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Saargeschichten_END_2.19

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<strong>2.19</strong><br />

heft 55<br />

saargeschichte|n<br />

magazin zur regionalen kultur und geschichte<br />

Alfred Döblin und Saargemünd<br />

Von 1915 bis 1918 diente er als Militärarzt in Elsass-Lothringen<br />

Einzelpreis 5,– Euro issn 1866-573x<br />

Gegründet von:<br />

Historischer Verein für<br />

die Saargegend e.V.;<br />

Landesverband der<br />

historisch-kulturellen<br />

Vereine des<br />

Saarlandes e.V.


saargeschichte|n 2.2019<br />

2<br />

Inhalt<br />

die hauptthemen dieses heftes<br />

weitere themen<br />

thomas lutgen<br />

Farbe in gotischen Kirchen<br />

Neue Erkenntnisse zur Farbigkeit und<br />

Bautechnologie der Abteikirche St. Mauritius<br />

in Tholey aus dem 13. Jahrhundert<br />

Seite 4<br />

sabina becker<br />

Alfred Döblin und Saargemünd<br />

Von 1915 bis 1918 diente er als Militärarzt<br />

in Elsass-Lothringen<br />

Seite 14<br />

werner klär<br />

»Die Flieger kommen jetzt fast jeden Tag«<br />

Der Luftkrieg in Tagebuchnotizen und Erinnerungen<br />

aus der Zeit des Ersten Weltkrieges<br />

Seite 28<br />

Die nächste Ausgabe der saargeschichte|n<br />

erscheint im September 2019.<br />

Das Ding aus der Saargeschichte<br />

3<br />

Eva Kell<br />

Füsilier Kutschke – Fake News à la sarre<br />

Satirisches Hirngespinst und Beispiel für<br />

chauvinistischen Nationalismus<br />

22<br />

Horst Schiffler<br />

Elementarbuch – Eine saarländische Fibel<br />

von 1837<br />

34<br />

Johannes Kirchmeier<br />

Wirklich Neues? – Zum saarländischen<br />

Denkmalschutzgesetz 2018<br />

38<br />

Tobias Fuchs<br />

Ein Stadion mit Seltenheitswert<br />

Das Neunkircher Ellenfeld-Stadion offenbart<br />

eine architektonische Zäsur<br />

40<br />

Bernhard W. Planz<br />

Regionalgeschichte im Unterricht<br />

Aus der Predigt von Pfarrer Juch<br />

zum Osterfest 1832 in Niederkirchen<br />

42<br />

Veranstaltungen, Ausstellungen,Publikationen 44<br />

saargeschichte|n bildet<br />

46<br />

Ach du liebe Zeit … [38]<br />

Die Glosse in den saargeschichten<br />

47<br />

impressum<br />

Herausgeber: Edition Schaumberg, Brunnenstraße 15, 66646 Marpingen, info@edition-schaumberg.de, www.edition-schaumberg.de<br />

Redaktion: Ruth Bauer (verantwortlich), Dr. Paul Burgard, Tobias Fuchs, Bernhard W. Planz, Dr. Jutta Schwan<br />

Redaktionsanschrift: Dudweilerstraße 1, 66133 Saarbrücken, redaktion@saargeschichten.de<br />

Mediaberatung über den Verlag<br />

Verlag: Edition Schaumberg Thomas Störmer, Brunnenstraße 15, 66646 Alsweiler, Telefon (06853) 502380, info@edition-schaumberg.de<br />

Erscheinungsweise: Viermal jährlich, jeweils um den 15. März, 15. Juni, 15. September, 15. Dezember eines jeden Jahres<br />

Einzelausgabe: 5,– Euro, bei Bestellung über den Verlag zzgl. Versandkosten.<br />

Jahresabonnement: 22,– Euro incl. Versand (Deutschland); Auslandsabonnement auf Anfrage.<br />

ISSN 1866-573x<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingereichte Manuskripte und<br />

Fotos. Die Redaktion behält sich vor, nach Absprache mit dem jeweiligen Autor, insbesondere in Überschriften eingreifen zu dürfen. Mit der Annahme zur Veröffentlichung<br />

überträgt der Autor dem Verlag das kostenlose Nutzungsrecht für die Zeitschrift saargeschichte|n. Eingeschlossen sind auch das Recht zur Herstellung elektronischer<br />

Versionen und zur Einspeicherung in Datenbanken sowie das Recht zu deren Vervielfältigung und Verbreitung online oder offline ohne zusätzliche Vergütung.<br />

Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt.<br />

Titelbild: Porträt des Alfred Döblin vom Maler Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1912.


Das Ding<br />

aus der Saargeschichte<br />

Weit ab von den bekannten Orten und Plätzen der saarländischen Historie, inmitten der freien Natur, beim<br />

Tor zum romantischen Bliesgau, ist dieses ganz besondere Ding aus der Saargeschichte zu finden. Im alten,<br />

fast schon vergessenen Weinbaugebiet an der Oberen Saar gelegen, noch in französischer Zeit entstanden,<br />

ist der Ritthof auf Bliesransbacher Bann mittlerweile wieder ein wunderschöner Treffpunkt für Natur- und<br />

Weinfreunde geworden. Das war er, in weit größerem Maße als heute, bereits während seiner Hochzeit im<br />

19. und beginnenden 20. Jahrhundert, als ein berühmter Berliner dafür sorgte, dass der Ritthof literarisch<br />

verewigt wurde.<br />

Es war kein geringerer als der Schriftsteller Alfred Döblin, der diesen abgelegenen Winkel der Saar-Bliesregion<br />

während des Ersten Weltkrieges bei vielen Wanderungen kennen und schätzen lernte und häufig zu<br />

Gast im Ritthof war. Seine Tätigkeit als preußischer Militärarzt im Lazarett von Saargemünd, das damals<br />

zum Reichsland Elsass-Lothringen gehörte, ließ ihm nicht nur Zeit für Erkundungen im deutsch-französischen<br />

Grenzland, sondern auch für literarische Arbeiten. Dazu gehörte neben dem großen Wallenstein-Roman<br />

unter anderem die kleine Novelle über Das Gespenst vom Ritthof, das Döblin sein poetisches Unwesen<br />

im Dreieck zwischen Bliesransbach, Bliesgersweiler und Bliesschweyen treiben ließ.<br />

In der Titelstory dieser Ausgabe der saargeschichte|n zeichnet eine exzellente Kennerin Alfred Döblins<br />

Leben und Wirken des Arztes und großen Dichters während jener zweieinhalb Jahre nach, die er vor den<br />

Toren des Saarlands verbrachte. Sabina Becker, gebürtige Saarbrückerin, Germanistik-Professorin in Freiburg<br />

und Präsidentin der Internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft, führt uns damit einerseits zurück in<br />

die dramatische Weltkriegsgeschichte unserer Region. Sie beschreibt am prominenten Beispiel des Autors<br />

des Berlin Alexanderplatz’ andererseits auch, wie sich ein Mensch vom Nationalisten und Kriegsbefürworter<br />

zum Pazifisten und Europäer verwandeln konnten. Insofern spiegelt sich in Döblins Saargemünder<br />

Geschichte auch ein Stück Saargeschichte.


saargeschichte|n 2.2019<br />

4<br />

Farbe in gotischen Kirchen<br />

Neue Erkenntnisse zur Farbigkeit und<br />

Bautechnologie der Abteikirche St. Mauritius<br />

in Tholey aus dem 13. Jahrhundert<br />

Von Thomas Lutgen<br />

Die Benediktiner-Abteikirche St. Mauritius befindet<br />

sich in der Gemeinde Tholey (Landkreis St. Wendel)<br />

im Ortskern und gehört zu den bedeutendsten gotischen<br />

Sakralbauten im Saarland.<br />

Die bis heute bestehende Klosteranlage befindet<br />

sich auf den Resten einer römischen Badeanlage<br />

und belegt damit eine sehr alte Siedlungsgeschichte<br />

an dieser Stelle. 1 Bereits unter dem<br />

fränkischen Adligen und Diakon Adalgisel Grimo<br />

wird in Tholey eine pfarrkirchliche Institution<br />

geschaffen. Eine bereits bestehende Kirche wird<br />

um das Jahr 750 durch eine rechteckige Choranlage<br />

erweitert. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts<br />

ist dann auch ein monastisches Leben nach den<br />

Regeln Benedikts belegt.<br />

Die Klosterkirche wird nach 1066 zu einem<br />

dreischiffigen romanischen Kirchenbau umgebaut<br />

und erhält in den Jahren 1216 bis 1230 eine<br />

Einwölbung 2 , von der noch Reste der Gewölberippensteine<br />

bis heute erhalten sind. 3<br />

Nur wenige Jahre nach der Einwölbung<br />

kommt es dann um 1236 zu einem folgenreichen<br />

Brandereignis, das zu der Zerstörung dieses<br />

romanischen Kirchenbaus mit dem frühgotischen<br />

Gewölbe führt. 4<br />

Unter Abt Hugo begann man dann mit dem<br />

Bau der heute noch bestehenden frühgotischen<br />

Abteikirche und übernimmt dabei die Funda-<br />

1 Zur römischen Anlage siehe bei REICHERT 1961, S. 12–16.<br />

2 Gewölberippensteine mit polychromer Fassung dieses Vorgängergebäudes<br />

sind im heutigen Museum nahe der Klosterkirche<br />

erhalten und konnten im Rahmen der restauratorischen<br />

Untersuchung im Jahr 2017 begutachtet werden.<br />

3 Zu den Bauphasen der Kirche zwischen 634 bis 1200 siehe bei<br />

REICHERT 1961, S. 58–67.<br />

4 REICHERT 1961, S. 129; DEHIO 1985, S. 1014<br />

mente des romanischen Vorgängers und Teile des<br />

Westturms.<br />

Dieser bis heute erhaltene Kirchenbau setzt<br />

sich aus einem dreischiffigen, in sechs Joche<br />

unterteilten Kirchenschiff zusammen. Das Langhaus<br />

wird von zwölf Pfeilern getragen und hat<br />

eine Länge von 47 Metern, eine Breite von 20<br />

Metern und eine Höhe von 31 Metern. (Abb. 1)<br />

Das erste Joch von Westen ist dabei gegenüber<br />

den folgenden verlängert und umschließt<br />

zugleich den mittig eingefügten wohl im Kern<br />

älteren Westturm der Kirche. Nach Osten schließt<br />

der Bau mit drei Apsiden ab, wobei der Hauptchor<br />

durch ein Chorjoch nach Osten verlängert<br />

wird. Die drei Apsiden weisen einen polygonalen<br />

5/8-Schluss auf.<br />

Der Haupteingang zur Abteikirche erfolgt<br />

über ein repräsentatives gotisches Eingangsportal<br />

im zweiten Joch des Nordseitenschiffes. Das Tympanon<br />

zeigt die Auferstehung Jesu. Dieses heute<br />

stark rudimentär erhaltene Portal stammt aus der<br />

Bauzeit und setzt sich aus konisch zulaufenden<br />

Gewändeleibungen mit jeweils zwei vorangestellten<br />

Heiligenfiguren zusammen. Der Aufsatz wird<br />

durch einen Spitzbogengiebel mit Archivolten<br />

und das Tympanon gebildet. Dieses Portal ist in<br />

seiner Grundanlage noch erhalten und lässt deutliche<br />

formale und stilistische Parallelen zu den<br />

Portalen der Liebfrauenkirche in Trier erkennen. 5<br />

Die Gewändefiguren, die Konsolen und Baldachi-<br />

5 Das West-, Ost- und Nordportal der Liebfrauenkirche wurde<br />

im Zuge der ersten Bauphase unmittelbar nach Aufnahme<br />

der Bauarbeiten nach 1227 von nordfranzösisch geschulten<br />

Steinmetzen und Bildhauern der Bauhütten von Reims und<br />

Toul errichtet. Siehe dazu bei LUTGEN 2016a, S. 32–35.


ne sind komplett bzw. in großen Teilen nicht mehr<br />

erhalten. Lediglich die Steinfigur der östlichen Fiale<br />

ist heute in einem stark verwitterten Zustand<br />

im Zentrum des Chorraumes aufgestellt und lässt<br />

noch die hohe Qualität dieser gotischen Portalanlage<br />

erkennen.<br />

Der Kircheninnenraum wird von Kreuzrippengewölben<br />

überspannt, die von Pfeilern mit Dienstvorlagen<br />

getragen werden. Der Innenraum zeigt<br />

dabei einen basilikalen Grundriss, das Mittelschiff<br />

ist zu den Seitenschiffen hin erhöht und mit einer<br />

belichteten Obergadenwand ausgestattet. Die<br />

Gewölbe der beiden Seitenschiffe besitzen eine<br />

Höhe von etwa 8 m, wohingegen das Hauptschiff<br />

eine Höhe von 16 m über dem Boden aufweist. Die<br />

Obergadenfenster sind recht klein gehalten und<br />

teilweise als Blendfenster zugesetzt. Der Wandaufriss<br />

ist zweizonig und setzt sich aus einer Arkadenstellung<br />

und einem Obergaden zusammen.<br />

Ein Triforium bzw. ein Blendtriforium ist dabei<br />

nicht ausgebildet.<br />

Die Bauzeit der gotischen Kirche kann zwischen<br />

1236 bis 1310 datiert werden. 6 Dieser gotische<br />

Neubau erfolgt wohl nach einer Zerstörung<br />

des romanischen Vorgängerbaus an gleicher<br />

Stelle. Vermutlich wurde der romanische Bau um<br />

1180 begonnen und konnte erst 1230 fertiggestellt<br />

werden. 7 Bereits sechs Jahre später beginnt man<br />

vermutlich nach der Brandzerstörung mit dem<br />

Neubau der Abteikirche in gotischem Stil. Mit<br />

dem Neubau wurde im westlichen Teil begonnen,<br />

6 DEHIO 1985, S. 1014; REICHERT 1961, S. 184; S. 221. ZIMMER-<br />

MANN 1976, S. 117.<br />

7 ZIMMERMANN 1976, S. 113; REICHERT 1961, S.171.<br />

er wurde mit der Errichtung des Westturmes<br />

jedoch erst 1260 fortgeführt und im Jahr 1310 mit<br />

der Fertigstellung des Langhauses abgeschlossen.<br />

Die Bauunterbrechungen lassen sich an dem<br />

deutlich niedriger angelegten Westteil ablesen.<br />

Dort ist eine Unregelmäßigkeit in seiner Jochbildung<br />

erkennbar. Auch die gestelzten Bögen<br />

zwischen dem ersten und zweiten Joch der beiden<br />

Seitenschiffe und die unterschiedlichen Lagen der<br />

Dienstkapitelle lassen auf diese Bauunterbrechung<br />

schließen.<br />

Dieser gotische Kirchenbau brennt nur zwei<br />

Jahrzehnte nach der Fertigstellung im Jahr 1332<br />

und wird dabei stark zerstört.<br />

Der Innenraum wird durch die Herstellung<br />

der Steinsichtigkeit mit der Innenraumrenovierung<br />

von 1903/06 seines historischen Fassungsbestandes<br />

nahezu komplett beraubt. Die<br />

restauratorische Untersuchung beschränkte sich<br />

damit auf die Erfassung von kleinen und kleinsten<br />

Farbbefunden in schwer zugänglichen Bereichen<br />

und unteren jüngeren Überputzungen. Trotz<br />

dieser widrigen Rahmenbedingungen konnten<br />

zahlreiche historische Fassungsbefunde festgestellt<br />

werden. Diese lassen sich auf Grund der<br />

stratigraphischen Abfolge mit den historisch aufgearbeiteten<br />

Daten von Franz-Josef Reichert und<br />

Walther Zimmermann abgleichen und korrelieren.<br />

Durch Abgleichen der aktuellen restauratorischen<br />

Fassungs- und Baubefunde mit der aktuellen Forschungslage<br />

gelang es, die feststellbaren Innenrenovierungen<br />

sowie deren farbige Gestaltung<br />

detailliert beschreiben zu können.<br />

Abb. 1: Grundriss der<br />

Abteikirche in Tholey<br />

(Zimmermann, S.115).


saargeschichte|n 2.2019<br />

6<br />

Abb. 2: Innenraum<br />

der Abteikirche St.<br />

Mauritius im Oktober<br />

2017 (Thomas Lutgen<br />

Oktober 2017)<br />

Phase I: Bauzeitlicher Bestand 13./frühes 14.<br />

Jahrhundert<br />

Das ca. 0,75 m starke Mauerwerk ist zweischalig<br />

aufgesetzt worden und wurde mittig mit Versetzmörtel,<br />

Steinsprotten und größeren Bruchstücken<br />

verfüllt. Die verwendeten Werksteinquader sind<br />

lagenhaft versetzt, wobei die Länge der einzelnen<br />

Werksteine stark variiert. In höheren Zonen des<br />

Mauerwerks, das heißt im Bereich des Dachgeschosses<br />

kann auch die Verwendung von Spoliensteinen<br />

festgestellt werden.<br />

Als Versetzmörtel wurde ein gebrochen weißer<br />

bis hellgrauer Kalkmörtel mit einem hohen<br />

Anteil an feinkörnigem Zuschlag verwendet. In<br />

dem Gefüge lassen sich vereinzelt plattige, größere<br />

Schieferbruchstücke nachweisen. Der Versetzmörtel<br />

wurde bündig mit den Oberflächen<br />

der Werksteine abgezogen und bildet damit mit<br />

den Werksteinen eine nahezu bündige und ebene<br />

Oberfläche. Das Mauerwerk war demzufolge<br />

nicht für einen Verputz ausgelegt, sondern fungierte<br />

direkt als Malgrund für die ursprüngliche<br />

Raumfassung.<br />

Für die Werksteine wurde ein lokaler grünlich-gelbbrauner<br />

Sandstein verwendet. Dieser<br />

zeigt eine stark variierende Zusammensetzung,<br />

Schichtung und Körnigkeit auf.<br />

Der verwendete Naturstein variiert bezüglich<br />

Qualität und Güte von fein sortiert bis grob<br />

quarzitisch mit großen Einschlüssen. Der Stein<br />

stammt unmittelbar aus der Region und wurde<br />

wohl in einem Steinbruch bei Marpingen abgebaut.<br />

Als Einschlüsse im überwiegend quarzitisch<br />

gebundenen Sandstein lassen sich Mangan und<br />

Hämatit nachweisen.<br />

Die Werksteine sind auf den Sichtflächen mit<br />

einem vertikalen Glattflächenhieb flächig überarbeitet<br />

und wurden damit ohne Verputz für eine<br />

Überfassung vorbereitet. Der für die Herstellung<br />

notwendige Randschlag wurde dabei komplett<br />

überarbeitet. Es handelt sich damit um eine für<br />

diese Zeit übliche Oberflächenbearbeitung von<br />

Werksteinen, wie sie an zahlreichen gotischen<br />

Bauten dieser Zeit in Deutschland und Frankreich<br />

nachgewiesen werden kann. 8 Vereinzelt lassen<br />

sich noch tief liegende Spitzeisenhiebe auf den<br />

Sichtflächen erkennen. Die verwendete Glattfläche<br />

(Doppelglattfläche) besaß dabei eine Klingenlänge<br />

von 5 cm. 9<br />

Auf dem Oberlager eines Kapitells kann aber<br />

auch der Einsatz einer gezahnten Fläche festgestellt<br />

werden. 10 Dieser Zahneisenhieb wurde vermutlich<br />

mit einer schräg aufgesetzten Zahnfläche<br />

angelegt. Die Verwendung der Zahnfläche stellt<br />

dabei die modernere Bearbeitung der Werkstücke<br />

zu dieser Zeit dar.<br />

Auf einem Oberlager einer Kapitellplatte ist<br />

noch im Streiflicht die Ritzung der Steinmetzen<br />

zur Herstellung der geometrischen Grundfigur<br />

des Kapitells und des darüber anschließenden<br />

Gurtbogens erkennbar. 11<br />

Die Pfeiler mit den runden Dienstvorlagen<br />

sind bereits in serieller Mauertechnik ausgeführt.<br />

8 Zur mittelalterlichen Bearbeitung mit der Glattfläche siehe<br />

bei VÖLKLE 2016, S. 107–118.<br />

9 Zur Doppelglattfläche siehe VÖLKLE 2016, S. 78 f.<br />

10 Zur Zahnfläche siehe VÖLKLE 2016, S. 80; zum Einsatz der<br />

Zahnfläche siehe auch bei LUTGEN 2016a, S. 215–217.<br />

11 Zu Ritzzeichnungen als wichtiges Dokument hochmittelalterlicher<br />

Bauplanung siehe bei BINDING 1993, S. 192–197.


Abb. 3: Reste der<br />

rotbraunen ersten<br />

gotischen Raumfassung<br />

im Bereich eines<br />

Blattwerkkapitells im<br />

Mittelschiff im 1. Joch<br />

von Westen. (Thomas<br />

Lutgen Oktober 2017)<br />

Die Dienste sind nicht mehr en délit vorgesetzt<br />

sondern mit dem rückwärtigen Werkstück des<br />

Pfeilers verbunden und als standardisiertes Bauteil<br />

in der Hütte als serielles Werkstück gefertigt<br />

worden. 12<br />

Die gotischen Birnstab-Gewölberippen mit<br />

geschärften Wülsten binden im Gegensatz zu<br />

den romanischen Rippensteinen nicht mit einem<br />

rechteckig ausgebildeten Steg auf dem Oberlager<br />

in das Gewölbesegel ein. Sie sind damit nicht<br />

konstruktiv in das Gewölbe eingebunden.<br />

Die massiv gemauerten bauzeitlichen Gewölbesegel<br />

wurden lediglich auf diesen gotischen<br />

Rippensteinen abgelastet. Es handelt sich dabei<br />

um ein konstruktives Merkmal, wie es an den<br />

nordfranzösischen Kathedralbauten und den<br />

frühen gotischen Bauten auf deutschem Grund<br />

nachgewiesen werden kann.<br />

Die Werkstücke des Quadermauerwerks<br />

wurden erkennbar an den Löchern auf den Sichtflächen<br />

mit einer Steinzange versetzt. 13 Diese<br />

Steinzangenlöcher wurden bauzeitlich mit einem<br />

Kalkmörtel verschlossen, der zum Teil noch original<br />

bis heute nachweisbar ist. Daneben lässt sich<br />

aber auch noch die Verwendung des dreiteiligen<br />

Wolfs als Lastaufnahmemittel für den Versatz der<br />

Stufen der Spindeltreppe belegen.<br />

Die im Oberlager eingesetzten schwalbenschwanzförmigen<br />

Vertiefungen sind dabei leicht<br />

12 Zur Entwicklung der seriellen Fertigung siehe bei KIMPEL/<br />

SUCKALE 1985, S. 220f.<br />

13 Zum Einsatz der Steinzange siehe bei VÖLKLE 2016, S.162.<br />

Zum Einsatz der Steinzange in der Liebfrauenkirche in Trier<br />

siehe bei BÜRGER 2016, S. 172 und LUTGEN 2016a, S. 33, 40<br />

u. 209–210.<br />

oval ausgeformt. Die Spreizeisen des Wolfs sind<br />

vermutlich schmäler ausgeformt gewesen als der<br />

mittlere Dorn mit der Zugöse. Die ovale Ausarbeitung<br />

von solchen Wolfslöchern ist nicht allgemein<br />

üblich und stellt damit eine technologische<br />

Besonderheit dar.<br />

Im ersten Joch des südlichen Seitenschiffs<br />

von Westen ist noch ein bauzeitlicher Schlussstein<br />

in situ erhalten. Es handelt sich um einen<br />

floral ausgearbeiteten Schlussstein mit vier seitlich<br />

abgehenden Rippenanfängern. Über dem<br />

Schlusssteinschild ist noch eine ca. 3,5 cm große<br />

Bohrung erkennbar, die für den Versatz dieses<br />

großen Bildhauerwerkstücks mit einem Seil angefertigt<br />

worden ist. Damit lassen sich an dem gotischen<br />

Kirchenbau in Tholey alle klassischen und<br />

üblichen Lastaufnahmemittel und Hebetechniken<br />

zum Transport und Versetzen der Werksteine<br />

des Mittelalters nachweisen. 14<br />

Die Wandflächen des Kircheninnenraumes<br />

waren wie bereits beschrieben nicht für einen<br />

Verputz angelegt worden, sondern dienten<br />

direkt als Malschichtträger für die Raumfassung.<br />

Lediglich die Gewölbesegel sind bauzeitlich mit<br />

einem Verputz ausgestattet worden. Durch die<br />

jüngeren Renovierungen konnten im Rahmen der<br />

vorliegenden restauratorischen Untersuchung<br />

leider nur noch in den beiden westlichen Jochen<br />

der Seitenschiffe kleinste Flächen des bauzeitlichen<br />

Verputzes in den Gewölbezwickelbereichen<br />

nachgewiesen werden. Es handelt sich dabei um<br />

einen hell graubraunen, vermutlich einlagigen<br />

14 Vergleiche bei CONRAD 2011, S. 171–172; Binding 1993, S. 393–<br />

426.


saargeschichte|n 2.2019<br />

8<br />

Abb. 4: Reste der<br />

rotbraunen ersten<br />

gotischen Raumfassung<br />

im Bereich des Tas de<br />

charge im Übergang<br />

zum gebrochen weiß<br />

gestrichenen Gewölbesegels<br />

im nördlichen<br />

Seitenschiff m 1. Joch<br />

von Westen. Darüber<br />

Reste der dritten<br />

ockergelben Raumfassung.<br />

(Thomas Lutgen<br />

Oktober 2017)<br />

Kalkputz mit einer leicht körnig rauen Oberfläche.<br />

Diese setzt sich aus überwiegend feinkörnigen<br />

Zuschlägen zusammen. Vereinzelt lassen sich<br />

plattige Schieferbruchstücke in dem Putzgefüge<br />

nachweisen. Der Verputz zeigt ein weiches Gefüge<br />

auf. In den Zwickelbereichen ist die Oberfläche<br />

stark wellig. Diese ist vermutlich der schlechten<br />

Zugänglichkeit und Bearbeitung der Putzoberflächen<br />

in diesem Zwickelbereich mit einem Glättwerkzeug<br />

geschuldet. Vermutlich war der einlagige<br />

Gewölbeputz geglättet und folgte der leicht<br />

welligen Oberfläche des Gewölbemauerwerks.<br />

Bauzeitliche Farbfassung<br />

Die bauzeitliche Farbfassung lässt sich trotz der<br />

tiefgreifenden Entfernung der Innenraumfassungen<br />

noch an vielen schwer zugänglichen Teilen<br />

des Innenraumes nachweisen. Eine besonders<br />

gute Befundlage konnte auf der Orgelempore<br />

festgestellt werden. Dort verdeckt der barocke<br />

Orgelprospekt Teile der Bauplastik und der Wandflächen,<br />

so dass sich hier größere Bereiche mit<br />

älteren Fassungsresten erhalten haben.<br />

Die Wandflächen und die gesamte Bauzier<br />

bestehend aus Pfeilervorlagen, Diensten, Basen<br />

und Kapitellen (Abb. 5) sowie die Gewölberippen<br />

und Schlusssteine waren ursprünglich monochrom<br />

rotbraun gefasst. Die erste nachweisbare<br />

Fassung setzt sich aus einem gelblich rotbraunen<br />

Flächenfarbton zusammen. 15 Darüber befindet<br />

sich eine weitere etwas dunklere, opake, rotbraune<br />

Malschicht mit einer deutlich erkennbaren<br />

Alterungspatina. Das Erscheinungsbild mit der<br />

matten dünnen Malschicht lässt vermuten, dass<br />

es sich um eine Kalkfarbe handelt, die mit einem<br />

Proteinzusatz modifiziert worden ist.<br />

Auf diesem rotbraunen Flächenfarbton der<br />

Wand- und Architekturgliederung lassen sich<br />

an mehreren Befundstellen Reste eines weißen<br />

Fugennetzes auf den Wandflächen und den<br />

Gewölberippen nachweisen. (Abb. 3) Es handelt<br />

sich um horizontale und vertikal verlaufende<br />

Striche die als aufgemaltes Quaderfugennetz mit<br />

einem weißen Fugenstrich identifiziert werden<br />

konnten (Abb. 6). Diese aufgemalten Fugen werden<br />

ohne erkennbare Vorzeichnung/Unterzeichnung<br />

frei Hand (d.h. ohne Lineal) mit einem Pinsel<br />

mit einer weißen, pastos eingestellten Kalkfarbe<br />

angelegt. Die nachweisbaren Stoß- und Setzfugen<br />

variieren in der Strichbreite von 0,9–1,1 cm Breite.<br />

Das aufgemalte Quaderformat auf den planen<br />

Wandflächen kann entsprechend der Befundlage<br />

der restauratorischen Farbfassungsuntersuchung<br />

im Jahr 2018 mit 22,5 x 44,5 cm angenommen<br />

werden. Die aufgemalten Quader zeigen damit<br />

ein Größenverhältnis von 2:1 auf und entsprechen<br />

damit dem idealisierten Quadermaß von V Elle<br />

zu 1 Elle (das heißt 22,23 cm x 44,45 cm) Das aufgemalte<br />

Fugenbild ergibt dabei ein idealisiertes<br />

Quadermauerwerk und orientiert sich nicht an<br />

dem tatsächlichen Steinschnitt. 16<br />

Die Gewölbesegel zeigen dazu einen hellen,<br />

gelblich-braunen Kalkanstrich (Abb. 4). Dieser<br />

vermutlich rein karbonatisch gebundene Kalkan-<br />

15 Zum rotbraunen Flächenfarbton siehe bei LUTGEN 2016a,<br />

S. 222–224.<br />

16 Zur idealisierten Quaderfugenmalerei in sakralen Räumen<br />

des 13. Jahrhunderts siehe bei LUTGEN 2016a, S. 222–230.


