Auszug aus: Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz (Hg.): «Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt.»

«Mutter, mach dir
keine Sorgen, das ist eine
ganz andere Welt.»
Unbegleitete minderjährige
Asyl suchende in der Schweiz
erzählen
Elf Porträts und Gespräche
Herausgegeben von der Beobachtungsstelle
für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz und vom
Solidaritätsnetz Ostschweiz
Mit Beiträgen von Annette Bossart, Bernhard Brack,
Stefanie Ehrbar, Heiner Gantenbein, Luca Ghiselli, Silvia Maag,
Sükran Magro, Peter Oberholzer, Ana Paredes, Donat Rade,
Karsten Redmann, Klausfranz Rüst, Angelica Schmid, Kaspar
Surber und Barbara Weibel
Mit Fotografien von Ahmad Motalaei
Limmat Verlag
Zürich

7 Ein Buch über die Hoffnung
Einleitung von Ana Paredes und Barbara Weibel
Im Gedenken an Hannelore Fuchs (1936 – 2020),
eine unermüdliche Kämpferin für die Rechte der verletzlichsten
Menschen in unserer Gesellschaft
12 Abdulayaz
«Von meiner Familie könnte ich noch mehr erzählen.»
Von Stefanie Ehrbar
36 Ahmad
«Man muss in diesen schwierigen Situationen einen Weg finden.»
Von Ana Paredes
58 Alem
«Wenn eines Tages der Krieg fertig ist, will ich sofort
in mein Land heimgehen.»
Von Heiner Gantenbein
72 Ali
«Man muss lernen, wie man sich selber helfen kann.»
Von Bernhard Brack
94 Asef
«Ich bin glücklich, die Sonne scheint, alles ist gut!»
Von Angelica Schmid
110 Mamadou
«Man muss positiv denken.»
Von Peter Oberholzer
124 Aamina
«Was soll ich machen? Nur sitzen, da lerne ich nix.»
Von Annette Bossart
152 Guled
«Man wartet immer.»
Von Silvia Maag
172 Mahmoud
«Ich dachte, ich sterbe hier oder woanders. Aber ich dachte auch,
dass ich studieren will und es überleben muss.»
Von Sükran Magro

186 Mehdi
«Ich habe so viel Kraft in meine Flucht investiert,
so viel aufgegeben und erlebt.»
Von Luca Ghiselli
200 Mohammad
«Kann frei entscheiden, wer ich sein will.»
Von Karsten Redmann
225 Fluchtwege und Fluchtländer
Von Kaspar Surber
230 Die Menschenrechte von asylsuchenden Kindern gemäss
UN-Kinderrechtskonvention
Von Klausfranz Rüst
239 Modell für die Unterbringung und Betreuung unbegleiteter
minderjähriger Asylsuchender
Von Donat Rade
246 Glossar
250 Mitwirkende
253 Herausgebende
Ein Buch über die Hoffnung
Dieses Buch stellt den zweiten Band einer Reihe dar, die sich mit
besonders vulnerablen Personen und Situationen im Asylbereich
beschäftigt. Der erste Band mit dem Titel «Das hier … ist mein ganzes
Leben» ist 2013 ebenfalls im Limmat Verlag erschienen und
porträtiert abgewiesene asylsuchende Menschen, die in der Schweiz
mit Nothilfe lebten.
Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR waren Ende des Jahres
2019 weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. 26 Millionen
dieser Menschen flohen aus ihrer Heimat vor Konflikten, Verfolgung
oder schweren Menschenrechtsverletzungen. Etwas weniger
als die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder unter achtzehn Jahren.
Ungefähr dreihunderttausend davon sind nach Quellen der UNO
unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA).
Das vorliegende Buch befasst sich mit UMA in der Schweiz. Nach
den dramatischen Ausgangssituationen in den Herkunftsländern,
der Flucht und schliesslich der Ankunft im neuen, unbekannten
Land ist eine qualifizierte und enge Begleitung besonders wichtig
für die Entwicklung und die Integration der Jugendlichen in der
neuen Realität. Sie sind vulnerabel, denn sie befinden sich in einer
entscheidenden Phase ihres Lebens, in der sie ihre Fähigkeiten und
Potenziale entwickeln sowie die emotionale Stabilität schaffen, die
für die Zukunft notwendig ist. Diese Phase der Adoleszenz und der
sekundären Sozialisation, ohne die Begleitung einer vertrauten
Bezugsperson zu erleben, verstärkt ihre Verletzbarkeit noch. Diesen
Kindern fehlen die Stütze der Familie und andere Unterstützungsnetze.
Minderjährige sind leichte Ziele für Missbrauch aller Art.
Ziel des Buches ist es, einer breiten Öffentlichkeit die von Krieg,
Trennung, Flucht und einem Leben in der Fremde geprägte Erfahrungswelt
von minderjährigen Asylsuchenden durch deren eigene
7

Schilderung erfahrbar zu machen. Die Jugendlichen erzählen ihre
Geschichte mittels Interviews, die jeweils mit einem Rahmentext
reflektiert und kontextualisiert werden. Dabei spielen die Lebensumstände
im jeweiligen Herkunftsland, die Flucht sowie die Ankunft
und Integration in der Schweiz eine besondere Rolle. Die
persönliche Begegnung wird durch fotografische Porträtaufnahmen
vertieft.
