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Blog 2020
Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 15. Januar bis 30. Dezember 2020
Blogtexte 2020 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de
# Seite
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
17, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 15. Januar bis zum 30. Dezember 2020
2
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
15, 2020 - Die Macht der Lüge 3
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2020 - Tarzan lebt
6
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
24, 2020 - Die Antwort ist das Bild
7
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
3, 2020 - Kröger
10
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
8, Aber genützt hat’s ihm nix 13
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar
15
Feb ........................................................................................................................................................................................................................
19, 2020 - Ein Stern ist immer nah
21
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
30, 2020 - Corona?
24
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
26, 2020 - Mehr tun 29
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2020 - In alter Freundschaft
30
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
5, 2020 - Das Spiel
31
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2020 - Ich weiß noch Kunst
33
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher
34
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
14, 2020 - Grüneres Gras
36
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
25, 2020 - Jeder kennt das Rumpsteak
37
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
28, 2020 - Lernen müssen
39
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot
41
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
9, 2020 - Das wirsche Getüm
44
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
14, 2020 - So wie es war
46
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
21, 2020 - Party bei Greta
48
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
26, 2020 - Zuschauen geht immer 50
Jun ........................................................................................................................................................................................................................
28, 2020 - Peng passiert halt mal
52
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum
54
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2020 - Europa reitet den Zeus
56
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
2, 2020 - Nicht weglaufen!
60
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus
62
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
10, 2020 - Nie wieder.
65
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
13, 2020 - Die Gipfel der Freiheit
66
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
24, 2020 - Mein Russland
67
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel
71
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
13, 2020 - Ocean Cancel Culture
73
Sep ........................................................................................................................................................................................................................
25, 2020 - Mehr gute Sachen machen
82
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
1, 2020 - Wie diese Texte entstehen
85
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
27, 2020 - Die Entdeckung der Angst
89
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
4, 2020 - Die Wendlertreppe
95
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
26, 2020 - Jimmy und andere Helden
98
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
12, 2020 - Querdenken
104
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
18, 2020 - Weihnachten ist eine alte Mail
108
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
25, 2020 - Frohe Weihnachten!
109
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich?
111
Dez 30, 2020 - Fassade für Alex
113
Blogtexte 2020 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 2]
Die Macht der Lüge …
Jan 15, 2020
… ist begrenzt. Und das ist auch gut so. „Lügen
haben kurze Beine“, heißt es. Eine Lüge
ist verbale Gewalt. Schon das Weglassen von
Information geht in die Nähe davon. Wer angelogen
wurde, kann das kaum verzeihen.
Während schnell klar wird, dass ein Faustschlag
im Zorn sogar der Wahrheit dienen
kann, ist es schwer, der Lüge etwas Gutes abzugewinnen.
Eine Flucht aus finsterem Verlies
gelingt, weil wir den Wächter belügen?
Dann dürfen wir es. Zwei Kindheitserinnerungen
kommen mir in den Sinn. Die erste zum
Thema die mir einfällt, ist eine Begebenheit
aus der Schule. „Dies ist eine wahre Aussage“,
lautete die richtige Antwort einer Aufgabe
in der Mathearbeit. Wir schrieben nicht etwa
eine Zahl auf, die wir errechnet hatten. Wir
schrieben einen Test, nachdem wir mit den
Grundlagen der Mengenlehre vertraut waren.
Eine Arbeitsgruppe, eine Art Kurs, der
das bisherige starre Modell der Schulklassen
veränderte.
Nicht nur für „Kunst“ trug ich mich in die
Liste ein, „Logik“ hatte ich ebenfalls gewählt.
Und wurde erfolgreich mit in die Gruppe
aufgenommen; es war gar nicht sicher, dass
man bekam, was man gewählt hatte. Wählen
mussten wir: Das war Pflicht. Es waren
die neuen „Wahl-Pflicht-Kurse“, kurz: „WPK“
– nichts machen ging nicht. Wir amüsierten
uns: Wenn es nicht klappte, in den Wunschkurs
zu kommen, waren wir gezwungen, etwas
vollkommen Bescheuertes zu tun. Die
„Freiheit zum Zwang“, so in etwa verspotteten
wir die entsprechenden Lehrer. Sie wollten
uns weismachen, wie gut wir es hätten
– und dann wurde gelost! Insgesamt bestand
die Verbesserung darin, dass wir ein individuelles
Profil des Unterrichts zusammenstellen
durften. Das ist heute ganz normal und war
damals neu. Die Mengenlehre erklärt die Mathematik
anders, als wir es bis dahin kannten.
In der Mathematik spielt die Wahrheit eine
wichtige Rolle! Es gibt falsche Antworten,
das haben wir gelernt. Man kann nicht mit
dem Lehrer diskutieren, was falsch gerechnet
wurde. Nicht für die Schule lernen wir, für
das Leben heißt es? Mich interessiert, wie
aus den Geschichten meiner Jugend, den Büchern,
die ich las und Filmen, die ich sah, den
vielen Ratschlägen, die man mir gab, wurde,
was heute mein Leben ist. Der eigene Film,
die eigene Geschichte. Was war, blieb und ist
– und wurde deswegen wahr?
Eine Forschung beginnt: Die andere Erinnerung,
mit der ich in diesen Text finden möchte,
ist eine Bildfolge in einem Comic. Über Pollischansky
konnten wir Prinz Eisenherz und
Flash Gordon in Österreich bestellen. Bezahlt
wurde mit Briefmarken. Das ist nicht sonderlich
kunstgerecht koloriert. Diese Hefte mit
den wunderbaren Zeichnungen von Hal Foster
oder Alex Raymond; mich hat das geprägt.
Prinz-Eisenherz ist gut strukturiert. Der Prinz,
in die Artussage hineinerfunden, kämpft an
der Seite vom Freund Gawain, findet seine
große Liebe Aleta – eine glaubwürdige Lebensgeschichte
mit Höhen und Tiefen. Der
beim Anfang der künstlerischen Laufbahn
von Alex Raymond beginnende Flash Gordon
ist eine Figur die sich weiter entwickelt, aber
das ist ungewollte Dynamik. Eisenherz reift,
und Foster bleibt seinem Helden treu. Der
Prinz sei charakterlich so, sagt der Autor der
unvergleichlichen Geschichten, wie er selbst
gern wäre.
Flash Gordon beginnt holprig, mit kleinen
unscheinbaren Zeichnungen. Während sich
die zeichnerischen Fähigkeiten Raymonds
schnell verbessern, bleibt der Serie dieser
von Beginn anhaftende Duktus einer Erzählung
die sich täglich selbst weiter erzählt
– ohne Plan, wo alles hinführen wird. Superman
führt auch nicht unbedingt irgendwo
hin, aber die Geschichten folgen einem Muster.