Abb. 5: Farbfassungsbefunde<br />

der ersten Innenraumfassung<br />

(Fassung<br />

1), der gotischen<br />

Wiederholungsfassung<br />

(Fassung 2) und der<br />

dritten Raumfassung<br />

(Fassung 3) Im Gewölbezwickel<br />

im Bereich<br />

des Tas-de-charge im<br />

nördlichen Seitenschiff<br />

im 1. Joch von Westen.<br />

(Thomas Lutgen<br />

Oktober 2017)<br />

strich wurde auf den Gewölbeflächen ausgeführt.<br />

Nachfolgend wurden die Rippen- und Schlusssteine<br />

wie zuvor beschrieben rotbraun zweilagig<br />

abgefasst. Die rote Farbabsetzung wurde dabei<br />

bis 2 cm in die Gewölbefläche hinein gezogen. In<br />

den Gewölbezwickeln wurde der rotbraune Farbton<br />

bis auf Höhe der Oberkante des Tas-de-charge<br />

auch auf den Putzflächen ausgeführt und füllte<br />

damit den unteren Zwickelbereich flächig rotbraun<br />

aus (Abb. 4).<br />

Phase II: Erste Renovierungsfassung (Spätgotische<br />

Fassung)<br />

Die erste nachweisbare Renovierungsfassung<br />

wiederholt die ursprüngliche Farbigkeit (Abb. 7).<br />

Die Gewölbesegel wurden in einem gebrochen<br />

weißen bis hellbraunen Farbton mit einer leicht<br />

pigmentierten Kalkfarbe gestrichen. Die Wandflächen<br />

und die Architekturgliederung erhielten<br />

einen rotbraunen kräftigeren Grundfarbton. Auf<br />

den Schlusssteinen und den Kapitellen lässt sich<br />

dazu eine Blattvergoldung nachweisen. Diese<br />

wurde vermutlich mit einem ölgebundenen Anlegemittel<br />

ausgeführt. Das Anlegeöl ist deutlich<br />

nachgedunkelt und zeigt sich heute als dunkler<br />

Rand im Anschluss an die Blattgoldauflage. Darüber<br />

lassen sich auf dem gut erhaltenen Schlussstein<br />

im heutigen Museum noch schwarze Absetzungen<br />

als Konturlinien auf der Ornamentik der<br />

Bauplastik erkennen. Die Rücklagen und Seitenflächen<br />

des Blattwerks und der Stängel sind dazu<br />

in einem gebrochenen Weiß farblich abgesetzt<br />

worden.<br />

Phase III: Zweite Renovierungsfassung (Fassung<br />

zwischen Spätgotik und Barock)<br />

Für die Anlage der zweiten Renovierungsfassung<br />

wurden die gesamten Innenraumoberflächen mit<br />

einer dicken weißen Kalkgrundierung überstrichen.<br />

Darüber lässt sich ein kräftiger, ockergelber<br />

Flächenfarbton auf den Architekturgliederungselementen<br />

und den Wandflächen nachweisen<br />

(Abb. 4 u. 5). Die Pfeiler wurden dabei durch einen<br />

etwa 2 cm breiten Fugenstrich von den Wandflächen<br />

abgesetzt. Auch die Dienste der Pfeilervorlagen<br />

zeigen eine weiße Fugenstricheinteilung<br />

mit einem zirka 1,5 cm breiten horizontal verlaufenden<br />

Fugenstrich. Diese Fugenstriche teilen die<br />

Dienstvorlagen in zirka 37 cm hohe Werksteine<br />

ein und wurden unabhängig vom tatsächlichen<br />

Steinfugenschnitt angelegt. Es handelt sich um<br />

eine idealisierte Quaderfugenmalerei mit weißen<br />

Fugenstrichen auf ockergelben Flächenfarbton.<br />

Auf den ebenfalls ockergelb gefassten Schlusssteinen<br />

und den Kapitellen lassen sich umfangreiche<br />

blaue Farbabsetzungen erkennen. Anhand der<br />

kristallinen Struktur unter dem Mikroskop dürfte<br />

es sich bei dem verwendeten Blaupigment um<br />

Smalte (künstliches Mineralpigment, gemahlenes<br />

Kobaltglas) handeln. 17<br />

Der Zeitraum dieser zweiten Renovierungsfassung<br />

lässt sich nicht genau definieren. Es dürfte<br />

sich entsprechend der stratigraphischen Abfolge,<br />

der Verwendung von Smalte als färbendes Blaupigment<br />

vermutlich um eine nachmittelalterliche<br />

17 »In der Mitte des 16. Jahrhunderts taucht Smalte auf…« siehe<br />

bei WEHLE 1990, S. 161; »Seit dem 16. Jahrhundert ersetzt<br />

sie [Smalte] in zunehmenden Maße das Azurit siehe bei<br />

KNÖPFLI/EMMENEGGER 1990, S. 47.


saargeschichte|n 2.2019<br />

10<br />

Abb. 6: Fragmente der<br />

ersten Raumfassung<br />

mit rotbraunem<br />

Flächenfarbton und<br />

weißem Fugenstrich<br />

(roter Pfeil) auf der<br />

Schildbogenwand im<br />

Mittelschiff im 1. Joch<br />

von Westen. (Thomas<br />

Lutgen Februar 2018)<br />

Fassung handeln die nach der Spätgotik bis zum<br />

Barock zeitlich eingeordnet werden darf.<br />

Phase IV: Dritte Renovierungsfassung (Barocke<br />

Fassung)<br />

Mit der dritten Renovierungsfassung werden die<br />

gesamten Oberflächen erneut weiß grundiert. Die<br />

Gewölbesegel werden in einem gebrochen weißen<br />

Flächenfarbton angelegt. Die Architekturgliederung<br />

erhält eine kühle hellrote Farbabsetzung.<br />

Die Schlusssteine werden rotbraun abgesetzt, das<br />

Blattwerk wird grün gefasst. Die Verwendung der<br />

blaustichigen, hellroten Farbabsetzung lässt eine<br />

Datierung dieser Fassung in den Barock und damit<br />

in das 18. Jahrhundert vermuten. Im Jahr 1739 wird<br />

wohl unter dem Abt Theobert d’Hame (1730–59)<br />

von dem Architekten Christian Kretschmar eine<br />

Orgelempore hergerichtet. 18 Möglicherweise<br />

erfolgt diese dritte Renovierungsfassung mit dem<br />

Einbau der barocken Orgelempore.<br />

Phase V: Vierte Renovierungsfassung (historistische<br />

Fassung des 19. Jahrhunderts)<br />

Die vierte Renovierungsfassung ist bereits auf<br />

zahlreichen historischen Fotoaufnahmen dokumentiert.<br />

Es handelt sich um eine historistische,<br />

stark farbige Ausmalung des Kircheninnenraumes.<br />

Der Farbkanon umfasst Rotbraun, Grün, Gelb,<br />

Weiß und Schwarz. Dazu lassen sich Schlagmetallauflagen<br />

auf den Kapitellen und Schlusssteinen<br />

18 ZIMMMERMANN 1976, S. 125f; REICHERT 1961, S. 239.<br />

nachweisen. Das Schlagmetall ist stark bräunlich<br />

oxidiert. Die verwendete Metalllegierung dürfte<br />

einen hohen Kupferanteil aufweisen.<br />

Zu dieser Ausmalungsphase gehört auch ein<br />

gemalter Wandteppich im Chorraum. Die Runddienste<br />

der Pfeilervorlagen tragen eine dekorative<br />

Schablonenmalerei. Die Schlusssteine wurden vermutlich<br />

in Anlehnung an die gotische Farbigkeit<br />

in einem rotbraunen Grundfarbton angelegt. Die<br />

Wandflächen zeigen auf einem hellen Flächenfarbton<br />

eine idealisierte Quaderfugenmalerei mit<br />

horizontalem Fugenstrich.<br />

Diese historistische Raumfassung des 19.<br />

Jahrhunderts dürfte sich zum Teil an den mittelalterlichen<br />

Fassungsbestand orientiert haben. 19 In<br />

einem Bericht von Behr, der die Wiederherstellung<br />

der Abteikirche zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

beschreibt, wird diese Ausmalung als »… einige<br />

Jahrzehnte …« zuvor ausgeführt beschrieben<br />

und ist sowohl stilistisch als auch bezüglich der<br />

Archivrecherche wohl in das letzte Drittel des 19.<br />

Jahrhunderts zu datieren. 20<br />

Phase VI: Malschichtabnahme (1903/06)<br />

»Die Ausmalung des 19. Jahrhunderts wurde während<br />

der Renovierung in den Jahren 1903/06 entfernt<br />

und die natürliche Sandsteinquaderung der<br />

Wandflächen freigelegt.« 21<br />

Die Entfernung auf den Werksteinen und der<br />

gesamten Architekturgliederung erfolgt durch<br />

eine steinmetzmäßige Überarbeitung mit einem<br />

Scharriereisen. 22 Die Verglasungen des 19. Jahrhunderts<br />

werden teilweise ersetzt. Mit der Herstellung<br />

der »Steinsichtigkeit« folgt man dem<br />

zeitgenössischen Geschmack des späten 19. Jahrhunderts.<br />

Damit geht aber der Totalverlust der<br />

historischen Innenraumfassungen einher.<br />

Zur Betonung des natürlichen Fugenschnitts<br />

werden diese mit weiß aufgemalten Fugenstrichen<br />

nachkonturiert. Die fast vollständig erneuerten<br />

Gewölbekappen werden glatt verputzt und<br />

gebrochen weiß gestrichen.<br />

Phase VII: Renovierung der Kirche (1959/1962)<br />

Die fünfte Renovierungsfassung führt zu einer<br />

Reinigung der gesamten Oberflächen des Innenraumes<br />

mit einem Sandstrahlverfahren. Diese<br />

Renovierung erfolgt während der Gesamtrestaurierung<br />

von 1955–62 unter Leitung von Baurat<br />

Heinrich Otto Vogel.23 Die Kapitelle und Schlusssteine<br />

werden zu dieser Zeit teilweise durch<br />

Kopien ersetzt. Hierfür wir eine hellgraue Varietät<br />

des Vogesensandsteins verwendet. 24<br />

19 »Die Ausmalung des 19. Jahrhunderts …« siehe bei REI-<br />

CHERT 1961, S. 243.<br />

20 REICHERT 1961, S. 243.<br />

21 REICHERT 1961, S. 243.<br />

22 REICHERT 1961, S. 244.<br />

23 Dagegen wird von Georg Dehio der Zeitraum dieser Renovierung<br />

von 1955–59 angegeben. Vergleiche DEHIO 1985,<br />

S. 1015. »… Gesamtrestaurierung 1955–59 …«<br />

24 DEHIO 1985, S. 1016.


Abb. 7: Abteikirche St.<br />

Mauritius in Tholey,<br />

nördliches Seitenschiff;<br />

Musterachse<br />

der ursprünglichen<br />

Raumfarbigkeit des 13.<br />

Jahrhunderts; Kalkfarbe<br />

mit Erdpigmenten<br />

(Thomas Lutgen 2018)<br />

Die Gewölbesegel werden monochrom<br />

gebrochen weiß gestrichen.<br />

Resumé<br />

Im Rahmen der restauratorischen Voruntersuchung<br />

konnten trotz der steinsichtigen Wandflächen<br />

und Architekturbauteile noch insgesamt<br />

sechs Renovierungen nachgewiesen und unterschieden<br />

werden. Davon ließen sich fünf als farbig<br />

gestaltete Raumfassungen verifizieren.<br />

Die erste nachweisbare Fassung stellt dabei<br />

vermutlich die gotische Raumfassung der Erbauungszeit<br />

dar und lässt sich damit zeitlich zwischen<br />

1260 und 1310 einordnen.<br />

Die Wandflächen und die gesamte Architekturgliederung<br />

waren im Inneren in einem<br />

kräftigen Rotbraun farbig gefasst. Nur die Gewölbesegel<br />

zeigen dazu einen hellen gelbbraunen<br />

monochromen Anstrich. Anhand von zwei<br />

äußerst fragmentarischen Befunden darf vermutet<br />

werden, dass diese rotfarbig gefassten Oberflächen<br />

mit weißen Fugenstrichen gegliedert<br />

waren. Diese Raumfassung würde der zu dieser<br />

Zeit üblichen aufgemalten idealisierten gotischen<br />

Quaderfugenmalerei entsprechen. Das Besondere<br />

daran ist, dass der rotbraune Flächenfarbton ohne<br />

Unterscheidung auf die Wand- und Architekturgliederung<br />

ausgeführt worden ist. Die Bauzier<br />

wird nicht farbig abgesetzt oder hervorgehoben.<br />

Die erste Renovierungsfassung wiederholt<br />

das bauzeitliche Fassungskonzept. Die Schlusssteine<br />

und Kapitellzonen werden mit Blattvergoldungen<br />

akzentuiert, teilweise gebrochen<br />

weiß abgesetzt und mit schwarzen Konturlinien<br />

hervorgehoben.<br />

Es dürfte sich dabei um eine mittelalterliche<br />

gotische Raumfassung handeln, die möglichweise<br />

bereits nach dem frühen Kirchenbrand von 1332<br />

oder den urkundlich belegten Schäden am Kirchenbau<br />

im 15. Jahrhundert mit einem darauf folgenden<br />

Wiederaufbau in Zusammenhang steht.<br />

Die zweite Renovierungsfassung führt zu<br />

einem Wechsel des Farbkanons. Die zuvor rotbraun<br />

gefassten Wand- und Architekturgliederung<br />

werden in einem ersten Arbeitsschritt<br />

weiß grundiert und erhalten einen ockergelben<br />

Flächenfarbton. Darauf erfolgte eine Gliederung<br />

mit weißen Einfachfugen, wobei diese unabhängig<br />

vom tatsächlichen Steinschnitt idealisiert<br />

aufgemalt werden. Die Schlusssteine werden mit<br />

einem kräftigen Blau farbig abgesetzt. Die hierfür<br />

verwendete Smalte (Blaupigment) unterstreicht<br />

auch materialtechnologisch die zeitliche Einordnung<br />

dieser Renovierung in das 16. Jahrhundert.<br />

Die dritte Renovierungsfassung führt zu<br />

einem gebrochen weißen Flächenfarbton der<br />

Gewölbesegel und vermutlich auch der Wandflächen.<br />

Die Architekturgliederung wird mit einem<br />

kühlen barocken Hellrot farblich abgesetzt. Diese<br />

Renovierungsfassung geht vermutlich mit dem<br />

barocken Umbau der Kirche im 18. Jahrhundert<br />

einher.<br />

Die vierte Renovierungsfassung stellt eine<br />

historistische Ausmalung mit vielfarbigen stilisierten<br />

Ornamenten und Schablonenmalereien<br />

dar. Der Chorraum wird mit einem aufgemalten<br />

Wandteppich besonders hervorgehoben. Die<br />

Schlusssteine und Kapitellzonen werden mit<br />

Schlagmetallauflagen verziert.<br />

Diese historistische Ausmalung geht mit der


saargeschichte|n 2.2019<br />

12<br />

Herstellung der Steinsichtigkeit zu Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts im Zuge der Renovierung von 1903<br />