Elf Personen, die als unbegleitete Minderjährige in die Schweiz
geflüchtet sind und in der Ostschweiz (vorläufige) Aufnahme gefunden
haben, erhalten im vorliegenden Buch Gehör. Dabei handelt
es sich ausschliesslich um Jugendliche, welche inzwischen die Volljährigkeit
erreicht haben und sich autonom für eine Mitwirkung
entscheiden konnten.
Die Suche nach geeigneten Jugendlichen, die bereit waren, ihre
Geschichte preiszugeben, gestaltete sich recht schwierig. Kontakte
entstanden schliesslich über Organisationen, die für Flüchtlinge und
insbesondere für UMA zuständig sind, oder über private Begleitpersonen.
Viele UMA sind traumatisiert durch Geschehnisse in
ihrem Herkunftsland oder durch negative Erlebnisse und Strapazen
während der Flucht. Es ist verständlich, dass manche von ihnen nicht
gerne daran zurückdenken, geschweige denn, darüber erzählen wollen
oder können. Auffallend – aber auch nicht sehr erstaunlich – ist
die Tatsache, dass es noch schwieriger war, weibliche UMA für ein
Porträt zu gewinnen. Laut Statistik gibt es eindeutig weniger Mädchen
als Jungen, die sich alleine auf die Flucht begeben (Staatssekretariat
für Migration SEM im Jahr 2015: 17,9 % gegenüber von
82,1 %). Weitere Gründe für die Zurückhaltung der Mädchen mögen
die kulturellen und traditionsbedingten patriarchalischen Strukturen
in den Herkunftsländern sein. Und schliesslich werden auch viele
Mädchen Opfer von Zwangsheirat, Vergewaltigung und Menschenhandel,
was ihre Vulnerabilitätssituation zusätzlich verstärkt. Ins
Auge sticht beim Lesen unseres Buches ausserdem die Überzahl von
afghanischen Porträtierten: Sieben UMA aus Afghanistan, zwei aus
Somalia sowie je einer aus Syrien und aus Mali. Dies entspricht in
etwa obengenannter SEM-Statistik, gemäss welcher im Jahr 2015
909 UMA aus Afghanistan, 23 aus Somalia und siebzehn aus Syrien
ein Asylgesuch in der Schweiz stellten.
Einige der Interviewten wollten mit ihrem Namen im Buch erscheinen,
andere nicht. Gewisse Jugendliche, deren Aufnahmeentscheid
noch hängig ist, wurden zu ihrem Schutz bezüglich Name und
Foto anonymisiert. Alle Porträtierten haben eine Einverständniserklärung
unterschrieben und konnten die Texte gegenlesen.
Die fotografischen Porträts ermöglichen es, die Schilderungen
auf eine konkrete Person zu beziehen. Für die Aufnahmen konnte
derselbe Fotograf gewonnen werden, der bereits beim ersten Buch
mitwirkte. Aufgrund seiner eigenen Migrationsgeschichte konnte
er die Botschaft, welche die Herausgeber und Herausgeberinnen zu
vermitteln beabsichtigen, perfekt miteinbinden. Die meisten Fotos
wurden Anfang 2020 an zwei verschiedenen Orten in der Stadt
St. Gallen aufgenommen. Es war eine Freude zu beobachten, wie sich
die jungen Menschen mit Offenheit und Selbstvertrauen fotografieren
liessen.
In den Interviews erzählen die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen
ihre Geschichte. Der Erzählstrang umfasst Erinnerungen
ans Herkunftsland, die Erfahrungen vor und während der Flucht
und mündet in der Ankunft in der Schweiz mit allen Facetten von
Chancen, Unterstützungen und Hindernissen bei der Integration
sowie zukunftsgerichteten Vorstellungen. Persönliche Prägungen
und Veränderungen, Selbstwahrnehmungen, Emotionen und Beziehungsgeschichten
erhalten besondere Aufmerksamkeit. Die Stimme
der Betroffenen ist zentral und soll möglichst authentisch übermittelt
werden.
8 9

Die Interviews wurden auf Deutsch (teilweise auch auf Schweizerdeutsch)
geführt. Sie wurden transkribiert (ausser bei einem Jugendlichen,
der keine Ton-Aufnahme wünschte) und zur besseren Verständlichkeit
mit Sorgfalt überarbeitet. Dabei wurden die Sprache
und die Ausdrucksweise möglichst im Originalton belassen und durch
dezente Änderungen der Stil und Gehalt der Aussagen bewahrt.
Zu den Autorinnen und Autoren gehören Engagierte in sozialen
Bewegungen, die über praktische Erfahrungen im Migrationsbereich
und persönliche Kontakte zu Betroffenen verfügen, sowie
auch Schriftsteller und Journalisten. Einige kannten ihre Gesprächspartner
bereits sehr gut, andere noch nicht. Um Vertrauen aufbauen
zu können, fanden meist mehrere Treffen statt.
Wie schon im ersten Band orientierten sich die Interviews am
Prinzip des «methodischen Verstehens» nach dem Soziologen Pierre
Bourdieu. Zentrales Element der Befragung ist dabei eine Begegnung
auf Augenhöhe. Ein qualitativer Leitfaden diente als Orientierungsinstrument,
um die freie Erzählung nach Bedarf lenken zu können.
