

den BewohnerInnen der<br />

Großregion gestellt. Und<br />

zahlreiche Menschen<br />

haben ein Foto Ihres<br />

Schatzes und einen kurzen<br />

Text nach Völklingen<br />

gesendet. Ein Koffer voller<br />

Feldpost, Erinnerungen<br />

an den Vater, der im Krieg<br />

geblieben ist, und den man nie kennengelernt hat,<br />

ein Gedicht in Mundart, Schuhe, die über Generationen<br />

weitergegeben wurden, eine Lego-Figur,<br />

die nur einmal im Jahr, an Weihnachten, hervorgeholt<br />

wird, ein Foto von 1988 aus der Gebläsehalle<br />

mit Handabdrücken auf einer Kreide-Tafel,<br />

die einst den Schichtbetrieb regelte, eine Brosche<br />

aus saarländischer Kohle, geschnitzt von einem<br />

russischen Kriegsgefangenen, sowie die Hunde,<br />

Katzen, Männer, Frauen, Kinder, die man liebt und<br />

die der größte Schatz sind. An mehreren Stellen<br />

der Ausstellung kann man diese Fotos und Texte<br />

studieren und vielleicht ein wenig in sein eigenes<br />

Leben hineinhorchen.<br />

Eugen Tigiser hat ein Foto vom Hochzeitstag<br />

seiner Tochter beigesteuert: Das Bild hat er aufgenommen,<br />

als sie mit Mundschutz und Tränen<br />

in den Augen ihren Bruder umarmte. Ein kostbarer<br />

Moment, in dem sich unsere Corona-Zeit<br />

verdichtet.<br />

Eine exemplarische Kooperation über die Grenzen<br />

hinweg<br />

Bei Vorlage einer Eintrittskarte unserer französischen<br />

und luxemburgischen Kooperationspartner<br />

wie dem Musée de la faïence de Sarreguemines,<br />

dem Musée du cristal Saint-Louis, dem Musée<br />

Lalique, dem Musée municipal Au fil du Papier de<br />

Pont-à-Mousson und der Ausstellung „The Family<br />

of Man“ im Schloss Clervaux erhalten Sie im<br />

Weltkulturerbe Völklinger Hütte freien Eintritt in<br />

die Ausstellung „Mon Trésor. Europas Schatz im<br />

Saarland“. Umgekehrt gewähren auch die französischen<br />

und luxemburgischen Kooperationspartner<br />

freien Eintritt bei Vorlage der Mon-Trésor-Eintrittskarte.


saargeschichte|n 59<br />

Spielzeugpferd<br />

Sackarbeit, »Saggarwed«, sind Schätze, die die oft äußerst<br />

talentierten Handwerker der Völklinger Hütte aus Rohren,<br />

Stahlblech oder Messingblech herstellten – Dinge, die sie in<br />

ihrer Arbeitstasche, dem »Schaffsagg«, heimlich mit nach<br />

Hause nahmen. Der Ehering aus Messingblech oder das<br />

Spielzeugpferd aus Rohr und Stahlblech stehen in keinem<br />

Buch der Kunstgeschichte. Und doch sind gerade sie die<br />

heimlichen Stars der Ausstellung, die den Betrachter auf sich<br />

selbst zurückführen: Was ist eigentlich »Ihr Schatz«?<br />

[Rohr, Stahlblech, Holz, Faser. 1946. 40 x 30 x 13,5 cm<br />

Museum für dörfliche Alltagskultur – Museum des Saarländischen<br />

Aberglaubens. Copyright Foto: Weltkulturerbe<br />

Völklinger Hütte/Hans-Georg Merkel]<br />

André Link<br />

Michel aus der Biergass<br />

Roman<br />

»Michel aus der Biergass« beschreibt das Leben des Michel Ney,<br />

der im Januar 1769 in bescheidenen Verhältnissen in der Saarlouiser<br />

Bierstraße zur Welt kam. Nach einer Ausbildung zum<br />

Schreiber bei der Staatsanwaltschaft trat er als »Gemeiner«<br />

in das Régiment Colonel Général hussards ein. Ney machte<br />

Karriere und arbeitete sich unter Napoleon I. bis in die höchste<br />

militärische Führungsebene. Anlässlich seiner Kaiserkrönung<br />

ernannte ihn Napoleon zum Marschall des Empire. Den Namen<br />

Ney verbindet man unmittelbar mit der Schlacht von Elchingen,<br />

mit dem Russlandfeldzug Napoleons, der Ney den Titel<br />

»Fürst von der Moskwa« einbrachte, mit Großgörschen, aber<br />

auch mit Waterloo.<br />

André Link richtet in seinem Roman den Fokus jedoch mehr<br />

auf das private Leben des Michel Ney als auf seine militärischen<br />

Erfolge. Ney gilt als Inbegriff von Tapferkeit und Mut,<br />

aber auch von Aufrichtigkeit und Gerad linigkeit.<br />

Er wurde unter Ludwig XVIII. wegen Hochverrats zum Tode<br />

verurteilt und im Dezember 1815 in Paris hingerichtet.<br />

André Link _ Michel aus der Biergass _ Roman<br />

<strong>21</strong>2 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-941095-77-9<br />