Flash Gordon hingegen führt irgendwo
hin, das spürt der Leser. Es ist wie eine wahre
Geschichte die immer weiter fortschreitet
und nicht: „Katastrophe bahnt sich an, Kent
springt in eine Telefonzelle, zieht sich schnell
um: Der blau-rote Blitz schießt in den Himmel
– Kampf, alles wird gut! Schließlich war
Lex Luthor schuld. Gordon hat wiederkehrende
Themen, aber es scheint eine Story zu sein
– mit Tiefe. Die Geschichte selbst sucht sich
einen Weg. Diese Szene erinnere ich, da sitzt
der Held recht seltsam in einer Einöde auf
Mongo und man ahnt: Genauso ratlos, wie
der verloren wirkende Flash in dieser Wüste,
ist zeitgleich auch der Autor – dann kommt
nicht mehr viel vom Erfinder. Andere haben
die Serie fortgesetzt.
Alte Zeitungscomics, besonders: Flash Gordon
– ich habe das so geliebt. Der Held! Wunderbar
gezeichnet. Nie stereotyp, wie etwa nach
Schablone. Raymond ist ein wahrer Künstler.
Er probierte sich aus und wurde immer besser.
In einer Szene stehen sich Gordon und
(der grausame) Ming vis-à-vis gegenüber. Das
habe ich seinerzeit nicht verstanden, Ming
spottet: „Du kannst nichts machen – weil du
mich nicht schlagen kannst.“ Flash Gordon,
der Ming körperlich überlegen ist, steht seitlich
im Bild. Flash sagt nichts. Seine muskulösen
Arme hängen. Er hat eine Haltung die
deutlich macht: Du hast recht, ich kann nichts
tun; sagt es aber nicht. Er schaut ihn nur an:
den verhassten Widersacher. Ein Ausdruck
wie Charlton Heston, der (als Pilot) gerade
ein Flugzeug landet und weiß, dass es eine
Bruchlandung wird. Er muss es hinnehmen,
wie es eben wird. Aber er ist verantwortlich.
Weil die Geschichte auf dem fernen Planeten
unmittelbar aktionsgeladen weiter geht,
ist es wie ein Film, der kurz zur Ruhe kommt.
Darum erinnere ich mich daran. Die Sequenz
ist am Beginn der Erzählung (die bekanntlich
unausgegoren ist). Eventuell ein zweiter Besuch
der Freunde auf Mongo? Zwischendurch
waren Dale, Zarkov und Gordon zuhause auf
der Erde aktiv, um anschließend erneut in
die Welt von Aura, Barin und den anderen
vorzustoßen. Also bevor Raymond mit der
Detektivserie „Rip Kirby“ weitermachte, neue
Zeichner die interessante Science-Fiction
fortsetzten. Dan Barry fand mit seinen dramatischen
Schatten in den Zeichnungen eine
wunderbare Form. Obwohl inhaltlich anders
und Flash seine unverwechselbaren Züge, so
eine Mischung aus John Wayne und Paul Newman,
verlor. Barry setzte dem Helden fette,
schwarze Augenbrauen und gab ihm auch
sonst eine andere Identität.
Über Wahrheit und Lüge nachzudenken,
wird dazu führen dem Antrieb des Lebens
schlechthin auf der Spur zu sein. Solange
man Filme nur anschaut, Romane liest wie
ein Jugendlicher ohne Erfahrung, kann man
an den freien Willen als unbedingt glauben.
Mit eigenen Situationen konfrontiert, bildet
sich das größere Verständnis grundsätzlicher
Beziehung zur Umgebung heraus. Nun
wird sich zeigen, dass die Energie kraftvoll
vorzugehen, aus dem Bild erwächst, das der
Mensch von allem hat. Eine Annahme, niemand
weiß was wirklich ist. Und auch was
war, kann nicht zuverlässig rekonstruiert werden.
Der aktive Moment in dem wir handeln,
ist die Gegenwart. Hier wird sich unser Zorn
entladen, wenn wir dazu motiviert sind. Einfach
mal so passiert gar nichts. Ohne Motiv
handelt nicht einmal ein Geisteskranker, auch
wenn es schwerer ist, das zu verstehen.
Ich habe in einen alten Zirkusfilm hinein
gezappt, und zwar mit Burt Lancaster. Ich
kannte den Film nicht, der Moment war so
spannend. Ein interessantes Pendant zu der
Szene im Comic, aber hier wird sich gehauen.
Der jüngere Artist hat gerade etwas begriffen
und schlägt dem kräftigeren Lancaster fest
in das ausdrucksstarke Männer- und Schauspielergesicht
(mit dem wunderbaren Gebiss).
Mehrere Male haut der ganz offensichtlich
verarschte Kollege den gestandenen Artisten
fest an. Und dieser, sich gar nicht zur Wehr
setzend, sackt zurückgedrängt in einen Sessel
und erträgt das Übel! Der Zornige brüllt,
schimpft – dann taucht noch das Mädchen
auf, um das es sich dreht – hier wird klar, der
jüngere Akrobat hat gerade einen direkten
Beschiss verstanden.
Als ich damals Flash Gordon las, konnte ich
nicht nachvollziehen, warum der Held, dem
Bösen direkt gegenüber stehend, diesen doch
nicht besiegen konnte. Ming verspottet Flash.
Der Vater von Prinzessin Aura kann böse sein,
töten, versklaven – alles was ein diabolisch
anmutender Herrscher tut, und der Gute – er
kann nichts machen? Flash Gordon fehlt die
Motivation, seinen Widersacher auszuschalten.
Er muss erkennen, dass er mit seinen
kraftvollen Armen nichts ausrichten kann,
gegen die bereits voranschreitende gut geplante
Heimtücke des Gegenspielers. Voller
Kraft und auf der Seite der Wahrheit und bei
den Guten – resigniert er im Begreifen seiner
Machtlosigkeit.
Anders im erwähnten Kinofilm. Auch wenn
man den Film nicht kennt, der Zuschauer
kann sich sofort einfühlen: Hier wird etwas
gerade gerückt. Nichts bindet die Hände
oder die Kraft des Schlagenden, jeder kann
nachvollziehen, dass ein Kampf Mann gegen
Mann mit der entsprechenden Energie auch
anders ausgehen könnte. Der alte Lancaster
ist ein Mann in den besten Jahren, stark und
gereift – und sicher kein schlechter Kämpfer
– wehrt sich aber nicht. Er gewinnt unsere
Sympathie (genauso wie der jüngere Mann in
seinem Zorn), gerade weil er sich einfach umhauen
lässt und deswegen geht das Ganze
auch nicht ewig. Ein kurzer Schlagabtausch,
dann kommen noch Anschuldigungen, und
Lancaster sagt nicht viel. Die Szene: Es geht
um Lüge und Wahrheit. Und ich glaube auch:
Die Macht zu tun oder es gerade nicht zu
können. Das liegt wohl daran, dass eine Lüge
wahrhaftig ist wie ein Gegenstand. Mehr als
ein Wort. Das Gegenteil von einem Tatbestand
und damit gleichermaßen konkret. Lügen
bedeutet, wissentlich aktiv anders darzustellen
– und das steht ja zunächst jedem frei,
als ein Mittel zum Zweck. Deswegen nützt es
nicht, die Welt verbessern zu wollen und das
Lügen an sich zu verdammen. Lügen zu können,
ist eine Fähigkeit. Wir können es nicht
abschaffen, wie wir die Aggression an sich,
als Teil menschlichen Verhaltens, ebenfalls
akzeptieren müssen. Wer lügt, muss sich über
mögliche Konsequenzen klar sein. Da unterscheidet
sich der Profi vom Amateur. Wer
Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 3 [Seite 3 bis 5]
leichthin lügt, nach dem Motto, nun bin ich’s
los das Problem, bekommt „die Haue dafür“ –
irgendwann. Es gibt so viele abstrakte Worte,
jeder kann intellektuelle Begriffe interpretieren.