Um Raum zur Selbstdarstellung zu lassen, wurden die Fragen nicht
zielgerichtet gestellt. Diese qualitativen Methoden erlauben es, die
Situationen, Konflikte, Erfahrungen, Perspektiven und Positionen
der Befragten in Erfahrung zu bringen und zu verstehen.
Zur Einführung gibt es als Ergänzung zu den Interviews einen
Rahmentext mit Hintergrundinformationen, die im Interview nicht
zur Sprache kommen, aber zur Verständlichkeit beitragen, und in
dem Schwerpunkte herauskristallisiert werden. Die Situation der
jungen Menschen, die als minderjährige, allein reisende Flüchtlinge
in die Schweiz gekommen sind, wird möglichst objektiv reproduziert,
kontextualisiert, analysiert und resümiert. Ein besonderes Augenmerk
gilt den Integrationserfahrungen der Jugendlichen in der Schweiz.
Ergänzt und vertieft wird die Thematik mittels Fachtexten. Zur
Kontextualisierung und zur Vermeidung von Wiederholungen werden
im ersten Fachtext die politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Besonderheiten der Herkunftsländer – Afghanistan, Mali, Somalia
und Syrien – sowie aktuelle Informationen zu den Transitländern
auf der Fluchtroute dargestellt und in einen integrationspolitischen
Zusammenhang gestellt. Die Menschenrechte von asylsuchenden
Kindern gemäss der UN-Kinderrechtskonvention werden in einem
zweiten Fachtext beleuchtet, in einem dritten die Thematik der Betreuung
und Unterbringung von UMA anhand der «Komponenten
ganzheitlicher Betreuung», wie sie der internationale Sozialdienst
(ISS) vorschlägt, und durch ein Ostschweizer Beispiel illustriert.
Dass die Betreuung und die Begleitung der Jugendlichen auf
ihrem Weg in die Integration nicht immer dem Idealfall aus dem
Fachtext entsprechen, ist evident – die Aussagen der Jugendlichen
sprechen für sich.
Verantwortlich für Konzept, Inhalt, Finanzierung und Durchführung
des Projekts ist ein Redaktionsteam der Beobachtungsstelle
für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz und des Solidaritätsnetzes
Ostschweiz. Die Durchführung und Transkription der einzelnen
Interviews sowie die Kontextualisierung durch die Rahmentexte
lagen in der Hand der jeweiligen Autorinnen und Autoren. Die Porträts
wurden sowohl im Redaktionsteam als auch in Autorenteams
diskutiert und die Interpretationen für die Rahmentexte gemeinsam
erarbeitet. Die Herkunft der Autorinnen und Autoren aus verschiedenen
praktischen und wissenschaftlichen Bereichen erlaubte
es, Schilderungen der Betroffenen unter objektiven Aspekten zu
ergänzen.
Im Namen der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht
Ostschweiz und des Solidaritätsnetzes Ostschweiz,
Ana Paredes, Barbara Weibel
10 11

«Von meiner Familie könnte
ich noch mehr erzählen.»
Abdulayaz flüchtete 2015 als Fünfzehnjähriger
alleine aus Afghanistan in die
Schweiz. Er lebt mit einer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung
im Kanton Appenzell
Ausserrhoden.
Von Stefanie Ehrbar

Abdulayaz ist Afghane und neunzehn Jahre alt. Mit fünfzehn Jahren
musste er alleine aus Afghanistan flüchten und gegen seinen Willen
seine Familie und seine Heimat hinter sich lassen. Es war das erste
Mal, dass er sein Heimatland verliess. Er sollte nach Europa flüchten,
in eine Gegend, die sich grundlegend von seiner Heimat unterscheidet
– ohne zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Zwei Monate
lang reiste er mit Schleppern unter menschenunwürdigen
Bedingungen durch ihm fremde Länder und durchlebte lebensbedrohliche
Situationen. Besonders eindrücklich ist, wie Abdulayaz
mit fünfzehn Jahren seine Flucht von Griechenland aus selbständig
fortsetzte.
Seine Ankunft in der Schweiz brachte ihm zwar Sicherheit, jedoch
nicht die Beständigkeit, die ein Mensch, insbesondere ein Jugendlicher,
braucht. Nachdem er die erste Nacht in einer Zelle auf der
Polizeistation in Zürich verbracht hatte, wurde er ins Empfangs- und
Verfahrenszentrum nach Kreuzlingen gebracht. Daraufhin wurde
er dem Kanton Appenzell Ausserrhoden (AR) zugeteilt. In den
darauffolgenden drei Jahren musste er mehrmals die Unterkunft
wechseln. Im Sommer 2019 hat Abdulayaz ein Praktikum als Pfleger
im Spital Herisau begonnen und lebt seither im Personalhaus des
Spitals.
Kennengelernt habe ich Abdulayaz durch dieses Buchprojekt. Abdulayaz
wollte nicht, dass seine Stimme aufgenommen wird, weshalb
ich unsere Aussagen während des Interviews schriftlich protokollierte.