15,00 EUR.<br />

Im Buchhandel oder edition-schaumberg.shop


egionalgeschichte im unterricht<br />

die jahrtausendfeier 1925 an der saar<br />

»… diese wuchtige Ballung eines stählernen Willens …« [Saarbrücker Zeitung vom 23. 6. 1925]<br />

oder: »Riesenparty für das Deutsche Reich« [Saarländischer Rundfunk vom 16. 6. 2020]<br />

von eva kell<br />

Zeitgenössischer Hintergrund: Infolge des Ersten<br />

Weltkriegs wurden im Rheinland alliierte<br />

Besatzungstruppen aus Frankreich, dem Vereinigten<br />

Königreich, Belgien und anfänglich auch<br />

aus den USA stationiert (siehe Friedensvertrag<br />

von Versailles). Dagegen demonstrierten die<br />

unter Völkerbundverwaltung stehenden Saarländer<br />

den festen Willen, sich wieder Deutschland<br />

anzuschließen. Daher wurde dort die Feier<br />

zur nationalistischen Großdemonstration gegen<br />

die Abtrennung vom Deutschen Reich.<br />

Geschichtlicher Hintergrund: Im Jahr 925 unterwarf<br />

sich der lothringische Herzog Giselbert<br />

dem ostfränkischen König. Lothringen wurde<br />

damit als fünftes Stammesherzogtum dem Ostfränkischen<br />

Reich (dem späteren Heiligen Römischen<br />

Reich) eingliedert.<br />

Didaktische Hinweise: Die Quellen eignen sich<br />

im problemorientierten oder multiperspektivischen<br />

Geschichtsunterricht, um die politische<br />

Einstellung der Saarbevölkerung vor dem Einfluss<br />

der NS-Propaganda auszuloten und die<br />

Maßnahmen, aber auch die Hilflosigkeit der<br />

Regierungskommission des Völkerbundes sowie<br />

die einseitige Berichterstattung von Tagesmedien<br />

und sogenannten Erinnerungsmedien, die damals<br />

weit verbreitet waren. Zugleich bieten sie einen<br />

Einblick in die damalige politische Festkultur –<br />

und Organisation, wovon vor allem Fotos Zeugnis<br />

ablegen.<br />

Aufgaben:<br />

1. Analysiere Inhalt/politische Aussage und die<br />

entsprechende Sprache/Wortwahl in Q 1.<br />

2. Stelle die unterschiedlichen politischen Auffassungen<br />

im Vorfeld der Begehung der<br />

Tausendjahrfeier mittels Q 2 dar.<br />

3. Eine Fotostrecke der SZ zeigt, wie damals<br />

gefeiert wurde. Beschreibe anhand der Bilder<br />

die Festelemente und überlege, wie man<br />

heute eine Feier für ganz Deutschland oder für<br />

ein Jubiläum des Saarlandes gestalten würde.<br />

Dazu kannst du zum Beispiel die Feier zu 30<br />

Jahren Wiedervereinigung heranziehen.<br />

[https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/dossiers/saarhundert/saarhundert_1925_rheinische_jahrtausendfeier_100.<br />