Aber wer je angelogen wurde und es begriffen
hat, vergisst es nie wieder: Das weiß
man in dem Moment, wo diese Lüge ausgesprochen
wird, oder später im Erinnern, weil
derjenige, so perfekt er oder sie auch dabei
ist, einen wirklichen Fehler macht, und zwar
einen, den der oder diejenige nicht kennt.
Darum ist das ja so faszinierend zu erfahren
(und böse verletzend und kann in der Regel
nie wieder gut gemacht werden).
Eine Geschichte fällt mir ein, das ist einige
Jahre her. Unter dem Titel „So finde ich mein
Bild“ hatte ich das veröffentlicht und kann es
hier recyceln. Das Motiv, etwas zu tun, findet
der Mensch in sich und außerhalb. Wenn wir
Hunger haben (innen) gehen wir dorthin (außen)
wo wir Essen vermuten. Was wir vorzufinden
glauben: „Hinter der Kreuzung sehen
Sie dann ein italienisches Restaurant“, gibt
uns die nötige Energie uns in genau diese
Richtung in Bewegung zu setzen. Eine Aussage,
ist sie wahr? Es entsteht ein Bild im Kopf.
Und so beginnt auch meine Erinnerung damit,
wie eine Szene allein durch das Hören
zu einer Vorstellung, zum inneren Bild wird.
Das führt mich dazu, darüber nachzudenken,
wie ich die Umgebung erlebe. Film und Realität
vermengen sich zum eigenen Motiv. Vor
einigen Jahren hatte Disney den Star-Wars-
Zyklus weitergeführt, der siebte Teil der Saga
war herausgekommen. „Wann gehen diese
Leute mal auf das Klo“, haben wir uns gefragt,
noch voll mit den Bildern der Kampfszenen,
als wir das Kino verließen. Es ist immer Krieg!
Da bleibt keine Zeit für die Toilette oder ein
gemütliches Sitzen mit Freunden? Eine ganz
große Geschichte um die gute und die böse
Seite der Macht, Wahrheit und Lüge und die
Energie, die daraus erwächst.
Vielleicht beginnt meine Geschichte deswegen,
gerade weil das Thema so groß ist, kleiner
und privat, vom stillen Örtchen aus – so
war das vor einigen Jahren: Ich bin unterwegs
in einem Einkaufszentrum, in der Nähe verabredet,
ein bisschen Zeit ist noch bis dahin.
Wo war hier die Toilette? Ach ja, Treppe hoch,
da beim Parkdeck auf dem Dach. Ich erinnere,
dass ich schon mal das WC draußen auf
dem Dachparkplatz suchte. Diesmal auf Anhieb
gefunden. Ein Flurende, zwei mit den
bekannten Symbolen bezeichnete Türen im
nur mäßig ausgeleuchteten Gang, unspektakulär.
Niemand, der hier einen Teller für Geld
hingestellt hat. Ein menschenleerer Ort unter
dem Dach, das Nötigste für das, was Not tut.
Ich gehe durch die Tür mit dem Männchen,
vorbei an Waschbecken in weiß, Pinkelbecken,
weiter in eine Kabine, da ich eine Hose
mit Knöpfen anhabe. Da ist es sonst immer
so ein Gewurschtel. Wie ich so sitze, allein in
meinem Kämmerlein und allein im ganzen
WC (nun dauert es doch länger, wo ich erst
sitze), kommen Stimmen auf. Ein Mann sagt:
„Weil ich nicht bei den Frauen rein kann.“ Eine
Kinderstimme antwortet: „Und ich nicht bei
den Männern.“„Doch“, sagt der Mann kurz, „du
ja.“
Geräusche direkt neben mir, wie die beiden
zum Klo in die Kabine gehen. „Zieh die
Hose runter“, sagt der Mann. „Warum ist Nancy
dahinten?“„Vielleicht, weil sie gewickelt
werden muss. Kommt was?“ „Ja.“ Der Mann
spricht leicht ungehalten mit kurzen, deutlichen
Worten, hart und anweisend, will voran
machen, ist aber praktisch, pragmatisch, nicht
wirklich unfreundlich. Bestimmt ist es der Vater.
Für mich, der ich selbst mich gerade daran
erinnere, wie es war, als mein Sohn klein
war, klingt es o.k. „Bist du fertig?“ fragt der
Erwachsene. „Ja.“ Das Mädchen scheint aufzustehen.
„Daneben“, sagt es leise. „Du hast doch
gesagt, dass du fertig bist“, herrscht der Vater
sie an. „War ich auch.“ „Dann kann es nicht daneben
gehen.“ „Du hast zu schnell gemacht.“
„Stell dich da in die Ecke, fass nichts an!“ Der
Vater spricht scharf und etwas lauter. Kind:
„Wir haben nicht abgezogen.“
Der Vater kommentiert nicht, sie verlassen die
Kabine, scheinbar muss der Mann jetzt selbst
noch pinkeln. Wahrscheinlich steht er nun am
Urinal vor den Kabinen. „Bleib da in der Ecke
und fass nichts an. Fass nichts an.“ Er wiederholt
es. „Ja“, sagt das Kind. „Du sollst nichts
anfassen!“ „Habe ich nicht.“ Es gibt noch die
Geräusche von Schritten, das Rascheln ihrer
Kleidung, während die beiden das WC verlassen,
und noch einmal herrscht der Vater das
Kind an: „Nichts anfassen.“
Jetzt bin ich selbst fertig, ziehe meine Hose
hoch, spüle und verlasse meinen Kasten. In
beiden Urinalen steht kräftig dunkelgelb der
männliche Saft. Dass im Klo nebenan nicht
gespült wurde, weiß ich ja bereits. Wie ich
mir nun vorn die Hände mit Seife wasche,
kann ich aber weiter keine Fehler an der
Sauberkeit des Toilettenraums finden. Der
Papierspender funktioniert, Seife geht auch,
und der Mülleimer ist nur halb gefüllt. Alles
bestens.
Januar 2016, nur wenige Wochen danach. Wir
sehen nun tatsächlich Star-Wars-Sieben. Mit
dem irgendwie nur leicht gealterten Harrison
Ford als Han Solo. Ein Film aus den
Walt-Disney-Studios. Mit 3D-Brille. „Episch“,
mein Sohn hat uns vorbereitet. Er war schon
ein paar Tage vorher dort. Ja, es hat mich berührt.