In der anschliessenden Überarbeitung und Reinschrift des
Interviews wurden einzelne Formulierungen in Absprache mit Abdulayaz
leicht überarbeitet, weshalb das Interview teilweise nicht
die originalgetreue sprachliche Ausdrucksweise von Abdulayaz
wiedergibt. Wesentliche Umformulierungen wurden jedoch nicht
gemacht und waren auch nicht erforderlich, da Abdulayaz über
hervorragende Deutschkenntnisse und beeindruckende Rede-
gewandtheit verfügt. Nach weniger als vier Jahren in der Schweiz
spricht er fast fehlerloses Deutsch und weiss sich in der ihm bis vor
einiger Zeit noch unbekannten Sprache sehr differenziert auszudrücken.
Abdulayaz ist eine interessierte, lernfreudige und ambitionierte
Person, die sich alle Mühe gibt, die ihr offenen Bildungswege und
Berufschancen in der Schweiz zu nutzen. Nebst seinem Spitalpraktikum
absolviert er die Handelsschule und träumt davon, in den
kaufmännischen Beruf einzusteigen. Sein Zukunftstraum ist, später
in einem Reisebüro zu arbeiten. Selbstverständlich ist der Weg für
ihn kein einfacher und seine tatsächlichen Möglichkeiten sind beschränkt.
Abdulayaz hat sich in ein ihm unbekanntes Bildungssystem
einzufinden und einzubinden. In der Handelsschule sieht sich Abdulayaz
mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert; einerseits
mit sprachlichen Hürden, andererseits fehlt ihm das branchenspezifische
Vorwissen. Diesen Herausforderungen begegnet
Abdulayaz mit Fleiss und Disziplin – indem er sehr viel lernt während
seiner Freizeit.
Allgemein fordert sich Abdulayaz in der ihm unbekannten Umgebung
und Kultur stets selber heraus. Obschon er auch Freundschaften
und Beziehungen zu Afghanen pflegt, sucht er bewusst den
Kontakt zu «Nicht-Afghanen», vor allem zu Schweizerinnen und
Schweizern, weil er seine Deutschkenntnisse verbessern und die
Schweizer Kultur näher kennenlernen und verstehen möchte.
Es erstaunt nicht, dass ich mich auf Anhieb gut mit Abdulayaz
verstehe. Seine offene, kontaktfreudige, herzliche und humorvolle
Art weckt sofort Sympathie. So bildete sich zwischen uns rasch eine
gute Vertrauensbasis, die für das Buchinterview nötig war. Dabei
erzählte Abdulayaz bewegende Erinnerungen aus seiner Heimat,
erschütternde Erlebnisse während seiner Flucht und positive sowie
negative Erfahrungen von seiner Ankunft und Integration in der
14 15

Schweiz. Seit er fünfzehn Jahre alt ist, ist Abdulayaz auf sich gestellt
und lebt fern von seiner Familie, Verwandten, Freunden und Bekannten.
Gleichzeitig freudig und traurig erzählt Abdulayaz von
seiner erfüllten Kindheit und von seinem harmonischen Familienheim.
Er erinnert sich gerne an das Aufwachsen mit seinen Geschwistern
und an die liebevolle Beziehung zu seiner Mutter und
seinem verstorbenen Vater. Diese kommt beispielsweise zum Ausdruck,
als Abdulayaz vom Spitznamen erzählt, den ihm sein Vater
gegeben hat: Ahmadzai.
Leider änderte sich die Lebenssituation von Abdulayaz schlagartig
während seiner Jugend und zwang ihn zur Flucht. Die Gründe, die
zu seiner Flucht geführt haben, möchte Abdulayaz im Rahmen dieses
Buches nicht teilen. Bei seinen Erzählungen wird immer wieder
deutlich, wie sehr ihn die anhaltende Trennung von seiner Familie
schmerzt. Unvorstellbar ist die quälende Ungewissheit, wann er seine
Familie wiedersehen wird.
In der Schweiz bemüht sich Abdulayaz sehr, sich zu integrieren,
Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu gewinnen. Dankbar
erzählt er von wertvollen Unterstützungen, die er von Betreuerinnen
und Betreuern oder von Personen, die er zufällig kennengelernt
hatte, erhalten hat. So auch von einem seiner Betreuer, welcher ihm
half, nach einem Jahr in der Schweiz endlich Kontakt zu seiner Familie
in Afghanistan aufzunehmen. Abdulayaz schildert auch zufällige
Begegnungen, die ihm in schwierigen Situationen geholfen
oder seine Lebensumstände verbessert haben, unter anderem auf
der Flucht. Er berichtet von freudigen Erlebnissen in der Schweiz,
wie seiner ersten Weihnachtsfeier im Thurhof oder seinem dreiwöchigen
Aufenthalt bei einem Paar in Lausanne. Jedoch musste
Abdulayaz auch negative Erfahrungen machen und ertragen. Seit
seiner Ankunft in der Schweiz musste er oft die Unterkunft wechseln.
Und nicht jede Unterkunfts- respektive Betreuungsform bot ihm das
Zuhause, in dem er sich als Jugendlicher geborgen gefühlt, und die
Unterstützung, die er benötigt hätte. Auch war es nicht immer einfach
für ihn, in der Schweiz Kontakt zu knüpfen, Freundschaften zu
schliessen und Beziehungen aufzubauen.
All diese Erfahrungen machen Abdulayaz wohl zu dem reifen
Menschen, den ich kennenlernen durfte. Bemerkenswert finde ich
die Willensstärke, die Abdulayaz aufweist und die Lebensfreude, die
er ausstrahlt.