html]<br />

Q1: Saarbrücker Zeitung, Ausschnitt: Zur Jahrtausenfeier der<br />

Rheinlande, 23. Juni 1925


saargeschichte|n 61<br />

Q 2: Jahrtausendfeier der Rheinlande im Saargebiet vom 18.<br />

bis <strong>21</strong>. Juni 1925<br />

Es war verständlich, daß die ersten Anregungen<br />

hierzu von den großen Verbänden der Turner,<br />

Sportler und Sänger ausgehen mußten, denn<br />

nur wenn die ganze Veranstaltung von vornherein<br />

frei von jeder politischen Einmischung<br />

war, konnte es erreicht werden, sie zu einer großen<br />

allgemeinen Volksfeier zu machen. Da waren<br />

die vorgenannten unpolitischen Verbände die<br />

gegebenen Führer. In einer unverbindlichen Aussprache<br />

zwischen dem Vorsitzenden des Verbandes<br />

zur Förderung der Leibesübungen in der<br />

Stadt Saarbrücken und dem Vorsitzenden des<br />

Saar-Sängerbundes wurden die ersten Schritte<br />

zur Verwirklichung des Plans unternommen.<br />

[…] Doch kaum waren die Ortsausschüsse<br />

in Tätigkeit getreten, als auch schon die<br />

Regierungskommission, mit deren Gegenarbeit<br />

der Hauptausschuß von vornherein<br />

rechnete, ihre erste Verfügung herausgab,<br />

wonach allen Beamten, Lehrern usw. in staatlichen<br />

Diensten die Mitwirkung wie auch die<br />

Teilnahme an der Jahrtausendfeier untersagt<br />

wurde.<br />

[…] Mittlerweile hatte der Hauptausschuß<br />

erfahren, daß auch schon das tschechoslowakische<br />

Mitglied der Regierungskommission,<br />

Kultusminister Bezenskn, einen<br />

Ukas erlassen hatte, wonach in den Schulen<br />

keinerlei Schulfeiern oder auch nur Hinweise<br />

auf die bevorstehende Jahrtausendfeier<br />

gemacht werden dürfen.<br />

[…] Den verschiedenen Verfügungen der<br />

Regierungskommission, über die an anderer<br />

Stelle eingehend geschrieben, stand der einmütige<br />

und mächtige Wille der Bevölkerung,<br />

die große Feier in Ruhe und Besonnenheit<br />

würdig und wuchtig zu begehen, gegenüber.<br />

[…] Die kommunistische Partei aber rief ihren<br />

gesamten Anhang zu einem „Roten Tag“ in<br />

Saarbrücken am <strong>21</strong>. Junizusammen. Aus den<br />

Ankündigungsplakaten aber war ihre Absicht<br />

ersichtlich. „Gegendemonstration gegen den<br />

nationalistischen Jahrtausendfeierrummel.“<br />

Die mit ihr im treuen Bündnis im Kampf gegen<br />

das Deutschtum stehende Regierungskom-mission<br />

hatte natürlich diese Veranstaltung gerne<br />

genehmigt, dagegen glaubte sie aber, die große<br />

Feier der Bevölkerung in der Stadt Saarbrücken<br />

durch ein Verbot unterbinden zu können.<br />

Auszug aus: Rheinische Jahrtausend-Feier im Saargebiet 1925;<br />

hrsg. und verlegt als Erinnerungsbuch durch den Hauptausschuss<br />

für die Jahrtausendfeier im Saargebiet; Saarbrücken/<br />

Völklingen 1925 o.S.


ausstellungen + + + ausstellungen<br />

Zurzeit sind aufgrund der bundesweiten Einschränkungen<br />

sämtliche Museen geschlossen.<br />

Bitte informieren Sie sich über die entsprechenden<br />

Internetseiten oder über die Tagespresse<br />

über die weitere Entwicklung und mögliche<br />

Änderungen.<br />

Monumente des Krieges. Der Saarbrücker Rathauszyklus<br />

Anton von Werners und unser Bild<br />

vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71<br />

Saarbrücken, Historisches Museum Saar, Schlossplatz 15<br />

Bis 31. Oktober 20<strong>21</strong><br />

Anton von Werner (1843–1915) war einer der bedeutendsten Historienmaler<br />

des Deutschen Kaiserreiches. Als Freund des preußischen Kronprinzen<br />

hatte er starken Einfluss auf die Kulturpolitik des Landes. Zu seinen bekanntesten<br />

Arbeiten gehören das Mosaik im Sockel der Berliner Siegessäule<br />

und »Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches« (1885).<br />

In Saarbrücken gestaltete der Künstler den Innenausbau des Alt-Saarbrücker<br />

Rathaussaales, ein Anbau hinter dem Rathaus, am heutigen Nanteser<br />

Platz. Anton von Werner schuf einen monumentalen Zyklus aus sieben Gemälden,<br />

die auf den Deutsch-Französischen Krieg und die Gründung des<br />

Deutschen Reiches verweisen. 1880 wurde der im Zweiten Weltkrieg zerstörte<br />

Saal als nationales Denkmal eröffnet.<br />

Nachdem sich der Rathauszyklus jahrelang in Privatbesitz befand, bietet<br />

sich nun die Gelegenheit einer öffentlichen Präsentation. Das Historische<br />

Museum Saar bereitet eine Ausstellung zu den Gemälden, rund um<br />

die Themen Krieg und Nation und mediale Rezeption vor. Neben der Historienmalerei<br />

und den Schlachtenpanoramen wird auch die damals gerade<br />

aufkommende Fotografie betrachtet sowie die Frage nach der Realität<br />

des modernen Krieges gestellt. Ein Ziel der Ausstellung wird es sein, die<br />

Bildsprache der Kunstwerke zu entlarven und die nationale Verklärung kritisch<br />

unter die Lupe zu nehmen. Mit Bezug auf die Deutsch-Französische<br />

Freundschaft werden gegenwartsrelevante Themen wie die gesellschaftlichen<br />

Auswirkungen eines übersteigerten Nationalismus (im <strong>21</strong>. Jahrhundert)<br />

aufgegriffen.<br />

Welt – Bühne – Traum – Die BRÜCKE im Atelier<br />

Saarbrücken, Saarlandmuseum, Moderne Galerie,<br />

Bismarckstr. 11–15. Bis 5. April 20<strong>21</strong><br />

In der Ausstellung »WELT – BÜHNE – TRAUM. Die ›Brücke‹ im Atelier« werden<br />

in der Modernen Galerie rund 100 Werke der Künstler Ernst Ludwig<br />

Kirchner, Erich Heckel, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff präsentiert.<br />