Sehr sogar. Leia mit ihrer neuen Frisur.
Im Alter einer Oma ist sie, aber ohne Enkel,
dafür mit einem missratenem Sohn. So böse.
Schließlich ist der Film aus, wir lesen noch.
Wenn man jetzt die 3D-Brille abnimmt, kann
man die Namen genau so gut lesen, hat aber
doppelt so viele Sterne im Hintergrund! Zum
Abspann hin wird langsam etwas Licht angedimmt,
viele gehen bereits.
Als alles ganz zu Ende ist, das volle Licht
eingeschaltet wird, verlassen wir mit den
letzten Genießern den Saal in Richtung Ausgang
durch unsere Sitzreihe. Rote, bequeme
Polstersessel. Das größte Kino, die Nummer
eins, leicht gebogene Mega-Leinwand, stark
ansteigende Sitzplätze mit bester Aussicht,
hier kann jeder was erleben. Wir gehen durch
eine Müllhalde aus Popcorn und weißen
Pappbechern überall. Während meine Frau
zügig in Richtung Klo voran macht, steure ich
das Kinomädchen an, das allein leicht verloren
dort still am Rand steht, während alle anderen
durch die Tür in den Vorraum strömen.
Sie sieht so verloren aus.
Dünn, jung, vielleicht noch Schülerin, herab
hängende Arme, ein weißes Hemd oder eine
Bluse, Krawatte, dunkle Hose, irgendetwas an
ihr war rot wie die Sitze – die Haare, die Lippen?
Sie steht einfach da. „Ich war seit zehn
Jahren nicht mehr im Kino“, sage ich: „Titanic –
das war auch hier in Kino eins.“ „Kommt wohl
hin“, meint sie (was die zehn Jahre betrifft).
Wir schauen beide in den Dreck. „Ist das jetzt
immer so?“ frage ich. Sie hat so einen leeren,
sich in eine andere Welt fort träumenden
Blick, als sie sagt: „Die leben hier aus,
was zuhause nicht geht. Wir haben jetzt gar
nicht viel Zeit bis zur nächsten Vorstellung.“
Sie seufzt dabei und schaut mich nun direkt
an. „Einen schönen Tag“, oder etwas Ähnliches
sage ich, denn wir waren ja in der Mittagsvorstellung
am Sonntag.
Ich gehe nun die Treppe hinab zum Vorraum,
lasse den roten Saal über rote Teppichstufen
hinter mir und gehe in die hellweiß leuchtende
Mega-Halle, durch verstreute, teils
dichte Menschenhaufen zur Toilette. Bei den
Männern trete ich ein, da gibt es hier eine
ganze Menge in dem kleinen Raum. Sie waschen
sich die Hände an vor Wasser und Seife
schwimmenden Becken. Man drängt mir entgegen
zur Tür. Volles Haus. Die Handtrocknergebläse
lärmen. Der Boden um die Pinkelbecken
steht unter Wasser. Oder ist es Urin?
Große Pfützen. Eine kräftige Oberflächenspannung
der ekligen Flüssigkeit scheint zu
machen, dass die Lachen räumlich begrenzt
bleiben und nicht den gesamten Fußboden
überschwemmen.
So als wäre es Gelée, steigt der Rand dieser
großen Seen scheinbar einen vollen Zentimeter
an, wie Glibber. Noch will ich gerne pinkeln.
Ich suche eine Kabine die frei ist, da ich
wieder diese Hose mit der Knopfleiste anhabe.
Die Türen der hinteren Kabinen scheinen
auf rot verriegelt. Die rückwärtigen Ärsche
der dichtgedrängten Männer direkt vor den
Türen machen es aber unmöglich, genau zu
prüfen. Doch die erste Tür lässt sich ja gleich
leicht nach innen hin aufdrücken, prima! Ich
schrecke zurück. Wieder so eine Glibberpfütze
am Boden, rund um das Klo, eigentlich in der
gesamten Kabine. Der Klodeckel geöffnet, ich
schaue schon nicht mehr hinein. „Fass nichts
an“, denke ich.
Ich gehe zügig, ohne noch irgend etwas zu
tun, was man hier tut, dränge durch die engen
Mannen wieder raus, kollidiere beinahe
mit der Gattung Mensch. Meine Begleitung
ist hier noch nicht sichtbar. Auch vor den Toiletten
sind sie, die Menschen. Es drängt mich
weiter, es zieht mich magisch zurück zum
leeren Kino eins. Fünf kleine Minuten mögen
wohl vergangen sein. Wieder die kurze rote
Treppe hinauf, durch die Tür in den Saal des
größten Kinos. Tatsächlich, wie wartend ganz
allein, steht sie da noch immer dort am Rand
und schaut – das Kino-Mädchen.
Ich sage ihr das mit dem Klo. „Schon wieder?“
meint sie lakonisch. Es ist ein bekanntes
Problem. Ich kann mich auf einmal gar nicht
zurückhalten. Wie ermuntert, wie eingeladen,
sprudele ich sie mit eigener Geschichte
förmlich an, weil mir Gefühle scheinbar nie
genug Reflexion finden können? Ihr stilles
Gesicht scheint mir eine See unter dunklen
Wolken existentieller Not. Angst und Wut gehen
gleich Regen im Meer mühelos darin auf.
Zwei, drei Sätze nur fallen mir ein, aber das
ist mehr als ich hoffen kann. Wie isoliert unter
maskierten Lemmingen, fühle ich als einziger
von allen nur mit dem eigenen Leib?
Hier ist wieder etwas spürbar. Eine Landmarke,
an der ich weiter in die Zukunft navigiere.
Wo ist vorn? Kurz ein Austausch uns verbindender
Gedanken, beinahe fröhlich, gleite ich
nun ein weiteres Mal die Treppe hinab. Dabei
kommt es mir vor, als springe ich mir selbst
entgegen. Schon in dem Moment auf der
Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 4 [Seite 3 bis 5]
Treppe, stärker noch, wenn ich erinnere, sehe
ich irgendwie gleichzeitig auch anders herum,
von unten hoch. Voyeur im Foyer, schaue
ich hinauf zu der kleinen roten Treppe, während
ich dabei doch auf mich zu komme. Hinter
mir, grad in der oben geöffneten Tür, steht
sie – und schaut doch so fern. Davor fliege
ich mit den dunkelblauen Flügeln meines geöffneten
Kulani die Stufen abwärts, wie auf
mich selbst zu.
Zwischen den Ein- und Ausströmlingen steht
eine 3D-Brillen-Recycel-Tonne. Ich werfe
meine Brille weg. Fantasie ist, was manche
sich gar nicht vorstellen können. Zeit vergeht.