Herkunftsland
Wie hast du gewohnt? Kannst du mir erzählen, wo du
aufgewachsen bist?
Ich bin in einem kleinen Dorf namens Chilar in Afghanistan aufgewachsen.
Das liegt in der Provinz Baghlan, im Distrikt Tala Wa Barfak.
Das Dorf ist etwa so gross wie Trogen. Meine ganze Familie
lebte dort, sie sind immer noch dort. Ich bin alleine geflüchtet.
Was hat dir als Kind Freude bereitet? Was hast du besonders gerne
gemacht?
Als Kind habe ich am häufigsten mit meinen Cousins und Cousinen
gespielt. Am meisten Freude hat mir bereitet, bei meiner Mutter,
meinem kleinen Bruder und dem Rest der Familie zu sein. Ich bin
mit einem Cousin aufgewachsen, der in meinem Alter war.
Wie bist du aufgewachsen? Wie hat deine Familie gelebt?
Ich bin mit meiner Familie in einem Haus aufgewachsen. Ich habe
sechs Geschwister, zwei Brüder und vier Schwestern. Eine Schwester
war jedoch bereits verheiratet und hatte selbst Kinder.
Woran erinnerst du dich gerne, wenn du an die Zeit in deinem
Herkunftsland denkst?
Am besten erinnere ich mich an meine Mutter. Sie hat mir und meinen
Geschwistern immer Geschichten erzählt. Am häufigsten hat
sie uns Geschichten vor dem Zubettgehen erzählt.
16 17

Die schönste Erinnerung, die ich habe, ist, als ich zum ersten Mal
mit meinem Bruder in die Stadt gegangen bin. Wir sind durch die
Stadt spaziert und mein Bruder hat mir Dinge gekauft. Es war das
erste Mal in einer Stadt für mich. Ich wusste nicht, was da ist, und
als ich die vielen Leute gesehen habe, die alles Denkbare verkauften,
wollte ich immer mehr Dinge kriegen. Und mein Bruder konnte
meine Wünsche nicht ablehnen.
Auch an meinen Vater habe ich sehr viele schöne Erinne rungen.
Leider lebt er nicht mehr. Er hatte einen kleinen Laden in einem
anderen Dorf. Früher ist er alleine in den Laden gegan gen, und als
ich älter wurde, durfte ich ab und zu mitgehen. Jeden Mittag ging
er schlafen. Bei uns im Dorf haben wir nicht so viele Kunden. Als er
schlafen ging, war der Laden aber trotzdem offen. Er schlief draussen
auf einem Bett. Einmal bin ich unters Bett gekrochen und hab ihn
von unten mit einer Nadel gestochen. Er ist dabei aufgewacht, hat
mich aber nicht gesehen unter dem Bett. Er hat daraufhin eine Stunde
lang nach mir gesucht, da ich mich so lange versteckt habe. Als
ich hervorgekrochen bin, hat er mich gefragt, ob ich das war mit der
Nadel. Ich habe es eingestanden, und trotzdem hat er mir eine Schokolade
geschenkt. Wir hatten damals auch kein Auto, und er hat mich
auf dem Weg zum Laden immer auf den Schultern getragen. Später
durfte ich dann jeden Tag mit in den Laden, und manchmal habe ich
nicht so gehorcht, aber er war mir nie böse.
Eine weitere schöne Erinnerung ist, wie ich zu Hause mit meiner
Mutter und meinem jüngeren Bruder zusammen in einem Bett geschlafen
habe.
Ich war ausserdem der Lieblingssohn meines Vaters, obwohl er
noch zwei weitere Söhne hatte. Meine Brüder sagen mir heute noch,
dass ich der Lieblingssohn meines Vaters war. Meine Mutter vermisst
mich sehr. Meine Mutter liebte mich damals auch, aber nicht so sehr
wie mein Vater. Jetzt ist es so, dass meine Mutter mich sehr vermisst.
Wenn ich mit ihr telefoniere, dann weint sie meistens. Dann sagen
meine Brüder jeweils, dass ich weiterhin der Lieblingssohn in meiner
Familie bin.
Ich lebte nicht die ganze Zeit in diesem Dorf. Meine Schwester
hat die Ausbildung zur Lehrerin gemacht. Dafür zog sie in die Stadt.
Bei uns ist es so, dass immer eine männliche Person die Frau begleiten
muss. Daher habe ich sie begleitet. Ich war damals sehr jung.
Ich ging zur Schule, sie ging zur Uni und am Abend waren wir immer
zusammen. Sie hat mir bei meinen Hausaufgaben sehr geholfen,
obwohl sie selbst viele Hausaufgaben hatte. Wir lebten damals in
einem Haus von Bekannten unserer Familie. Wir lebten zusammen
mit der Familie. Deren Kinder waren etwa in meinem Alter.
Bist du während dieser Zeit hin und wieder nach Hause zu deiner
Familie gegangen?
Ja, wir gingen ungefähr alle sechs Monate nach Hause zu unserer
Familie. Das war etwa eine vierstündige Fahrt entfernt. Das ist das
erste Mal hier in der Schweiz, dass ich meine Familie so lange nicht
gesehen habe.
Wonach hast du Heimweh?