bis 1906 verloren. Nahezu die gesamten Gewölbesegel<br />

werden zu dieser Zeit erneuert, glatt verputzt<br />

und weiß gestrichen.<br />

Die letzte Renovierung im Inneren erfolgt mit<br />

der Gesamtrestaurierung von 1955-62. Zu dieser<br />

Zeit wird der Innenraum mit einem Sandstrahlverfahren<br />

gesäubert. Die Gewölbesegel werden<br />

weiß gestrichen.<br />

Einordnung und Bewertung der bauzeitlichen<br />

Raumfassung der Abteikirche in Tholey<br />

Die Benediktinerabteikirche in Tholey gehört zu<br />

den bedeutendsten gotischen Kirchenbauten des<br />

Bistums Trier und steht in unmittelbarer Nachfolge<br />

zur Liebfrauenkirche in Trier, dem Schlüsselbau<br />

der deutschen Gotik. 25 Der Einfluss der nordfranzösischen<br />

Baukultur der Gotik ist über die Liebfrauenkirche,<br />

dem Domkreuzgang des Domes St.<br />

Peter in Trier noch am Kirchenbau in Tholey deutlich<br />

ablesbar und anhand formalstilistischer Vergleiche<br />

eindeutig erkennbar. Dieser französische<br />

Einfluss ist in Tholey in der formalen Ausbildung<br />

der Bauzier aber auch an den bautechnologischen<br />

Merkmalen erkennbar.<br />

Von Zimmermann und Reichert wurden<br />

formalstilistische Vergleiche angesetzt und diskutiert.<br />

26<br />

Im Zuge dieser restauratorischen Untersuchung<br />

war es aus diesem Grund von besonderem<br />

Interesse, in wie weit sich die ursprüngliche<br />

Raumfassung aufgrund der tiefgreifenden Sanierungs-<br />

und Renovierungsarbeiten überhaupt noch<br />

nachgewiesen lassen sollte. Trotz der brachialen<br />

Reinigung mit dem Sandstrahlverfahren von 1955-<br />

62 der gesamten Oberflächen und der Abscharrierung<br />

von 1903-06 konnte der ursprüngliche Fassungsbestand<br />

dennoch an zahlreichen Befunden<br />

belegt werden.<br />

Die gesamten Oberflächen des Innenraumes<br />

waren bis auf die weiß gestrichenen Gewölbesegel<br />

in einem kräftigen Rotbraun farbig gefasst und<br />

mit weißen Fugen gegliedert worden. Wir dürfen<br />

annehmen, dass die gesamten Wandflächen mit<br />

einer aufgemalten idealisierten Quaderfugenmalerei<br />

ausgestattet waren. Die Wandvorlagen,<br />

Dienste, Kapitelle und Schlusssteine wurden dazu<br />

nicht farbig abgesetzt und damit hervorgehoben,<br />

sondern mit dem gleichen rotbraunen Flächenfarbton<br />

überstrichen. Besonders die großflächigen<br />

Originalbefunde hinter dem barocken Orgelprospekt<br />

lassen dieses Fassungskonzept noch gut<br />

erkennen.<br />

Auf den Rippen lassen sich noch die weißen<br />

Fugenstriche feststellen, so dass auch die Architekturgliederung<br />

in das aufgemalte Fugennetz<br />

integriert und eingebunden worden ist.<br />

25 KURMANN 2016, S. 11–19.<br />

26 REICHERT 1961, ZIMMERMANN (1927),1976.<br />

Damit reiht sich die nachweisbare ursprüngliche<br />

Raumfassung von Tholey in das gotische Fassungskonzept<br />

von Sakralbauten der 2. Hälfte des<br />

13. Jahrhunderts ein. Die Architekturgliederung<br />

wird zugunsten der zu dieser Zeit sich entwickelnden<br />

farbigen Fensterverglasung und der damit<br />

verbundenen farbigen Lichtwirkung im Innenraum<br />

zurückgenommen. 27 Dies gelingt durch die<br />

farbige Einbindung mit dem rotbraunen Flächenfarbton<br />

und die Übernahme der Fugengliederung<br />

auf die Bauzier.<br />

Dieses folienhaft alles überspannende Raumfassungskonzept<br />

hat sich von Bauhütten in Reims<br />

über den Kathedralbau von St. Etienne in Toul<br />

nach Deutschland in den frühesten gotischen<br />

Kirchenbau auf deutschem Grund, die Liebfrauenkirche<br />

in Trier übertragen.<br />

Es scheint, dass der zweifelsfrei nachweisbare<br />

Einfluss der Trierer Bauhütte von Liebfrauen nicht<br />

nur zu einem Transfer der französisch geprägten<br />

Bauformen nach Tholey führt, sondern auch<br />

deren Raumfarbigkeit beeinflusst haben dürfte. 28<br />

Statt des in Liebfrauen noch eingesetzten rötlich<br />

hellbraunen Flächenfarbtons wird in Tholey aber<br />

ein kräftigerer rotbrauner Flächenfarbton verwendet.<br />

Dies entspricht der farbigen Entwicklung von<br />

Flächenfarbtönen im 13. Jahrhundert hin zu kräftigeren<br />

rotgrundigeren Raumfassungen. 29 So lässt<br />

sich etwa in der Katharinenkirche in Oppenheim 30<br />

und dem Frankfurter Dom ein ähnlicher kräftiger<br />

rotbrauner Flächenfarbton mit einer weißen Quaderfugenmalerei<br />

nachweisen.<br />

Im Gegensatz zum nordfranzösischen Kathedralbau<br />

dürfen wir für die Abteikirche in Tholey<br />

aber keine bauzeitliche vergleichbar aufwändige<br />

farbige Verglasung annehmen. Die am Beispiel<br />

der Kathedrale von Chartres von Jantzen beschriebene<br />

»… Verwandlung der Architektur …« durch<br />

die farbige Verglasung in einen »… Lichtraum …«<br />

kann in der Abteikirche in Tholey somit nicht<br />

wirken. 31 Die farbige Raumfassung mit dem hellroten<br />

Flächenfarbton und dem weißen Fugennetz<br />

führt damit neben der Architekturgliederung<br />

maßgeblich zur Strukturierung und Gliederung<br />

des Innenraumes. Darin liegt der wesentlichste<br />

Unterschied der Quaderfugenmalerei im Innenraum<br />

einer Raumfassung im gotischen Sakralbau<br />

begründet. Während sich die Raumfassung in<br />

der farbig verglasten Kathedrale symbiotischer<br />

Anpassung zurücktritt und assistiert, bildet sie im<br />

monastischen, einfach verglasten Kirchenbau das<br />

27 Es ist heute keine originale Verglasung mehr erhalten.<br />

28 Frantz-Josef Reichert setzt sich mit stilistischen Untersuchungen<br />

der Bauformen der Abteikirche in Tholey und der<br />

Kölner Minoritenkirche sowie der Marienkapelle der Abtei<br />

St. Matthias auseinander. Siehe dazu bei REICHERT 1961,<br />

S. 204–208.<br />

29 Zum Beispiel ursprüngliche Innenraumfassung der Klosterkirche<br />

Marienstatt (um 1245–1324). Vergleiche dazu bei LUT-<br />

GEN 2016a, S. 222–224.<br />

30 Zur ursprünglichen Raumfarbigkeit der Katharinenkirche in<br />

Oppenheim siehe bei WEGNER 2005, S. 87–112. und LUTGEN<br />

2016a, S. 150–154.<br />

31 JANTZEN 1957, S. 139.


Wesentliche (neben der Architekurgliederung)<br />

gestalterische und raumbestimmende Funktionselement.<br />

Möglicherweise lässt sich mit dieser<br />

hervorgehobenen ästhetischen Aufgabe an die<br />

Raumfassung auch die stärkere Rotfarbigkeit des<br />

Flächenfarbtons und der daraus resultierende<br />

stärkere Kontrast zu den weißen Fugenstrichen in<br />

Tholey erklären. Die Raumstrukturen und -gliederungen<br />

zeichnen sich wie an einem im südlichen<br />

Seitenschiff der Kirche angelegten Rekonstruktionsmuster<br />

im Jahr 2018 nachgewiesen werden<br />

konnten mit der Quaderfugenmalerei mit dem<br />

roten Flächenfarbton und dem weißen Fugenstrich<br />

auch bei schwacher Belichtung des Raumes<br />

durch die Fenster am deutlichsten ab. Die folienhaft<br />

die Wandflächen, Säulen, Diensten und Rippen<br />

überziehende Quaderfugenmalerei verstärkt<br />

damit die plastische Wirkung der Architekturformen.<br />

Die originäre für eine französische Raumfassung<br />

typische Übernahme des Flächenfarbtons<br />

mit Quaderfugenmalerei auf die Gewölbeflächen<br />

ist in der Liebfrauenkirche in Trier noch übernommen<br />

worden. Der nur wenige Jahre später<br />

ab 1245 begonnene gotische Domkreuzgang von<br />

St. Peter in Trier weicht bereits wieder von diesem<br />

nordfranzösischen Fassungskonzept ab und zeigt<br />

weißgrundige Gewölbesegel. In Tholey folgt man<br />

ebenfalls dieser Entwicklung. Auch hier sind die<br />

Gewölbesegel zur Bauzeit wieder mit einem hellen<br />

Flächenfarbton farblich abgesetzt.<br />

Mit den restauratorischen und bauhistorischen<br />

Untersuchungen durch den Verfasser in<br />

den Jahren 2017 und 2018 können die aktuellen<br />

Forschungsergebnisse zur Raumfarbigkeit von<br />

Sakralbauten auf deutschem Boden im 13. Jahrhundert<br />

bestätigt werden. Die Erkenntnisse zur<br />

Innenraumfarbigkeit der Abteikirche in Tholey<br />

und der ersten noch mittelalterlichen Raumfassung<br />

belegen zugleich auch die Entwicklungsgeschichte<br />

der mittelalterlichen Raumfarbigkeit.<br />

1985.<br />

Knoepfli Albert/Emmenegger, Oskar/Koller<br />

Manfred/Meyer André: Wandmalerei Mosaik,<br />

Bd. 2 in Reclams Handbuch der künstlerischen<br />

Techniken, Stuttgart 1990.<br />

Kurmann, Peter: Liebfrauen in Trier – Ein Schlüsselbau<br />

der europäischen Gotik, in: Liebfrauen in<br />

Trier, Architektur und Ausstattung von der Gotik<br />

bis zur Gegenwart, (Hrsg.) Andreas Tacke/Stefan<br />

Heinz, Petersberg 2016. S. 11–19.<br />

Lutgen, Thomas: Neue Erkenntnisse zur bauzeitlichen<br />

Ausmalung des Domkreuzganges in<br />

Trier und zu seinen Renovierungen, in: Archiv für<br />

Mittelrheinische Kirchengeschichte, Jg. 67, 2015,<br />

S. 485–496.<br />

Lutgen, Thomas: Die ursprüngliche Raumfarbigkeit<br />

von Sakralbauten des 13 Jahrhunderts, Studien<br />

unter besonderer Berücksichtigung der Liebfrauenkirche<br />

in Trier, Petersberg 2016a, S. 11–19.<br />

Lutgen, Thomas: Die Raumfassung der Liebfrauenkirche<br />

in Trier im 13. Jahrhundert: Farbkanon-Technologie-Raumwirkung,<br />

in: Liebfrauen in<br />

Trier, Architektur und Ausstattung von der Gotik<br />

bis zur Gegenwart, (Hrsg.) Andreas Tacke/Stefan<br />

Heinz, Petersberg 2016b, S. 271–286.<br />

Reichert, Josef-Franz: Die Baugeschichte der<br />

Benediktiner-Abteikirche Tholey, Saarbrücken 1961.<br />

Wegner, Ewald: Die Katharinenkirche in Oppenheim<br />

und ihre Raumfarbigkeit, in: Mainzer Zeitschrift.<br />

Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie,<br />

Kunst und Geschichte, 100, 2005, S. 87–112.<br />

Wehlte, Kurt: Werkstoffe und Techniken der<br />

Malerei, Ravensburg, 4. Auflage, 1990.<br />

Völkle, Peter: Werkplanung und Steinbearbeitung<br />

im Mittelalter, Ulm 2016.<br />

Zimmermann, Walther: Die Kunstdenkmäler<br />

der Kreise Ottweiler und Saarlouis, (Hrsg.) Saarforschungsgemeinschaft,<br />

Aufl. 2, Saarbrücken 1976.<br />

Literatur<br />

Binding, Günther: Baubetrieb im Mittelalter,<br />

Darmstadt 1993.<br />

Bürger, Stefan: Werkmeister oder Architekt, Der<br />

mittelalterliche Baubetrieb an der Trierer Liebfrauenkirche<br />

als Ordnungssystem und Kommunikationsprozess,<br />

in: Liebfrauen in Trier, Architektur<br />

und Ausstattung von der Gotik bis zur Gegenwart,<br />

(Hrsg.) Andreas Tacke/Stefan Heinz, Petersberg<br />

2016, S. 165–175.<br />

Conrad, Dietrich: Kirchenbau im Mittelalter,<br />

6. Auflage 2011, Leipzig 1990<br />

Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler,<br />

Rheinland-Pfalz Saarland, München<br />

1985.<br />

Jantzen, Hans: Kunst der Gotik, Hamburg 1957.<br />

Kimpel, Dieter/Suckale, Robert: Die gotische<br />

Architektur in Frankreich 1130–1270, München


saargeschichte|n 2.2019<br />

14<br />

Alfred Döblin<br />

und Saargemünd<br />

Von 1915 bis 1918 diente er als Militärarzt<br />

in Elsass-Lothringen<br />

Von Sabina Becker<br />

Ende 1914 meldete sich Alfred Döblin als Kriegsfreiwilliger<br />

für Belgien und Frankreich. Durch<br />

diesen Schritt wollte der damals 36-jährige »Arzt<br />

und Dichter« 1 der zwangsweisen Einberufung<br />

der Ungedienten seines Jahrgangs oder einem<br />

möglichen Gestellungsbefehl an die Ostfront<br />

zuvorkommen – Döblin war von der Königlichen<br />

Ober-Ersatzkommission im Bezirk Berlin seit<br />

Juni 1903 dem Landsturm ersten Aufgebots zum<br />

Dienst ohne Waffe zugeteilt. Am 26. Dezember<br />

1914 erhielt er den Einberufungsbescheid als Militärarzt<br />

für das Lazarett der bayerischen Infanteriekaserne<br />

im lothringischen Saargemünd, wo er<br />

dann auch in den letzten Tagen des Jahres 1914<br />

eintraf. Elsass-Lothringen war nach 1871 (bis 1918)<br />

direkt der Reichsregierung unterstellt; das Gebiet<br />

wurde wie eine besetzte Provinz behandelt: Wilhelm<br />

II. ernannte seit 1879 einen ›kaiserlichen<br />

Statthalter‹ über das Reichsland Elsass-Lothringen<br />

– so die damalige offizielle Bezeichnung für<br />

die Region. Große Teile der Stadtbebauung Saargemünds<br />

sind Zeugnis der Architektur der wilhelminischen<br />

Kaiserzeit, unter anderem der Bahnhof<br />

der Stadt, aber auch jene zwischen 1896 und 1905<br />

entstandene Infanteriekaserne, in der Döblin zum<br />

Einsatz kam, das heutige ›Collège Fulrad‹, seinen<br />

Namen leitet es von einem Domherrn Karls des<br />

Großen her. Saargemünd fungierte aufgrund der<br />

Grenzlage seit Jahrhunderten als Garnisonsstadt,<br />

teilweise waren mehr Soldaten und Pferde zu<br />

versorgen als Einwohner. 1897 wurde hier das 23.<br />

1 Alfred Döblin: Arzt und Dichter [1927]. In: Ders.: Schriften zu<br />

Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.<br />

Br. 1986, S. 92–98.<br />

bayerische Infanterieregiment/II. Bataillon aufgestellt,<br />

Döblin wurde 1915 dem 21. Korps in Saargemünd/Saarbrücken<br />

zugeteilt.<br />

Verschiedene Gründe dürften den bei Kriegsausbruch<br />

bereits zu den renommierten Autoren<br />

der deutschsprachigen Literatur zählenden<br />

Schrift steller Döblin zur freiwilligen Meldung für<br />

den Kriegsdienst veranlasst haben: Indem er dem<br />

Einberufungsbefehl zuvorkam, konnte er sich<br />

einen erheblichen finanziellen Vorteil verschaffen.<br />

Überdies mag ihn mit Blick auf seine literarische<br />

Produktivität die wenigstens vorübergehende<br />

Lösung von der eigenen Familie gereizt haben;<br />

und nicht zuletzt war auch er nicht frei von der<br />

damals herrschenden nationalpatriotischen<br />

Kriegs euphorie. Unter anderem ließ er sich zu<br />

dem noch vor der Abreise nach Saargemünd entstandenen<br />

und Ende 1914 in der Neuen Rundschau<br />

erschienenen Aufsatz Reims hinreißen, in dem er<br />

die Bombardierung der dortigen Kathedrale durch<br />

die Deutschen im Rahmen eines deutsch-französischen<br />

Kulturkampfs rechtfertigte und zugleich<br />

in Richtung England die Drohung aussprach: »Die<br />

Stunde bleibt nicht aus! Wehe England!« 2 Bevor<br />

sich seine Haltung ab August 1915 änderte, zeigte<br />

sich Döblin also durchaus kriegsbegeistert: In<br />

seinen Briefen an Herwarth Walden – vor allem<br />

anhand dieser Briefe an den Freund und Dichterkollegen<br />

lässt sich Döblins Aufenthalt in Saarge-<br />

2 Alfred Döblin: Reims. In: Ders.: Schriften zu Politik und Gesellschaft.<br />

Hg. v. Torsten Hahn. Olten, Freiburg i. Br. 1972, S. 17–25,<br />

hier S. 24. – Vgl. auch Döblins Aufsatz Die Schlacht, Die<br />

Schlacht! aus dem Jahr 1915 (abgedruckt in: Alfred Döblin: Die<br />

Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen.<br />

Hg. v. Christina Althen. Frankfurt am Main 2013, S. 136–154).


münd rekonstruieren – erkundigte er sich stets<br />

nach dem aktuellen Kriegsgeschehen, berauschte<br />

er sich anlässlich des Teilsieges der deutschen<br />

Truppen über die 10. russische Armee in den Wäldern<br />

von Augustow in Polen an nationalistischen<br />

Parolen: »hurrah die russen in der tinte«, jubelt er<br />

in einem eigens an Walden aufgegebenen Telegramm<br />

im Februar 1915. 3 Und auch seinen anfänglichen<br />

Urteilen über die Situation und Bevölkerung<br />

in Saargemünd ist die patriotische Haltung<br />

abzulesen. In einem Brief vom 31. Januar 1915 zeigt<br />

sich der in Stettin geborene und seit 1888 in Berlin<br />

aufgewachsene Döblin erstaunt über die französische<br />

Eigenart der Region:<br />

»Ich habe danach überhaupt den Animus, daß<br />

wir viel zu anständig von den Franzosen denken.<br />

Sonderbar berührt dabei in diesem Nest hier, wie<br />

viel französische Namen, Vornamen es noch giebt;<br />

ich habe Ansichtskarten gekauft, auf denen 1914<br />

noch steht Vue des Saarguemines!, ebenso Porzellan<br />

mit Saarguemines signiert. Eine dolle Komödie<br />

für uns Preußen. Erst jetzt wird energisch auf<br />

Schildern verdeutscht, es scheint mit polizeilicher<br />

Nachhilfe; […].« 4<br />

Döblins Kriegsbegeisterung kühlte jedoch<br />

schnell ab, und das, obwohl er fast ausschließlich<br />

Patienten stationär in der Kaserne behandelte,<br />

im Gegensatz zu Kollegen also nicht an der Front<br />

eingesetzt war, nicht zuletzt auch deshalb, weil<br />

er wegen seines Magenleidens nur als »garnisondienstfähig«<br />

galt. 5 Gleichwohl sehnte er sich<br />

schon nach wenigen Monaten in die »bürgerliche<br />

Existenz« zurück: »Es ist ein so schöner Frühling;<br />

es könnte fabelhaft schön in der Welt sein, ich<br />

dürste nach bürgerlicher Existenz«, bekennt er im<br />

Brief an Walden vom 10. Mai 1915. 6 Dies mag auch<br />

daran gelegen haben, dass er sich in seine neue<br />

Position anfangs nicht recht einzufinden wusste.<br />

In der Ferne waren Kanoneneinschläge und<br />

monotone Schießgeräusche zu hören, vor allem<br />

während der Verdun-Offensive der Deutschen<br />

fühlte er sich »wie an der Front« 7 : »Geht man in die<br />

Umgebung, so hört man die Kanonen sehr deutlich,<br />

wie Schläge auf ein Sofa ein pa[a]r Stock über<br />

einem bei offenem Fenster; das Schießen kommt<br />

wohl aus dem Oberelsaß.« 8 Döblin, der nun eine<br />

Uniform tragen musste, war – wenn auch nicht<br />

mittendrin – im Kriegsgeschehen angekommen.<br />

Daneben löste der Tod seines Freundes August<br />

Stramm, des wichtigen Vertreters der expressionistischen<br />

Lyrik, im September 1915 den Wandel<br />

von Döblins Haltung zum Krieg aus: »Das unausdenkbar<br />

Brutale des Krieges wird wieder einmal<br />

evident, wo jemand hingerissen wird, wie Stramm,<br />

der so sichere Bewegung war und weiter drängte.<br />

3 An Herwarth Walden, 22.<strong>2.19</strong>15. In: Alfred Döblin: Briefe I. Hg. v.<br />

Heinz Graber. Freiburg, Olten i. Br. 1970, S. 66.<br />

4 An Walden, 31.5.1915. In: Ebd., S. 64-66, hier S. 65.<br />

5 An Walden, 16.11.1916. In: Ebd., S. 92f., hier S. 92.<br />

6 An Walden, 21.5.1915. In: Ebd., S. 71f., hier S. 72.<br />

7 An Walden, 16.11.1916. In: Ebd., S. 93.<br />

8 An Walden, 3.1.1915. In: Ebd., S. 61-63, hier S. 61.<br />

Unser Dasein ist abrupt. Es kommt, wie es scheint,<br />

auf garnichts an, auf garnichts« 9 , klagt er Walden<br />

gegenüber. Döblin wurde Kriegsgegner:<br />

»Zum Auswachsen ist der Krieg. Er wächst<br />

mir zum Halse heraus. Er wird ja sicher von Woche<br />

zu Woche interessanter, aber, aber. Wer soll das<br />

durchhalten, ewig Schlachten, Kriegsschilderung;<br />

die Spannung hat sich zur Langeweile besänftigt<br />

und geklärt, sozusagen. Ich bin offenbar zu klein<br />

für diese große Zeit; machst Du noch mit? Puh!« 10<br />

Dabei war Döblin mit der Abordnung in<br />

das zu jener Zeit ca. 15.000 Einwohner zählende<br />

lothringische Saargemünd noch weit vom direkten<br />

Kriegsgeschehen stationiert. Hier wohnte er<br />

nach seiner Ankunft zunächst im Hôtel Royal an<br />

der Place de la Gare. Im Brief an Walden liefert<br />

er im Januar 1915 erste Eindrücke von der neuen<br />

Umgebung: »Ich sehe keine Autos, keine Droschke;<br />

ab und zu einen Handwagen, bäurische Leute mit<br />

schiefen schwarzen Filzhüten, den langen Shawl<br />

halbitalienisch um Hals und Schulter. Kapläne<br />

mit dem breiten Jesuitenhut und langem faltigen<br />

Rock. Rotbäckige Kinder auf den Plätzen; der breite<br />

9 An Walden, 21.9.1915. In: Ebd., S. 75f., hier S. 75.<br />

10 An Walden, 20.11.1915. In: Ebd., S. 78f., hier S. 78f.<br />

Militärarzt in Saargemünd,<br />

Rückseite der<br />

Postkarte vom 26.<br />

Januar 1915. Die Uniform<br />

ließ sich Döblin<br />

beim jüdischen Textilkaufmann<br />

Leopold<br />

Oppenheimer, beim<br />

Vater von Max Ophüls<br />

in Saarbrücken schneidern.


saargeschichte|n 2.2019<br />

16<br />

Döblin (Vierter von<br />

links) in einer Gruppe<br />

von Militärärzten.<br />

Vermutlich lag das<br />

Foto einem Brief Alfred<br />

Döblins an Edda Lindner<br />

vom 6. März 1915<br />

bei. (Stadtbibliothek<br />

Wuppertal)<br />

Manuskriptseite,<br />

Gespenst vom Ritthof<br />

(DLA)<br />

tonvolle Dialekt, der sich viel Zeit läßt. Ich wohne<br />

in einem der drei Hotels an der Bahn; fünfzehn<br />

Minuten gradeaus von hier ist das Städtchen ganz<br />

durchschritten; draußen liegt unser Lazarett.« 11<br />

Ende Januar bezog Döblin sodann eine eigene<br />

Wohnung, zwei Zimmer in der Marktstraße 7, der<br />

heutigen Rue de la Paix, Ecke Rue de Verdun. War<br />

er mit der Hotel-Adresse noch nicht in der Meldebescheinigung<br />

aufgeführt, so ist Döblin mit dieser<br />

Wohnung seit dem 26. Januar 1915 als Untermieter<br />

einer Familie Roether im Register der Stadt Saargemünd<br />

gemeldet, zusammen mit dem Eintrag in<br />

der Spalte Religion: »dissident« – Döblin war 1912<br />

aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten – und<br />

der Staatsangehörigkeit: preußisch (»prs.«). 12<br />

Zwar spricht Döblin von Saargemünd auch<br />

als »diesem lothringischen Nest« und von seiner<br />

neuen Bleibe als von einer »verflucht stillos[en]« 13<br />

Wohnung; gleichwohl zeugen die brieflichen<br />

Schilderungen dieses überzeugten Städters und<br />

bekennenden Berliners zunehmend von offener<br />

Neugier auf die ländliche Bevölkerung und<br />

Region; mit der Zeit fand er gar Gefallen an der<br />

»Gegend« und einem zu diesem Zeitpunkt noch<br />

geruhsamen Lebensrhythmus jenseits des Kriegsgeschehens:<br />

»Inzwischen gehts mir viel besser«,<br />

unterrichtet er Walden bereits Ende Januar 1915,<br />

»ich wachse in das Milieu mehr hinein. Ich wohne<br />

privat, habe sogar ein Klavier. Die Gegend ist<br />

bildschön, ich mache Ausflüge mit zwei Kollegen,<br />

wenig Arbeit, viel Ländlichkeit, faktisch wie<br />

ein Badeaufenthalt, sofern man das Dienstliche<br />

ignoriert.« 14 Auch mehr Verständnis für die Eigenheit<br />

der Region und ihrer Sprache stellte sich mit<br />

der Zeit ein: »Man sieht freilich vieles, das an das<br />

›Grenzland‹ erinnert; Du hörst den Tonfall, wie er<br />

bei den Flamen auftritt, unglaublich melodisch<br />

und reizvoll, lauter abgeschliffene Ecken, der Ton<br />

wechselt in einer Silbe schon; […].« 15<br />

Döblin nutzte seine freie Zeit also zur Erkundung<br />

der Saargemünder Umgebung. Er berichtet<br />

von Ausflügen zu Fuß, zum Beispiel in das zirka<br />

10 km von Saargemünd gelegene Frauenberg, wo<br />

seit dem 18. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde<br />

bestand, mitsamt dem noch heute existierenden,<br />

aber nicht mehr genutzten jüdischen Friedhof.<br />

Ferner war er häufig und gerne Gast im Ritthof,<br />

in einem bei Bliesransbach gelegenen Bauernhof,<br />

in jenen Jahren noch mitsamt einer Gast- und<br />

Gartenwirtschaft sowie (bis 1925) eigenem Weinanbau.<br />

Auch Ausflüge nach Saarbrücken standen<br />

auf der Tagesordnung, denn hier saß die militärische<br />

Leitung wie auch der zuständige Korps- bzw.<br />

Generalarzt Dr. Rudolf Johannes:<br />

»Ich bin oft herübergewandert durch das<br />

wundervolle Saartal, durch die herrlichen Wälder<br />

und Berglandschaften, über Blittersdorf, Großund<br />

Kleinblittersdorf, Saarbrücken war mir doch<br />

damals die ›Großstadt‹. Da war nicht nur das eine<br />

Kaffee, (wie in Saargemünd), sondern das schöne<br />

Schloßkaffee am Wasser, wo man interessante<br />

durchreisende Menschen sah, und anderes gab<br />

es, wo Musik war. Da war das ›Malepartus‹, mit<br />

schönen Räumen, die breite Bahnhofstraße, die<br />

ich viele dutzendmal freudig durchstreifte; da<br />

waren Menschen, ich war nicht unter Soldaten<br />

gefangen, nicht Oberstabsärzten und anderen<br />

halb abgestorbenen Cholerikern ausgeliefert. Da<br />

war ein Varieté, das mir manchmal Spaß machte.<br />

Und – ein Berg, auf dem das Sanitätsamt mit dem<br />

höllischen Generalarzt stand.<br />

11 An Walden, 3.1.1915. In: Ebd., S. 61.<br />

12 Meldeeintrag abgebildet bei Ralph Schock: Alfred Döblin.<br />

»Meine Adresse ist: Saargemünd«. Spurensuche in einer<br />

Grenzregion. Merzig 2010, S. 81.<br />

13 An Walden, 23.3.1915. In: Briefe I, S. 70f., hier S. 70.<br />

14 An Walden, 26.1.1915. In: Ebd., S. 63f., hier 63f.<br />

15 Das Gespenst vom Ritthof. Typoskript, 1915. Alle Rechte vorbehalten<br />

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.


