LITERATUR + KUNST
LITERATUR + KUNSTZu Tisch bei den SprachinselnEin beispielhafter kulinarischer Führervon Wolftraud SchreiberItalien, das ist allerseits bekannt, besitzteine unglaublich reiche Vielfalt an typischenGerichten der traditionellen Küche. VomNorden bis in den Süden, vom Aostatal bisSizilien und von Südtirol bis Kalabrien trifftman auf gastronomische Spezialitäten, umdie uns die Welt beneidet. Doch auch diebesten Kenner feiner Kochkunst kennenwahrscheinlich nicht die Gerichte, die inder kürzlich erschienenen Publikation „ZuTisch bei den Sprachinseln. A tavola conle isole linguistiche“ präsentiert werden.Dabei sind es Speisen, die in Italiengekocht und serviert werden: in denTerritorien der deutschen Sprachinselnin den italienischen Alpen und Voralpen.Im Buch, das vom Einheitskomitee derhistorischen deutschen Sprachinseln inItalien und unter der Schirmherrschaftder Accademia Italiana della Cucinaherausgegeben worden ist, erfahren wirmehr über 15 dieser Sprachinseln: vonGressoney im Aostatal über Lusern und dasFersental im Trentino und die Dreizehn undSieben Gemeinden im Veneto bis Tarvisioan der Grenze zu Österreich und Slowenien.Dem Leser dieser Publikation, die sichdurch eine ansprechende grafischeAufmachung auszeichnet, tut sich einegastronomische, sprachliche und kulturelleWelt auf, die nur wenigen bekannt ist.Denn wer – außer den Bewohnern dieserdeutschen Sprachinseln – wäre schon inder Lage, den Z’brochitji, den Bénéntschuoder den Kavrítz zuzubereiten, dieSürchana Korschèntz, die Taucian-Noukan,die Khrautjöta, den Stèlzer oder dieKschtosnätzégär? Beim Lesen der Namendieser Gerichte – dieser in der Mehrheit“armen” Gerichte, die leicht anzurichtensind – glaubt man sich auf einen anderenStern versetzt, wo eine unbekannte,geheimnisvolle Sprache gesprochen wird.Dabei ist es die Sprache, die bis heute vonunseren Nachbarn gesprochen wird: vonden Walser im Piemont und im Aostatal,von den Zimbern und den Fersentalern imTrentino, den Bewohnern der Sieben undDreizehn Gemeinden und von Sappada imVeneto, von Sauris, Timau und Valcanaleim äußersten Friaul. Wo sprachlicheund kulturelle Globalisierung sich nochfernhalten. Ja, auch die kulturelle. Denndie traditionelle, altüberlieferte Kochkunstist ein wesentlicher und charakteristischerAusdruck der Kultur einer Bevölkerung.Die in dieser Veröffentlichung gesammeltenRezepte – vier Vorspeisen, vier Hauptspeisenund zwei Desserts – werden, mitgenauen Angaben der Zutaten und der Zubereitungsweise,in drei Sprachen wiedergegeben:auf Deutsch, auf Italienisch undin der deutschen Mundart der jeweiligenGemeinschaft. So wird das Buch, das inder doch schon so reichen Literatur zurGeschichte der Gastronomie in Italien eineLücke füllt, zu einem kulinarischen Leitfaden,einem sprachlichen Lehrbuch undeinem kulturellen Führer.Wirklich eine Publikation, die man genießensollte. Wie die aufgetischten Gerichte.85