Nach meiner Mutter. Ich vermisse sie die ganze Zeit. Auch meine
Ge schwister. Und meine Cousins. Am meisten habe ich Heimweh
nach meiner Familie. Das Land fehlt mir auch. Ich vermisse beispielsweise
das leckere Essen in Afghanistan sehr. Die Natur vermisse ich
auch.
Wir hatten damals ein Spiel, es heisst «Buzkaschi». Es ist ein Spiel
mit Pferden, das vermisse ich auch sehr. Ich habe nicht selber gespielt,
aber wir sind oft an solche Spiele gegangen, um zuzuschauen.
Ich schaue es auch jetzt manchmal auf Youtube, aber das ist nicht
dasselbe.
Wie lange bist du in Afghanistan zur Schule gegangen?
Ich bin bis zur neunten Klasse in die Schule gegangen. Sechs Jahre
18 19

ging ich mit meiner Schwester in meinem Dorf zur Schule. An dieser
Schule war mein Bruder Lehrer. Ich ging dann nochmals vier
Jahre in die Schule, nachdem ich mit meiner Schwester in die Stadt
gezogen bin.
Hattest du Unterricht bei deinem Bruder?
Ja, er war unser Mathelehrer. Dann hat er aber wieder studiert, und
nun ist er Arzt. Von meiner Familie könnte ich noch mehr erzählen.
Du bist also bis zur zehnten Klasse in die Schule gegangen?
Nein, im ersten Schuljahr in der Stadt konnte ich dem Unterricht
nicht richtig folgen und bestand nicht alle Prüfungen. Ich musste
daher das Jahr wiederholen. Danach war ich aber gut in der Schule,
ich war Klassenbester. Die Stadt, in der wir lebten, heisst Pol-e
Chomri, das ist der Hauptort von Baghlan.
Möchtest du mir nun von deiner Familie erzählen?
Ja, ich habe zwei Brüder und vier Schwestern und meine Mutter.
Mein Vater ist verstorben.
Ich habe zwei Namen. Mein Vater hat mich immer «Ahmadzai»
genannt, weil ich so gut in der Schule war. Ahmadzai ist die Bezeichnung
für die klügste Person in Afghanistan. Ahmad ist eine Art
«Gottbezeichnung». Ahmadzai ist eine Person, die sehr intellektuell
ist und schnell schreiben kann. Es hat eine sehr gute Bedeutung.
Mein Name hat auch eine gute Bedeutung.
Was ist die Bedeutung deines Namens?
«Abdul» bedeutet Knecht, Diener und «Ayaz» bedeutet «Trockene
und strenge Kälte während der hellen Winternächte». Als ich klein
war, habe ich meiner Mutter vorgeworfen, dass sie mir diesen Namen
gegeben hat. Aber sie hat ihn mir nicht gegeben, sondern mein
Onkel. Mein Vater hat mich immer Ahmadzai genannt. Er sagte
meiner Mutter, ich sei sehr klug, gut in der Schule und er liebe mich
sehr, deshalb nenne er mich Ahmadzai. Meine Lieblingsschwester
ist auch sehr intelligent, deshalb hat mein Vater auch sie immer wie-
der Ahmadzai genannt. Mein ältester Bruder stritt immer wieder
mit meinem Vater und fragte, wieso er uns Ahmadzai nannte und
ihn nicht.
Was hat zu der Entscheidung geführt, Afghanistan zu verlassen?
Ich wollte mein Land und meine Familie nicht verlassen. Ich musste
flüchten, als ich etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Ich
möchte aber nicht näher über meinen Fluchtgrund sprechen.
Flucht
Möchtest du darüber reden, wo du durchgereist bist?
Ja, ich bin mit einem Schlepper aus unserem Dorf geflüchtet. Zuerst
nach Kabul. Dort haben wir eine Nacht verbracht, dann sind wir mit
dem Auto weitergefahren. An der Grenze zu Pakistan war es sehr
schlimm. Ich bin mit etwa zehn oder zwölf anderen Personen nicht
über die Strasse, sondern über die Berge gegangen. Da gab es auch
Polizisten, die uns kontrolliert haben, ob wir etwas Verbotenes, Drogen
oder so, nach Pakistan bringen würden. Sie haben uns mit den
Händen abgetastet. Wir sind versteckt nach Pakistan eingedrungen.
Die Schlepper kannten die Polizisten, sie haben bezahlt, damit die
uns nicht melden würden. In Pakistan waren wir etwa drei Tage
lang. Wir sind mit dem Auto durch Pakistan gereist, aber wir sind
nur in der Nacht gefahren. Wir mussten uns tagsüber verstecken.
Wenn sie uns erwischt hätten, hätten sie uns zurückgeschickt. Ich
hatte mehrere Schlepper. Ich bin sozusagen immer wieder verkauft
worden. Ich habe nur den ersten Schlepper bezahlt und der hat mich
weiterverkauft. In Pakistan hatte ich einen pakistanischen Schlepper.
An der Grenze zum Iran konnten wir nicht mehr mit dem Auto
fahren. Noch vor der Grenze hatte ich einen iranischen Schlepper.
Der pakistanische Schlepper ist auch mit uns bis zur Grenze gekommen.
Im Iran sind wir auch in der Nacht geflüchtet, tagsüber haben wir
20 21

Warte, ich muss erst überlegen. Also – wenn ich du wäre, würde ich
mich fragen, warum ich bei dem Buchprojekt mitmache.
Und deine Antwort darauf?