Die Bewohnerschaft Saargemünds erschien<br />

mir zum größten Teil französisch oder in etwa<br />

francophil; wir waren Fremde. In Saarbrücken aber<br />

war man mitten in Deutschland …« 16<br />

Neben seinen Erkundigungen der Umgebung<br />

verfolgte Döblin in jenen Monaten auch weiterhin<br />

literarische Arbeiten, so entstand unter anderem<br />

Das Gespenst vom Ritthof, eine »märchenartige<br />

Erzählung« 17 , die im Oktober 1915 in der von<br />

Walden herausgegebenen Zeitschrift Der Sturm<br />

erschien – dem neben Franz Pfempferts Aktion<br />

bedeutendsten Organ des Expressionismus. Diese<br />

Produktivität war zum einen auf die überschaubare<br />

berufliche Belastung und zum anderen auf die<br />

Abwesenheit der Familie zurückzuführen. Doch<br />

seine familiäre Unabhängigkeit währte nicht allzu<br />

lange. Am 17. März 1915 wurde in Berlin Döblins<br />

zweiter Sohn Wolfgang geboren, am 17. Juni übersiedelte<br />

Erna Döblin dann mit den beiden Kindern<br />

zu ihrem Mann nach Saargemünd, wo man noch<br />

im selben Monat eine kleine Dreizimmerwohnung<br />

in der Neunkircher Straße 19, der heutigen<br />

Rue de Maréchal-Foch anmietete, wechselte also<br />

von der eng angelegten Saargemünder Altstadt<br />

auf die andere Seite der Saar in die wilhelminische<br />

Neustadt, zumal man später noch ein<br />

weiteres Zimmer »zwei Stock höher in absoluter<br />

Tag[-] und Nachtruhe« dazumietete. 18 Die Berliner<br />

Wohnung wurde, als sich zu Beginn 1916 noch kein<br />

Ende des Krieges absehen ließ, aufgegeben. Döblin<br />

wird bis auf zwei kurze Unterbrechungen bis<br />

August 1917 an der Saar bleiben, unter anderem<br />

begab er sich zwischen Juli und August 1916 zu<br />

einem vierwöchigen Kuraufenthalt – ein offenbar<br />

durch die Arbeit im Lazarett ausgelöstes chronisches<br />

Magenleiden führte ihn in die Kurstadt Bad<br />

Kissingen. Am 21. Mai 1916 informiert er Walden<br />

über seine Erkrankung, er legte dem Brief jedoch<br />

eine in Saargemünd entstandene Fotografie bei,<br />

die ihn in Uniform zeigt:<br />

»[...] hier hast Du mich in effigie. Denn ich<br />

selbst werde wohl in absehbarer Zeit nicht nach<br />

Berlin kommen; ich habe mir ein recht solides<br />

chronisches Magenleiden so peu à peu zugelegt,<br />

[...]. Ich lese jetzt Korrekturen des Novellenbandes<br />

›Lobensteiner‹, dessen meiste Stücke Du ja kennst;<br />

mehrere hat ja der Sturm gebracht (12 Nummern<br />

in summa). Hoffentlich kommt das Buch nicht<br />

bald raus; denn was soll das jetzt?« 19<br />

Außer an den Korrekturen am erwähnten<br />

Novellenband und einigen Erzählungen arbeitete<br />

Döblin während der gesamten Saargemünder<br />

Zeit an seinem historischen Roman Wallenstein<br />

Oben: Hotel Messmer,<br />

Saarbrücken<br />

Unten: Restaurant<br />

Malepartus im Hotel<br />

Messmer<br />

Links: Militärarzt in<br />

Saargemünd, Rückseite<br />

der Postkarte vom<br />

26.1.1915<br />

16 Alfred Döblin an Arthur Friedrich Binz, Brief abgedruckt in<br />

Arthur Friedrich Binz: Alfred Döblin und das Saarland. In:<br />

Südwestdeutsche Heimatblätter 2. Jg., 1928/29, Nr. 4, S. 23.<br />

– Der Brief stammt vermutlich aus dem Jahr 1924. Das ›Malepartus‹<br />

war ein im Hotel Messmer untergebrachtes Weinrestaurant,<br />

Ecke Rathausstraße (heute Kaiserstraße) und<br />

Viktoriastraße in Saarbrücken.<br />

17 An Walden, 10.5.1915. In: Ebd., S. 71–73, hier 72.<br />

18 An Walden, 3.06.1917. In: Ebd., S. 97f.<br />

19 An Walden, 21.05.1916. In: Ebd., S. 85f., hier S. 85f.


saargeschichte|n 2.2019<br />

18<br />

– bei Luftangriffen nahm er das Manuskript, so<br />

wird er später in seinen autobiografischen Aufzeichnungen<br />

angeben, in den Luftschutzkeller<br />

mit. Saargemünd war seit der Ende Februar 1916<br />

beginnenden Verdunschlacht Ziel fast täglicher<br />

Fliegerangriffe, vor allem im November desselben<br />

Jahres, als französische Flieger Angriffe auf saarländische<br />

und lothringische Städte und Fabrikanlagen<br />

flogen. Im Brief an Walden gibt er Auskunft<br />

über die veränderte Situation:<br />

»Fliegerüberfall. Es war mondheller Abend,<br />

halb 10, ich hörte die Flieger, es waren viele; kaum<br />

auf der Straße (hier darf ja seit lange keine Laterne<br />

abends brennen; Du kannst Dir keine Vorstellung<br />

davon machen, was Dunkelheit hier heißt;<br />

ohne Taschenlampe ist man verloren) – also da<br />

kracht es, schauderhaft, nur ein paar Sekunden bis<br />

30; dann Schluß. Effekt ebenso schauderhaft: ein<br />

paar Häuser an der Bahn […] geradezu demoliert,<br />

Wände rausgerissen, Dachstühle geborsten, halbe<br />

Fassaden abgerissen; einige Läden ausgeleert;<br />

[…]. Tag um Tag sind sie darauf wiedergekommen,<br />

jetzt funktionierte bes. Sonntag der Abwehrdienst<br />

vor Saarbrücken, das Rollen und Dröhnen<br />

der Kanonen, die Schrapnellwölkchen konnte ich<br />

erleben, wie an der Front einer.« 20<br />

1917 kam es zu weiteren Flugangriffen, etwa<br />

am 20. Mai 1917, als seine Frau ihren dritten Sohn<br />

Klaus (der sich ab 1936 aus Verbundenheit mit<br />

Frankreich, der nach einem kurzen Aufenthalt in<br />

der Schweiz zweiten Exilstation der Familie, Claude<br />

nennen wird) im Keller zur Welt brachte – in<br />

der Abwesenheit ihres Mannes: Döblin war zu<br />

Jahresbeginn an Typhus erkrankt und verbrachte<br />

im April und Mai einen Genesungsurlaub in<br />

einem Heidelberger Offizierslazarett (dem 1919<br />

abgebrannten Hotel Bellevue). Von dort berichtet<br />

er am 26. April 1917 an Herwarth Walden: »Meine<br />

Frau mit 2 kleinen Herrschaften sitzt allein in<br />

Saargemünd, das tut mir doppelt leid, weil sie<br />

in 2–3 Wochen ein drittes kleines Wesen erwartet.<br />

Du staunst ob meines Mutes; ich denke, ich<br />

habe so nichts und so nichts, und es wird schon<br />

gehen; – wenn bloß das infame Geschrei nicht<br />

wäre.« 21 Auch nach der Rückkehr Döblins nach<br />

Saargemünd änderte sich die beschriebene Situation<br />

in den folgenden Monaten kaum. Hatte er<br />

sich im Mai 1915 noch überzeugt gegeben: »Ich<br />

glaube nicht, daß ich hier mehr lange bleibe. Das<br />

Lazarett ist gänzlich geräumt, der größte Teil Ärzte<br />

und Personal schon in alle Welt verschickt« 22 , so<br />

klagt er bereits im Januar 1917, wiederum seinem<br />

Freund Walden gegenüber:<br />

»Ich sitze jetzt im 3. Jahr hier und, wills die<br />

Entente, so noch viel viel länger. Es ist schlimm,<br />

schrecklich, entsetzlich. Schon wegen der eigentlichen<br />

örtlichen Verhältnisse: meine 3 kleinen<br />

kleinsten Zimmerlein, dadrin hausen wir nun 5<br />

20 An Walden, 16.11.1916. In: Ebd., S. 92f.<br />

21 An Walden, 26.4.1917. In: Ebd., S. 95–97, hier S. 96. – »Jetzt<br />

hab ich drei; was soll daraus werden; ich hab genug [...].«<br />

22 An Walden, 10.5.1915. In: Ebd., S. 71–73, hier S. 72.<br />

Mann hoch, – und es ist schon kein Provisorium<br />

mehr, 1 V Jahr jetzt! Wo soll man arbeiten! Das<br />

Geschrei! Und dabei will und soll ich was tun.« 23<br />

Doch ungeachtet solcher Klagen über die<br />

beengte Wohnsituation blieb Döblin schriftstellerisch<br />

äußerst motiviert. Aus Saargemünd meldet<br />

er dem Freund Walden den Abschluss der Maschinenreinschrift<br />

des noch in Berlin vollendeten<br />

Wadzek-Romans. Erna Döblin übernahm die Arbeit<br />

des Abtippens: »[…] nun ist mein Buch complett<br />

und wird gebunden. Bei uns ist alles wohl und<br />

mobil. Ich schicke Dir morgen eine kleine Novelle<br />

oder Geschichte: ›Gespenst vom Ritthof‹.« 24 Und<br />

nicht zuletzt entstanden in jenen Jahren Teile<br />

seines historischen Romans Wallenstein, bereits<br />

in Saargemünd und noch in Hagenau beschäftigte<br />

ihn der historische Stoff um den böhmischen<br />

Feldherrn und den 30-jährigen Krieg wie kaum ein<br />

anderes Thema:<br />

»Wie kam ich darauf, den Dreißigjährigen<br />

Krieg und Böhmen und Wallenstein auszusuchen<br />

als meinen Schauplatz und meine Figuren?<br />

Zunächst war es nur die sehr naheliegende Ähnlichkeit<br />

zwischen 1914/18 und damals: ein europäischer<br />

Krieg. Ich tastete nach Büchern. Die Universitätsbibliothek<br />

im Elsaß gab mir her, was sie<br />

hatte, an deutschen und französischen Büchern<br />

aus dieser Zeit.« 25<br />

Dass ihm überhaupt so viel Zeit zur Verfügung<br />

stand für sein Schreiben, ist mit der ungeachtet<br />

der täglichen Luftangriffe doch eher ruhigen<br />

Lage im Saargemünder Lazarett zu erklären.<br />

Auch gab es zunehmend weniger Arbeit für die<br />

Ärzte, da zwar jeden Tag Verwundete – anfangs<br />

vor allem aus dem Argonnerwald, dem Waldgebiet<br />

zwischen Maas und Champagne, – angekündigt,<br />

dann aber nicht eingeliefert wurden; ohnehin<br />

war Döblin nur bedingt für Kriegsverletzte<br />

verantwortlich, in seinen Zuständigkeitsbereich<br />

fielen eher die »inneren Kranken (Gelenkrheuma,<br />

Lungenentzünd[un]g, besonders Infektionen,<br />

Typhus, Ruhr)«. 26 Dies erklärt vielleicht, warum der<br />

junge Arzt Döblin angetan war von der guten Versorgung<br />

der Patienten, die ihn an die Behandlung<br />

in Berliner Privatkliniken erinnerte. Der Nichte<br />

Else Lasker-Schülers, Edda Lindner gegenüber<br />

schwärmt er im März 1915: »Es ist fabelhaft, was<br />

für die Leute getan wird, kein Privatkrankenhaus<br />

kann mehr leisten, an Pflege, Ernährung, jeglicher<br />

ärztlicher und medikamentöser Behandlung. […]<br />

Prächtige Kerls unter den Patienten, durcheinander<br />

sämtlicher Stände, und das hockt zusammen,<br />

macht Harmonikamusik, ist vergnügt und wie<br />

eine Gesellschaft großer Kinder.« 27 So lässt sich<br />

seinen brieflichen Schilderungen zwar entnehmen,<br />

dass Döblin sich von Beginn an schwertat<br />

23 An Walden, 12.1.1917. In: Ebd., S. 93–95, hier S. 94f.<br />

24 An Walden, 29.8.1915. In: Ebd., S. 73.<br />

25 Döblin: Entstehung und Sinn meines Buches ›Wallenstein‹,<br />

S. 186.<br />

26 An Walden, 3.1.1915. In: Ebd., S. 61.<br />

27 An Edda Lindner, 6.3.1915. In: Ebd., S. 66f., hier S. 67.


mit den »militärische[n] Naturen« 28 im Umfeld<br />

des Lazaretts; doch daneben zeigen seine Berichte<br />

auch, dass er sich in Saargemünd zunehmend<br />

wohlfühlte, ja gar begann, sein Leben als Lazarettarzt<br />

zu genießen: Im Brief an Walden vom 7. März<br />

1915 jedenfalls finden sich folgende Hinweise:<br />

»[…] inzwischen gab es die großen Gehälter,<br />

mobiles Gehalt. Ich bekomme an 600 M monatlich,<br />

dazu kommt, […] noch an 100 Service und Burschengeld.<br />

Dolle Gehälter zahlt unser Inspektor<br />

so monatlich aus. Wenn wir siegen, kommt alles<br />

dreidoppelt ein, und wenn nicht, ist nichts bei uns<br />

zu holen; […].« 29<br />

Döblins medizinische Tätigkeit bestand<br />

zunächst in der Betreuung von 60 in »drei Baracken«<br />

untergebrachten Patienten der Inneren<br />

Medizin; alles »schwere, schwere Fälle«, wie er<br />

betont. Über seinen Dienst, aber auch über die<br />

spezifische Situation eines Zivilarztes in einem<br />

Militärlazarett berichtet er wenige Tage nach<br />

der Ankunft in Saargemünd am 3. Januar 1915 in<br />

einem Brief an Herwarth Walden:<br />

»Ich bin ordinierender Arzt, habe drei Baracken<br />

zu je 20 schweren schweren Fällen. Wir sind<br />

12 Ärzte, an der Spitze ein Chefarzt (Stabsarzt);<br />

zwei Berliner Ärztinnen sind drolliger Weise auch<br />

hier, freiwillig mit besonderem Vertrag, haben<br />

auch Stationen wie wir; also die Ärztenot. Man<br />

ißt in einem bestimmten Hotel gemeinsam, – ich<br />

mache nicht mit, oder nur gelegentlich. Wer soll<br />

diese Gesellschaft in der Nähe aushalten. Sie ist<br />

grausig; Kleinbürger, die sich gegenseitig beklatschen,<br />

Geschwätz unter einander her tragen. Du<br />

weißt, daß das Furchtbarste die Gesinnungsschnüffelei<br />

ist; das findet man hier aufs Schönste<br />

rechts und links; wie soll ich mit meiner Frivolität<br />

und Leichtigkeit in diesen Sachen da aushalten.<br />

Auch in anderer Hinsicht ist es nicht sonderlich<br />

schön; Militär. Da müßtest Du drunter stecken,<br />

dann würdest Du etwas sehen. Unterordnen,<br />

aber wem, und worin, und oft wie entwürdigend.<br />

Das klingt schön in den Zeitungen; der und der<br />

Professor oder Rechtsanwalt tut Dienste als Pferdeknecht,<br />

– alles fürs Vaterland. Man sehe sich<br />

aber in der Nähe die Motive an, aus denen jene<br />

oder diese ›Unterordnung‹ verlangt wird. Diese<br />

Eitelkeit, diese unverhohlene Freude am Ducken.<br />

Wir Civilärzte oder Landsturmärzte spielen eine<br />

scheußliche Rolle; unsere Situation ist ungeklärt.<br />

Sechs sind wir hier; das Schimpfen ändert nichts.<br />

Aber warne jeden, der sich etwa freiwillig als Arzt<br />

melden will, ohne gerufen zu sein. Ich bekomme<br />

Einblick in – militärische Naturen –.« 30<br />

Mit der Schlacht von Verdun seit Ende Februar<br />

1916 sahen sich wie bereits erwähnt die Bewohner<br />

der Grenzregion indes stärker mit dem Kriegsgeschehen<br />

konfrontiert, so auch Döblin. Am 29. März<br />

1916 schreibt er an Walden über die Kämpfe im zir-<br />

28 An Walden, 3.1.1915. In: Ebd., S. 61–63, hier S.62.<br />

29 An Walden, 7.3.1915. In: Ebd., S. 68–70, hier S. 68.<br />

30 An Walden, 3.1.1915. In: Ebd., S. 61–63, hier S. 61f.<br />

ka 110 Kilometer entfernt liegenden Schlachtfeld,<br />

er habe »[m]it den Ohren […] die Schlachten um<br />

Verdun hier mitgekämpft«, denn die »Kanonade<br />

tags und nachts« war so stark, »daß bei uns die<br />

Scheiben zitterten, daß wir Trommelfeuer unterschieden,<br />

ganze Lagen, Explosionen; ein ewiges<br />

Dröhnen, Bullern,Pauken am westl[ichen] Himmel«<br />

31 sei zu hören gewesen. Vor allem aber war<br />

er mit den Berichten jener Soldaten konfrontiert,<br />

die vor Douaumont gekämpft hatten und nun im<br />

Saargebiet in Ruhestellung lagen, sie berichteten<br />

von »kaum ausdenkbaren Strapazen der Lagerung«,<br />

dem Leben »in nassen Wäldern« und dem<br />

ständigen »Hungern und Dürsten beim Vorrücken,<br />

weil keine Küchen nachkommen (tagelang!)«. 32<br />

Nach der Schlacht von Verdun wurde die bis dahin<br />

vorwiegend als Seuchenlazarett genutzte Saargemünder<br />

Kaserne für die Aufnahme von Kriegsverwundeten<br />

und -verstörten geöffnet. In der Folge<br />

änderte sich auch Döblins Arbeitssituation:<br />

»Wahnsinnig viel Arbeit habe ich, wo wir jetzt<br />

Etappenfunktion haben; dieser stete Durchzug,<br />

Hin- und Hertransport der Kranken mit der endlosen<br />

Masse Schreiberei. Zu literarischer Produktion<br />

komme ich dabei nicht; nur Abendstunden nach<br />

höchst soliden Strapazen, und dazwischen busonisches<br />

Intermezzo zweier Kinderstimmen.« 33<br />

Im Laufe des Jahres aber stand für Döblin<br />

nicht mehr nur das Kriegsgeschehen im Mittelpunkt;<br />

er geriet mit Kollegen in Konflikt 34 , insbesondere<br />

mit dem Oberstabsarzt Dr. Friedrich Ott,<br />

Chefarzt des Lazaretts, und dem residierenden<br />

Generalarzt Johannes. Der Hintergrund ihres Disputs<br />

war die Döblins Meinung nach unzureichende<br />

Versorgung der Verwundeten im Garnisonsspital.<br />

In dem 1926 in der Weltbühne veröffentlichten<br />

Artikel Ferien in Frankreich erklärt Döblin:<br />

»Meine Patienten hatten über Hunger<br />

geklagt. Ich hatte ihre Gewichte und die Speisen<br />

lange sorgfältig nachkontrolliert, der Nährwert<br />

der Speisen war mir ungenügend erschienen. In<br />

der Küche schienen mir sonderbare Dinge vorzugehen,<br />

mein unmittelbarer Chef hatte die Sache<br />

auf die leichte Schulter genommen.« 35<br />

Der Konflikt wurde dadurch verschärft, dass<br />

sich Döblin ohnehin von Beginn seines Saargemünder<br />

Aufenthalts schwer getan hatte mit dem<br />

Typus des Lazarett- bzw. Militärarztes. Der Streit<br />

um die Unterversorgung der Patienten eskalierte<br />

jedenfalls, mit dem Resultat, dass er am 2. August<br />

1917 in das knapp 30 km von Straßburg entfernte<br />

elsässische Seuchenlazarett Hagenau beordert<br />

31 An Walden, 29.3.1916. In: Ebd., S. 83–85, hier S. 84.<br />

32 Ebd.<br />

33 An Walden, 17.<strong>2.19</strong>16. In: Ebd., S. 83.<br />

34 Vgl. dazu Döblins Schilderungen, wiedergegeben in: Binz:<br />

Alfred Döblin und das Saarland, S. 23. U.a. heißt es hier:<br />

»Unter der fatalen Gesellschaft meiner Kollegenschaft, besonders<br />

unter der Behandlung eines üblen Vorgesetzten<br />

erlitt ich 1917 eine Art Nervenleiden, die Kollisionen waren<br />

evident.«<br />

35 Alfred Döblin: Ferien in Frankreich [1926]. In: Ders.: Schriften<br />

zu Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg<br />

i. Br. 1986, S. 67–75, hier S. 72.


saargeschichte|n 2.2019<br />

20<br />

Personal des Lazaretts<br />

in Saargemünd, 1915,<br />

aufgenommen vor<br />

der Infanteriekaserne.<br />

Am Bildrand rechts<br />

der Militärarzt Alfred<br />

Döblin.<br />

wurde – in der 1917 veröffentlichten, im Krankenhausmilieu<br />

spielenden Erzählung Das verwerfliche<br />

Schwein um den Medizinalpraktikanten Hubert<br />

Feuchtedengel gibt er Hinweise auf die Hintergründe<br />

seiner Versetzung, über die Döblin keineswegs<br />

unglücklich war, brachte sie doch den Vorteil,<br />

dass die Straßburger Universitätsbibliothek<br />

nun in der Nähe lag (die 1872 wiedergegründete<br />

Universität Straßburg erhielt 1877 den Namen Kaiser-Wilhelm-Universität).<br />

Für seine Arbeit war die<br />

Zugänglichkeit zu historischem Quellenmaterial<br />

und einschlägigen Studien unverzichtbar, vertiefte<br />

sich Döblin doch wieder in seinen Wallenstein, den<br />

er bis zum Kriegsende dann auch fast abschließen<br />

konnte. Der Roman ist nicht zuletzt ein Resultat<br />

der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg: »Vielleicht<br />

ist etwas von der furchtbaren Luft, in der das Buch<br />

entstand, Krieg, Revolution, Krankheit und Tod,<br />

in ihm«, notiert Döblin in einer Bemerkung zum<br />

Wallenstein. 36<br />

Nachdem die Familie Döblin Revolution und<br />

Kriegsende in Hagenau erlebt hatte, verließ sie am<br />

14. November 1918 das elsässische Städtchen: Die<br />

Döblins kehrten in ihre Heimat zurück, die lange<br />

Fahrt nach Berlin in einem Zug ohne Heizung und<br />

ohne Verpflegung war äußerst mühsam. Anfangs<br />

irritiert von der neuen Zeit und von den Wirren der<br />

36 Alfred Döblin: [Vorarbeiten zu einer neuen Sache]. In: Ders.:<br />

Briefe I, S. 533, Kommentar zu Seite 93.<br />

ausgebrochenen Revolution – »Ich muß mich erst<br />

zurechtfinden«, gestand er im Artikel Revolutionstage<br />

im Elsaß, der knapp 1 Jahr nach seiner Rückkehr<br />

aus Lothringen entstand 37 –, eröffnete Döblin<br />

im Januar 1919 an der Frankfurter Allee 340 im<br />

Berliner Osten seine Arztpraxis. Der Schriftsteller<br />

Döblin beendete den Wallenstein und publizierte<br />

ab Juni desselben Jahres unter dem Pseudonym<br />

›Linke Poot‹ seine politisch-satirischen Beiträge<br />

zur aktuellen politischen Entwicklung der neu<br />

gegründeten Republik in der Neuen Rundschau.<br />

Die Erlebnisse und Erfahrungen anlässlich des<br />

Kriegsendes und der Novemberrevolution im<br />

Elsass verarbeitete er in Bürger und Soldaten<br />

1918, im ersten Band seiner im Exil entstandenen<br />

Romantetralogie über die Novemberrevolution<br />

und das Ende des Ersten Weltkriegs November<br />

1918 (erschienen 1939–1950). Doch schon lange vor<br />

diesem Rückgriff auf die historische Umbruchszeit<br />

am Ende des Ersten Weltkriegs und des Kaiserreichs<br />

in der zugespitzten Lage des Exils hat Döblin<br />

seine Saargemünder Zeit literarisch reflektiert.<br />

Dem Saarbrücker Autor und Literaturkritiker<br />

Arthur Friedrich Binz zufolge – dieser hatte 1922<br />

Döblins ›chinesischen‹ Roman Die drei Sprünge<br />

des Wang-lun in der Zeitschrift Der Gral bespro-<br />

37 Alfred Döblin: Revolutionstage im Elsaß [1919]. In: Ders.:<br />

Schriften zur Politik und Gesellschaft. Olten, Freiburg i. Br.<br />

1972, S. 59–71, hier S. 71. – Mit diesen Schilderungen beginnt<br />

Döblin den ersten Band seiner Tetralogie November 1918.


chen, woraufhin Döblin mit ihm brieflich in<br />

Kontakt trat, war letzterer überzeugt, dass »die<br />

Saargemünder Zeit es gewaltig mit ihm vorhatte«.<br />

38 Von seinem Dienst, der ihn zuerst nur<br />

mit inneren Erkrankungen, später auch mit Verwundeten<br />

in Berührung brachte, war Döblin sehr<br />

unterschiedlich beansprucht, verfügte aber wohl<br />

über ausreichend Freizeit, um seine literarischen<br />

Projekte voranzutreiben. Zum einen schrieb er<br />

1915 die letzten Erzählungen des Novellenbandes<br />

Die Lobensteiner reisen nach Böhmen, der, nachdem<br />

es Ende 1915 zum Vertrag mit Georg Müller<br />

gekommen war, 1917 erschien.<br />

Zum anderen stand in seiner Saargemünder<br />

Zeit nahezu durchgehend die Arbeit am Wallenstein<br />

auf der Tagesordnung. In der Notiz zur »Entstehung<br />

und Sinn meines Buchs ›Wallenstein‹«<br />

gibt Döblin Auskunft:<br />

»Den zweibändigen Roman ›Wallenstein‹<br />

schrieb ich während des Krieges in den Jahren<br />

1916–1918, den Schlußteil verfaßte ich jedoch erst<br />

wieder zu Hause 1919. Zunächst hatte ich als Arzt in<br />

einem Lazarett für Infektionskrankheiten in Lothringen<br />

gearbeitet, lebte in einem kleinen Städtchen<br />

und betätigte mich dort auf seltsame Weise.<br />

Nachmittags und abends konnte ich schreiben,<br />

– natürlich gestört durch Dienstpflichten – und<br />

von der Gefahr durch Luftangriffe bedroht. Mein<br />

Zimmer war im Oberstock des Hauses. Wenn ich<br />

hinaufging, breitete ich mein Manuskriptmaterial<br />

oben von neuem aus; und war ich fertig, schleppte<br />

ich es zur Sicherheit hinunter. Nun es schlugen<br />

38 Binz: Alfred Döblin und das Saarland, S. 23.<br />

gar viele Bomben in der Nachbarschaft ein, aber<br />

weder mir noch dem Manuskript geschah was.« 39<br />

Die Anregung zu dieser Thematik hatte er<br />

während seines vierwöchigen Aufenthaltes in<br />

Bad Kissingen erhalten, wo er nach eigener Aussage<br />

durch die Zeitungsanzeige anlässlich eines<br />

Gustav Adolf-Festspiels auf den Wallenstein-Stoff<br />

gestoßen wurde. Durch seine Typhus-Erkrankung<br />

Anfang 1917 zwar unterbrochen, doch im Mai desselben<br />

Jahres kaum aus Heidelberg nach Saargemünd<br />

zurückgekehrt, versuchte Döblin sogleich<br />

an Bücher über den Dreißigjährigen Krieg zu<br />

gelangen, um die Niederschrift fortzusetzen. Die<br />

einzige Möglichkeit bot dabei die Universitätsbibliothek<br />

in Straßburg, an der Döblin sich im Juli<br />

1915 eingeschrieben hatte. Selten konnte er vor<br />

Ort arbeiten, aufgrund der Entfernung musste er<br />

sich einzelne Bücher zuschicken lassen; benötigte<br />

er doch für seine wissenschaftlich orientierte und<br />

wissensgesättigte Schreibweise »ganze Bibliotheken«<br />

um die Sujets seiner Romane – in diesen<br />

Jahren eben der Wallenstein-Plot – stofflich zu<br />

erarbeiten und abzusichern. Ihm fehlten in der<br />

lothringischen Provinz die Berliner Bibliotheken,<br />

seine literarische Tätigkeit stockte, aus privaten<br />

wie auch organisatorischen Gründen. Albert<br />

Ehrenstein gegenüber bekannte er:<br />

»Aber wie schwer hier arbeiten ist, können Sie<br />

sich nicht denken. In einer Dreizimmerwohnung,<br />

Puppenstuben, mit 2 kleinen ewig schreienden<br />

Kindern, kein einziges ruhiges Fleckchen. Und<br />

vor allem: ich komme nicht zu meinem Material;<br />

Bibliothek ist Straßburg, kaum was vorhanden<br />

dort, und überhaupt: so alle Wochen sich ein paar<br />

armselige Bücher schicken lassen, und ich brauche<br />

ganze Bibliotheken, muß da nachsehen, da<br />

nachsehen!« 40<br />

Erst als er im August 1917 von Saargemünd<br />

nach Hagenau versetzt worden und die Bibliothek<br />

im knapp 30 km entfernten Straßburg in erreichbare<br />

Nähe gerückt war, konnte er die Arbeit an<br />

diesem Roman vertiefen. Zwar gestaltete sich<br />

die Ausleihe in der Universitätsbibliothek sehr<br />

umständlich, was ihn in seinem Arbeitseifer<br />

bremste; unermüdlich aber sammelte er Material<br />

zum Dreißigjährigen Krieg und begann im<br />

November oder Dezember 1916 die Arbeit am<br />

Manuskript des Wallenstein. Dieses Hauptwerk<br />

seiner Kriegsjahre in Saargemünd und Lothringen<br />

erschien 1920 in zwei Bänden bei S. Fischer in Berlin.<br />

39 Alfred Döblin: Entstehung und Sinn meines Buches »Wallenstein«.<br />

In: Ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hg. v. Erich<br />

Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1986, S. 184–187, hier S. 185.<br />

40 An Albert Ehrenstein, 9.10.1916. In: Ebd., S. 91f..<br />

Alfred Döblins<br />

Roman ›Wallenstein‹,<br />

begonnen in seiner<br />

Saargemünder Zeit .<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

S. Fischer Verlag GmbH,<br />

Frankfurt am Main.


saargeschichte|n 2.2019<br />

22<br />

Füsilier Kutschke –<br />

Fake News à la sarre<br />

Satirisches Hirngespinst und Beispiel für<br />

chauvinistischen Nationalismus<br />

Von Eva Kell<br />

Titelblatt der Zeitschrift<br />

Daheim<br />

Schaut man in Albert Ruppersbergs 1895 erschienene<br />

Saarbrücker Kriegschronik. Ereignisse in und<br />

bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer<br />

Berge 1870, so ist »auf Saarbrücker Boden … eins<br />

der berühmtesten Kriegslieder jener Tage entsprossen,<br />

und der Füsilier Kutschke des 40. Regiments<br />

wurde als Dichter hoch gepriesen.«(S. 80)<br />

Über das Lied selbst urteilt Ruppersberg allerdings,<br />

der Wille sei besser als die Kunst. Tatsächlich hatte<br />

ein Kriegsberichterstatter der damals beliebten<br />

Familienzeitschrift Daheim, die von 1864 bis 1943<br />

erschien und die der berühmten Gartenlaube<br />

nachempfunden war, das populäre Kriegslied<br />

wohl zuerst an der Saar gehört und es einem fiktiven<br />

Füsilier Kutschke zugeordnet. In der Juliausgabe<br />

von 1870 heißt es: »Bei den braven Vierzigern<br />

(Hohenzollernsches Füsilier-Regiment Nr. 40) gingen<br />

die Kalauer nicht aus. Links vom Wege, der an<br />

der Saar sich hinzieht, ein kleines Holz. Da raschelt<br />

etwas … Füsilier Kutschke, der Eulenspiegel des<br />

Regiments, macht die schlechte Bemerkung: Was<br />

kraucht denn da im Busch herum? Ich glaub, es ist<br />

Napoleum.« (Daheim 7, 1870/71, 15. Okt. 1870, S. 39).<br />

Unter dem Titel »Kutschkelied« war das auf<br />

diesem Zweizeiler basierende Kriegslied in der<br />

Folgezeit und bis in den Ersten Weltkrieg hinein<br />

äußerst verbreitet und die Figur des Füsiliers<br />

Kutschke als pfiffiger Soldat ebenso. Der Ursprung<br />

des vom angeblichen Füsilier Kutschke verfassten<br />

Zweizeilers liegt jedoch in Strophe 20 des<br />

sogenannten Krähwinkelschen Landwehrlieds in<br />

einer Ausgabe aus einem Studentenliederbuch<br />

von 1840, das auf die Völkerschlacht bei Leipzig<br />

anspielt. Das neu verfasste Kutschke-Lied wurde<br />

nach der Melodie Ich bin der Doktor Eisenbart<br />

gesungen. (Vgl. Tobias Widmaier, s.u. Abb.)<br />

Zunächst aber setzte 1870/71 eine durchaus<br />

ernstgemeinte Suche nach dem Füsilier Kutschke<br />

ein, die jedoch ins Leere laufen musste. Keine der<br />

Stammrollen des Regiments wies ihn aus; gleichwohl<br />

erhielt er in der Fama immer konkretere<br />

Züge. Verwundete Soldaten im Saarbrücker Lazarett<br />

in der Ulanenkaserne versicherten Reportern


deren Bruder, einem Tischler, zu leben. Er habe<br />

dann das Tischlerhandwerk erlernt, bevor er wehrpflichtig<br />

wurde. Bereits in Trier habe er als Soldat<br />

Lieder verfasst und sei allerseits beliebt gewesen.<br />

Eine Kostprobe seiner Dichtkunst sei beispielsweise<br />

das Lied: »Wenn man vorm Feinde steht/Was<br />

ist das Allerbeste?/ Dreinschlagen ist das Beste!/<br />

Schießt und stecht die Feinde todt,/ daß sie kriegen<br />

Schwerenoth.«<br />

Daheim-Reporter Richard Andree ging weiteren<br />

Gerüchten nach, die sich teilweise widersprachen,<br />

um schließlich augenzwinkernd zu konstatieren:<br />

»Kutschke«, sagte ich mir, »Du bist eine<br />

Notwendigkeit. Existierst du nicht, du müsstest<br />

erfunden werden.« Er sei »eine solche Berühmtheit<br />

im Kriege geworden, die nun schon in ihrer<br />

Weise neben Moltke und Bismarck genannt<br />

wird.« Das tat den Nachforschungen indes keinen<br />

Abbruch. Der Freie Landesbote. Volksblatt und Vorstadt-Zeitung<br />

aus München berichtete beispielsweise<br />

am 21. Januar 1871, dass der »vielgenannte<br />

Füsilier Kutschke«, der bürgerlich Hoffmann heiße<br />

und Buchhändler sei, bei Sedan schwer verwundet<br />

worden sei. Drei Kugeln hätten die rechte Wange,<br />

Unterkiefer und Zähne verletzt. In Breslau erhalte<br />

er zur Zeit zahnärztliche Hilfe.<br />

Unter dem Titel Das Kutschke-Lied vor dem<br />

Untersuchungsrichter. (Literarisches Protokoll zum<br />

Behufe eines unparteiischen Schiedsspruchs) ent-<br />

Abbildung: Tobias<br />

Widmaier: Immer langsam<br />

voran (2009). In:<br />

Populäre und traditionelle<br />

Lieder. Historischkritisches<br />

Liederlexikon.<br />

URL: .<br />

Abbildung Kutschkes<br />

in: Füsilier Kutschke. In:<br />

Daheim 7 (1870/71), Nr.<br />

3 (15. Oktober 1870), S.<br />

39.DVA: F 11530<br />

glaubhaft, Kutschke sei ihr Kamerad gewesen. Die<br />

Zeitschrift Daheim berichtete ausführlich darüber<br />

in ihrer Ausgabe von 1871 und fügte sogar eine<br />

Zeichnung des verschmitzten Füsiliers in Uniform<br />

mit Pfeife und Gewehr bei (S. 37). Auf dem Kopf der<br />

Pfeife, die er dort in der linken Hand hält, erkennt<br />

man ein Porträt Napoleons III. mit der Umschrift<br />

»Was kraucht da« (Siehe Abb.).<br />

Ein verwundeter »Kamerad« wusste dem<br />

Reporter zu berichten, dass Füsilier Kutschke,<br />

genannt »Willem«, in Trier beim 40. Regiment<br />

gedient und dort auch einen Schatz habe, »es<br />

Drücksche«, die im Dienst bei Dr. F. stehe. Die<br />

Dame besitze auch ein Bild ihres Galans. Kutschke<br />

sei von Berliner Herkunft und sei nach dem Tod<br />

des Vaters, eines »Budikers« auf der Malackstraße,<br />

»mit seiner Alten« nach Trier gekommen, um bei<br />

Historische Liedausgaben/Abbildungen:<br />

Tobias Widmaier:<br />

Was kraucht dort in<br />

dem Busch herum?<br />

(2009). In: Populäre<br />

und traditionelle Lieder.<br />

Historisch-kritisches<br />

Liederlexikon.<br />

URL: .


saargeschichte|n 2.2019<br />

24<br />

Nach dem Familienblatt Daheim im Juli 1870 hatte<br />

beinahe sofort die konservative Kreuzzeitung<br />

das Lied mit patriotischem Tenor aufgegriffen:<br />

»Unter den viele Liedern dieses Krieges ist entschieden<br />

das beste der Heldengesang, den der<br />

Füsilier Kutschke vom 40. Infanterieregimente<br />

auf Vorposten bei Saarbrücken dichtete. Dieser<br />

Dichter sah die Franzosen am Waldrande vor sich<br />

hin und herlaufen. Da sang er: … Text und Melodie<br />

ist die erhabenste Einfachheit, echt soldatisch. Ein<br />

Hurrah für Kutschke!«<br />

War das Lied bis dahin ein Zweizeiler geblieben,<br />

wurde es am 22. August erstmals mit vier<br />

Strophen von Hermann Alexander Pistorius<br />

(1811–1877) in den Mecklenburger Anzeigen veröffentlicht,<br />

um dann am 26. August im Rheinischen<br />

Kurier in Wiesbaden zu erscheinen. Die Kölnische<br />

Zeitung verbreitete diese Version als Extrablatt<br />

unter den deutschen Truppen in Frankreich.<br />

Zugleich entstand die Fama um den Füsilier<br />

Kutschke, Satirisches und Anekdoten einbegriffen.<br />

Im September wurde als Satire unter dem<br />

Pseudonym Strebesam Holzwurm ein Historischer<br />

Briefwechsel zwischen den beiden Füsilieren Kraus,<br />

der jetzt im Himmel, und Kutschke, noch im Weltgetümmel<br />

veröffentlicht. Dahinter verbarg sich<br />

der Architekt Joseph Steinbach aus Neuenahr, der<br />

sich später als einer von vielen anderen Anwärtern<br />

als ursprünglicher Dichter des Kutschke-Liedes<br />

bezeichnete. Füsilier Kraus war indes keine<br />

fiktive Gestalt. Dieser Schütze des 40. Regiments<br />

hatte am 20. Juli bei Saarbrücken im deutsch-französischen<br />

Krieg den ersten Franzosen erschossen<br />

und war später während der Kriegshandlungen<br />

gefallen.<br />

Weit über seine Zeit hinaus blieb das Kutschke-Lied<br />

allerdings dank Karl May bekannt, der es in<br />

den ersten Band seines Orient-Reisezyklus Durch<br />

die Wüste aufnahm mittels der Figur einer Sängerin,<br />

die das Lied auf Arabisch sang. Wie kam es zur<br />

arabischen Dichtung? Der Altphilologe Friedrich<br />

Wilhelm Ehrenthal, bekannt durch seine Übersetzung<br />

der Ilias und der Odyssee, hatte sich 1871 in<br />

einer kleinen bei Brockhaus verlegten Schrift Das<br />

Kutschkelied auf Seelenwanderung pseudowiss-<br />

Abb.: Wilhelm Ehrenthal:<br />

Das Kutschkelied<br />

auf der Seelenwanderung.<br />

Forschungen<br />

über die Quellen des<br />

Kutschkeliedes im<br />

grauen Alterthume<br />

nebst alten Texten und<br />

Uebersetzungen in neuere<br />

Sprachen. Leipzig<br />

1871. S. 19. https://www.<br />

karl-may-gesellschaft.<br />

de/kmg/quellen/<br />

kutschke/kutschke.pdf<br />

larvte schließlich Herrmann Grüben vom Regensburger<br />

Conversations-Blatt (12. Juni 1872, S. 2–3)<br />

Füsilier Kutschke endgültig als Zeitungs-Ente,<br />

deren ungeahnte Dimensionen er nachvollzog.