Im Zentrum der Gemälde- und Grafikschau steht ein Haupt- und Schlüsselwerk<br />

des deutschen Expressionismus: Ernst Ludwig Kirchners monumentale<br />

Atelierszene Badende im Raum (1909/nach 1926) aus dem Eigenbesitz<br />

der Modernen Galerie.<br />

Sabine Groß – SHOW TIME. Eine Archäologie der<br />

Zukunft<br />

Saarbrücken, Saarlandmuseum, Museum für Vor- und Frühgeschichte,<br />

Schlossplatz 16. Bis 7. November 20<strong>21</strong><br />

In dieser Ausstellung von Sabine Groß im Saarbrücker Museum für Vor-<br />

und Frühgeschichte treffen erstmals archäologische Fundstücke und Zeitgenössische<br />

Kunst aufeinander. Wir begegnen Objekten, die imstande sind,<br />

zeitliche Grenzen zu überschreiten und zueinander in eine Beziehung zu<br />

treten, die unsere Wahrnehmung verändert. Die Berliner Künstlerin hat<br />

sich seit vielen Jahren auf diese Auseinandersetzung spezialisiert. Dabei<br />

betreibt sie eine „Archäologie der Zukunft“. in der sie wichtige Werke aus<br />

der jüngsten Kunstgeschichte – von Marcel Duchamp bis Donald Judd – als<br />

zukünftige Ausgrabungsstücke inszeniert.<br />

Über alle Grenzen im Netz<br />

Marlene Dietrich. Die Diva. Ihre Haltung. Und die<br />

Nazis<br />

Wanderausstellung der Gedenkhalle Oberhausen<br />

Saarbrücken, Stiftung Demokratie Saarland, Europaallee 18<br />

Ab 25. Januar 20<strong>21</strong> bis 27. April 20<strong>21</strong><br />

Marlene Dietrich (1901-1992) war der erste deutsche Weltstar. Wer kennt<br />

sie nicht als Lola Lola aus dem Filmklassiker „Der blaue Engel“ oder hat<br />

nicht schon einmal „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ gehört?<br />

Bis heute verbinden sich mit ihr viele schillernde Bilder und partiell sehr<br />

gegensätzliche Vorstellungen: Sexsymbol und Mutter, Schauspielerin und<br />

Sängerin, Ehefrau und Geliebte, Kunstfigur und Stilikone, Weltstar und<br />

Diva.<br />

Die Ausstellung folgt dem Lebensweg Marlene Dietrichs von Deutschland<br />

in die USA, zu den Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs bis zurück in Nachkriegsdeutschland<br />

und weiter nach Polen, Israel und schließlich Paris, wo<br />

sie 1992 starb.<br />

Anhand zahlreicher Dokumente, Fotografien und unbekannter Filmsequenzen<br />

wird nachgezeichnet, für welche Haltung diese auf vielfältige<br />

Weise faszinierende Frau stand. Über 60 Lebensjahre lässt sich ein roter<br />

Faden spannen, dem in dieser Ausführlichkeit bislang noch nicht nachgegangen<br />

wurde.<br />

Die Wanderausstellung der Gedenkhalle Oberhausen wird unterstützt von<br />

der Marlene Dietrich Collection Berlin.<br />

Hinweis: Eine vorherige schriftliche Anmeldung per E-Mail ist erforderlich.<br />

Es dürfen maximal zwei Personen die Ausstellung gleichzeitig besuchen.<br />

+49 681 906260; Internet: http://www.stiftung-demokratie-saarland.de<br />

Entdecken Sie die Museen im Saarland und überregional auch vom<br />

Wohnzimmer aus und nutzen Sie die digitalen Angebote vom virtuellen<br />

Muse umsrundgang über Online-Ausstellungen bis hin zu digitalen Mitmach-Angeboten<br />

für Groß und Klein. Die meisten großen Museen haben<br />

interessante digitale Angebote erarbeitet – bis hin zu Museumsrundgängen<br />

auf Plattformen wie YouTube oder Live-Videos auf Instagram.<br />

https://artsandculture.google.com/partner/staatskanzlei-saarland?hl=de<br />

https://www.kulturbesitz.de/botticellidigital.html<br />

https://bruecke.modernegalerie.org/<br />

https://artsandculture.google.com/search?=VölklingerHütte<br />

https://www.museumsportal-rlp.de/digitale-angebote<br />

http://www.kaiser2020.de/<br />

https://digitalekunsthalle.zdf.de/index.html<br />

https://digital.deutsches-museum.de/<br />

https://www.museum-barberini.de/de/mediathek/3360/digital-durchdie-ausstellung


neue publikationen<br />

saargeschichte|n 63<br />

Neue Publikationen<br />

Lokale Geschichte<br />

Kessler, Albrecht / Schmitt, Roland: Die Flurnamen Eschringens mit<br />

einem Exkurs zu den lokalen Straßennamen, (Eschringer Hefte 10), hg. von<br />

der Geschichtswerkstatt Eschringen/vhs halberg, Saarbrücken-Eschringen<br />

2020, 62 Seiten, illustriert, bestellbar bei http://shop.eschringen.de.<br />

Sänger, Rainer: Büschfelder Heimatbuch Nr. 4, herausgegeben vom Verein<br />

der Heimat- und Geschichtsfreunde Büschfeld (Büschfeld 2020), 336<br />

Seiten, illustriert.<br />

Schneider, Ralf: Das Residenzschloss zu Ottweiler, 290 Seiten, illustriert,<br />