Bei den Mädels ist das Klo fein sauber … Wir
bummeln in die Colonnaden, Jungfernstieg,
Hanse-Viertel, weiter zum Großneumarkt,
haben noch Pläne für den Abend. Andere
erleben es genauso. „Sie sind wie Geister“,
sagt ein Freund; und daran denke ich jetzt:
„Manchmal scheinen sie gar nicht da zu sein.“
Er erzählt: „Introvertiert, wie entrückt – sie
sind wie Geister“, sagt er. Auch Gregor Meyle
kommt mir in den Sinn: „Hüte dich vor dem
Entschluss, zu dem du dich zwingen musst
– sonst kriegst du ’nen kalten Kuss.“ So erinnere
ich mich daran zu lächeln, wie ich es
versprochen habe. Wer reicht wem das Leben
weiter?
Sie steht oben auf der Treppe,
scheint durchsichtig.
Jetzt ist es aus – erst einmal.
„Der Aufstieg Skywalkers“,
das haben wir nun auch gesehen.
Gleiches Kino, gleiches
Rot, gleiches Popcorn,
wenig Müll – kein Mädchen,
sauberes Klo – unauffällig
das Drumherum. Spektakulär
ist der Film. Januar 2020 –
Jahre später! Der letzte Film
von neun, und irgendwie
reicht es nun. Nie war die Illusion
und Bildgewalt besser,
allein dieses Meer, diese Wellen
und der Kampf davor und
so viel andere unglaubliche
Weltenschau. „Wann gehen
die eigentlich mal was essen
oder sitzen rum?“, haben wir
uns gefragt: „Wir müssen los“,
ruft Rey, und dann fliegt wieder
was in Stücke. Insgesamt
bleibt ein ernüchternder
Nachklang, alles schon gesehen
zu haben. Eine wunderbare Szene ist
ganz zum Schluss: Rey schaut in den Sonnenuntergang.
Es sind zwei (!) Sonnen im flimmernden
Licht, eine rot, eine heller – und es
sieht ganz real aus.
In diesem allerletzten (hoffentlich) Star-
Wars-Film wiederholt Rey eine Szene gegenüber
feindlichen Wächtern, die ich für eine
der Besten der ganzen Reihe halte. Natürlich
ist die Macht spektakulär, wenn ein Jedi mit
konzentriertem Gesicht und ausgestrecktem
Arm ein Raumschiff vom Himmel holt oder
Luke seinen x-Flügler aus dem Schlamm
zwingt, nachdem er von Yoda lernte, seine
Gedanken zu sammeln. Ich finde aber eine
andere, scheinbar banale Machtdemonstration
so bemerkenswert.
Das ist in einem der Filme, die für uns ältere
den Beginn darstellten. Luke ist mit Obi-Wan
Kenobi (Alec Guinness) auf seinem Wüstenplanet
Tatooine unterwegs und zwei dieser
weiß gerüsteten Wächter, die wie Roboter
daherkommen, halten die Freunde auf. Eine
Szene, so alltäglich wie Türsteher vor einer
Diskothek. Man kommt da nicht rein. Ganz
einfach gelingt es dem alten Mann, die
Schergen umzustimmen. Seine entspannte
Autorität beherrscht die Situation. Das finstere:
„Ihr könnt hier nicht hindurch“ der Soldaten
verdreht Obi-Wan ihnen noch im Munde
zum: „Ihr dürft passieren“, und wie ein Echo
bestärken sich die zwei uniformen Automaten
gegenseitig wiederholend, was Kenobi
ihnen in den Mund legt. Als wäre es ganz
normal, Anweisungen vorab zu soufflieren:
„Sie dürfen passieren, die Fremden dürfen
passieren“ – sie plappern sich wie im Chor
hinein – in einen Singsang, der das Gegenteil
ihres Auftrages ist.
Eigentlich eine böse Macht, die Manipulation.
Das ist Gehirnwäsche. Die Macht ist hier so
nachvollziehbar real, wir sind nicht mehr auf
dem fiktiven Tatooine – das könnte John Silver
sein, wie er Jim einflüstert, was zu tun sei.
Genauso Wolf Larsen, der Seewolf, er manipuliert
den Schöngeist Humphrey van Weyden
oder: Eine junge Frau macht, was ein reicher
Mann möchte, obwohl sie es eklig findet. Es
gibt zahlreiche Bilder, die mir in den Sinn
kommen, wenn ich überlege, wie dominante
Menschen suggestiv andere umdrehen, das
Gegenteil von dem zu tun, was diese eigentlich
vorhaben. Hier bekommt die Lüge eine
Macht zum Guten, sie wird so überhöht, dass
sie der Ausweis der Freunde wird, damit das
Böse selbst zu passieren. Macht bedeutet
dem Wort nach, Einfluss zu nehmen. Nicht
angenehm für Menschen, die gehorchen
müssen. Und doch lassen wir uns gern darauf
ein: Die Vorstellung von der „guten“ Seite der
Macht.
Das sind Geschichten. Ich bin nun über die
Mitte des Lebens hinaus und denke an mein
Bild „Lüge“ das ich vor einigen Jahren gemalt
habe. Inzwischen habe ich konkrete Erfahrungen
gemacht, kann mitreden, was Lüge
bedeutet und die Enttäuschung deswegen.
Im grundsätzlich Großen des Lebens, wie im
banalen Geschehen. Jede nebensächliche,
kleine Geschichte, wie die folgende, lässt
mich Erinnerungen merken: Ich war heute in
einem Geschäft, und eine Freundin hat mir
von einer Kollegin erzählt, der das Vertrauen
entzogen wurde. Da geht es um Kassenbetrug
im Einzelhandel, passend zur neu eingeführten
Bonpflicht. Ein aufgeflogener Betrug
ist nicht zu diskutieren. Ein Beleg ist ein Beweis.
Ich habe meiner Freundin von der Ladenkasse
mit den vier einzelnen Schubladen
erzählt, die meine Eltern vor vielen Jahren
anschafften, um jeder Verkäuferin in unserem
Laden ein eigenes System zuzuweisen. Sie
hatten das Problem mutmaßlichen Betrug
nicht nachweisen zu können und kauften die
damals moderne und mechanisch trennende
Kasse. Von da an hatte jede Angestellte eigenes
Geld, konnte nicht mit: „Ich war das nicht“
davon kommen.
Ein Film ist ein Film, und das Gute siegt bis
zum Happy End. Warum ist das so? Ein frommer
Wunsch. Kommt das auch wirklich vor?
Eine Dokumentation vor einigen Jahren, im
Fernsehen ausgestrahlt, mit der These der
Kommunismus in der Sowjetunion wäre
durch die Gläubigen der katholischen Kirche
und ihren Papst Johannes Paul besiegt worden,
hat mich aufmerken lassen. Das ist kein
Film, habe ich gedacht, und diese Geschichte
macht Sinn. Lech Walesa, der polnische
Gewerkschafter und der zeitgleich in Rom
predigende Papst, ein Landsmann
von ihnen – das gab den Polen die
Kraft zum Widerstand. Das war der
Anfang vom Ende der Sowjetunion,
dem Unrechtsstaat. Es gibt überall
weltweit Gläubige, sie können mobilisiert
werden! Diese Doku zeigte
anschaulich, wie sich ein neues
Netz gebildet hatte, das mit dem
bösen Bund verwobener Macht und
nachbarschaftlicher Bespitzelung
mit- und gegenhalten konnte.