senschaftlich-scherzhaft des Liedes angenommen<br />

und ihm fiktive Ursprünge bis hin zur Keilschrift<br />

und ägyptischen Hieroglyphen zugeschrieben.<br />

Auch diese Schrift ist nicht frei von nationalistisch-chauvinistischen<br />

Tönen. Ehrenthal kommentiert<br />

den angeblichen Keilschriftfund: »In<br />

deutscher Keil=Schrift liest schon jetzt Kutschke<br />

selber den Franzosen den Text; sie wollen ihn aber<br />

noch immer nicht recht verstehen.« Am Ende der<br />

Schrift ist eine illustrierte Ausgabe des Kutschke-Liedes<br />

angefügt, die u.a. Bismarck zeigt, wie er<br />

mit einer Schere Elsass und Lothringen von Frankreich<br />

abtrennt.<br />

Die Hieroglyphen-Version des Liedes von<br />

Ehrenthal erfindet für Napoleon III. eine Kartusche<br />

mit fingierten Hieroglyphen, unter denen man<br />

unschwer ein Messer und zweimal einen Galgenstrick<br />

erkennen kann. Karl May kannte Ehrenthals<br />

Wissenschafts-Satire, die bis heute mehrfach<br />

nachgedruckt wurde, und fand darin die von ihm<br />

verwendete arabische Version.<br />

Herrmann Grüben indes spürte neben<br />

Ehrenthal und Holzwurm weitere angebliche<br />

Kutschke-Lieder auf sowie ein Feldpostkartengedicht.<br />

Seinen Nachforschungen zufolge hatte<br />

der Kladderadatsch die Figur bis 1872 in insgesamt<br />

zwölf seiner Nummern karikiert, bis hin zu<br />

einem »Nachruf«, als deutlich geworden war, dass<br />

Kutschke nicht existierte. Diese Tatsache wurde<br />

schließlich von Oberstleutnant Reinicke vom 40.<br />

Regiment offiziell bestätigt, als er einen von Vereinen<br />

für Kutschke gesammelten »Sängersold«<br />

nicht zustellen konnte. Der Journalist Grieben<br />

beendete seine akribische Spurensuche zu den<br />

Fake-News um Kutschke mit dem Stoßseufzer:<br />

»Hiermit seien die Akten geschlossen – hoffentlich<br />

for ever.« (Conversationsblatt. Beiblatt zum<br />

Regensburger Tageblatt, 14. Juli 1872, S. 2-3, hier 3)<br />

Es sollte anders kommen, eher for ever Kutschke,<br />

und Grüben hatte auch einige Entwicklungen<br />

übersehen. In Wittenberg erschien (ohne Jahr,<br />

aber wohl nach 1870) von R. Herrosé eine kleine<br />

Schrift: Füsilier Kutschke, wie er leibt und lebt. Eine<br />

echte deutsche Landsknechtsfigur aus dem Franzosenkriege<br />

im Jahre 1871. Sie erweist sich als eine<br />

Quelle von angeblichen Kutschke-Anekdoten und<br />

-Witzen, die heute in ihrem Humor kaum noch<br />

nachzuvollziehen sind.<br />

Ein Beispiel (S. 57): Kutschke auf Vorposten<br />

in Saarbrücken: »Aha! Da kraucht eener von die<br />

Rothosen!« Unteroffizier: »Hinhalten!« Kutschke:<br />

»Bin schon dabei.« Unteroffizier: »Nun, so machen<br />

Sie doch!« Kutschke: »Ja. Ich hab’n noch nicht! –<br />

Pardauz! Da liegt er!«. Von dem berühmten ehemaligen<br />

Zweizeiler und jetzigem Kutschke-Lied<br />

legte diese Schrift gleich mehrere Fassungen von<br />

bis zu sieben Strophen vor, außerdem ein Lied auf<br />

Kamerad Kutschke zur Melodie Prinz Eugen, der<br />

edle Ritter. Musikalisch wurde das Kutschke-Lied<br />

bereits 1871 zum Quartett umgestaltet und in der<br />

Folge noch mehrmals neu vertont. (Vgl. Tobias<br />

Widmaier).<br />

1871 erschien in Würzburg das Lulu-Bilderbuch<br />

für Jung und Alt zur Erinnerung an den Siegeszug<br />

der Deutschen in Frankreich 1870–71, gemalt und<br />

mit kurzweiligen Reimen versehen von Füsilier<br />

Kutschke und in Elberfeld entstand die Publikation<br />

Immer druff! Lustige Geschichten aus dem Kriegsleben<br />

unserer Braven nebst komischen Gedichten,<br />

Liedern etc. vom Füsilier Kutschke und Anderen. Das<br />

Titelblatt zeigt Kutschke mit Pickelhaube, Gewehr<br />

und Bajonett über einen Busch gebeugt, unter<br />

dem ein französischer Kolonialsoldat und Napoleon<br />

III. hervorkriechen, vor sich einen Eimer mit<br />

Kartoffeln und einige Karotten, Bildunterschrift:<br />

»Was kraucht dort im Busch herum?« (S. 26). Die<br />

Rückseite des Bandes ziert ein Siegeskranz aus<br />

Eichenlaub und Lorbeer. Wieder folgen Kriegsanekdoten<br />

und -gedichte. Bis 1877 hatte das Lied<br />

auch seinen Weg in die Liederbücher der Schule<br />

gefunden. Selbst Friedrich Engels kam um Kutschke<br />

nicht herum. Er kritisierte 1872/73 in seiner<br />

Schrift Zur Wohnungsfrage bourgeoise Schriften<br />

zur Wohnungsfrage wie die des Wieners Emil Sax<br />

(von 1869) mit den scharfen Worten: »Es fehlen in<br />

dieser Quellenliste nur noch die »Gartenlaube«,<br />

der »Kladderadatsch« und der Füsilier Kutschke.«<br />

Hermann Wolff: Was<br />

kraucht denn da im<br />

Busch herum? Grausser<br />

Schlachtgesang des<br />

Füsiliers Kutschke vom<br />

40ten Regiment, bei<br />

einer Recognoscirung<br />

vor Saarbrücken.<br />

Humoristisches Quartett.<br />

Neu-Ruppin: Verlag<br />

von Alfred Oehmigke<br />

o. J. [um 1871]. DVA:<br />

Sammlung Schaumburg<br />

Nr. 80.


saargeschichte|n 2.2019<br />

26<br />

Kutschkelied. Leipzig:<br />

Breitkopf & Härtel o.<br />

J. [1897] (Flugblätter<br />

[Volkstümliche Lieder<br />

mit Zeichnungen<br />

deutscher Künstler]<br />

Nr. 35). DVA: Or fol 190<br />

Dort folgende Angaben:<br />

»Lied von H. A. Pistorius.<br />

Zeichn. v. F. Koch.«<br />

Die grosse Zeit 1914.<br />

Volks- u. Soldatenlieder.<br />

Zusammengestellt und<br />

hrsg. von Wilhelm Heß.<br />

[Solingen: Selbstverlag]<br />

1914, S. 30f. DVA: V<br />

3/5414, c<br />

Damit war der<br />

Reigen kommerzieller<br />

Interessen und nationalistisch-chauvinistischer<br />

Instrumentalisierung<br />

der Fake-Figur<br />

Kutschke eröffnet, der<br />

bis zum Ersten Weltkrieg<br />

andauern sollte.<br />

Jedermann/frau dieser<br />

Generationen kannte<br />

die Figur und war mit<br />

der Art von Humor, die<br />

sie vermittelte, vertraut.<br />

Unter anderem<br />

wurden von Fritz Volger<br />

unter dem Pseudonym<br />

Erich Hildebrand<br />

mehrere Schwänke<br />

verfasst, mit Titeln wie<br />

Krieg und Frieden oder:<br />

Kutschke als Budiker<br />

und »Im Lager vor Paris,<br />

oder: Füsilier Kutschke.<br />

Militärischer Schwank<br />

mit Gesang, sogar Kutschke in Afrika war dabei.<br />

Eine Anthologie Kutschkes ausgewählte Gedichte-Allerlei<br />

aus Krieg und Frieden von Gotthelf<br />

Hoffmann erschien 1895 zeitgleich mit Ruppersbergs<br />

Kriegschronik.<br />

Das Urteil des ehemaligen Vorsitzenden<br />

des Historischen Vereins für die Saargegend und<br />

zugewanderten Saarbewohners Albert Ruppersberg<br />

über den fiktiven Füsilier Kutschke, dem er<br />

den Publikumserwartungen entsprechend ein<br />

ganzes Kapitel widmete, fiel ebenfalls gemäß dem<br />

Zeitgeist aus. »Und doch hat er gelebt, der Füsilier<br />

Kutschke: er war die Verkörperung des frechen<br />

und kampfesmutigen Geistes, der in den allzeit<br />

wohlgelaunten Füsilieren vom 40. Regiment lebte.«<br />

(S. 80/81). Sein Illustrator Carl Röchling, einer<br />

der berühmtesten Kriegsmaler des ausgehenden<br />

19. Jahrhunderts, ließ es sich zudem nicht nehmen,<br />

eine Zeichnung Kutschkes nach dem Vorbild der<br />

Daheim hinzuzufügen, allerdings mit deutlich<br />

porträthafteren verschmitzten Gesichtszügen,<br />

den Füsilier aus einem Busch heraustretend darstellend<br />

mit der Pfeife in der Hand.<br />

Selbst in den USA erschienen in diversen<br />

Zeitungen militärische Kutschke-Witze, etwa<br />

im Deutschen Correspondenten in Baltimore<br />

am 10. November 1888: »Aus der Instruktionsstunde<br />

– Unteroffizier: Einjähriger Piefke, wie soll<br />

der Soldat die Fahne halten?« Einjähriger Piefke:<br />

»Weiß nicht.« Unteroffizier: »Donnerwetter, Sie<br />

wollen Einjähriger sein, und wissen das nicht?<br />

Füsilier Kutschke, sagen Sie doch dem Herrn Einjährigen,<br />

wie der Soldat die Fahne halten soll!«<br />

Füsilier Kutschke: »Ä – ä – ä« – Unteroffizier: »Na,<br />

wird’s bald?« Füs. Kutschke: »Stramm und steif!«<br />

Unteroffizier: »Sie sind selbst stramm und steif,<br />

aber mehr steif als stramm. Na, dann werde ich es<br />

Euch sagen: Heilig, soll der Soldat die Fahne halten!«<br />

(Der deutsche correspondent, Nov 10, 1888,<br />

Der Sonntags-Correspondent, Page 7, Image 11).<br />

Auch im Kladderadatsch, der Kutschke sarkastisch<br />

als »Deutschen Tyrtäus« betitelte (11. Feb. 1872),<br />

kursierten unter der Rubrik Unterhaltungen am<br />

häuslichen Herd Kutschkewitze, die aber eher Kritik<br />

am Militarismus übten. Hier ein Beispiel: Laut<br />

Zeitungsbericht: »Der Prinz Friedrich Wilhelm,<br />

ältester Sohn des Kronprinzen, hat sich in seiner<br />

Eigenschaft als Seconde-Lieutenant im 1. Garderegiment<br />

zu Fuß nach Potsdam begeben. Daß sich<br />

selbst unser künftiger Thronerbe so anstrengenden<br />

und abhärtenden Marschübungen unterzieht,<br />

ist als gutes Beispiel für uns Mannschaften nicht<br />

genug anzuerkennen. Füsilier Kutschke.« (Kladderadatsch,<br />

10. März 1872, S. 46).<br />

Für eine positive und zugleich siegesgewisse<br />

Stimmung sollte Füsilier Kutschke dann erneut im<br />

Ersten Weltkrieg bei der Jugend sorgen. Von Paul<br />

Blumenthal erschien eine kleine Anthologie mit<br />

dem Titel: Füsilier Kutschke junior. Ernstes und<br />

Heiteres aus dem Kriege 1914/15. Den deutschen<br />

Helden gewidmet. Als anonym umgedichtetes<br />

Kriegslied mit den neuen Feindbildern fand es<br />

1914 nochmals Eingang in ein Soldatenliederbuch<br />

zum Preis von zwanzig Pfennigen. In dessen<br />

einleitendem Begleitwort heißt es: »Noch stets<br />

haben in großer Zeit unsere echten deutschen Lieder<br />

die Flamme der Begeisterung bis zum größten<br />

heiligsten Feuer entzündet. Dies sollen auch die<br />

hier gebotenen alten und neuen Lieder bewirken.<br />

In einer Zeit, wo wir Weltgeschichte und eine nie<br />

geahnte Erhebung des ganzen deutschen Volkes<br />

erleben, bereit zu siegen oder zu sterben, ist es ein


wahres Bedürfnis Schutz- und Trutzlieder in allen<br />

deutschen Gauen erklingen zu lassen.« (Vgl. Tobias<br />

Widmaier, wie oben).<br />

Der Kreis um den Füsilier Kutschke schließt<br />

sich 1915 nochmals in Saarbrücken mit der<br />

Rück-seite einer Kartenausgabe vom Redakteur<br />

der satirischen Saarbrücker Saargroßstadtbrille,<br />

Albert Rumann: Europas Zukunftskarte: Traumgebild<br />

des deutschen Landwehrmannes Kutschke,<br />

wie die deutsch-österreichischen Heere dieselben<br />

gestalten werden. Dessen Entwurf hebt den<br />

deutsch-nationalen Chauvinismus noch einmal<br />

auf eine neue Stufe, indem der deutsche Territorialanspruch<br />

ganz Europa umfasst und sogar<br />

England zum »deutschen Schutzgebiet« erklärt<br />

wird. Ob dies als Satire gemeint war, mag dahingestellt<br />

bleiben; immerhin konnte die Karte für<br />

zwanzig Pfennige als selbständiges Schriftstück<br />

erworben werden und fällt daher eher unter<br />

Kriegspropaganda. Als solche wurde sie auch dem<br />

Alldeutschen Verband zugeschrieben, denn sie<br />

existiert in mehreren, auch kolorierten Versionen<br />

und ebenso ohne die Kutschke-Titulatur.<br />

Die Vorderseite der Karte verstärkt vor allem<br />

die deutschen Feindbilder des Ersten Weltkrieges:<br />

Europas Zukunftskarte. Ein Traumgebild unserer<br />

Feinde! Wie Franzosen, Russen und Engländer sich<br />

die mitteleuropäischen Landesgrenzen im Jahr<br />

1915 gedacht haben und … [der Satz wird dann auf<br />

der Rückseite vervollständigt, s.o., Anm. der Verfasserin].<br />

Auf der Vorderseite ist das Deutsche Reich<br />

komplett verschwunden und wird im Norden<br />

durch England, im Süden durch ein erweitertes<br />

Frankreich sowie im Osten durch eine Vergrößerung<br />

Russlands ersetzt. Die Rückseite zeigt dann<br />

Kutschkes Traumgebild, nämlich ein Deutschland,<br />

das sich weit nach Osten ausgedehnt hat und das<br />

praktisch ganz Europa kontrolliert.<br />

Diese Karte war den Alliierten so wichtig,<br />

dass Sie in den USA 1917 als Propagandamittel<br />

übersetzt und abgedruckt wurde, um für Kriegsanleihen<br />

zu werben. »A Vision of Privat Kutschkes<br />

oft he German National Guard« wurde kommentiert:<br />

»Would German be satisfied with this? Not<br />

at all. The Kaiser planned just such a map oft he<br />

United States.« Auf diese Weise prägte Kutschke<br />

als Inbegriff des deutschen Soldaten sogar maßgeblich<br />

das amerikanische Feindbild gegenüber<br />

Deutschland im Ersten Weltkrieg. Dass der niemals<br />

existente Kutschke heute vergessen ist und<br />

erst aus dem Staub der Geschichte hervorgeholt<br />

werden musste, ist die eigentlich gute Nachricht.<br />

Weitere Recherchequellen:<br />

Conversationsblatt/Beiblatt zum Regensburger<br />

Tageblatt: https://opacplus.bsb-muenchen.de/<br />

Vta2/bsb11034901/bsb:3757407?page=277<br />

Daheim: ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen,<br />

Band 7, S. 37 Bild Kutschke<br />

https://books.google.de/books?id=FUF-<br />

TAAAAcAAJ&pg=PA227&hl=de&source=gbs_<br />

toc_r&cad=3#v=onepage&q&f=false<br />

Lulu-Bilderbuch:<br />

https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/<br />

object/display/bsb10984533_00005.html<br />

Wie er leibt und lebt: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/<br />

bsb10618316_00005.html<br />

Deutscher Correspondent:<br />

https://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/<br />

sn83045081/1888-11-10/ed-1/seq-11/<br />

Government Loan<br />

Organization. Second<br />

Federal Reserve District.<br />

Liberty Loan Committee<br />

Date: ca.<br />

1917–1918,https://www.<br />

digitalcommonwealth.<br />

org/search/commonwealth:ht250434q


saargeschichte|n 2.2019<br />

28<br />

»Die Flieger kommen jetzt<br />

fast jeden Tag«<br />

Der Luftkrieg in Tagebuchnotizen und Erinnerungen<br />

aus der Zeit des Ersten Weltkrieges<br />

Von Werner Klär<br />

Was der Erste Weltkrieg für die Menschen in lokaler<br />

Perspektive bedeutete, kann häufig durch Auswertung<br />

von Tage- und Erinnerungsbüchern erschlossen<br />

werden. Ein solches Tagebuch hinterließ<br />

der Betriebsführer einer Friedrichsthaler Glashütte<br />

Jakob Edelmann 1 . Zunächst nicht für eine Veröffentlichung<br />

vorgesehen, sind die Aufzeichnungen<br />

inzwischen der historischen Forschung zugänglich.<br />

Außerdem liegen – für den gleichen lokalen Bereich<br />

– Erinnerungen an diese Zeit in einem 1926 erschienenen<br />

Sachbuch von Wilhelm Schaetzing vor, Lehrer<br />

an der evangelischen Schule in Friedrichsthal 2 .<br />

Im Folgenden soll auf Grundlage beider Quellenzeugnisse<br />

der Bombenkrieg des Ersten Weltkriegs<br />

im Raum Friedrichsthal dargestellt werden.<br />

Da der Großraum Saarbrücken schon vor dem<br />

Ersten Weltkrieg ein bedeutendes Zentrum der<br />

Rüstungsindustrie und wichtiger Verkehrsknotenpunkt<br />

im westlichen Reichsgebiet war, gehörte<br />

er zu den bevorzugten Zielen der Luftangriffe<br />

der Alliierten. 3 So erfolgten zwischen 1915 und<br />

1918 hunderte von Luftangriffen, die zahlreiche<br />

1 Zu Jakob Edelmann, siehe Klär, Werner: Die Friedrichsthaler<br />

Glasspatzen. Zur saarländischen Industriegeschichte jenseits<br />

von Kohle und Stahl, in: Saargeschichte|n 4 (2017),<br />

S. 8–10. Der Verfasser dankt Friedhelm Schöpfer, dem Urenkel<br />

von Jakob Edelmann, für die Überlassung des Tagebuchs<br />

zu historischen Zwecken, ebenso für weitere Informationen<br />

und Fotos der Familie.<br />

2 Schaetzing, Wilhelm: Friedrichsthal-Bildstock. Eine geschichtliche<br />

Heimatkunde, Saarbrücken 1926.<br />

3 Vgl. zu diesem Kapitel Schwarz, Hans: Krieg an der Heimatfront.<br />

Zu den Auswirkungen des Luftkrieges auf den Großraum<br />

Saarbrücken, in: »Als der Krieg über und gekommen<br />

war …« Die Saarregion und der Erste Weltkrieg. Katalog zur<br />

Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker<br />

Schloß. Saarbrücken 1993, S. 67–73.<br />

Tote und Verletzte forderten sowie beträchtliche<br />

Schäden verursachten. 4 Sah sich die Saarbrücker<br />

Bevölkerung im August 1915 erstmals mit dieser<br />

neuen Form der Kriegsführung konfrontiert, die<br />

13 Tote und viele Verletzte durch Splitterbomben<br />

forderte, weil die meisten Einwohner aus Neugier<br />

dem Angriff zusahen, ohne sich in Sicherheit zu<br />

bringen, 5 so starteten die Behörden Aufklärungskampagnen<br />

über die Gefahren des Luftkrieges, bei<br />

denen die Leute aufgefordert wurden, sich nicht<br />

auf die Straße zu begeben und im Haus zu bleiben.<br />

Dennoch ist aus Edelmanns Aufzeichnungen<br />

zu erkennen, dass sich die Leute wenig an die<br />

Anordnungen der Behörden hielten und trotzdem<br />

auf die Straße gingen. 6 Allerdings waren auch die<br />

Maßnahmen der Abwehrgeschütze nicht ungefährlich<br />

für die Bevölkerung, da die Splitter der<br />

Abwehrgeschosse auch Opfer in der Bevölkerung<br />

forderten. 7<br />

Betrachtet man die Eintragungen Edelmanns<br />

zu den Fliegerangriffen, dann fällt auf, dass ihre<br />

Wirkung meist heruntergespielt wird. Frauen und<br />

Kinder ängstigen sich, wenn Fliegeralarm ist: »Die<br />

Mutter und Guido haben die meiste Angst, wenn<br />

die Flieger kommen. Das letzte mal hörten wir<br />

das Brummen der Propeller der feindl. Flieger sehr<br />

4 Allein für 1918 wurden in Saarbrücken und Umgebung 172<br />

Angriffe gezählt, vgl. Klein, Hanns: Geschichte des Landkreises<br />

Saarbrücken 1815–1965, in: Grenze als Schicksal – 150 Jahre<br />

Landkreis Saarbrücken. Saarbrücken 1966, S. 83.<br />

5 Vgl. Zühlke, Albert: Der Luftkrieg gegen das Saargebiet vom<br />

2. August 1915 bis 6. November 1918, in: Der Saarkalender 5<br />

(1927) S. 37 f.; er spricht von 9 männlichen und 4 weiblichen<br />

Todesopfern, die er namentlich nennt, S. 38.<br />

6 Vgl. Eintrag vom 12. Juni 1918, s.Abb. S. 29 oben<br />

7 Vgl. Schwarz, S. 68.


deutlich über unserem Haus.«, schreibt er u.a. am<br />

14. November 1917 in sein Tagebuch. Für ihn ist es<br />

mehr eine Tatsache, die man beobachten kann. So<br />

notiert er zu Beginn des Krieges am 16. August<br />

1914, dass es bei einem Besuch in Saarbrücken zu<br />

einem Scharmützel kam: »Auf einmal fängt es in<br />

allen Ecken an zu schießen. Ein französischer Flieger<br />

wird beschossen. Er entkam. Wir fahren nach<br />

Haus.« – »Heute Mittag zieht ein Gewitter hoch.<br />

Um 3 Uhr hört man von Saarbrücken schießen.<br />

Ich sehe Rauchwölkchen von platzenden Granaten.<br />

Wahrscheinlich wieder ein franz. Flieger.«,<br />

schreibt er am 22. August 1914. Hier handelte es<br />

sich wohl (zunächst) um einen feindlichen Aufklärungsflug<br />

– ein deutlicher Hinweis dafür, dass das<br />

Saarrevier mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie<br />

sowie seinem Eisenbahnnetz ins Visier der<br />

Entente geraten war. Dies musste zu besonderen<br />

Abwehrmaßnahmen führen, die in der Folge mit<br />

Luftwarnanlagen, leichten und schweren Flakbatterien,<br />

einer Ballonsperre und einer Jagdstaffel,<br />

die auf dem Flugplatz in St. Arnual stationiert war,<br />

eine Verstärkung der bisherigen Luftabwehr mit<br />

sich brachte. 8<br />

Die nächste Notiz über Flieger findet sich erst<br />

am 11. September 1916: »Heute Nacht waren feindliche<br />

Flieger in Völklingen-Burbach, über Verluste<br />

hat man noch nichts bestimmtes gehört. 9 Am 13.<br />

Dezember desselben Jahres schreibt er:<br />

»In letzter Zeit sind bei hellem Wetter fast<br />

jeden Tag feindliche Flieger gekommen. An einem<br />

der letzten Sonntage kamen sie in die Nähe von<br />

unserem Ort, sodaß wir die Propeller surren hörten<br />

und das Platzen der Schrappnels der Beschie-<br />

ßung gut beobachten konnten.«<br />

Auch in Friedrichsthal gab es 1917 Auswirkungen<br />

des Luftkrieges, von denen Edelmann berichtet:<br />

»14. Novbr. Man hat wenig Zeit, dem Buch alles<br />

anzuvertrauen. In letzter Zeit hatten wir viel unter<br />

den Angriffen der feindlichen Flieger zu leiden. d.h.<br />

mehr durch die Abwehrkanonen. Im Geschäft Jos.<br />

Levy Ww hat eine solche Abwehrgranate die 25<br />

Das Kriegstagebuch von<br />

Jakob Edelmann; rechts<br />

Ausschnitt vom 12. Juni<br />

1918.<br />

Das Ge dicht »Der<br />

Luftkrieg …« stammt aus<br />

dem Saarkalender von<br />

1927, S. 57<br />

8 Vgl. Klein, S. 83. Er erwähnt auch, dass die Verstärkung der<br />

Luftabwehr aufgrund persönlicher Vorstellung des Kreistagsmitglieds<br />

H. Röchling bei der OHL, u.a. bei Ludendorff,<br />

erreicht worden war.<br />

9 Vgl. Der Luftkrieg gegen das Saargebiet II. Die Angriffe auf<br />

Völklingen und Umgegend, in: Der Saarkalender 6 (1928),<br />

S. 35: Es wurden 13 Bomben abgeworfen, die auf unbebautes<br />

Gelände fielen und keinen Schaden anrichteten.


saargeschichte|n 2.2019<br />

30<br />

Cm starke Eisenbetondecke durchschlagen. Das<br />

hat einen mächtigen Knall gegeben, es sind auch<br />

kaum 100 m von unserem Haus entfernt …«<br />

Vom 17. Juni 1918 berichtet der Tagebuchschreiber,<br />

dass er abends in Sulzbach bei deiner<br />

alldeutschen Versammlung war: »Pfr. Reichert<br />

hat gesprochen und zwar hinreißend. Ich habe<br />

mich aufnehmen lassen, die Sache muß unterstützt<br />

werden, damit die Regierung eine kraftvolle<br />

Stütze hat.« Als er um 12 Uhr nach Hause kam und<br />

eben im Bett lag, wurden Flieger gemeldet:<br />

»Bald fielen auch die ersten Schüsse von<br />

Abwehr-Geschützen. Beim ersten Schuß wurde<br />

Trude schon wach und rief Mama. Sie machte<br />

ihrem geängstigten Herzchen Luft »Flieger baißt«,<br />

»Bös Flieger«, »Geschte fort« dabei gingen die<br />

schwarzen Augen immer ängstlich umher und als<br />

es aufhörte zu schießen, da erst atmete sie erleichtert<br />

auf und lachte »Flieger fort«. Gido kam natürlich<br />

auch in mein Bett, er deckte sich zu bis über<br />

die Ohren und war in Schweiß gebadet. Es war<br />

unheimlich, von 12–3 Uhr dauerte das Geschieße,<br />

man hörte wieder gut die Propeller surren.«<br />

Am 10. August schreibt Edelmann in sein<br />

Tagebuch: »Die Flieger kommen jetzt fast jeden<br />

Tag. Im Westen müssen unsere Heere immer<br />

zurück gehen. Es ist eine schlechte Stimmung<br />

überall. Ich halte meine Hoffnung aufrecht. Es<br />

kommt auch wieder eine andere Zeit, sie bringen<br />

uns nicht klein.«<br />

Dem Schreiber des Tagebuchs ist es also gelegentlich<br />

mulmig und »unheimlich«, wenn die Fliegerangriffswellen<br />

kommen, wie die oben zitierte<br />

Eintragung deutlich macht. Dennoch scheinen<br />

die Luftangriffe Jakob Edelmann wenig emotional<br />

anzuhaben. Er berichtet relativ distanziert davon,<br />

abgesehen von den Eindrücken und Auswirkungen<br />

auf seine Kinder.<br />

Betrachtet man andere Quellen zu den Luftangriffen,<br />

dann ist das schon bemerkenswert. Dort<br />

ist die Rede von fehlendem Schlaf und nächtelangem<br />

Aufenthalt in kalten, feuchten Kellerräumen<br />

sowie von der angegriffenen Gesundheit durch<br />

die unzureichende Lebensmittelversorgung. 10<br />

Einen weitaus tieferen Eindruck hinterlässt<br />

der Luftkrieg bei dem zweiten der genannten<br />

Augenzeugen, dem Oberlehrer Wilhelm Schaetzing.<br />

Er bringt in seiner »Geschichte von Friedrichsthal-Bildstock«<br />

11 an erster Stelle seiner Darstellung<br />

über den »Weltkrieg 1914 bis 1918 und<br />

seine Folgen« eine lange Passage über den Luftkrieg.<br />

Darin heißt es zunächst, dass es im Gegensatz<br />

zu dem Krieg 1870/71 in diesem Krieg »zu keinem<br />

Kampfe in unserer Heimat und der weiteren<br />

Umgebung gekommen« sei. »Vor diesem furchtbarsten<br />

Kriegsgreueln wurden wir verschont, mit<br />

Ausnahme der Fliegerbomben, welche die Feinde<br />

auch über Friedrichsthal abwarfen.«<br />

Schaetzing macht deutlich, warum Friedrichsthal<br />

das Ziel der Luftangriffe war: »Sie hatten<br />

es dabei auf unsere Gruben, Glashütten und den<br />

Bahnhof abgesehen. Jedoch traf keine Bombe<br />

ihr gewähltes Ziel.« Er berichtet auch von einem<br />

Todesopfer: Ein Junge wurde in der Nähe des Ostschachtes<br />

durch einen Splitter getötet.<br />

Zunächst berichtet Schaetzing noch sehr<br />

distanziert über die Fliegerangriffe, wenn er sagt,<br />

dass vom 2. August 1915 bis 6. November 1918 »700<br />

Bomben im Saargebiet abgeworfen« wurden und<br />

in Friedrichsthal-Bildstock »dadurch auch kein<br />

größerer Sachschaden« entstand. Allerdings wird<br />

dann der Tenor seiner Ausführungen emotionaler,<br />

wenn er sich den Auswirkungen der Alarmsituationen<br />

auf die Menschen widmet. Berücksichtigen<br />

muss man natürlich, dass er aus der Erinnerung<br />

schreibt, denn das Buch erschien erst 1926, d. h. es<br />

liegen fast zehn Jahre dazwischen und das Erlebnis<br />

und die Erfahrungen aus dem verlorenen Weltkrieg<br />

spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Edel-<br />

10 Vgl. Schwarz, S. 69.<br />

11 Schaetzing, zum Ersten Weltkrieg vgl. S. 194–201, zum Luftkrieg<br />

vgl. S. 194f.