Eigenverlag, bestellbar unter schlossbaukunst@arcor.de<br />

Saarland allgemein<br />

Beil, Ralf / Krämer, Frank (Hg.): Mon Trésor. Europas Schatz im Saarland,<br />

(Berlin 2020), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 352 Seiten, illustriert,<br />

ISBN 978-3-96912-013-2.<br />

Bonkhoff, Bernhard H.: Kultur, Konfession, Region. Gesammelte Aufsätze<br />

zur Kirchen- und Landesgeschichte von Pfalz- und Elsass-Lothringen, (St.<br />

Ingbert 20<strong>21</strong>), 709 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-95602-225-8.<br />

Hoffmann, Hans-Joachim: Verwirrende Wege. Ottweiler 1918/19 -1956. Entstehung,<br />

Zerschlagung und Neuaufbau demokratischer Strukturen, (Ottweiler<br />

2020), 602 Seiten, ISBN 978-3-00-067119-7.<br />

Matzerath, Simon / v. Büren, Guido (Hg.): Steinerne Macht. Burgen,<br />

Festungen, Schlösser in Lothringen, Luxemburg und im Saarland, (Regensburg<br />

2020), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 680 Seiten, illustriert,<br />

ISBN 978-3-7954-3387-1.<br />

Mueller, Susanne: Frankreich im Saarland – La France en Sarre, (Frankfurt<br />

a.M. 2020), <strong>21</strong>6 Seiten, zweisprachig, ISBN 978-3-939044-51-2.<br />

Simon, Frederik: Seelsorge als Milieumanagement. Dechant Dr. Johann<br />

Ludger Schlich und der Katholizismus an der Saar zwischen 1913 und 1935,<br />

(Münster 2020), Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte<br />

144, 541 Seiten, ISBN 978-402-15956-9.<br />

Vogel, Christian / Abel, Christina u.a. (Hg.): Frankenreich – Testamente<br />

– Landesgeschichte: Festschrift für Brigitte Kasten zum 65. Geburtstag,<br />

(Saarbrücken 2020), 681 Seiten, illustriert, Reihe Veröffentlichungen der<br />

Kommission für Saarl. Landesgeschichte 53, ISBN 978-3-939150-14-5.<br />

Weiler, Helmut: Chronik der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius<br />

Wolfersweiler, (Saarbrücken-Dudweiler 2020), 95 Seiten, illustriert, Förderverein<br />

Lichtblick der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius Wolfersweiler<br />

e.V..<br />

Über die Grenze<br />

Biller, Thomas: Die Hohkönigsburg im Mittelalter: Geschichte und neue<br />

Bauforschung, (Ostfildern 2020), 316 Seiten, illustriert, Pläne, Reihe Veröffentlichung<br />

des Alemannischen Instituts Nr. 87, ISBN 978-3-7995-1453-8.<br />

Biller, Thomas (Hg.): Burgenlandschaft Mittelrhein – Burg und Verkehr<br />

in Europa: Denkmalpflege und Forschung im UNESCO-Weltkulturerbe: Vorträge<br />

der 25. Jahrestagung der Wartburg-Gesellschaft in Boppard am Rhein,<br />

25.-28. Mai 2017, (Petersberg 2020), 280 Seiten, illustriert, Reihe Forschungen<br />

zu Burgen und Schlössern, Bd. 20, ISBN 978-3-7319-1016-9.<br />

Diehl, Wolfgang: Kämpferische Westmark: zur Kulturpolitik und Bildenden<br />

Kunst während des Dritten Reichs in den Gauen Pfalz, Saarpfalz und<br />

Westmark, (Neustadt an der Weinstraße 2020), Stiftung zur Förderung der<br />

Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, Abhandlungen zur Geschichte<br />

der Pfalz, Bd. 20, 651 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-94<strong>21</strong>89-23-1.<br />

Geiger, Roland: Schiedsmänner, Hebammen und die Spanische Grippe:<br />

Vorträge des Seminars „Vertiefende Familienforschung“ im Oktober 2020,<br />

(St. Wendel 2020), 144 Seiten, illustriert, Konferenzschrift.<br />

Leyen, Wolfram von der / Legrum, Kurt: 200 Jahre Fürsten von der<br />

Leyen in Waal (1820-2020), (Waal 2020), 31 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-<br />