Es gibt nur wenig Presse über meine
Malerei. Ein schöner einfühlsamer
Text porträtiert meine Dauerausstellung
im Obdachlosencafé
Pino – und mich selbst. Dafür wurde
ich von Alexandra auch fotografiert.
Ich stehe vor dem erwähnten Bild
„Lüge“, und mein Oberkörper verdeckt
die Figuren am unteren Bildrand
so zwanglos und zufällig, als
gäbe es die gar nicht auf dem Gemälde.
„Die gute Nachricht“ nennt
der Christ das Neue Testament. Die
„falsche“ Nachricht ist moderne,
etablierte Realität heute. Ein Mittel
zum Zweck. Wir reden nun elegant englisch:
Ein „Fake“ ist eine Fälschung, eine Lüge. Die
Lüge ist einfach, wenn das Individuelle der
Handschrift, der unverwechselbare Klang einer
vertrauten Stimme fehlt. Wir haben die
Wirklichkeit abgeschafft. Wir reden noch
darüber, mehr nicht. Eine Person ist nur real,
wenn ich sie selbst sehen (und eventuell berühren)
kann? Dieses Foto überhöht, ob nun
beabsichtigt oder zufällig, die Aussage, das
hier vertuscht wurde, gelogen nämlich – und
ist als Fotografie etwa so wunderbar schlicht,
beinahe nebensächlich dahingemalt, wie die
beiden Sonnen am Himmel der Skywalker –
ganz weit weg.
:)
Jan 15, 2020 - Die Macht der Lüge ... 5 [Seite 3 bis 5]
Tarzan lebt
Jan 18, 2020
Die Zukunft kommt. Das lässt sich nicht ändern,
und die Gegenwart ist unangenehmer,
je fremdbestimmter das Leben mutmaßlich
sein wird. Die Vergangenheit belastet den, der
gegen sich selbst gehandelt hat und deswegen
annehmen darf, gewohnheitsmäßig auf
diese Weise fortzufahren. Aktiv Kompromisse
einzugehen und Fremdbestimmung eigenverantwortlich
herbeigeführt zu haben, ist
bedrückender, als kompromisslos handelnd
in diese Lage zu gelangen. Als Bestrafter
Freiheit einzubüßen oder Ziele aufgeben zu
müssen, dafür die Umgebung zu beschuldigen,
scheint erträglicher.
Wenn ein lohnendes Ziel nur gemeinsam mit
anderen in einer Beziehung erreicht werden
kann, gehe ich gern einen Kompromiss ein,
solange meine Existenz oder meine Person
davon abgegrenzt bleiben. Was direkt weh
tut oder nur Luxus ist, auf den ich verzichten
kann, unterscheidet mich vom allgemeinen
Wertgefüge. In dem Moment, wo mir diese
Abgrenzung aus individuellen Befindlichkeiten
gefährdet scheint, werde ich keine Zugeständnisse
mehr machen und das gemeinsame
Ziel aufgeben. Es kommt zum Bruch der
Beziehung.
Das ist für den Partner überraschend, wenn
seine Menschenkenntnis auf die eigene Sicht
beschränkt ist, sein Verständnis der Regeln
missachtet und schließlich ausgehebelt wird.
Auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel, gibt
jede Partei Standpunkte auf. Wie wichtig diese
empfunden werden, also wie groß jeweils
geopfert wird, kann dem Partner verborgen
bleiben. Das Bild vom Fass welches durch
einen letzten Tropfen überläuft, beinhaltet
auch das Unwissen darüber, von wem dieses
Zuviel kommt und ob derjenige selbst sich
um die bessere Zukunft bringt, weil die eigene
Bewusstheit des Handelns gering ist.
Wenn wir genau spüren, wie weit wir bereits
unser Selbst eingebracht haben, also
Türen der Persönlichkeit eigenhändig öffneten,
können wir bewusst eine nur für uns
als letzte offen stehend definierte Pforte der
inneren Burg unseres Individuums zuschlagen
und aus einem Projekt aussteigen. Wenn
ein Partner es gewohnt ist, durch sukzessive
nachgeschobene Forderungen das Beste für
die eigene Partei zu erreichen, funktioniert
das nur, wenn die jeweiligen Gegenüber aus
dem selben Milieu kommen und sich die
Muster der Verhandlung deswegen wiederholen
oder der Fordernde grundsätzlich manipulativ
erfolgreich ist.
Das gemeinsame Ziel kann unterschiedlich
interpretiert sein. Obwohl einem Partner Geschwindigkeit
oder Geld das Wichtigste am
Projekt sind, bedeutet das dem anderen unter
Umständen nichts, wenn dasselbe Ziel auch
Werte enthält, die dem erstgenannten außerhalb
vom eigenen Verständnis bleiben. In
dessem wirtschaftlich ökonomisch geprägten
Leben, spielen die emotionalen Befindlichkeiten
des anderen bislang keine Rolle, können
aber unerwartet Dynamik in das Ganze
bringen. Der am Geschäft orientierte Partner
steht vor einer Herausforderung, wenn dem
anderen persönliche Motive wichtig sind, die
er nicht nachvollziehen kann.
Eine Beziehung unter solchen Voraussetzungen
kann nur befristet funktionieren, weil
die gegenseitige Wertschätzung unmöglich
ist, wenn der Wert des Gegenübers für den
anderen Partner ausserhalb des Begreifens
liegt. Die Befristung muss unbedingt zuverlässig
konstante Bedingungen garantieren,
als unverhandelbares Element dieser Partnerschaft.
Wenn ein Vogel einen Fisch durch die Luft
trägt, muss der Fisch sicher sein, im fremden
Element weder gefressen zu werden, noch
auf einen Acker fallen gelassen oder ab vom
Ziel verschleppt. Sich in die Werte anderer
einzufühlen, ist also die Grundbedingung, die
oft und gern beschworene Wertschätzung, als
Basis gelungener Beziehungen anwenden zu
können. Der Denkfehler einer zunehmend
detailliert geregelten Gesellschaft besteht
darin, dass individuelle Befindlichkeiten von
allgemeinen Leitsätzen nicht erfasst werden.
„Tarzan“ scheitert als einzelner an der uniformen
Zivilisation. Dasselbe Motiv verwendet
„Schöne Neue Welt“ von Huxley. Diese Romane
wurden auch aus dem Grund geschrieben,
dass jeder sich bei missverständlichen
Werten fremd fühlt. Also
muss Tarzan oder der Wilde
im Huxley-Roman gar
nicht wild im Sinne eines
primitiven Waldschrat
verstanden werden. Der
Leser fühlt sich durch die
Motivierung des Autors
automatisch auf der Gegenseite
zur Zivilisation
– obschon ein Buch zu
lesen Kultur bedeutet.