Übersichtskarte über<br />

die Stellungen der<br />

Flak-Batterien und<br />

Flugwachen im Saargebiet,<br />

datiert vom 31.<br />

Juli 1918; Skizze aus<br />

Saarkalender 1927, nach<br />

S. 48.<br />

dittgen<br />

Wegbereiter<br />

seit 1897.<br />

dittgen Bauunternehmen GmbH<br />

Saarbrücker Straße 99 | D-66839 Schmelz | Telefon 06887/307-0 | www.dittgen.de<br />

Telefax 06887/307-199


saargeschichte|n 2.2019<br />

32<br />

Originalbildtext:<br />

»Durch den Luftdruck<br />

wurde am 9. Februar<br />

1917 das ganze Dach<br />

eines Hauses in der<br />

Trierer Straße auf die<br />

Straße geschleudert.«<br />

Originalaufnahme von<br />

Willi Bunke, aus:<br />

Saarkalender 1927, S. 41.<br />

Abwehrgeschütz<br />

auf dem Petersberg<br />

(Saarbrücken). Originalbildtext:<br />

»Dem am<br />

Telephon stehenden<br />

Artilleristen wird ein<br />

herannahendes Fliegergeschwader<br />

gemeldet<br />

am 16. November 1916.«<br />

Originalaufnahme von<br />

Gebr. Eichacker – Saarbrücken,<br />

aus: Saarkalender<br />

1927, S. 39.<br />

manns Aufzeichnungen sind noch nicht von einer<br />

Rückschau geprägt. Deutlich wird jedoch, dass<br />

der Autor des Tagebuches die Geschehnisse aus<br />

sehr eingeschränkter Perspektive betrachtet, aber<br />

unbearbeitetes Quellenmaterial überliefert, im<br />

Unterschied zu Schaetzing, der auf verschiedene<br />

Quellen und Augenzeugen der Zeit zurückgreifen<br />

konnte. 12<br />

Schaetzing spricht von dem »Schrecken«, der<br />

»über jung und alt« kam, »wenn die Sirenen mit<br />

ihrem klagenden Geheul die Ankunft der hinterlistigen,<br />

grausamen Flieger verkündeten!« Wenn<br />

der Alarm tagsüber erfolgte, bedeutete das für<br />

die Schulkinder Unterrichtsausfall und »die Kin-<br />

der wurden schnell entlassen oder bei höchster<br />

Gefahr von ihren Lehrern und Lehrerinnen in<br />

den sicheren Schulkeller geleitet.« Nachts war es<br />

ebenfalls so, dass »manche Verwirrung« entstand,<br />

»wenn die warmen Betten plötzlich verlassen<br />

werden mußten, und die Flucht in die Kellerräume<br />

begann.« Schaetzing erinnert in seiner Chronik<br />

noch an einen weiteren wichtigen Aspekt, wenn<br />

er von den bettlägerigen Kranken spricht, die<br />

nicht in Sicherheit gebracht werden konnten. Er<br />

erinnert sich auch daran, dass »alle Lichter […]<br />

sofort verschwinden, und die Fenster jeden Abend<br />

abgeblendet werden« mussten, was den behördlichen<br />

Anweisungen im Falle eines Fliegerangriffs<br />

entsprach.<br />

Auch für Zugreisende waren die Luftangriffe<br />

eine Bedrohung: »Am trübseligsten ging es auf<br />

den Bahnhöfen und in den dunklen Zügen zu, die<br />

während eines heftigen Fliegerüberfalls auf den<br />

Stationen stehen blieben. Da mußte man oft zweimal<br />

wieder aussteigen und in dem Erdgeschosse<br />

des Saarbrücker Bahnhofs stundenlang warten,<br />

bis man die Heimfahrt antreten konnte.« 13<br />

Von solchen Ereignissen berichtet Edelmann<br />

in seinem Tagebuch nichts, obwohl er öfter mit<br />

dem Zug unterwegs war. Auch fehlt bei Edelmann<br />

die Erwähnung, dass auf der Spieser Höhe Flugabwehrgeschütze<br />

postiert waren, die, wie bereits am<br />

17. November 1917 erwähnt, auch für Gefahr bei der<br />

Bevölkerung sorgten: »Schauerlich durchdrang<br />

das Brüllen der Abwehrgeschütze von der Spieserhöhe<br />

die Stille der Nacht, und bald prasselten die<br />

Granatensplitter dieser Geschosse auf die Dächer<br />

12 Vgl. das Vorwort zu seiner Chronik.<br />

13 Schaetzing, S. 194.


hernieder, so daß anfangs ängstliche Gemüter<br />

glaubten, eine feindliche Bombe wäre geplatzt.« 14<br />

Auch gab es auf dem Hoferkopf eine Scheinwerfereinheit,<br />

deren Aufgabe es war, die feindlichen<br />

Flieger bei Nacht aufzuspüren und zu verfolgen.<br />

Von den Entwarnungen berichtet Edelmann<br />

nur am Rande. Schaetzing malt die Szenerie weiter<br />

aus: »Dann ertönten wieder die Sirenen, und<br />

die erschrockenen Menschen kehrten aus ihren<br />

bombensicheren Unterständen in ihre Wohnräume,<br />

Geschäftsräume oder Schlafzimmer zurück.«<br />

Dass es immer wieder Menschen gab, die nicht<br />

die Gefahr sahen, sondern eher aus Neugierde<br />

die Fliegerangriffe beobachteten, berichtet er<br />

ebenfalls: »Am Tage beobachteten auch manchmal<br />

mutige oder übermütige Leute, wie unsere<br />

deutschen Flieger die feindlichen verfolgten und<br />

sich gegenseitig beschossen.« So erwähnt er auch<br />

einen Vorfall vom Pfingstmontag 1917, als ein französisches<br />

Flugzeug in Saarbrücken abgeschossen<br />

wurde und in einen Garten fiel: »Die beiden Insassen<br />

wurden herausgeschleudert und lagen zerschmettert<br />

auf dem Straßenpflaster.« 15<br />

Von den Schrecken, die Schaetzing nennt, ist<br />

im Tagebuch Edelmanns wenig erwähnt. Dies<br />

mag damit zusammenhängen, dass der Tagebuchschreiber<br />

es nicht für notwendig fand, Details<br />

der Fliegerangriffe zu berichten, z.B. die Sirenen<br />

oder die Scheinwerfereinheit auf dem Hoferkopf.<br />

Auf der anderen Seite stellt sich dennoch die Frage,<br />

warum Edelmann meist emotionslos über die<br />

feindliche Bedrohung aus der Luft berichtet. Wollte<br />

er hier seine eigenen Ängste überspielen? Oder<br />

handelt es ich vielleicht unbewusst um ein politisches<br />

Statement, denn er erwähnt, dass wieder<br />

eine andere Zeit kommt: »sie bringen uns nicht<br />

klein.«? Jedenfalls ist die Beschreibung der Luftangriffe<br />

im Tagebuch eher so, dass sie wenig Eindruck<br />

auf ihn machten. Ob es anderen Menschen<br />

in Friedrichsthal genauso ging, lässt sich natürlich<br />

nicht sagen. Vielleicht hängt dies aber auch damit<br />

zusammen, dass die Militärbehörden nur zensierte<br />

Mitteilungen der Presse zukommen ließen, wie<br />

es in der 1. Ausgabe des »Saarkalenders« erwähnt<br />

14 Schaetzing, S. 194.<br />

15 Schaetzing, S. 195.<br />

wird. 16<br />

Ein Tagebuch kann nur das berichten, was sein<br />

Schreiber weiß und er für notwendig findet, auch<br />

aufzuschreiben. Das persönliche Empfinden spielt<br />

dabei die entscheidende Rolle. Edelmanns Tagebuch<br />

war nicht für die Überlieferung an die Nachwelt<br />

gedacht, eher als persönliche Erinnerung an<br />

eine Krisenzeit, die für ihn und seine Familie gut<br />

ausging. Wenn auch mit einer Bilanz im Bereich<br />

der Stadt Saarbrücken und des ehemaligen Landkreises<br />

von mehr als 60 Toten 17 und über 2 Mio.<br />

Mark Schaden die Intensität der Angriffe nicht<br />

mit denen des 2. Weltkrieges vergleichbar ist, so<br />

spricht doch einiges dafür, »daß sie unter den<br />

damaligen Verhältnissen die Bevölkerung nicht<br />

viel weniger beunruhigten als im letzten Krieg.« 18<br />

16 Vgl. Zühlke, Albert: Kurzer Überblick über die Fliegerangriffe<br />

auf das Saar-Industriegebiet, in: Der Saarkalender. Ein<br />

Volksbuch für heimatliche Geschichtsforschung, Kunst,<br />

Naturwissenschaft, für saarländische Literatur, Statistik<br />

und Volkshumor 1 (1923), S. 139. Er äußert sich ähnlich im<br />

Saarkalender 5 (1927) S. 37, wobei für ihn die zensierte Presse<br />

als »Unterlage« für »eine zuverlässige und sachgemäße<br />

Darstellung des Luftkrieges gegen das Saargebiet« völlig<br />

ausschied. Wenn auch der »Saarkalender« das prodeutsche<br />

Sprachrohr war, das die Völkerbundszeit sehr kritisch<br />

betrachtet und die Übergriffe französischer »Besatzer«,<br />

Militär und Funktionsträger in Verwaltung und Wirtschaft,<br />

dokumentiert, so kann man dennoch bei der Darstellung<br />

der Geschichte des Luftkrieges nicht auf die Publikation verzichten.<br />

Vor allem der 5. Band bietet eine 20seitige sehr ausführliche,<br />

chronikartige Zusammenstellung der Ereignisse<br />

von August 1915 bis 10. November 1918 (S. 37–57). Zudem<br />

beinhaltet die Darstellung eine Reihe von Fotos der Gebrüder<br />

Eichacker, die trotz der Zensur aufgenommen wurden.<br />

Was die allerdings die Tagebuchenträge Edelmanns von<br />

den Luftangriffen betrifft, findet sich außer dem Eintrag<br />

vom 11.9.1916 keine Übereinstimmung der Daten mit dem<br />

Saarkalender.<br />

17 Vgl. Klein, S. 83, der 61 Tote nennt und sich dabei auf die<br />

Zahlen im Saarkalender 1 (1923) bezieht. Er erwähnt allerdings<br />

nicht die dort genannten 77 Schwer- und 115<br />

Leichtverletzten; vgl. auch Thielen, Katharina: Saarbrücken<br />

im Ersten Weltkrieg: Direkte Kriegsauswirkungen.<br />

Online erstellt am 12.12.2016: https://www.regionalgeschichte.net/saarland/saarbruecken/einzelaspekte/<br />

saarbruecken-im-ersten-weltkrieg. html #c84791 [zuletzt<br />

eingesehen am 2.4.2019]. Sie spricht von 63 Toten und<br />

85 Verletzten ohne Angabe von Quellen. [Diese Zahlen<br />

finden sich bei Zühlke, Saarkalender 5 (1927), S. 56.]<br />

Was die Zahlen für die untere Saar angeht, so werden hier<br />

12 Tote und 43 Verletzte angegeben; vgl. Rehanek, R. Rudolf:<br />

Der Luftkrieg gegen das Saargebiet II. Die Angriffe auf die<br />

untere Saargegend, in: Der Saarkalender 8 (1930), S. 66.<br />

18 Klein, S. 83. Im Zweiten Weltkrieg war Saarbrücken 32 Luftangriffen<br />

der Alliierten ausgesetzt. Der schwerste erfolgte<br />

am 5. Oktober 1944, bei dem 18.204 Wohnungen zerstört<br />

und 45.000 Einwohner obdachlos wurden. Etwa 3.850<br />

Wohnhäuser waren total zerstört. 361 Menschen kamen<br />

bei diesem Angriff ums Leben. Insgesamt waren in Saarbrücken<br />

1.234 Tote des Luftkriegs zu beklagen. Die größten<br />

Schäden entstanden rund um den Haupt- und Güterbahnhof<br />

in St. Johann und im Umkreis von Einrichtungen der<br />

Rüstungsindustrie in Malstatt und Burbach, die Luftangriffe<br />

trafen aber auch die Zivilbevölkerung in den Wohnvierteln<br />

in Alt-Saarbrücken. Vgl. Eckel, Werner: Saarbrücken im<br />

Luftkrieg 1939–1945. Saarbrücken 1985.


saargeschichte|n 2.2019<br />

34<br />

Elementarbuch – Eine<br />

saarländische Fibel von 1837<br />

Von Horst Schiffler<br />

Mit der Einführung der Unterrichtspflicht durch<br />

die absolutistischen Landesherren im Laufe des 18.<br />

Jahrhunderts ergab sich auch neuer Regelungsbedarf<br />

für die in den Elementarschulen, den späteren<br />

Volksschulen, zu verwendenden Lehrbücher.<br />

In der »Schul- und Confirmations-Ordnung der<br />

Nassau-Saarbrück-Usingischen Landen« von 1730<br />

heißt es noch: … »6) Wegen übriger Einrichtung<br />

des Schul-Wesens aber, (worunter sonderlich<br />

Schul-Bücher und Lehr-Art begriffen) bleibt es bei<br />

jeden Orts Gewohnheit und Umbständen biß zu<br />

weiterer Verfügung …« In der Regel bestimmte der<br />

Schulinspektor des Oberamts, ein vom Konsistorium<br />

gewählter und dem Landesherrn bestätigter<br />

Pfarrer oder Dekan, welche Bücher in der Schule<br />

zu benutzen waren. Nicht selten erhob er sich<br />

selbst zum Verfasser von Schulbüchern, wie beispielsweise<br />

der Ottweiler Superintendent und<br />

Inspektor Georg Christian Woytt, der im Auftrag<br />

von Fürst Wilhelm Heinrich im Jahre 1752 eine<br />

neue Schulordnung für Nassau-Saarbrücken verfasst<br />

hat, die allerdings nicht erlassen wurde. In<br />

dieser Schulordnung werden die im Inspektionsgebiet<br />

zu verwendenden Lehrbücher vorgeschrieben,<br />

darunter eine »Christliche Liederschule«,<br />

eine »Christliche Kinderschule« als Lesebuch und<br />

ein »Naßau-Ottweilerischer Kleiner Katechismus«,<br />

die alle von Woytt selbst herausgegeben<br />

worden waren. 1 Die Schulordnung des Fürsten<br />

Ludwig von Nassau-Saarbrücken aus dem Jahre<br />

1783 macht zu den Schulbüchern keine konkreten<br />

Vorgaben, stellt nur lapidar fest, dass es den<br />

Eltern und Vormündern obliege, »… ihren Kindern<br />

1 Bisher konnte kein Exemplar gefunden werden.<br />

diejenige zum Unterricht erforderliche Bücher …,<br />

nehmlich: A.B.C. oder Namen-Buch, Luthers und<br />

Seilers Catechismus, Gesang-Buch, Neues Testament<br />

und Bibel … anzuschaffen.« (§ 1) In den Verordnungen<br />

der damaligen Hoheitsgebiete wird<br />

unter Bezeichnungen wie ABC-Buch, Namenbuch,<br />

Elementarbuch, Kinderschul oder Lese-Kunst<br />

immer auch ein Buch für den Erstleseunterricht<br />

genannt. Um ein solches Schulbuch auch für arme<br />

Familien erschwinglich zu halten war es einfach<br />

gestaltet, in Oktavformat, bis in die Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts meist unbebildert und umfasste<br />

selten mehr als 60 Seiten. In der Regel war es in<br />

den ersten drei oder vier Schuljahren in Gebrauch,<br />

bis es von einem umfangreicheren Lesebuch<br />

abgelöst wurde.<br />

Obwohl eine solche Erstlesefibel zur Standardausrüstung<br />

eines jeden Schülers gehörte,<br />

sind aus dem Gebiet des heutigen Saarlandes bis<br />

weit in das 19. Jahrhundert hinein kaum erhaltene<br />

Beispiele nachweisbar. 2<br />

1837 erschien im Verlag Franz Stein in Saarlouis<br />

ein »Elementarbuch zum leichten und<br />

2 Die älteste Fibel in der Schulbuchsammlung des LA, »Deutsche<br />

Fibel und erstes Lesebuch«, 35. Aufl. Leipzig 1890, ist um<br />

1865 erschienen. Entsprechende Beispiele im Bestand des<br />

Saarländischen Schulmuseums Ottweiler stammen aus dem<br />

letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das Fehlen solcher Dokumente<br />

ist bedauerlich, da sich der historische Quellenwert<br />

von Fibeln nicht nur auf schulgeschichtliche Zusammenhänge<br />

wie Lesemethoden, Ausgangsschrift oder Lehrplanfragen<br />

beschränkt, sondern sie mit ihren Texten und Bildern auch<br />

Dokumente des Zeitgeistes und gesellschaftlicher Verhältnisse<br />

bilden können.


gründlichen Erlernen des Lesens«. 3 Verfasser war<br />

der junge Lisdorfer katholische Pfarrer Johann<br />

Anton Joseph Hansen (1801–1875).<br />

Hansen, der 1825 in Trier die Priesterweihe<br />

erhalten hatte, wurde nach einem Jahr als Kaplan<br />

in Mayen zum Sekretär des Bischofs von Trier<br />

ernannt, wo ihm 1829 noch das Amt des Stadtschulinspektors<br />

übertragen wurde. Dadurch<br />

scheint sein pädagogisches Interesse einen<br />

Anstoß erhalten zu haben, denn nach seiner<br />

Versetzung als Pastor der Gemeinde Lisdorf im<br />

Jahre 1832 sind mehrere pädagogische Initiativen<br />

nachweisbar, wie beispielsweise die Gründung<br />

einer Landwirtschaftsschule 1835 in Lisdorf oder<br />

die Herausgabe des Buches »Gesetze und Verordnungen<br />

über das vaterländische Elementarschulwesen«,<br />

Saarlouis 1837. Der mit dem Pfarramt<br />

verbundene Dienst als Ortsschulinspektor<br />

führte zu regelmäßigen Schulbesuchen, was auf<br />

die Veröffentlichung einer seinen Vorstellungen<br />

entsprechenden Erstlesefibel hingewirkt haben<br />

mag. 4 Nach der Übernahme der Schulhoheit<br />

3 Das einzige bisher nachweisbare Exemplar befindet sich in<br />

Privatbesitz, Kopien besitzen das Saarländischen Schulmuseum<br />

Ottweiler und das Stadtarchiv Saarlouis.<br />

4 Zu Leben und Wirken Hansens u. a.: Johann Joseph Anton<br />

Hansen (1801–1875) … revolutionärer Geist im Priesterkleid?<br />

Begleitschrift zur Ausstellung im Stadtmuseum Ottweiler<br />

2001. Dort auch Literatur- und Schriftenverzeichnis. – Dechant<br />

Johann Anton Joseph Hansen 1801–1875, Priester,<br />

Reformer, Historiker und Publizist. Dokumentation einer<br />

Vortragsreihe. Stiftung Demokratie Saarland, Saarbrücken<br />

2003<br />

in den Rheinprovinzen durch Preußen war das<br />

Regierungspräsidium in Trier zuständig für die<br />

Zulassung von Schulbüchern im Regierungsbezirk.


