Mind-Mag 140
Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa.
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SCHEER WARE<br />
HEINZ-DETLEF SCHEER<br />
Eine Birke hat die Nase voll<br />
In memoriam Hildegard Knef.<br />
F<br />
rüher hatte sie Ärger mit<br />
Kindern, die mit Stiften auf<br />
ihr herumschmierten, und ein<br />
ebenso wie sie selbst pubertierender<br />
Mensch hatte mit dem<br />
Taschenmesser ein Herz in ihre<br />
Rinde geschnitten und noch<br />
dazu „K + S“ hineingeritzt. Das<br />
tat weh, aber das hatte sie ausgehalten.<br />
Schlimmer war der Streit zwischen<br />
ihrem Besitzer und dessen<br />
Nachbarn. Der hatte ihr<br />
schon Äste mit einer viel zu<br />
stumpfen Säge abgesägt, weil<br />
sie „unrechtmäßig“ über sein<br />
Grundstück hingen.<br />
Einmal kam sogar die Polizei,<br />
weil die beiden sich über den<br />
Gartenzaun mit Rechtsanwälten<br />
und blanker Gewalt bedrohten.<br />
Dabei fuchtelten sie wild<br />
mit Gartenscheren und Harken<br />
herum. Der Nachbar drohte, sie<br />
zu fällen und ihre klein gesägten<br />
Reste in seinem Garten zu<br />
verbrennen.<br />
Einmal schlug er ihr Nägel in<br />
den Stamm, um sie zu vergiften!<br />
Aber da hatte er nicht mit<br />
ihrer Zähigkeit gerechnet. Sie<br />
stammte aus einer Familie von<br />
Straßenbäumen.<br />
Heute war mal wieder so ein<br />
Tag, wo sie an alles Schlechte<br />
dachte, das sie in den letzten<br />
zwanzig Jahren erleben musste.<br />
ÜBER DEN AUTOR<br />
Diplom-Psychologe Heinz-Detlef<br />
Scheer arbeitet als Trainer, Coach,<br />
Autor und Konzeptentwickler<br />
Nachdem sie als kleines Bäumchen<br />
angeschafft und ordentlich<br />
an diesem an sich schönen<br />
Platz gepflanzt worden war.<br />
Auch ihr Besitzer war gewalttätig<br />
geworden, hatte Rattengift<br />
im Garten des Nachbarn<br />
verstreut, um dessen Hund zu<br />
vergiften. Der Köter hatte immer<br />
wieder geradezu demonstrativ<br />
durch den Jägerzaun, an<br />
dem sie ja direkt stand, an ihren<br />
Stamm gepinkelt, und der Nachbar<br />
dann schadenfroh gelächelt.<br />
Frauchen nahm eigentlich keine<br />
Post für Nachbarn an, hatte<br />
dann aber doch ein Weihnachtspaket<br />
angenommen. Allerdings<br />
hatte sie es „aus Versehen“ im<br />
Regen stehen lassen, bis es völlig<br />
durchnässt war, und dann<br />
dem eigentlichen Adressaten<br />
überreicht mit den Worten: „Da<br />
hätten Sie mal besser aufpassen<br />
müssen, das hat ja die ganze Zeit<br />
im Regen gestanden!“<br />
Die Birke hatte Erfahrung mit<br />
Menschen, denen es an sich gut<br />
ging, die sich aber gegenseitig<br />
bekämpften. Dies war ein ruhiges<br />
gutbürgerliches Wohnviertel.<br />
Es herrschte keine Hungersnot,<br />
kein Krieg und keine<br />
irgendwie gearteten Naturkatastrophen.<br />
Was machten die<br />
Menschen da bloß?<br />
Anstatt zu genießen, was sie<br />
hatten, brachten sie sich gegenseitig<br />
in Rage und in Gefahr!<br />
Sie dachte frustriert an den<br />
Tag, als ihr Besitzer „aus Versehen“<br />
mit seinem Auto beim Einparken<br />
langsam, aber umso heftiger<br />
den Zaum samt Rosen dahinter<br />
malträtiert hatte.<br />
Bis jetzt hatten sie sogar Corona<br />
ganz gut überstanden, aber<br />
anstatt sich zu freuen, suchten<br />
sie immer neue Themen zum<br />
Streiten! Am 1. Februar – es war<br />
ein lauer Winterabend – hatte<br />
sie die Nase voll. Sie machte<br />
sich auf den Weg zu ihren Verwandten<br />
an einer Allee in der<br />
Umgebung, außerhalb der Stadt.<br />
Die Nachbaren stritten sich<br />
noch jahrelang darum, wer die<br />
Birke gefällt hatte, und verlangten<br />
gegenseitig Schadenersatz<br />
beziehungsweise Entschädigung<br />
für die Verleumdung.<br />
Die Birke wurde an einer Feldweggabelung<br />
zufrieden mit sich<br />
und ihrer Familie sehr alt, und<br />
diesmal genoss sie es, als ein<br />
junges Pärchen an einem Sommerabend<br />
in ihre Rinde ein großes<br />
Herz schnitzte.<br />
78 | mind magazin <strong>140</strong>/februar 2021