00-065045-1.<br />

Ludwig, Daniel: Die Bedeutung von Tausch in ländlichen Gesellschaften<br />

des fränkischen Frühmittelalters: vergleichende Untersuchung der Regionen<br />

Baiern, Alemannien und Lotharingien, (Ostfildern 2020), Besitz und Beziehungen<br />

Bd. 2, 404 Seiten, Diss. Universität des Saarlandes, ISBN 978-3-<br />

7995-9401-1.<br />

Meyer, Markus: Kampf um Grundrechte und Reichsverfassung: die Revolution<br />

1848/49 in der Pfalz, (Neustadt an der Weinstraße 2020), Stiftung<br />

zur Förderung der Pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe B, Abhandlungen<br />

zur Geschichte der Pfalz, Bd. <strong>21</strong>, Diss. Universität Eichstätt-Ingolstadt,<br />

374 Seiten, ISBN 978-3-94<strong>21</strong>89-28-6.<br />

Meyer-Landrut, Nikolaus: Frankreich. Betrachtungen zu Geschichte<br />

und Gegenwart, (Saarbrücken 2020), 179 Seiten, m. e. Vorwort von Wolfgang<br />

Schäuble, ISBN 978-3-9822386-0-9.<br />

Pölking, Hermann / Sackarnd, Linn: Der Bruderkrieg. Deutsche und<br />

Franzosen 1870/71, (Freiburg, Basel, Wien 2020), 686 Seiten, illustriert, Online-Ressource<br />

ISBN 978-3-451-81963-6, ISBN der Printausgabe 978-3-451-<br />

38456-1.<br />

Schneidmüller, Bernd / Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz<br />

(Hg.): Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht: von Karl dem<br />

Großen bis Friedrich Barbarossa, (Darmstadt 2020), 559 Seiten, illustriert,<br />

Faksimiles, Pläne, Katalog zur Landesausstellung 2020/20<strong>21</strong>, ISBN 978-3-<br />

8062-4174-7.<br />

Wenz, Martin: Die Stunden- und Kilometersteine an den Straßen der bayerischen<br />