saargeschichte|n 2.2019<br />

36<br />

Bei Lesebüchern und Fibeln wurde die Konfession<br />

berücksichtigt, für katholische und evangelische<br />

Schulen gab es jeweils eigene Bücher. Als Autoren<br />

traten, neben Geistlichen, zunehmend Pädagogen<br />

der Lehrerseminare auf. Die Zulassung des »Elementarbuchs«<br />

aus der Feder eines katholischen<br />

Geistlichen galt ohne Zweifel nur für katholische<br />

Schulen.<br />

Das Bändchen ist in Oktavformat (17 x 11 cm)<br />

gedruckt und umfasst 56 Seiten. Bemerkenswert<br />

ist die Angabe »Zweites Heft« auf der Titelseite.<br />

Und in der Tat beginnt Hansens Fibel auf einer<br />

Stufe, die erste Grundlagen des Lesens bereits<br />

voraussetzt. Da ein gedruckter »Erster Teil« bisher<br />

nicht auffindbar war, von Hansen selbst auch nie<br />

mehr erwähnt wurde, ist anzunehmen, dass es<br />

beim Plan geblieben und eine Realisierung durch<br />

Hansens Versetzung nach Ottweiler 1838 und den<br />

mit dem neuen Amt als Dechant und Kreisschulinspektor<br />

verbundenen neuen Aufgaben unterblieben<br />

ist. Vermutlich war sein Interesse an der<br />

Herausgabe einer Fibel weniger durch lesedidaktische,<br />

sondern viel mehr durch die mit den Leseübungen<br />

zu vermittelnden Inhalte begründet; das<br />

wäre aber im ersten Teil mit eher mechanischen<br />

Übungen zum Kennenlernen des Alphabets und<br />

zum Syllabieren nicht möglich gewesen.<br />

Nach der damaligen Praxis des Lesenlernens<br />

ist das »Elementarbuch 2. Heft« nicht vor dem<br />

zweiten Schuljahr zum Einsatz gekommen. Es<br />

beginnt mit dem Lesen zweisilbiger Wörter, die<br />

auch einfache Sätze bilden können. Hansen verbindet<br />

damit eine Wörterkunde: Wörter mit Vor-<br />

silben, zusammengesetzte Wörter, aus Adjektiven<br />

und Verben abgeleitete Hauptwörter, u. a.<br />

Damit soll das Buch nicht nur dem Lese-,<br />

sondern auch dem Grammatikunterricht und der<br />

Sprachlehre dienen. In den folgenden Kapiteln<br />

werden die Anforderungen gesteigert, es erscheinen<br />

drei- bis fünfsilbige Wörter, die Sätze werden<br />

länger; es bleibt aber auf den ersten 20 Seiten bei<br />

einer Aneinanderreihung von Einzelsätzen ohne<br />

übergreifendes inhaltliches Thema. Erst danach<br />

folgen, mit der Überschrift »Kurzer Religionsunterricht«,<br />

zusammenhängende Texte.<br />

Der Druck erfolgt in Frakturschrift, auf Seite<br />

20 wird auch das »lateinische Alphabet«, also<br />

Antiqua, eingeführt; die folgenden Texte erscheinen<br />

nun abwechselnd in beiden Schriftarten.<br />

Der mit 35 Seiten umfangreichste zweite Teil<br />

offenbart das didaktische Hauptanliegen des Verfassers,<br />

die fünf Kapitel lauten: »Kurzer Religions-<br />

Unterricht«, »Kurze Sittenlehre«, »Erzählungen«,<br />

»Das Vater unser«, »Denk- und Sittensprüche«.<br />

Bei den Erzählungen handelt es sich um fünfzehn<br />

Kindergeschichten, in denen es um gottgefälliges<br />

Verhalten geht; alle enden mit einem gereimten<br />

Zweizeiler:<br />

Nicht nur der Sonnenschein und Regen,<br />

Auch Freud und Leid ist Gottes Segen.<br />

Gebet erlöst aus Ängsten;<br />

Und ehrlich währt am längsten.<br />

Die allerschönste Tugend übt,<br />

Wer Gott und Eltern kindlich liebt.<br />

Hansen stellt seine Fibel auch in den Dienst<br />

des Religionsunterrichts; sein Interesse an die-


sem Aufgabenbereich der Schule kommt in einer<br />

Fußnote auf Seite 21 zum Ausdruck, in der er auf<br />

ein geplantes Buch hinweist: »Die Religion für<br />

Unmündige. Fragen über die ersten Grundwahrheiten<br />

der Christlichen Religion. Ein Handbuch für<br />

Elementar-Schullehrer«. Ein Druck ist bisher nicht<br />

aufgetaucht, wahrscheinlich ist es auch hier beim<br />

Plan geblieben.<br />

Der Verbreitungsraum und die Verwendungsdauer<br />

des Hansen’schen »Elementarbuchs« waren<br />

wohl nicht besonders groß; auch in den Schulbezirken,<br />

in denen es vom Kreisschul inspektor<br />

anerkannt war, hatte es mit anderen, eingeführten<br />

Fibeln zu konkurrieren. Im Unterschied zu Fibeln<br />

der Zeit, die Jahrzehnte nachgedruckt wurden und<br />

bis zu 80 Auflagen erleben konnten, ist nur eine<br />

Ausgabe von 1837 belegt. In der neuen Funktion<br />

als Kreisschulinspektor in dem zu jener Zeit noch<br />

überwiegend evangelischen Kreis Ottweiler hatte<br />

Hansen es mit einer größeren Zahl evangelischer<br />

Schulen und Pfarrer als Ortsschulinpektoren zu<br />

tun. Viele jüngere, auch katholische, Lehrer waren<br />

in ihrer Ausbildung an preußischen Lehrerseminaren<br />

mit den Ideen fortschrittlicher Pädagogen wie<br />

Diesterweg oder Harnisch in Kontakt gekommen<br />

und hatten neue Methoden des Leseunterrichts<br />

kennengelernt. Für sie musste Hansens Fibel<br />

wenig modern erscheinen, keine gute Voraussetzung<br />

für eine Einführung am neuen Wirkungsort.<br />

Ein Vergleich mit anderen, auch älteren Fibeln<br />

zeigt, dass das »Elementarbuch« dem Entwicklungsstand<br />

der Lesedidaktik und der Textauswahl<br />

nicht gerecht wird. Wo bei Hansen Einzelsätze<br />

gelesen werden, bietet etwa die »Handfibel zum<br />

Lesenlernen« von Heinrich Stephani – Ersterscheinung<br />

1806 (!) – kleine Sätze in inhaltlichem<br />

Zusammenhang.<br />

Diese Fibel arbeitet auch mit der ab etwa<br />

1800 propagierten Schreib-Lese-Methode, bei der<br />

Lesen- und Schreibenlernen kombiniert und zeitlich<br />

aufeinander bezogen werden, wozu Übungen<br />

und Texte in Schreibschrift in der Fibel angeboten<br />

werden. Hansen folgt der Konvention, mit dem<br />

Schreiben als eigenständigem Lehrgang erst<br />

zu beginnen, wenn die Grundlagen des Lesens<br />

erworben sind, Kurrentschrift tritt in seinem »Elementarbuch«<br />

nicht auf.<br />

Unter dem Einfluss der Aufklärung hatten<br />

ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert weltliche,<br />

lebenspraktische und sachbezogene Texte in viele<br />

Lesebücher Eingang gefunden. In der erwähnten<br />

Fibel von Stephani finden sich nur wenige religiöse<br />

Texte, wie beispielsweise »Gebete für Kinder«;<br />

der überwiegende Teil hat einen erzieherischen<br />

Anspruch – »Der aufrichtige Knabe«, »Der Nimmersatt«<br />

– oder einen aufklärenden Inhalt: »Die<br />

einfältige Furcht vor Gespenstern«; auch kleine<br />

Gedichte sind im Angebot. Bei Hansen findet man<br />

in den Übungen mit Einzelsätzen außer moralischen<br />

Sentenzen – »Die Lieblosigkeit macht sich<br />

keine Freunde« – nur schlichte sachbezogene<br />

Aussagen – »Der Schmied bedarf des Eisens zum<br />

Schmieden«. In den<br />

Kapiteln mit längeren<br />

Lesestücken sind literarische<br />

oder wissenschaftliche<br />

Texte nicht<br />

vertreten.<br />

Hansen war immer<br />

ein entschiedener<br />

Ver fechter der engen<br />

Beziehung von Kirche<br />

und Schule. Bestrebungen<br />

zu ihrer Lockerung<br />

im Zusammenhang mit<br />

der 48er-Revolution<br />

empfand er als Bedrohung;<br />

vertretbar war<br />

für ihn nur eine Schule<br />

in christlichem Geist.<br />

»Von diesem ungeteilten<br />

ewigen Lichte aus<br />

der Höhe wollen wir<br />

nicht allein die Kirche,<br />

sondern die auf dem<br />

selben einmal gelegten<br />

Grunde erbauten<br />

Schule erleuchten und<br />

erwärmen lassen und darin die Jugend zu einem<br />

Volke erziehen, welches sich um des Herrn Willen<br />

jeder menschlichen Kreatur unterwirft; … welches<br />

durch Rechtthun die Unwissenheit thörichter<br />

Menschen zum Schweigen bringt, welches die<br />

Freiheit liebt, dieselbe aber nicht zum Deckmantel<br />

der Bosheit missbraucht …« 5<br />

Diesem Leitgedanken ist sein »Elementarbuch«<br />

verpflichtet; schon in der Unterstufe der<br />

Elementarschule soll christlicher Geist als Prinzip<br />

alle Fächer durchdringen, was im letzten Kapitel<br />

der Fibel, den 40 »Denk- und Sittensprüchen«, die<br />

nach Hansens Anweisung auswendig zu lernen<br />

sind, besonders deutlich zum Ausdruck kommt:<br />

»1 Es ist ein Gott, so ruft es die Natur,<br />

Die ganze Welt zeigt seines Daseins Spur.<br />

2 Schau überall in die Natur,<br />

Betracht den Baum, das Feld , die Flur,<br />

Und alles ruft in seiner Pracht:<br />

Der liebe Gott hat mich gemacht.<br />

8 Gott kennen ist die erste Pflicht,<br />

Wer Gott nicht kennt, der liebt ihn nicht.<br />

40 Weise Sprüche, weise Lehren<br />

Muß man üben, nicht blos hören.«<br />

Das »Elementarbuch zum leichten und<br />

gründlichen Erlernen des Lesens« von Johann<br />

Anton Joseph Hansen ist ein Beispiel für die Auswirkungen<br />

der engen Verbindung von Kirche und<br />

Schule und der damit verbundenen kirchlichen<br />

Schulaufsicht, die in Preußen infolge des Kulturkampfs<br />

im Jahre 1872 beendet und durch eine<br />

5 J.H.J. Hansen, Gesetze und Verordnungen über das vaterländische<br />

Elementarschulwesen, 3. Ausgabe, Saarlouis 1853,<br />

S. VIII–IX


saargeschichte|n 2.2019<br />

38<br />

Wirklich Neues?<br />

Zum saarländischen Denkmalschutzgesetz 2018<br />

Von<br />

Johannes Kirchmeier<br />

Ein insgesamt neues Gesetz mit der alten Überschrift<br />

»Saarländisches Denkmalschutzgesetz«<br />

– jetzt vom 13. Juni 2018 – verführt anzunehmen,<br />

der Gesetzgeber habe etwas wirklich Neues hervorgebracht.<br />

Der Koalitionsvertrag zwischen der CDU<br />

und der SPD vom 16. Mai 2017 allerdings hatte lediglich<br />

angekündigt, die Landesregierung werde<br />

»die Arbeit am Denkmalschutzgesetz fortführen<br />

und es in dieser Legislaturperiode unter Beachtung<br />

des Vier-Augen-Prinzips und der Stärkung des<br />

Denkmalrates novellieren« (S. 130). Nun aber, statt<br />

das bisherige Gesetz an der einen oder anderen<br />

Stelle zu novellieren, hat der Gesetzgeber es neu<br />

formuliert und das bisherige aufgehoben. Neugierde<br />

ist berechtigt.<br />

Wichtigstes und zentrales Thema jeden Denkmalschutzrechts<br />

ist die Bestimmung, wie ein Gebäude,<br />

eine Anlage oder sonst ein Gegenstand die<br />

rechtliche Eigenschaft erlangt, denkmalgeschützt<br />

zu sein. Zwei Modelle gibt es: Entweder die Behörde<br />

regelt das im Einzelfall durch Verwaltungsakt,<br />

oder das Gesetz bestimmt, die Anlage hat die<br />

geschützte Denkmaleigenschaft kraft Gesetzes,<br />

wenn sie die gesetzlichen Merkmale erfüllt. Das<br />

saarländische Recht folgt traditionell dem letzteren<br />

Modell. Das SDschG 2018 übernimmt es<br />

konsequent. Es öffnet auch keine Möglichkeit,<br />

Zweifelsfragen vorab zu regeln. Die Denkmalliste<br />

informiert »nachrichtlich« (§ 4 Abs. 1) über die Einschätzung<br />

der Behörde. Sie verschafft nicht den<br />

in ihr aufgeführten Anlagen rechtlich geschützte<br />

Denkmaleigenschaft. Erfüllt eine Anlage nicht<br />

die im Gesetz dafür bestimmten Merkmale – wie<br />

beispielsweise möglicherweise das Finanzamtsgebäude<br />

in Saarbrücken –, ist sie nicht denkmalgeschützt,<br />

obwohl sie in die Denkmalliste eingetragen<br />

ist. Ebenso umgekehrt: Ist eine Anlage<br />

nicht eingetragen, kann sie gleichwohl denkmalgeschützt<br />

sein, nämlich kraft Gesetzes.<br />

Wer etwa meinte, mit dem »Vier-Augen-<br />

Prinzip« sei kollegiale Entscheidung gemeint,<br />

wird im Gesetz nicht fündig. Erst der Blick in die<br />

Begründung der Gesetzesinitiative des Kultusministeriums<br />

(Ds 16/286 vom 7. 3. 2018, S. 2) eröffnet:<br />

Gemeint ist, dass das Kultusministerium als<br />

oberste Denkmalbehörde die in seine Zuständigkeit<br />

gestellten Aufgaben selbst »wahrnehmen«<br />

werde und also nicht das ihm nachgeordnete Landesdenkmalamt.<br />

Welch andere als die zuständige<br />

Stelle darf denn die Aufgabe erfüllen? Ob sich<br />

die Auflistung der Aufgaben auf die Oberste und<br />

die ihr nachgeordnete, das Landesdenkmalamt,<br />

bewähren wird, muss sich zeigen.<br />

Die Zuständigkeit auf dem Gebiet des Denkmalschutzes<br />

hat das Gesetz nicht wieder dezentralisiert.<br />

So lassen sich die Ressourcen an (hoch-)<br />

spezialisierter Fachkunde und Professionalität<br />

und die Anforderungen an Gleichbehandlung im<br />

Einzelfall eher gewährleisten, als wenn die Aufgabenerfüllung<br />

auf kleinste Einheiten aufgesplittert<br />

wäre, wie früher einmal. Die Größe des Saarlandes<br />

lässt sich vergleichen mit der eines Regierungsbezirks<br />

etwa in Nordrhein-Westfalen oder Bayern.<br />

Die Konzentration auf jetzt das Landesdenkmalamt<br />

ist günstig zu beurteilen.<br />

Zum denkmalschutzrechtlichen Verwaltungsverfahren<br />

sind noch fünf Bestimmungen bemerkenswert:<br />

Die Novelle hat – erstens – das in der<br />

Praxis kaum angewendete und, wenn doch von<br />

ihm Gebrauch gemacht worden wäre, höchst


streitanfällige Anzeige- und Freistellungsverfahren<br />

nicht aufgegriffen. Das ist gut:<br />

Die Genehmigungsfiktion – zweitens – (§ 10<br />

Abs. 4) ist ein heutzutage beliebtes Mittel, die<br />

Behörde zu einer raschen Entscheidung zu veranlassen.<br />

Sie entlastet den Antragsteller von der<br />

Belastung einer verzögerten Genehmigungsentscheidung.<br />

Aber: Muss die Behörde die<br />

Genehmigung erteilen, braucht sie dafür, statt<br />

zu entscheiden, nur die – zweimonatige – Frist<br />

ablaufen zu lassen. Das kann für den Antragsteller<br />

verzögernd wirken. Kann die Behörde aus sachlichem<br />

Grund nicht innerhalb der kurzen Frist<br />

entscheiden, bleibt ihr nur, um möglicherweise<br />

unterbleibenden Denkmalschutz zu vermeiden,<br />

die Genehmigung zu versagen. Deshalb ist es vorteilhaft,<br />

dass das Gesetz das Widerspruchsverfahren<br />

beibehalten hat. In dem kann die Behörde die<br />

Genehmigungsfähigkeit dann nachholend prüfen<br />

und gegebenenfalls abhelfen.<br />

Die Fiktion hat – drittens – weder negative<br />

noch positive feststellende Wirkung, die Anlage<br />

sei denkmalgeschützt oder eben nicht. Sie lässt<br />

das beantragte Vorhaben zu, wie die erteilte<br />

Genehmigung auch, sonst nichts.<br />

Das Widerspruchsverfahren – viertens – sollte<br />

der Gesetzgeber nach dem Entwurf des Kultusministeriums<br />

abschaffen, und zwar mit dem Argument,<br />

es sei seiner zeitlichen Dauer wegen dem<br />

Eigentümer oder Antragsteller unzumutbar. Dem<br />

widersprach in der Anhörung im Gesetzgebungsverfahren<br />

der Historische Verein für die Saargegend<br />

mit dem Argument, überschreite die Dauer<br />

des Widerspruchsverfahrens drei Monate, könnte<br />

der Widerspruchsführer (sog. Untätigkeits-)Klage<br />

erheben. Unterlasse er das, habe er für die versäumte<br />

Zeit keinen Ersatzanspruch für seinen<br />

Verzögerungsschaden. Das ist ständige Rechtsprechung<br />

des BGH. Nach dem Gesetz bleibt es<br />

beim zwingend vorgeschriebenen Widerspruchsverfahren.<br />

In diesem ist Gelegenheit zu vertieftem<br />

Diskurs und auch insbesondere einer alternativen<br />

Lösung.<br />

Die Novelle belässt es – fünftens – beim<br />

Huckepack: Die Baugenehmigung und die immissionsschutzrechtliche<br />

Genehmigung schließt die<br />

denkmalschutzrechtliche ein. Nicht befasst sich<br />

das Gesetz mit der Frage, wie es sich verhält, wenn<br />

die entscheidende Behörde das Landesdenkmalamt<br />

nicht hat mitwirken lassen, sich über deren<br />

Erklärung hinweggesetzt hat, oder das Landesdenkmalamt<br />

nicht rechtzeitig mitwirkt.<br />

Der Text des Gesetzes ist in der üblichen<br />

deutschen Gesetzessprache verfasst. Sowohl der<br />

Denkmalrat als auch der Historische Verein für die<br />

Saargegend hatten in ihrer Anhörung zum Gesetzgebungsverfahren<br />

gefordert, klar und eindeutig<br />

so zu formulieren, dass es auch derjenige Bürger<br />

verstehe, der nicht gelernt habe, Gesetze zu lesen<br />

und professionell auszulegen; auch bestimmte<br />

Begriffe – etwa »die Öffentlichkeit« – genauer<br />

zu fassen. Vergebens. Allerdings erfordert es<br />

Kunstfertigkeit, einen Gesetzestext so klar und<br />

eindeutig zu formulieren, dass er auch den Anforderungen<br />

professionaler Auslegung genügt. Dazu<br />

bedarf es Zeit und Sorgfalt.<br />

Zum Schluss: Gelegenheit interessierte<br />

Bürger, Vereinigungen – zum Beispiel des Historischen<br />

Vereins für die Saargegend – oder gar<br />

Nachbarn, die Entscheidung zum Denkmalschutz<br />

beeinflussen zu können, hat das Gesetz nicht thematisiert,<br />

auch nicht andeutungsweise. Wer von<br />

mehr direkter Demokratie träumt, der wünschte<br />

sich, wenigstens zu den denkmalverdächtigen<br />

Anlagen im Eigentum eines Hoheitsträgers – früh<br />

im Entscheidungsfindungsprozess – auch institutionell<br />

Einfluss nehmen zu dürfen. Diese Anlagen<br />

im Eigentum eines Hoheitsträgers nämlich genießen<br />

nicht die privatnützige Eigentumsgarantie<br />

des Art. 14 des Grundgesetzes. Statt dessen hat<br />

der saarländische Gesetzgeber umgekehrt auf<br />

die Initiative der Regierung hin mittels des Haushaltsvorbehalts<br />

für Anlagen im Eigentum eines<br />

Hoheitsträgers den materiell-rechtlichen Denkmalschutz<br />

geschwächt.<br />

Wirklich Neues?<br />

Der gesellschaftliche Diskurs aber ist frei: Erfolg<br />

verspricht er nur, wenn er frühzeitig im Entscheidungsfindungsprozess<br />

stattfindet. Die Denkmalbehörden<br />

sind frei, das zu ermöglichen, nämlich<br />

durch Transparenz. Nehmen wir Bürger unsere<br />

Freiheit wahr den Diskurs zu führen!<br />

Gesamtinhaltsverzeichnis<br />

Wir werden immer wieder nach speziellen Themen, Artikel von bestimmten<br />

Autoren oder danach gefragt, welche Ausgaben der saargeschichte|n<br />

überhaupt noch lieferbar sind.<br />

Dazu haben wir ein Gesamtinhaltsverzeichnis aller bisher erschienen Ausgaben<br />

der Zeitschrift erstellt. Sie finden dieses Verzeichnisses auf unserer<br />

Internetseite:<br />

www.edition-schaumberg.de<br />

Dort unter »<strong>Saargeschichten</strong>«, Navigationspunkt »Gesamtinhalt«.


saargeschichte|n 2.2019<br />

40<br />

Ein Stadion<br />

mit Seltenheitswert<br />

Das Neunkircher Ellenfeld-Stadion offenbart eine<br />

architektonische Zäsur – ausgelöst durch die Fußball-<br />

Bundesliga<br />

Von Tobias Fuchs<br />

Die filigrane Stahlkonstruktion<br />

der<br />

Haupttribüne des Ellenfeld-Stadions<br />

im März<br />

1965. Foto: Saarlandarchiv<br />

Walter Barbian/<br />

LA Saarbrücken<br />

Das Ellenfeld-Stadion in Neunkirchen, ein Bauwerk<br />

für die frühe Fußball-Bundesliga, ist ein heute seltenes<br />

Zeugnis einer Zäsur in der westdeutschen<br />

Stadionarchitektur.<br />

1963 hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) mit<br />

der Bundesliga eine neue Spielklasse eingeführt,<br />

die sich erstmals über das gesamte Bundesgebiet<br />

erstreckte. Der 1. FC Saarbrücken war Gründungsmitglied,<br />

Borussia Neunkirchen im Juni 1964<br />

erster Aufsteiger in die Bundesliga. Das Ellenfeld-<br />

Stadion in seiner heutigen Form entstand nach<br />

dem Aufstieg – innerhalb eines Jahres.<br />

Der DFB bezweckte mit der Bundesliga<br />

eine Konzentration des Zuschauerinteresses auf<br />

zunächst 16 Standorte. Das belegen die Anforderungen<br />

an ihre Spielstätten, die hohen Zuschauerkapazitäten,<br />

welche der Verband den Vereinen<br />

vorschrieb. 35.000 Plätze musste ein Stadion bieten,<br />

auch in einer Kleinstadt wie Neunkirchen mit<br />

48.000 Einwohnern.<br />

Die strengen Vorgaben veränderten den<br />

Bautypus des Sportstadions in West-Deutschland<br />

schlagartig. Architektonisch am weitesten<br />

verbreitet war bis dahin das Erdstadion, in der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

begünstigt durch den<br />

Kriegsschutt als Baumaterial.<br />

Charakteristisch für<br />

das Erdstadion ist die abgesenkte<br />

Lage des Spielfeldes<br />

zwischen aufgeschütteten<br />

Rängen. In dieser Bauweise<br />

entstanden nach 1945<br />

etliche Stadien mit hoher<br />

Kapazität, auch der Saarbrücker<br />

Ludwigspark.<br />

Um rasch Kapazitäten<br />

für die Bundesliga zu<br />

schaffen, setzte man nun<br />

in vielen Städten auf Hochbauten<br />

aus Stahlrohr oder<br />

aufgeständerten Betonfertigteilen.<br />

Ein ingenieurtechnischer<br />

Pragmatismus<br />

bestimmte die baukünstlerische<br />

Formgebung. Das<br />

lässt sich anhand des


Links oben: Der Hochbau der Spieser Kurve, deren<br />

Stehränge aus Betonfertigteilen entstehen. Foto: H.<br />

Steinmetz/VA Borussia Neunkirchen<br />

Links unten: Norbert Engel (Mitte), Vorsitzender von<br />

Borussia Neunkirchen, begutachtet 1964 die Ausbaupläne<br />

für das Neunkircher Stadion. Foto: Hartung/LA<br />

Saarbrücken<br />

Oben: Spielplakat zu einem Heimspiel von Borussia<br />

Neunkirchen in der Bundesliga. Foto: VA Borussia<br />

Neunkirchen<br />

Ellenfeld-Stadions exemplarisch nachvollziehen.<br />

Wobei die freischwebende, über 20 Meter gende Dachkonstruktion seiner Haupttribüne als<br />

ingenieurtechnische Meisterleistung gelten darf –<br />

eine Extravaganz, die für Borussia Neunkirchen als<br />

privaten Bauherrn ein enormes Risiko darstellte.<br />

auskra-<br />

Erdstadien waren in der Regel eingebettet<br />

in eine Stadtlandschaft mit hohem Freizeitwert,<br />

häufig Parkanlagen, deren gestalterischer<br />

Anspruch eine Synthese aus Natur und Kultur<br />

war. Zuschauermassen bildeten in diesem Gefüge<br />

ein ornamentales Element. Das änderte sich mit<br />

den Hochbauten der frühen Bundesliga, die eher<br />

abgeschlossene Räume schufen, Resonanzräume<br />

für das Publikum.<br />

Es ist kein Zufall, dass sich in Deutschland<br />

mit der Bundesliga das entwickelte, was heute<br />

selbstverständlich »Fankultur« genannt wird.<br />

Sie entstand aus der Selbsterfahrung des Publikums,<br />

der Fußball wurde nun endgültig zu einem<br />

Zuschauer sport. Die pragmatische Stadionarchitektur<br />

der Jahre nach 1963 stellte einen entscheidenden<br />

Faktor dieser Entwicklung dar. Doch ist<br />

von ihr wenig übrig geblieben. Mittlerweile sind<br />

die Bauten dieser Zeit fast alle verschwunden,<br />

meist modernen Arenen gewichen – wodurch das<br />

Ellenfeld-Stadion hohen Seltenheitswert erlangt<br />

hat.<br />

Borussia<br />

Neunkirchen<br />

auf der<br />

Titel seite der<br />

populären<br />

»Sport-Illustrierten«<br />

(14.1<strong>2.19</strong>64).<br />

Foto: VA<br />

Borussia<br />

Neunkirchen


saargeschichte|n 2.2019 3.2018<br />

42<br />

Aus der Predigt von Pfarrer<br />

Juch zum Osterfest 1832 in<br />

Niederkirchen<br />

Unterrichtsvorschlag für Klassenstufe 11<br />

Von Bernhard W. Planz<br />

Für seine Teilnahme am Kampf gegen Napoleon<br />

wird dem Herzog von Sachsen-Coburg-Saalfeld<br />

(bzw. Gotha) auf dem Wiener Kongress 1814/16 ein<br />

linksrheinisches Gebiet mit etwa 20.000 bis 25.000<br />

Einwohnern zugesprochen. Verwaltungssitz dieses<br />

Gebietes ist St. Wendel. Von Anfang an besteht zwischen<br />

Teilen der Bevölkerung, zumal dem Bürgertum,<br />

das die Errungenschaften der Napoleonischen<br />

Zeit erhalten möchte, und der neuen Verwaltung,<br />

die in restaurativen Vorstellungen denkt und handelt,<br />

ein spannungsreiches Verhältnis. Es gipfelt<br />

1832 in revolutionären Unruhen.<br />

Im Gefolge von Herzogin Luise, die 1824 von ihrem<br />

Mann nach St. Wendel in die Verbannung geschickt<br />

wird (zwei Jahre später wird das Paar auch<br />

geschieden), kommt Karl Wilhelm Reginus Juch<br />

in die Stadt. Aus Gotha stammend, hat er in Jena<br />

– der »Wiege« der Burschenschaften – Theologie<br />

und Philosophie studiert. In St. Wendel wird er von<br />

der coburgischen Verwaltung zum Pfarrer der neugeschaffenen<br />

evangelischen Kirchengemeinde und<br />

zum Konrektor am eben gegründeten Gymnasium<br />

bestellt. Zusammen mit zwei anderen Lehrern und<br />

einem Advokaten bildet er die »Speerspitze« eines<br />

liberalen Zirkels in der Stadt. Seine eigentliche<br />

Bühne ist die Kanzel, im provisorischen Beetsaal<br />

des Amtshauses (am Schlossplatz) und in den Kirchen<br />

der Nachbargemeinden, unter anderem im<br />

bayrischen Niederkirchen. Er lässt mehrere seiner<br />

Predigten im Druck erscheinen, so auch die nachfolgende,<br />

deren Anfang wiedergegeben ist und die<br />

untersucht werden soll.<br />

Aberglauben, Eigennutz, Kleinmuth!<br />

Eine Predigt, gehalten zu Niederkirchen am Osterfeste<br />

1832 von Karl Juch, evangelischem Prediger<br />

zu St. Wendel.<br />

Dein Sohn ist erstanden, Vater, erstanden<br />

zum Himmlischen; auch uns laß erstehen zu Besserm.<br />

Amen.<br />

Triumph! schallt’s jubelnd heute durch die<br />

Welten; Engelschaaren stimmen Siegeshymnen<br />

an und Millionen beugen andächtig froh das<br />

Knie. Es hat gesiegt das Licht über die Finsterniß,<br />

das Leben über den Tod, das Göttliche über das<br />

Irdische; Christus ist erstanden, hat zerbrochen<br />

des Todes Banden, empfängt der Tugend herrlichen<br />

Lohn. Aber würde heute der Triumphgesang<br />

erschallen, würden heute Millionen andächtig<br />

froh die Knie beugen, würde Christus so herrlichen<br />

Lohn empfangen haben, das Licht über die<br />

Finsterniß gesiegt, das Leben über den Tod, das<br />

Göttliche über das Irdische; würde heute von Europa’s<br />

Ländern bis zu Amerikas unentdeckten Fluren,<br />

von des Nordens Eisfeldern bis zu Hesperiens 1<br />

Blüthenauen Christi Namen hochgefeiert werden,<br />

wenn Christus nicht so dauernd und heldenmüthig<br />

gekämpft hätte, gekämpft für Wahrheit und<br />

Tugend, für Menschenwürde und Menschenrechte?<br />

Drei Jahre lang mußte er für diese hohen Güter<br />

kämpfen und im dritten Jahre kämpfend sterben,<br />

ehe der Sieg errungen ward.<br />

Triumph! wird es einstens wieder auf dieser<br />

Erde schallen; Triumph! die Nacht ist gewichen, die<br />

1 Im antiken Griechenland ein Begriff, der westlich gelegene<br />

Länder (Italien, Spanien) bezeichnete. In der deutschen Klassik<br />

häufig für den Westen »schlechthin« stehend.