Als ich „Zeitgeister“ gemalt
habe, wollte ich so etwas
beschreiben, habe kaum
verstanden, dass ich laienhaft
kopierte. Den Nerv
der Gesellschaft habe ich
nicht getroffen. Schließlich
war dieser Eigenversuch die Eingangstür
besseren Begreifens. Das ist vielleicht der
Grund, warum zu Malen, selbst in der Kopie
eines Meisterwerks oder unbewusstem Nacherleben
dessen was andere vor uns spürten,
erfüllend ist. So wie es heißt, Schreiben sei
das Sichtbar machen von Gedanken und bedeutet,
sich nun „selbst“ lesen zu können, gilt
das für Kunst insgesamt. Malerei schafft ein
eigenes Wertgefüge und isoliert damit. Das
ist sogar sehr gut, warum?
Ohne Beziehungen ist die Gesellschaft nicht
denkbar. Dickfellig oder dünnhäutig, was ist
besser? Im übertragenen Sinn: Beziehungen
unter Blechdosen funktionieren nur, wenn
die Inhalte identisch sind. Andernfalls müssen
Unterschiede erkennbar sein. Dann funktionieren
die unvermeidbaren Abhängigkeiten.
Die Alternative wäre, Individualität durch
uniform-inneres Empfinden auszuschalten.
Wenn alle gleichermaßen „Coca Cola sind“,
können wir uns eine Haut aus Metall anfertigen
und gehören in ein- und dieselbe Kiste.
Das ist bislang nicht gelungen. Besser sind
Beziehungen zwischen Personen, die sich flexibel
abgrenzen.
Das digitale Kommunizieren ist intellektuelles
Blech. Aus vielfältiger Handschrift wurde
eine Typo, die verbirgt, wer tippte. Wir bieten
dem Sexualstraftäter die Methode, als Kind
aufzutreten – und halten per Lockvogelprinzip
mit gleicher Waffe dagegen. Die Polizei
wartet nicht: „Hinschauen!“ Sie fährt auf breiter
Front mit großem Treibnetz, greift selbst
als Zuerst-Täter kollektiv an. Wir haben ein
Schlachtfeld geschaffen, weil unser Wort aus
der Hand abgefeuert wird. Statt flüchtiger
Mimik, dem vergänglichen Klang der Stimme,
nutzen wir genau so oft das fixierte Medium.
Kommunikation, wie die gesellschaftliche
Rückkehr in die Zeit der Ritter, blind durch
Schlitze blinzelnd. Die Gesellschaft bewegt
sich kollektiv absichernd dorthin. Die im
Straßenverkehr beklagte Aggressivität, ist
der geschlossenen Karosserie geschuldet.
Das wird auch anderswo zunehmen, wenn
der einzelne, aufgefordert sich zu rüsten, es
nicht schafft. Konstruierte Sicherungen machen
authentische Kommunikation schließlich
unmöglich.
Isolation wird mit dem Wort Abkapselung
psychologisch negativ bewertet. Das ist ein
Denkfehler. In einer mehr sozialisierten Welt
ist es dem gesunden Menschen umso wesentlicher,
genau das hinzubekommen. Eine
individuelle Form eigenen Empfindens, von
einer imaginären Kapsel gegen die Werte
anderer zuverlässig umschlossen, um gerade
deswegen Unterschiede zu merken.
Sonst wird das Individuum
nur mitgerissen. Die Membran um
unser Selbst muss durchsichtig
sein. Statt die vermeintlich primitiven
Formate zu beklagen in denen
mäßig bekannte Prominente die
Hosen runter lassen, sollten wir
begreifen warum diese Serien erfolgreich
sind.
Eigene Werte zu kennen, bedeutet
nicht, diese für sich zu behalten.
Eine untypische Meinung zu vertreten,
wird Widerspruch auslösen
der nicht durch die verriegelte
Haustür oder eine dunkle Sonnenbrille
abgewiesen werden kann.
Mit einer imaginären Tüte über
dem Kopf, vergleichbar mit dem
Kind das annimmt unsichtbar zu sein wenn
es die Hände vor die Augen hält, soll das Sicherheitsgefühl
erhöht werden: real umgesetzt
etwa mit einer gelben Plane auf dem
Fahrradhelm.
Der technische Dschungel ist breit aufgestellt:
Uniforme, durch automatische Zentralverriegelung
gesicherte Blechpanzer, werden
vom Navi gelenkt. Im Abgas-Norm-Verkehr
auf verstopften Straßen, findet der komplett
schwarz gekleidete Fahrrad-Rüpel – rasend
unterwegs, im schumrigen Licht bei Nieselregen
(der trotz roter Ampel diagonal die Kreuzung
beansprucht) – noch seinen Platz. Er beweist
frech, wie relativ Sicherheit ist. Durch
Gruppierung möchte der einzelne sicher sein,
gewinnen – und verliert (sich). Der individuelle
Mensch kann bei allen Versuchen, seine
Daten und Persönlichkeitsrechte zu schützen,
niemals erfolgreich sein. Wie soll das gehen:
Ein Tarzan mitten in der Stadt, aber niemand
schaut hin?
:)
Jan 18, 2020 - Tarzan lebt 6 [Seite 6 bis 6]
Die Antwort ist das Bild
Jan 24, 2020
Wikipedia: Der Roman „Per Anhalter durch
die Galaxis“ avancierte innerhalb kurzer
Zeit zu einem Klassiker der Science-Fiction-
Literatur. Ich habe das gelesen. Das sind ja
mehrere Bücher. Die habe ich auch mehrmals
gelesen. Färbt was ab? Heute lese ich
wenig, fast nichts – außer der Zeitung zum
Frühstück. Mein über neunzigjähriger Freund
Hans-Jürgen irritierte mich vor fast dreißig
Jahren, an Bord seiner Yacht Capella, als wir
einige Monate in der Karibik herumgondelten,
er sagte: „Ich lese nie ein Buch, mein
Leben selbst ist ein Roman, das genügt.“ Ich
verstehe das jetzt. Es befriedigt, sich Fragen
zu stellen, selbst nach Antworten zu suchen.
Wikipedia weiter: Im Roman wird ein Computer
(…) gebaut, die Antwort auf die Frage aller
Fragen, nämlich die „nach dem Leben, dem
Universum und dem ganzen Rest“ zu errechnen.
(…) und verkündet dann, sie laute „Zweiundvierzig“
und sei mit absoluter Sicherheit
korrekt. (…) „I think the problem, to be quite
honest with you, is that you’ve never actually
known what the question is.“ Zitat Ende.
