SCHEER WARE HEINZ-DETLEF SCHEER Eine Birke hat die Nase voll In memoriam Hildegard Knef. F rüher hatte sie Ärger mit Kindern, die mit Stiften auf ihr herumschmierten, und ein ebenso wie sie selbst pubertierender Mensch hatte mit dem Taschenmesser ein Herz in ihre Rinde geschnitten und noch dazu „K + S“ hineingeritzt. Das tat weh, aber das hatte sie ausgehalten. Schlimmer war der Streit zwischen ihrem Besitzer und dessen Nachbarn. Der hatte ihr schon Äste mit einer viel zu stumpfen Säge abgesägt, weil sie „unrechtmäßig“ über sein Grundstück hingen. Einmal kam sogar die Polizei, weil die beiden sich über den Gartenzaun mit Rechtsanwälten und blanker Gewalt bedrohten. Dabei fuchtelten sie wild mit Gartenscheren und Harken herum. Der Nachbar drohte, sie zu fällen und ihre klein gesägten Reste in seinem Garten zu verbrennen. Einmal schlug er ihr Nägel in den Stamm, um sie zu vergiften! Aber da hatte er nicht mit ihrer Zähigkeit gerechnet. Sie stammte aus einer Familie von Straßenbäumen. Heute war mal wieder so ein Tag, wo sie an alles Schlechte dachte, das sie in den letzten zwanzig Jahren erleben musste. ÜBER DEN AUTOR Diplom-Psychologe Heinz-Detlef Scheer arbeitet als Trainer, Coach, Autor und Konzeptentwickler Nachdem sie als kleines Bäumchen angeschafft und ordentlich an diesem an sich schönen Platz gepflanzt worden war. Auch ihr Besitzer war gewalttätig geworden, hatte Rattengift im Garten des Nachbarn verstreut, um dessen Hund zu vergiften. Der Köter hatte immer wieder geradezu demonstrativ durch den Jägerzaun, an dem sie ja direkt stand, an ihren Stamm gepinkelt, und der Nachbar dann schadenfroh gelächelt. Frauchen nahm eigentlich keine Post für Nachbarn an, hatte dann aber doch ein Weihnachtspaket angenommen. Allerdings hatte sie es „aus Versehen“ im Regen stehen lassen, bis es völlig durchnässt war, und dann dem eigentlichen Adressaten überreicht mit den Worten: „Da hätten Sie mal besser aufpassen müssen, das hat ja die ganze Zeit im Regen gestanden!“ Die Birke hatte Erfahrung mit Menschen, denen es an sich gut ging, die sich aber gegenseitig bekämpften. Dies war ein ruhiges gutbürgerliches Wohnviertel. Es herrschte keine Hungersnot, kein Krieg und keine irgendwie gearteten Naturkatastrophen. Was machten die Menschen da bloß? Anstatt zu genießen, was sie hatten, brachten sie sich gegenseitig in Rage und in Gefahr! Sie dachte frustriert an den Tag, als ihr Besitzer „aus Versehen“ mit seinem Auto beim Einparken langsam, aber umso heftiger den Zaum samt Rosen dahinter malträtiert hatte. Bis jetzt hatten sie sogar Corona ganz gut überstanden, aber anstatt sich zu freuen, suchten sie immer neue Themen zum Streiten! Am 1. Februar – es war ein lauer Winterabend – hatte sie die Nase voll. Sie machte sich auf den Weg zu ihren Verwandten an einer Allee in der Umgebung, außerhalb der Stadt. Die Nachbaren stritten sich noch jahrelang darum, wer die Birke gefällt hatte, und verlangten gegenseitig Schadenersatz beziehungsweise Entschädigung für die Verleumdung. Die Birke wurde an einer Feldweggabelung zufrieden mit sich und ihrer Familie sehr alt, und diesmal genoss sie es, als ein junges Pärchen an einem Sommerabend in ihre Rinde ein großes Herz schnitzte. 78 | mind magazin <strong>140</strong>/februar 2021
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