Damit ich anderen helfen kann. Wenn jemand meine Geschichte
liest, dann kann er oder sie verstehen, was Flucht in etwa bedeutet.
Wie es sich anfühlt, in einem Asylheim zu wohnen. Oder als Jugendlicher
allein auf sich gestellt zu sein. Und dass sich Dinge bessern.
Dass es Zeit braucht.
Die Gespräche fanden am 17. und 26. Oktober 2019 statt.
Mohammad erhielt die Lehrstelle als Logistiker bei der Schweizer
Post. Die Ausbildung war jedoch wegen Nachtarbeitszeit nicht
mit der Schule vereinbar, und er brach sie nach kurzer Zeit ab.
Fluchtwege und Fluchtländer
Von Kaspar Surber
Die Luftdistanz von St. Gallen nach Damaskus, der syrischen Hauptstadt,
beträgt 2732 Kilometer. Bis nach Bamako in Mali sind es 4193
Kilometer, nach Kabul in Afghanistan 5089 und nach Mogadischu
in Somalia sogar 6119. Auf dem Land- und dem Seeweg führt die Reise
oft noch Tausende von Kilometern weiter. Wie sie diese zurückgelegt
haben, oft über Monate, manchmal über Jahre, erzählen Asef, Aamina,
Mamadou und die anderen jungen Geflüchteten in diesem Buch
auf eindrückliche Weise: von den Risiken, denen sie ausgesetzt waren,
von den Hoffnungen, die sie begleitet haben, und auch von den
Zufällen, die sie über Zürich oder München letztlich in die Ostschweiz
geführt haben. Immer klingen in den Gesprächen auch die
politischen oder gesellschaftlichen Gründe an, die Flüchtlingsbewegungen
auslösen.
In diesem Beitrag soll die Menschenrechtssituation in den einzelnen
Herkunftstaaten allgemein geschildert werden. Vor allem aber
soll auch die Frage beantwortet werden, wie die Fluchtrouten von
der europäischen Asylpolitik bestimmt werden. Einer Politik, die
im Flüchtlingssommer 2015, als viele der hier Porträtierten unterwegs
waren, eine einmalige Öffnung erlebte. Die allerdings davor
und in den letzten Jahren wieder verstärkt auf die Abweisung von
Geflüchteten zielte und sie bis heute auf lebensgefährliche und oft
auch tödliche Routen zwingt.
Krieg, Folter und Dürren
Der syrische Bürgerkrieg ist eine der grossen Katastrophen unserer
Gegenwart. Mehr als dreihundertachzigtausend Menschen haben
deswegen ihr Leben verloren, mehr als ein Drittel davon Zivilistin-
225

nen und Zivilisten. So lautet die letzte Schätzung der oppositionsnahen
Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Mehr als
dreizehn Millionen Menschen sind in die Flucht getrieben worden,
die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge, schreibt das UNO-Flüchtlingshilfswerk
UNHCR. Ein wichtiger Hinweis: Der grösste Teil von
ihnen fand Aufnahme in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, im
Irak und in Ägypten. Obwohl die Lage in diesen Ländern selbst
prekär ist, leisten diese oft einen solidarischeren Beitrag als die europäischen
Staaten.
Der syrische Bürgerkrieg, der mit friedlichen Protesten gegen
das autoritäre Regime von Baschar al-Assad während des Arabischen
Frühlings 2011 begann, hat sich längst zu einem internationalen
Stellvertreterkrieg entwickelt, in dem neben der syrischen Regierung
unter anderem die Türkei, Russland, der Iran und die USA,
kurdische Milizen und oppositionelle Gruppen um die Vorherrschaft
über einzelne Gebiete ringen. Der bewaffnete Konflikt geht
un vermittelt weiter. Amnesty International konstatierte 2019 erneut
Kriegsverbrechen und schwere Verletzungen des humanitären
Völkerrechts sowie der Menschenrechte. Demnach kam es zu zielgerichteten
Angriffen auf die Zivilbevölkerung, zu willkürlichen
Inhaftierungen sowie zu Folter. Der Zugang zu humanitärer Hilfe
und medizinischer Versorgung ist für viele Menschen weiterhin
nicht gewährleistet.
Eine endlos wirkende kriegerische Auseinandersetzung findet seit
den Angriffen der US-Koalition 2001 auch in Afghanistan statt. Die
islamistischen Taliban befinden sich dabei in einer stärkeren militärischen
Position als je in den letzten beiden Jahrzehnten. Die von
den USA gestützte Regierung und ihre Streitkräfte können die
Sicherheit der Bevölkerung nicht garantieren. Die Schweizerische
Flüchtlingshilfe spricht in ihrem Länderbericht von einer «explosiven
Pattsituation». Die Kampfhandlungen haben insbesondere die
Provinz Ghazni betroffen, aus der die meisten der jungen Af ghanen
stammen, die in diesem Buch zu Wort kommen. Grossan griffe der
Taliban in diesem Gebiet führten 2018 zu massiven Vertreibungen.
Das Leben der Menschen in Afghanistan ist auch im Alltag stark
erschwert. Die Korruption bestimmt alle gesellschaftlichen Bereiche,
die Landwirtschaft wurde von einer Dürre getroffen. Amnesty
International weist darauf hin, dass Frauen und Kinder oft von
geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind.