Pfalz, (Speyer 2020), 208 Seiten, ISBN 978-3-93<strong>21</strong>55-43-7.<br />

Wickeren, Alexander van: Wissensräume im Wandel: eine Geschichte<br />

der deutsch-französischen Tabakforschung (1780-1870), (Köln; Wien; Weimar<br />

2020), 329 Seiten, Reihe Peripherien Bd. 6, Online-Ressource ISBN 978-<br />

3-412-51814-1, ISBN der Printausgabe 978-3-412-51812-7.<br />

im internet … www.saargeschichten.online


ach du liebe zeit … (P.B. 44)<br />

saargeschichte|n 65<br />

Im guten alten England, dessen Abschied aus Europa<br />

man schon aus humoristischen Gründen kaum tief genug<br />

bedauern kann, gibt es Theaterbühnen, die jahrzehntelang<br />

jeden Abend das gleiche Programm präsentieren. Von solcher<br />

Konstanz waren wir ungeduldigen Menschen in good<br />

old Germany bis zum Ausbruch der C-Krise meilenweit entfernt.<br />

Jetzt aber können auch wir ein kleines Jubiläum feiern,<br />

das beweist, zu welchen Meisterstücken der kulturellen Redundanz<br />

wir im Notfall fähig sind. Zum ersten Mal jährt sich<br />

in Kürze nämlich der Tag, an dem unsere Politik beschlossen<br />

hat, künftig nur noch in einem alle Medien und Kanäle vereinenden<br />

Format, als monothematische Talkshow mit rotierendem<br />

Personal in Erscheinung zu treten. In den bisher ausgestrahlten<br />

500 Millionen Sendeminuten wurde fast jedes<br />

Detail der C-Politik mit ähnlicher Sorgfalt diskutiert wie einst<br />

die Verdauungsprobleme des Königs im absolutistischen<br />

Frankreich. Nur ein sich geradezu aufdrängendes Problem<br />

blieb dabei merkwürdig unterbelichtet: die Frage der Auswirkungen<br />

der C-Krise auf die Sprache und mithin den<br />

Zustand der Politik.<br />

Nun ist das mit Politik und Sprache schon im Normalfall so<br />

eine Sache, die zum Beispiel mit Präzision nur wenig und mit<br />

Kreativität schon gar nix zu tun hat. Denken wir nur an einige<br />

Meisterstücke der Politprosa, die uns seit Jahren immer<br />

wieder beschert werden. Wenn etwa nach jeder noch so sinnund<br />

ergebnislosen Sitzung behauptet wird, dass wir ein gutes<br />

Stück weitergekommen sind (was sich eigentlich nur auf die<br />

während der Konferenz verdrückten Kuchenstücke beziehen<br />

kann). Oder wenn versichert wird, dass man zur Lösung dieses<br />

und jenes finanziellen Problems gut aufgestellt sei (ist<br />

das Problem die Mannschaftsaufstellung beim Fußballspiel<br />

zwischen Wirtschafts- und Finanzministerium?). Herrlich<br />

unverkrampft, wenngleich ein wenig persönlich anbiedernd<br />

wirkt schließlich jenes Da bin ich ganz bei Ihnen, um eigentlich<br />

nur sagen zu wollen, dass man ausnahmsweise mal<br />

der gleichen Meinung ist wie sein Gegenüber. Konsequent<br />

weitergedacht müsste also die saarländische Regierung,<br />

wenn sie die kaum noch vorhandene Opposition dazu auffordern<br />

möchte, ihren Gesetzesvorlagen zuzustimmen, nur<br />

ganz vertraulich ins Plenum hauchen: Komm bei mich!<br />

Wo schon ohne jeden Virenbefall, bei einem R- und Inzidenzwert<br />

von Null, derlei rhetorisches Raffinement möglich war,<br />

musste die Sprachliebe in den Zeiten der Corona fast zwangsläufig<br />

bisher ungeahnte Höhen erreichen. Ein grandioses<br />

Beispiel dafür lieferte gerade jetzt, bei der sogenannten<br />

Maskenaffaire, Tilman Kuban, jener jungunion ierte Rambo,<br />

bei dem man prima vista nicht so recht weiß, ob er in der<br />

richtigen Partei gelandet ist. Wir wissen nicht, ob und wie<br />

lange sich Herr Kuban in letzter Zeit in irgendwelchen krachneuen<br />

Virenvariantengebieten aufgehalten hat. Über seinen<br />

demaskierten sündigen Parteifreund fällte er jedenfalls ein<br />

gnadenlos aufrichtiges Urteil: Wer die Not der Menschen ausnutzt<br />

und sich damit noch selbst die Taschen vollmacht, der<br />

gehört nicht in ein deutsches Parlament, hat der junge Mann<br />

schon fast altersweise erkannt. Wäre ja auch noch schöner,<br />

wenn im Bundestag tatsächlich Abgeordnete säßen, die<br />

ihre Taschen mit den Nöten der Wahlbürger gefüllt hätten!<br />

Wenn Sie nun glauben, wir wären damit auf dem Gipfel<br />

coronöser Kommunikation angekommen, dann haben<br />

Sie sicher noch nichts von den derzeit laufenden Wahlkampagnen<br />

in den beiden unwichtigeren Bundesländern<br />

des deutschen Südwestens mitbekommen. Dieses 20<strong>21</strong>ste<br />

Jahr soll ja nicht nur ein Superimpf-, sondern auch ein<br />

Superwahljahr werden. Und das unter Coronabedingungen,<br />

will sagen, unter dem Diktat des Digitalen. Virtuelle Wahlen<br />

wird’s sozusagen geben, wozu hierzulande sehr viel weniger<br />

Erfahrungen existieren als beispielsweise in Hongkong,<br />

Russland oder Belarus. Immerhin, so viel ist auch bis zu uns<br />

vorgedrungen: Auf den richtigen Führer kommt es an – und<br />

auf die Worte, die ihn in den Himmel über Mainz oder Stuttgart<br />

heben sollen. Der Blick auf die Plakatwände, die derzeit<br />

in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sogar analog<br />

zu sehen sein sollen, kann nur bestätigen, wie sehr die virtuelle<br />

Wahlkommunikation gelungen ist. Den Vergleich mit<br />

russischen Verhältnissen kann sie ohne Frage aushalten.<br />

Bei den Schwaben, die genau wie wir Saarländer alles können<br />

außer Hochdeutsch, spricht das Konterfei des Landesvaters<br />

die Wähleraugen vor dem Plakat direkt an. Sie kennen<br />

mich, beruhigt Kretschi alle seine möglicherweise<br />

verunsicherten Landeskinder, und wer ihn nicht jeden Tag in<br />

der Talkshow sehen will, das sagt der Winni damit natürlich<br />

auch, der wird ihn schon noch kennenlernen, spätestens bei<br />

der nächsten Ausgangssperre. Während der Schwabe also<br />

die sybillinische Formel der Macht bevorzugt, lässt Kollegin<br />

Dreyer in Mainz nur klare Worte zu. Wir mit ihr ist neben<br />

Malus lachendem Kopf zu lesen, was man, nachdem der<br />

sprachästhetische Schock verdaut ist, sofort als das erkennt,<br />

was es ist: Ganz große Politik mit ganz kleinen Worten. Das<br />

Land als ganzheitliche Vereinigung von Landesmutter und<br />

-kindern, die paradiesische Vision einer pränatalen Gemeinschaft<br />

mit quasi uteralen Versorgungsmöglichkeiten, die<br />

matriarchal abgesoftete Version von L’Etat c’est moi.<br />

Die Latte liegt also verdammt hoch, wenn nächstes Jahr das<br />

wichtigste Bundesland im Südwesten in den Kampf zieht.<br />

Wie will unser MP die kommunikative Herausforderung<br />

bestehen? Der Hans, der kann’s? Der Tobi, ein As? Eine<br />

Mischung aus BW und RP, etwa: Kennen Sie mich mit ihr?<br />

(Müsste man sinnvollerweise Frau Hans mit ins Bild rücken).<br />

Wir rätseln weiter. Und warten ab. Die nächste Seuche<br />

kommt bestimmt. Auch sie wird uns nicht sprachlos machen.