egionalgeschichte im unterricht<br />

Ketten zerbrochen, der Menschen Kerker geöffnet.<br />

Die Völker sind frei, die Menschen haben ihre Würde,<br />

Alle sind Brüder, und stolz und frei, ein Ebenbild<br />

Gottes schreitet der Mensch über die glücklichere<br />

Erde. Soll aber dieser herrliche Triumph gefeiert<br />

werden, soll siegen das Licht über die Finsterniß,<br />

das Recht über die Willkür, die Freiheit über die<br />

Tyrannei, so müssen wir auch kämpfen, kämpfen<br />

gleich Christus. Kämpfen müssen wir mit unsern<br />

Hauptfeinden, und welche diese sind, dieses will<br />

ich nun zu zeigen versuchen in dieser heiligen<br />

Stunde, heute an Christi Auferstehungsfeste,<br />

damit auch wir bald feiern der Menschen Auferstehungsfest.<br />

Die Hauptfeinde, mit welchen wir<br />

zu kämpfen haben, sind: Unser Aberglaube, unser<br />

Eigennutz, unser Kleinmuth.<br />

Aufgaben:<br />

1. Beschreiben Sie die Ziele des politischen Liberalismus<br />

in Deutschland um 1830.<br />

2. Analysieren Sie in diesem Zusammenhang<br />

den Anfang einer Predigt, die der protestantische<br />

Pfarrer Juch zum Osterfest 1832 in Niederkirchen<br />

gehalten hat.<br />

3. Beurteilen Sie aus heutiger Sicht die Ausführungen<br />

von Pfarrer Juch.<br />

Aspekte zur Lösung:<br />

zu 1:<br />

individuelle Freiheit<br />

als Freiheit der Person, geschützt durch Grundund<br />

Menschenrechte: Glaubens-, Rede-, Presse-,<br />

Versammlungsfreiheit, freie Berufswahl, freie<br />

Wahl des Wohnortes, Rechtsgleichheit, Schutz des<br />

Eigentums<br />

wirtschaftliche Freiheit<br />

als Freiheit der Wirtschaft von staatlicher oder<br />

sonstiger Bevormundung: Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit,<br />

freie Konkurrenz, Freihandel<br />

Rechts- und Verfassungsstaat<br />

mit geschriebene Verfassung, durch die die Grundund<br />

Menschenrechte abgesichert sind; Teilung<br />

der politischen Gewalten unter Mitwirkung des<br />

Bürgertums (Repräsentativsystem), nationaler<br />

Einheitsstaat<br />

zu 2:<br />

Juch stellt seiner Predigt einen Spruch voran, der<br />

das biblische Thema des Tages benennt (»Dein<br />

Sohn ist erstanden, Vater«) und deutet dieses<br />

dann in zwei Schritten im Sinne aufklärerischer<br />

Tugendlehre aus (»erstanden zum Himmlischen;<br />

auch uns laß erstehen, erstehen zu Besserm.<br />

Amen.«). Dieser aufklärerischen Ausdeutung gilt<br />

im Folgenden, in immer neuen Kreisbewegungen,<br />

die Predigt. Ausrufe (»Triumpf!«), Anaphern,<br />

Wiederholungen, Aufzählungen, Häufungen,<br />

Bilder (bildungssprachlich: »bis zu Hesperiens<br />

Blüthenauen«), Aufforderungen, rhetorische<br />

Fragen, intensivierende Adjektivattribute, die<br />

häufige Voranstellung des Genetivattributes vor<br />

das Bezugswort fügen sich dabei zu einer sprachlichen<br />

Einheit von stark pathetischem Charakter.<br />

Inhaltlich erläutert Juch, den Spruch in Einzelbilder<br />

auflösend, die Richtung seiner Interpretation<br />

des Osterfestes. Zwar gebraucht er dabei auch altchristliche<br />

Formeln («Christus ist erstanden, hat<br />

zerbrochen des Todes Banden«), diese Formeln<br />

aber bleiben ohne spezifisch christlichen Inhalt.<br />

So sieht er Christi Wirken als Kampf »für Wahrheit<br />

und Tugend, für Menschenwürde und Menschenrechte«.<br />

Christus erscheint damit geradezu als der<br />

erste Liberale.<br />

Nach einem Wiederaufgreifen verschiedener Formeln<br />

aus dem ersten Abschnitt, einer Allusion auf<br />

Schillers Hymne an die Freude (»Alle sind Brüder«)<br />

und einem Aufruf zum Kampf für liberale Werte<br />

gipfelt Juch im zweiten Abschnitt auf mit einer<br />

Nennung der »Hauptfeinde, mit welchen wir zu<br />

kämpfen haben«, nämlich Aberglauben, Eigennutz,<br />

Kleinmut.<br />

Auswertung: Nimmt man die unter 1 aufgelisteten<br />

Aspekte als Vergleichskriterien, so benennt Juch<br />

abstrakt und ohne Konkretisierung die Aspekte<br />

der »Menschenwürde und Menschenrechte« und<br />

kontrastiv die Aspekte der »Willkür« und »Tyrannei«<br />

(gemeint: die absolutistische, verfassungslose<br />

Herrschaft). Deutlich stärker als diese Aspekte<br />

der individuellen und politischen Freiheit ist der<br />

moralische, aus der Aufklärung übernommene<br />

Gedanke der »Tugend« herausgehoben. Diese<br />

Beschränkung und Akzentsetzung ist zum einem<br />

dem Predigtgenre geschuldet, wohl aber auch<br />

politischer Vorsicht. Die Schüler können ebenso<br />

die Vermutung äußern, dass im nicht abgedruckten<br />

Teil der Predigt Konkretisierungen folgen (was<br />

z. T. auch durchaus der Fall ist).<br />

zu 3:<br />

Es könnte – in Gegenüberstellung zum restaurativen<br />

Gedankengut und den Maßnahmen der<br />

Regierungen des Deutschen Bundes - auf die<br />

(prinzipielle) Fortschrittlichkeit von Juchs Vorstellungen<br />

eingegangen werden, auch auf seine<br />

beträchtliche Zivilcourage. Auf der andern Seite<br />

auf das Fehlen sozialer Implikationen und die,<br />

im wörtlichen Sinne, fragwürdige Indienstnahme<br />

und Umdeutung des Evangeliums für politisch-moralische<br />

Zwecke – dies eben ganz in der<br />

Linie aufklärerischen Denkens. Sprachlich ist die<br />

schwülstige Rhetorik heutigem Sprachempfinden<br />

fremd.<br />

quelle<br />

und literatur:<br />

Bernhard W. Planz: Der<br />

Prediger Karl Wilhelm Juch, in:<br />

Gerhard Heckmann, Michael<br />

Landau, Peter Luy (Hrsg.):<br />

Das ganze Deutschland sollt<br />

es sein – politische Kultur in<br />

St. Wendel und der Saarregion<br />

1830–1850 (= Veröffentlichungen<br />

des Adolf-Bender-Zentrums<br />

e. V., Nr. 3),<br />

St. Wendel 1992, S. 191–205.<br />

Dort auch als Faksimile die<br />

Wiedergabe der vollständigen<br />

Predigt, Zweibrücken 1832.


saargeschichte|n 2.2019<br />

44<br />

ausstellungen +++ veranstalt<br />

Ausstellungen<br />

Technische Paradiese – Die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts<br />

Wadgassen, Deutsches Zeitungsmuseum, Am Abteihof 1<br />

29. Juni 2019 bis 1. September 2019<br />

Im 19. Jahrhundert bekam die Karikatur ein Thema zu fassen,<br />

mit dem sich die anderen Künste, zumal die Historien- und<br />

Salonmalerei, schwertaten: die technische Revolution mit<br />

all ihren Triumpfen und Überraschungen. Die Karikatur war<br />

das ideale Medium, um die ungläubige Bewunderung, die<br />

Begeisterung und die Befürchtungen der Zeitgenossen für<br />

die neue Technik im Alltag auszudrücken. Als Kunst für das<br />

Aktuelle und für ein großes Publikum begleitete die Karikatur<br />

den revolutionären Aufstieg der Maschine von Nahem.<br />

Die Ausstellung (ent-)führt die Besucher in damals neuartige<br />

»Technische Paradiese«, so wie die großen Namen der europäischen<br />

Karikatur des 19. Jahrhunderts die maschinelle Erlösung<br />

von aller körperlicher Mühsal wahrnahmen: George Cruikshank,<br />

William Heath, Jean-Jacques Grandville, Honoré Daumier, Albert<br />

Robida, Wilhelm Busch, Heinrich Kley und andere mehr.<br />

Die Ausstellung erfolgt in Kooperation mit dem Museum für<br />

Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts Baden-Baden und wird<br />

ergänzt durch Exponate aus der Sammlung des Deutschen Zeitungsmuseums.<br />

PharaonenGold – 3.000 Jahre altägyptische Hochkultur<br />

Weltkulturerbe Völklinger Hütte<br />

Bis 24. November 2019<br />

Das Weltkulturerbe Völklinger Hütte entführt seine Besucher in<br />

die Welt des Alten Ägypten. Die Ausstellung »PharaonenGold<br />

– 3000 Jahre altägyptische Hochkultur« zeigt herausragende<br />

altägyptische Goldschätze aus mehr als 3.000 Jahren. Die 150<br />

Exponate bilden die größte Sammlung von einzigartigen und<br />

magischen Goldexponaten aus dem Alten Ägypten. In dieser<br />

Form sind die Objekte zum ersten Mal zu sehen.<br />

Über die Grenze<br />

Um angemessene Kleidung wird gebeten<br />

Mode für besondere Anlässe von 1770 bis heute<br />

Trier Stadtmuseum Simeonstift, Simeonstraße 60<br />

Bis 6. Oktober 2019<br />

Mit der Ausstellung »Um angemessene Kleidung wird gebeten«<br />

geht das Stadtmuseum Simeonstift den Dresscodes auf den<br />

Grund, die das Leben bekleiden: vom Taufhemd über Sonntagsstaat,<br />

Hochzeitsmode und Ballkleid bis zum Trauerflor. Damen-,<br />

Herren- und Kinderkleider aus vier Jahrhunderten zeigen den<br />

Wandel formeller und festlicher Mode vom 18. Jahrhundert bis<br />

in die heutige Zeit. Abgelegte Traditionen stehen dabei im Dialog<br />

mit den modischen Normen der Gegenwart.<br />

Basis der Ausstellung bildet die Privatsammlung des Trierer<br />

Modedesigners und Textilrestaurators Ralf Schmitt. Für das<br />

Museum stellte er eine Auswahl von mehr als 100 Kleidern und<br />

Accessoires aus 250 Jahren Modegeschichte zusammen.<br />

Emy Roeder. Das Kosmische allen Seins<br />

Landesmuseum Mainz, Große Bleiche 49-51<br />

Bis 4. August 2019<br />

Die Bildhauerin und Zeichnerin Emy Roeder war eine der profiliertesten<br />

Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach ihrer Rückkehr<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg fand sie ab 1950 in Mainz ihre<br />

neue Heimat. Geboren 1890 in Würzburg, lernte Roeder bei dem<br />

wegweisenden deutschen Bildhauer Bernhard Hoetger und lebte<br />

und arbeitete anschließend viele Jahre in Berlin, wo sie erste<br />

Erfolge feierte. Es folgten Reisen nach Frankreich und Italien. In<br />

Florenz war sie Stipendiatin der »Villa Romana« und verbrachte<br />

dort auch die Zeit des Nationalsozialismus im Exil. Roeders<br />

Werke waren unter anderem auf der ersten »documenta« 1955<br />

zu sehen. Sie gehört zu den wenigen erfolgreichen Bildhauerinnen<br />

ihrer Zeit. Anhand von nur wenigen Themen – in erster Linie<br />

faszinierten sie Menschen und Tiere – entwickelte sie eine ganz<br />

persönliche und charakteristische Bildsprache. Sie schuf überwiegend<br />

kleine Tierskulpturen und umrissbetonte Zeichnungen<br />

von Portraits und weiblichen Akten. Roeders Werke strahlen eine<br />

einzigartige Ruhe und Geschlossenheit aus.<br />

Hergé: une vie, une oeuvre<br />

Manderen, Château Malbrouck<br />

Bis 30. November<br />

Die Ausstellung « Hergé: une vie, une oeuvre » führt ihre Besucher<br />

vom 30. März bis zum 30. November tief in die Welt des<br />

belgischen Künstlers und Vaters von »Tim & Struppi«.<br />

In Zusammenarbeit mit dem Hergé-Museum in der Wallonie<br />

wurden im Château de Malbrouck nahe des Lothringer Ortes<br />

Manderen insgesamt 72 Zeichnungen und Installationen zusammengetragen<br />

– darunter 24 Originale. Eigens für die Ausstellung,<br />

die nach ihrer Finissage in die südkoreanische Hauptstadt Seoul<br />

wandert, wurde die mehr als sechs Meter hohe Mondrakete aus<br />

dem Band »Reiseziel Mond« geschaffen, die zurzeit im Innenhof<br />

des Schlosses als Blickfang dient.<br />

Deutsche Künstler im Exil 1933–1945<br />

Koblenz, Mittelrhein-Museum, Zentralplatz 1<br />

Bis 29. September 2019<br />

Rund eine halbe Million Menschen verließen Deutschland während<br />

der nationalsozialistischen Diktatur. Die Gründe für das Exil<br />

waren vielfältig: religiöse Ausgrenzung, künstlerische Diffamierung<br />

und/oder politische Verfolgung. Unter diesen Exilanten<br />

befanden sich rund 10.000 Kulturschaffende, wie Maler, Musiker<br />

oder Schriftsteller.<br />

Im öffentlichen Bewusstsein sind vor allem einzelne Persönlichkeiten<br />

in Erinnerung geblieben, die schon vor ihrem Exil international<br />

berühmt waren oder danach zu Bekanntheit gelangten, wie<br />

etwa Thomas Mann, Walter Gropius oder Max Beckmann. Sie


altungen +++ publikationen<br />

sind jedoch nicht repräsentativ für die überwältigende Mehrzahl<br />

der aus Deutschland vertriebenen Künstler. Für diese war<br />

der Heimatverlust gleichbedeutend mit dem Verlust der beruflichen<br />

Existenz, dem Verlust ihres Publikums, ihrer Förderer, kurz<br />

ihres gesamten gesellschaftlichen Resonanzbodens. Sie standen<br />

vor dem Nichts und kämpften täglich um die Sicherung ihres<br />

Lebensunterhaltes. Die wenigsten konnten als Künstler beruflich<br />

in ihrem Gastland Fuß fassen und waren gezwungen, sich auf<br />

andere Tätigkeitsfelder zu verlegen. Viele lebten in völliger Isolation.<br />

Während des Zweiten Weltkriegs wurden sie zudem – paradoxerweise<br />

– als feindliche Ausländer interniert. Einige wurden<br />

dort von den deutschen Besatzern eingeholt und ermordet. Nach<br />

Kriegsende und der Rückkehr in die Heimat mussten viele feststellen,<br />

dass sie vergessen waren oder dass sie als Emigranten<br />

sogar auf offene Ablehnung stießen.<br />

Die Präsentation zeigt eine Auswahl aus der umfangreichen<br />

Sammlung »Memoria« des Sammlers Thomas B. Schumann und<br />

stellt 60 dieser Künstler mit ihren Werken vor, darunter George<br />

Grosz, Felix Nussbaum, Ludwig Meidner, Anton Räderscheidt,<br />

Charlotte Berend-Corinth und Lotte Laserstein.<br />

Die Oper als Welt<br />

Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk<br />

Metz, Centre Pompidou, 1 Parvis des Droits de l‘Homme<br />

22. Juni 2019 bis 27. Januar 2020<br />

Die Ausstellung »Die Oper als Welt« kreist um Begegnungen<br />

zwischen bildender Kunst und dem lyrischen Operngenre im 20.<br />

und 21. Jahrhundert. Dabei soll es um mehr gehen als Opern-Bühnenbilder<br />

aus Künstlerhand. Im Fokus steht vielmehr die Frage,<br />

inwiefern sich – in Anlehnung oder auch Widerspruch zum Wagnerschen<br />

Begriff des »Gesamtkunstwerkes« – bildende Kunst<br />

und Oper gegenseitig befruchtet oder sogar beeinflusst haben.<br />

In der Ausstellung sind Modelle, Kostüme und Bühnenelemente<br />

sowie imposante Installationen und neue Kreationen zu sehen.<br />

Der Rundgang, der von Bildern und Klängen begleitet wird, offenbart,<br />

dass die Oper gleichsam Fabrik gemeinsamer Künstlerträume<br />

und Symbol der Freiheit ist. Im Fokus steht eine Auswahl von<br />

Kompositionen, die exemplarisch für die fruchtbaren Beziehungen<br />

zwischen Bühne und Kunst sind. Auch einige Klassiker wie<br />

die Zauberflöte oder Norma finden Eingang in die Ausstellung,<br />

um zu zeigen, wie eine mutige Programmgestaltung Raum für<br />

Überschreitungen und Veränderungen bieten kann und gleichzeitig<br />

den Fortbestand des Genres sichert.<br />

Veranstaltungen<br />

»Das Bild des Sultans: Gentile Bellini malt Mehmed II«<br />

3. Juli 2019, 18.00 Uhr, Saarbrücken, Moderne Galerie, Bismarckstraße<br />

11–15<br />

Referent: Prof. Victor Stoichita, Europa-Gastprofessor an der Universität<br />

des Saarlandes<br />

Neue Publikationen<br />

Lokale Geschichte<br />

Dadder, Rita; Russi, Florian: Saarbrücken. Die besonderen Seiten<br />

der Stadt, (Halle (Saale) 2019), 160 Seiten, ISBN 978-3-96311-040-5.<br />

Herrmann, Hans-Christian; Bauer, Ruth (Hrsg.): Burbacher Gold,<br />

Kohle, Stahl und Eisenbahn. Ein Stück Saarbrücker Stadtgeschichte,<br />

(Marpingen 2019), reich illustriert, 477 Seiten, ISBN 978-<br />

3-941095-61-8.<br />

Klauck, Hans Peter: Jüdisches Leben im Landkreis Merzig-Wadern<br />

von 1650-1940. Reihe: Mitteilungen der »Vereinigung für die Heimatkunde<br />

im Landkreis Saarlouis e.V.«, (Saarlouis 2019), Sonderband<br />

24, 594 Seiten, illustriert, ISBN 978-3933926784.<br />

Philipp, Markus: Lexikon Saarbrücker Straßennamen, (Saarbrücken<br />

2019), 451 Seiten, ISBN 978-3-946036-91-3.<br />

Philipp, Markus: Nur ein kleines Stück Papier …? Die Geschichte<br />

des Saarbrücker Fahrscheins, (Saarbrücken 2019), 32 Seiten, ISBN<br />

978-3946036920.<br />

Sonn, Elke: Ingobertus. Vom Pilger zum Patron, (St. Ingbert 2019),<br />

130 Seiten, ISBN 978-3-95602-189-3.<br />

Saarland allgemein<br />

Busse, Hans-Berthold: Der Architekt Wilhelm Hector: Kirchenbau<br />

um 1900, (Regensburg 2018), 288 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-<br />

7954-3362-8.<br />

Klimmt, Reinhard (Hrsg.): Minirock und Literbombe. Das Saarland<br />

der 1960er Jahre, (Köln 2018), 320 Seiten, reich illustriert, ISBN<br />

978-3-7408-0466-4.<br />

Richner, Werner: Die Geometrie der Transzendenz – Kunstvoll<br />

ausgestattete Deckengewölbe saarländischer Kirchen (Saarbrücken<br />

2018), 280 Seiten, 135 großformatige Fotos, ISBN 978-3-<br />

946036-85-2.<br />

Stinsky, Andreas: Saarland. Entdeckungsreise zu 60 spannenden<br />

Orten der Geschichte, (Mainz 2019), 196 Seiten, ISBN 978-3-<br />

961760-60-2.<br />

Über die Grenze<br />

Lübbers, Bernhard; Wagner, Bettina: Gott, die Welt und Bayern:<br />

100 Kostbarkeiten aus den regionalen Staatlichen Bibliotheken<br />

Bayerns, (München 2018), 263 Seiten, Ausstellungskatalog Bayer.<br />

Staatsbibliothek 92, ISBN 978-3-7319-0647-6.<br />

Mildenberger, Florian: Laienheilwesen und Heilpraktikertum in<br />

Cisleithanien, Posen, Elsass-Lothringen und Luxemburg (ca. 1850-<br />

ca. 2000), Stuttgart 2018, 282 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-515-<br />

12195-8.<br />

Otzen, Barbara: Klosterführer Eifel. Ein Lese- und Bilderbuch<br />

(Rheinbach 2018), 377 Seiten, illustriert, 978-3-87062-303-6.<br />

Peter, Peter: Vive la cuisine. Kulturgeschichte der französischen<br />

Küche, (München 2019), 235 Seiten, illustriert, ISBN 978-3-406-<br />

72624-8.


saargeschichte|n 2.2019<br />

46<br />

saargeschichte|n<br />

bildet<br />

Wussten Sie übrigens, dass die saarländischen<br />

Sozis vor fast 70 Jahren viel erfolgreicher bei der<br />

Europawahl waren als heute? Allerdings zeigte die<br />

Parteivorsitzende damals auch einen wesentlich<br />

engagierteren Auftritt. Wir hoffen im Sinne der<br />

vom Aussterben bedrohten SPD, dass die nächste<br />

Vorsitzende weiß, was künftig zu tun ist.<br />

Anzeige KERNDRUCK


Ach du liebe Zeit …<br />

Die letzten Worte des Heftes führen diesmal zurück in jene goldenen<br />

Zeiten, als der heute an scheinbar unheilbarer Auszehrung<br />

leidende Patient noch kraftstrotzend war wie ein junger Stier. Als<br />

»Europa« noch eine politisch reizvolle Vision darstellte, weltweit<br />

als Synonym für grenzüberschreitende, ja grenzenlose Möglichkeiten<br />

galt, so beständig wuchs wie mittlerweile nur noch Start up-<br />

Unternehmen, mithin geradezu alternativlos im globalen Wettbewerb<br />

schien. Damals, in der goldenen Ära des Eurozentrismus,<br />

begab sich Hans Magnus Enzensberger, Deutschlands Montaigne,<br />

der wie der große Franzose die Größe und den Berg in seinem Namen<br />

trägt, begab sich also unser Meisteressayist auf eine Rundreise<br />

durch sieben europäische Länder. Einige davon, wie Ungarn<br />

und Polen, lagen im Jahr 1986 noch hinter einem freilich bereits<br />

ziemlich rostigen eisernen Vorhang, andere befanden sich schon<br />

seit langem in der vor allem nach eigenem Bekunden extrem freien<br />

westlichen Welt, hatten aber – wie Schweden oder Italien – sehr<br />

unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man als guter Europäer<br />

so zu leben oder zu regieren hat.<br />

»Ach Europa!« nannte HME seine 1987 erschienenen Erkundungen<br />

im europäischen Alltag, wobei jenes »Ach« stets wie eine Mischung<br />

aus melancholischer Erinnerung an voreurokratische Zeiten und<br />

intellektueller Besserwisserei klang. Was die aus gegebenem Anlass<br />

vorgenommene Neulektüre nach 30 Jahren umso lustiger<br />

macht, weil sie zeigt, wie herrlich daneben auch die Diagnostik<br />

eines hochgebildeten Intellektuellen ausfallen kann. So bewunderte<br />

Enzensberger in Norwegen einen Ökofundamentalisten, der<br />

die Modernisierung seines Landes am liebsten mit sowjetischen<br />

Methoden bekämpft hätte. In Polen bestaunte er die katholische<br />

Messe für einen von der Geheimpolizei ermordeten Priester (heute<br />

würde das Hochamt höchstens für den Geheimpolizisten gelesen),<br />

empfahl angesichts der mafiotisch-anarchischen Verhältnisse in<br />

Bella Italia eine »Italienisierung Europas« und prognostizierte<br />

treffsicher das Ende des schwedischen Wohlfahrtsstaates.<br />

Besonders vergnüglich liest sich jene Story, mit der HME das<br />

schwedische Elend dokumentierte. In dieser Geschichte ging es um<br />

außergewöhnlich wilde Jugendliche aus Stockholm, die mit einer<br />

kollektiven Aktion erst Bataillone von Polizisten, dann Heerscharen<br />

von Psychologen und Sozialarbeitern in Bewegung gesetzt<br />

hatten. Was war geschehen? Den jungen Menschen war es Mitte<br />

der 1980er Jahre gelungen, eine gebührenfreie Schaltung zwischen<br />

ihren noch sehr fest installierten Telefonanschlüssen zu realisieren.<br />

Über dieses immobile Netz verabredeten sie sich zu einer spontanen<br />

Versammlung im Stockholmer Stadtpark, die erst durch den<br />

mutigen Einsatz der Polizei als illegale Demonstration enttarnt<br />

und zerschlagen werden konnte. Danach rätselte die schwedische<br />

Erwachsenenwelt monatelang, warum sie die revoltierende<br />

Jugend mit den wohltemperierten Wohlfahrtsinstitutionen des<br />

Staates nicht mehr ordnungsgemäß hatte ansprechen können.<br />

Ach Europa, ach Jugend! Irgendwie kommt einem das doch alles<br />

ziemlich brandaktuell bekannt vor. Wenn es schon vor Jahrzehnten,<br />

als man einen flashmob noch für ein antiquiertes Putzgerät<br />

und das Netz für das Handwerkszeug skandinavischer Fischer<br />

hielt, wenn es also schon in diesen vordigitalen Urzeiten einfach<br />

nicht gelingen wollte, unsere europäische Jugend in den Griff zu<br />

bekommen, wie soll das denn heute mit den digital natives gelingen?<br />

Wie soll man jemals die merkwürdiger Weise immer erst<br />

nach jeder Wahl existierenden Kommunikationsprobleme lösen,<br />

da doch heute wirklich jeder und jede auf die you-Tube drücken<br />

kann, die in Wirklichkeit eine me-tube ist, ein absolut massentaugliches<br />

One-man-or-woman-Fernsehen für alle Arten von juvenilen<br />

Egoshootern? Und wen wundert’s eigentlich noch, dass ausgerechnet<br />

die alte Tante SPD als erste dem Parteiengrab entgegenwankt,<br />

wo sie doch bis zuletzt das jenseits von Fußballstadien exerzierte<br />

gemeinsame Fahnenschwingen und Liedersingen für die höchste<br />

Form politischer Kommunikation hielt?<br />

Wie gut, dass es noch die guten alten Medien gibt, wo jugendlich<br />

gebliebene Ü-60-Kommentator_inn_en uns Alten jetzt mal richtig<br />

den Kopf waschen, in tagesthemen, heutejournal und deutschlandradio<br />

über den Konflik der Generationen aufklären. Uns, der<br />

ersten Generation von Helikoptereltern klarmachen, dass wir unseren<br />

Nachwuchs einfach nie ernst genug genommen haben. Dass<br />

die sozial- und umweltkritischen Töne aus den digitalen Kanälen<br />

der Jugend bei uns nur auf taube Ohren stießen. Dass wir in unserer<br />

erwachsenen Arroganz dem freitäglichen Überlebenskampf<br />

für die Zukunft stets mit Abkanzlung oder Spott begegnet seien.<br />

Ja dass wir diese jungen Menschen gar in einer zukünftig zerstörten<br />

Welt mit allem Schlamassel alleine ließen, während wir uns<br />

seelenruhig ins kontaminierte Erdreich zurückzögen. Kein Wunder<br />

also, dass die Jungwähler den alten Parteihasen nicht mehr grün<br />

seien, dass mit der Umwelt auch gleich ganz Europa den Bach hinunterginge.<br />

Das einzige Land Europas, das am gegenwärtigen Chaos keinerlei<br />

Schuld trägt, ist fraglos das Saarland. Vor allen anderen haben<br />

wir europäische Kernkompetenzen entwickelt, haben das schwarze<br />

Kohle- zum grünen Touristenparadies umstrukturiert, haben<br />

die Welthauptstadt der Informatik aufgebaut. Als ausgewiesenes<br />

Land der Jugend haben wir extrem junge Spitzenpolitiker auf die<br />

große Reise nach Berlin geschickt, haben mit der Anne Gretel aus<br />

Püttlingen und dem Heiko aus Saarlouis zwei Superstars kreiert,<br />

die selbst die grünen Greta aus Göteborg und den Rezo als Youtubistan<br />

alt aussehen lassen. Wenn die deutschen und europäischen<br />

Wähler_innen das nach wie vor nicht kapieren wollen: selbst dran<br />

schuld. Dann holen wir unsere Youngsters einfach zurück und rufen<br />

in parteiübergreifender Ökomene die grüne Jungrepublik Saarlandica<br />

aus. Das einzige Zukunftsproblem, das wir noch zu lösen<br />

haben, sind die Sonderemissionen beim sommerlichen Schwenken.<br />

Aber das kriegen wir auch noch in den Griff.


Burbacher Gold<br />

Kohle, Stahl und Eisenbahn<br />

Ein Stück Saarbrücker Stadtgeschichte<br />

Eine spannende Zeitreise, die Burbachs<br />

Geschichte in bunter Breite und gut recherchiert<br />

präsentiert. Kohle, Stahl und Eisenbahn,<br />

das war das »Gold« der Industrialisierung,<br />

das Burbach einen Wachstumsboom<br />

brachte und auch die Gründung der Großstadt<br />

Saarbrücken 1909 beflügelte.<br />

»Burbacher Gold« erzählt von der Geschichte<br />

der Grube Von der Heydt, der Burbacher Hütte<br />

oder dem Ausbesserungswerk der Bahn.<br />

Ebenso werden die angespannte Völkerbundzeit<br />

und die NS-Diktatur beschrieben<br />

und eine Reihe von Persönlichkeiten, die dem<br />

Nationalsozialismus widerstanden haben.<br />

Das Buch erzählt auch die spannende<br />

Geschichte von Burbacher Sportlern und<br />

Künstlern, die Weltkarriere gemacht haben.<br />

»Burbacher Gold« ist nicht nur ein großartiges<br />

Geschichtsbuch, sondern schärft den<br />

Blick auf die beeindruckenden und schönen<br />

Seiten von Burbach, die oft nicht wahrgenommen<br />

werden.<br />

Burbacher Gold<br />

Kohle, Stahl und Eisenbahn – Ein<br />

Stück Saarbrücker Stadtgeschichte<br />

Format 24 x 30 cm<br />

480 Seiten, zahlreiche Abbildungen<br />

Festeinband, 39,90 EUR<br />

ISBN 978-3-941095-61-8<br />

Brunnenstraße 15<br />

66646 Marpingen-Alsweiler<br />

Telefon (06853) 502380<br />

info@edition-schaumberg.de

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