Um noch auf die beiden afrikanischen Herkunftstaaten der Jugendlichen
zu sprechen zu kommen: Im Norden Malis herrscht seit
2012 ein Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Milizen und staatlichen
Sicherheitskräften, bei dem es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen
an Zivilistinnen und Zivilisten kommt. Für rund
drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner ist wegen des Konfliktes
die Ernährungssicherheit nicht gegeben. Die angespannte
Sicherheitslage schränkte zudem das Recht auf Bildung ein – gemäss
Amnesty International mussten 2019 mehr als tausend Schulen geschlossen
werden. Auch weil der amtierende Präsident Ibrahim Boubacar
Keïta die Sicherheit des Landes nicht garantieren konnte, kam
es im Sommer 2020 zu breiten Protesten und schliesslich einem
Militärputsch.
Somalia, wo nach dem Sturz des autoritären Regimes von Siad
Barre 1991 ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg herrschte, ist bis heute
ein äusserst fragiler Staat. Warlords, Clans und die islamistische
Al-Shabaab-Miliz ringen dabei um Einfluss. 2017 wurde das Land
zudem von einer besonders schweren Dürre getroffen. Mehr als drei
Millionen Menschen, darunter viele Kinder, litten akut an Hunger.
Fast eine Million Menschen wurden wegen der Naturkatastrophe
zu Binnenvertriebenen.
226 227

Visa, Zäune und Überwachung
Ob von Mali in Westafrika oder von Afghanistan in Zentralasien:
Die Fluchtbewegungen aus den verschiedenen Konfliktregionen verengen
sich Richtung Europa zu einigen wenigen Routen. Die wichtigsten
sind derzeit die sogenannte zentrale Mittelmeeroute und die
östliche Mittelmeerroute.
Die zentrale Mittelmeerroute beginnt entweder in den west- oder
den ostafrikanischen Staaten. Auf der gefährlichen Reise durch die
Sahara gelangen die Geflüchteten nach Libyen. In diesem Bürgerkriegsland
werden sie oft unter unmenschlichen Bedingungen in
Lagern inhaftiert. Wenn sie die Überfahrt finanzieren können, gelangen
sie meist über Lampedusa, Malta oder andere dem Festland
vorgelagerte Inseln nach Europa. Bei der gefährlichen Fahrt, die oft
in schlecht ausgerüsteten und überfüllten Booten erfolgt, haben in
den letzten Jahrzehnten mehr als dreissigtausend Menschen ihr
Leben verloren.
Die östliche Mittelmeerroute wiederum führt von Afghanistan
über den Irak beziehungsweise von Syrien in die Türkei. Via Istanbul
gelangen die Flüchtenden in die Ägais und versuchen, auf eine der
griechischen Inseln überzusetzen. Diese Schiffsstrecke ist deutlich
kürzer als die auf der zentralen Mittelmeerroute, doch auch hier
kommt es immer wieder zu tödlichen Schiffsunglücken, nicht zuletzt
wegen des aggressiven Auftretens der Küstenwachen. Gelingt die
Überfahrt, kommen die Geflüchteten oft in Lager wie auf Lesbos
oder Samos. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese seit
Längerem wegen der unhaltbaren Situation bezüglich Ernährung
und Hygiene. Der weitere Weg führt via die osteuropäischen Staaten
in den Norden Europas.
Dass sich die Fluchten auf diesen wenigen, sehr gefährlichen
Wegen abspielen, ist eine Folge der europäischen Grenzsicherungsund
Asylabkommen von Schengen und Dublin. Über ihre Mitglied-
schaft ist auch die Schweiz eng in dieses Abwehrdispositiv eingebunden.
Das Abkommen von Schengen regelt die gemeinsame
Grenzkontrolle, dasjenige von Dublin sieht vor, dass eine geflüchtete
Person nur im Ankunftsland ein Asylgesuch stellen kann. Weil die
Visavergabe der europäischen Staaten in den letzten Jahren stark
eingeschränkt und das Botschaftsasyl 2012 abgeschafft wurde, werden
die Geflüchteten auf den Landweg gezwungen.
Wegen Grenzschutzmassnahmen, zu denen beispielsweise das
Errichten eines Zaunes an der griechisch-türkischen Landgrenze
gehört, bleiben nur die erwähnten Meerespassagen, um nach Europa
zu gelangen. Das Dublin-System wiederum exponiert die südlichen
Staaten bei den Asylaufnahmen besonders und verhindert eine
solidarische Unterbringung der Geflüchteten in den europäischen
Staaten. Die EU und die Schweiz tragen somit eine Mitverantwortung
für die Bootsunglücke und die unmenschliche Situation in den
Flüchtlingslagern wie auf Lesbos.
In Zukunft ist zu befürchten, dass sich die Grenzkontrolle noch
weiter in den Süden verlagert. So unterstützt die EU Projekte zur
Grenzsicherung in der Sahara, finanziert die libysche Küstenwache,
die Boote am Auslaufen hindert, und will bei ihrer geplanten Reform
des Dublinvertrags die Asylprüfung stärker als bisher an die Aussengrenzen
verlagern, um Asylsuchende möglichst schnell abweisen
zu können. Wie auf diese Weise das Asylrecht, eines der fundamentalen
Rechte der Moderne, gesichert werden soll, steht in den europäischen
Sternen.
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