saargeschichte|n bildet …<br />

Wussten Sie übrigens, dass man im<br />

Saarland bereits in den 1940er Jahren<br />

innovative Wege beschritt, um<br />

Massenimpfungen zu ermöglichen?<br />

Im Krankenhaus Fischbach mussten<br />

die Probanden einfach nur ihren Arm<br />

abgeben, der dann von einer Heerschar<br />

kompetener Schwestern am Fließband<br />

versorgt werden konnte. Schnelligkeit<br />

war ebenso garantiert wie ein<br />

absoluter Infektionsschutz.<br />

Saarlandfarben von Georg Fox<br />

Über den Charme des Landes und vom Glück,<br />

im Saarland leben zu dürfen<br />

Neu aufgelegt und ab sofort<br />

wieder erhältlich im Buchhandel,<br />

oder edition-schaumberg.shop


saargeschichte|n<br />

magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />

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Hans-Christian Herrmann (Hg.)<br />

Die Strukturkrise an der Saar<br />

und ihr langer Schatten<br />

Bilanz und Perspektiven von Montanregionen<br />

im europäischen Vergleich<br />

Auf dem Weg zur E-Mobilität und zum sogenannten<br />

grünen Stahl steht Deutschland ein massiver<br />

Strukturwandel bevor. Das betrifft insbesondere<br />

das Saarland mit seiner erfolgreich restrukturierten<br />

Stahlindustrie und seinen zahlreichen Arbeitsplätzen<br />

in der Autobranche. In dieser Situation lohnt sich<br />

der Blick auf die schwere Krise von Kohle und<br />

Stahl in den 1960er Jahren und dann vor allem<br />

wieder ab 1975. Der vorliegende Band gibt einen<br />

Überblick über Ursachen, Entstehung und Verlauf<br />

dieser Strukturkrise und analysiert die Strategien<br />

zu ihrer Lösung. Verschiedene Reviere wie das<br />

Saarland, Nordrhein-Westfalen, die lothringischen<br />

Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle<br />

sowie das Großherzogtum Luxemburg werden in<br />

den Blick genommen und miteinander verglichen.<br />

Dabei zeigen sich erstaunliche Unterschiede. Mit<br />

Ausnahme von Luxemburg hat die Strukturkrise<br />

die betroffenen Regionen existenziell erschüttert<br />

und bis heute geschwächt, wie man am Beispiel<br />

Lothringens und in abgeschwächter Form auch in<br />

einigen ehemaligen saarländischen Montanstädten<br />

beobachten kann. Die bis heute spürbaren<br />

Verwerfungen machen vor dem Hintergrund<br />

zukünftiger Prozesse deutlich, dass Strukturkrisen<br />

nicht nur an die Substanz der Wirtschaft gehen,<br />

sondern auch an das Fundament der Gesellschaft<br />

und unserer Demokratie.<br />

Herausgegeben im Auftrag des<br />

Saarländischen Archivverbandes e. V.<br />

360 Seiten, Hardcover<br />

zahlreiche, teils farbige Abbildungen<br />

ISBN 978-3-95602-224-1, 24,90 €<br />

»Viele sagen, der Krieg gehe<br />

verloren. Sie sagen es mit<br />

vorgehaltener Hand, denn dies<br />

laut auszusprechen ist gefährlich.<br />

Ich kann es nicht hören, will<br />

es nicht glauben, obwohl es<br />

offensichtlich ist. Insgeheim<br />

weiß ich auch, es wird so sein.<br />

Was wird kommen?<br />

Werden wir uns wiedersehen?«<br />

Heidemarie Ertle (Hg.)<br />

»Gestern war ein sehr schwerer<br />

Tag für uns hier in St. Ingbert.«<br />

Das Kriegstagebuch<br />

von Ruth Schier<br />

Schriftenreihe des<br />

St. Ingberter Stadtarchivs<br />

204 Seiten, Taschenbuch, zahlr. Abb.<br />

ISBN 978-3-95602-228-9, 17,00 €<br />

Baus/Becker/Schwan (Hg.)<br />

Bayern an der Blies<br />

100 Jahre bayerische Saarpfalz<br />

(1816–1819)<br />

Herausgegeben im Auftrag<br />

des Saarpfalz-Kreises<br />

336 Seiten, Hardcover<br />

zahlreiche, teils farbige Abbildungen<br />

ISBN 978-3-95602-185-5, 24,90 €<br />

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