Wir suchen, ohne zu wissen wer wir sind. Wir
kennen die Frage nicht, die uns motiviert, auf
den Weg zu gehen. Der Frage nach dem Sinn
von allem und dem ganzen Rest nachzugehen,
wird dazu führen den persönlichen Herzenswunsch
herauszufinden und die Bereitschaft
dafür zu entwickeln, auf seine Erfüllung zu
verzichten. Verantwortung zu übernehmen,
ist die Grundlage von Bewusstheit. Ein gesundes
Selbst und entschiedene Motivation
bedeutet (anstelle starken Willens), innerhalb
von allem und dem ganzen Rest, einen individuellen
Platz auszufüllen.
Wie lautet die Antwort auf die Frage: „Woran
liegt es, dass ein Mensch die Umgebung
für etwas verantwortlich macht, das er selbst
verschuldet hat?“
Sollte ich hier schreiben: 23 – das wäre
nicht falsch, aber wer versteht mich dann?
Auf manche Fragen gibt es nur individuelle
Antworten. Nicht nur einmal für immer beantwortet,
nicht für alle anderen gleichermaßen
gültig. Insofern ist diese Frage ein
Instrument. Bereit zur täglichen Anwendung
in verschiedenen Lebenslagen. Verschiedene
Aspekte eines aktuellen Problems können
wie an einer Schablone abgeglichen werden.
Frühere Fehler werden
sichtbar, weil jedesmal, wenn
ich mich ärgere klar ist, dass
ich gerade versuche, es „allen“
recht zu machen. Pauschale
Schuldzuweisungen sind eine
Verwechslung innerer Mutmaßungen
mit dem was wirklich
passiert. Meine persönliche
Formel: Ich kann mir dabei zusehen,
wie ich mich momentan
verwende und korrigieren.
Für mich ist das mein Selbstbild,
meine innere Vorstellung,
die Nähe oder Ferne zum Ideal.
Das ist bei weitem nicht, was gleich einer
moralischen Instanz für einen zivilisierten
Menschen Gültigkeit hat oder haben sollte.
Mein Ideal ist, was ich gelten lasse, mehr
nicht. Ich bin unkorrekt wie jedermann und
bilde mir kaum noch was ein, auf das, was ich
sei. Das hoffe ich zumindest! Künstler? Ausgebildet
statt eingebildet. Ich möchte Bilder
machen, und dafür ist es von Vorteil, wenig
von sich zu halten – in Bezug darauf, richtig
zu liegen. Für mich muss es sich richtig anfühlen.
Das ist etwas ganz anderes.
Mir war diese Frage gar nicht klar, als ich
sie stellte. Sie kommt mir heute wie eine
Antwort auf eine längere Suche vor. Wie
kann das sein? Ich werde probieren, es zu
beschreiben. Am besten fange ich bei dem
Bild „Begegnung“ an, das ist ja auch auf der
Webseite. Es ist das mit dem schwarzen Trauerrand
und der Eisenbahn, vorn das Mädchen.
Makaber ist es? Es entstand zu der Zeit, als
ich aufhörte, kompatibel für das Dorf-Café zu
malen. Das Bild „Fenster“ wurde auch gemalt,
und mehr und mehr begann ich auszuloten,
was ich mit Farbe und Leinwand tun kann.
Ich fand einen Weg, persönliche Motive zu
kreieren. Ich wusste nun wie das geht.
„Begegnung“ – damals gab es noch die
„Schleswig-Holstein-am-Sonntag“, eine Zeitung,
die inzwischen nicht mehr rentabel produziert
werden kann, schade! Dort wurde ein
Lokführer porträtiert, verschiedene Aspekte
des Berufs beleuchtet, so genau erinnere ich
mich nicht. Das beherrschende Thema für
mich war: „Suizid am Gleis“, dafür war der
Lokomotivführer qualifiziert zu antworten,
er hatte in seinem langen Berufsleben sechs
Personen überfahren (und getötet). Immer
noch stellte er sich die für ihn wichtigste
Frage: Was kann ich, was kann der Lokführer
dafür? Warum bestimmt jemand, todunglücklich,
mich zum Henker? Warum muss „ich“ das
tun? Ich weiß doch nichts vom Leben dieser
Leute, habe keine Schuld an ihrer Misere.
Damals, als ich das gelesen habe, war mein
Sohn noch Kind, und typische Bücher lagen
bei uns rum. Sie illustrierten auf bekannte
Weise bunt die Berufe Polizist, Bäcker, Lokführer
– heiter und rein. Ich muss an den
Maler Edward Hopper denken, er wird zitiert:
„Ich illustrierte für Prospekte mit Neubauten.
Für Architektur habe ich mich schon immer
interessiert. Aber die Leute wollten winkende
Menschen und Familien mit einem neuen
Auto im Vordergrund.“ Das ist Werbung, und
Hopper war nicht länger dafür geeignet. Er
hat dann malend ja gezeigt, was er meint. Wie
findet jemand seinen Stil, was ihn schließlich
ausmacht? Darauf gibt es nur die individuelle
Antwort.
Insofern muss man das Bücherlesen aufgeben,
selbst loslegen etwas tun! Verträumt in
einen Roman eintauchen? Ich kann das nicht
mehr. Ich gehe nicht ins Kino. Ich ertrage es
nicht, wenn Fernsehfilme billig produziert
sind und die Charaktere nicht überzeugen.
Ich ertrage genauso keine guten Filme. Gerade
weil sie gut sind und ich die Geschichten
glaube, das ist noch viel schlimmer. Ich kann
keine Liebesgeschichte aushalten, es reißt
mich weg. Jedesmal. Nie wieder Kino! (Ich
lese Kritik, wenn ein neuer Film in der Zeitung
bewertet wird, bin informiert). Ich liebe
das Kino. Aber ich gehe nicht mehr hin.
Ich war politisch interessiert. Ich schaue
noch immer drei Nachrichtensendungen am
Tag, verfolge jede politische Debatte, aber ich
gehe nicht mehr zur Wahl. Ich verabscheue
die guten, sozialen oder grünen, christlichen
das Gute proklamierenden Parteien, weil
sie nicht umsetzen was sie versprechen? Ja,
auch. Ich bin menschlich gekränkt hier im
Ort. Nicht wegen der Politik, nein es ist ganz
persönlich; das Amt nur Nebensache (Männer
und Frauen) und übertrage meinen Frust auf
die Staatenlenker, die ich selbst nicht kenne.
Ich trage die Demokratie lustvoll mit zu
Grabe. Man kann hören, wie ich die extremen
Idioten links- oder rechtsextrem gutheiße,
als wenigstens ehrlich. Ich schäme mich kein
Stück. Die kann ich deswegen genauso nicht
wählen. Ich muss mich enthalten! Natürlich,
ich kann sehr freundlich und sozial sein. Bin
das jederzeit, aber nicht im Verein. Nicht in
einer Partei. Ich habe jedes Vertrauen verloren,
aber nicht das in meine eigene Kraft. Das
tue ich alles nur für mich. Es befriedigt mich,
Geld zu spenden, zu helfen. Es macht mich
froh. Ich tue das ganz allein dafür, damit ich
selbst mich gut fühle. Meine Motivation ist
durch und durch narzisstisch, egoistisch und
was es sonst noch für böse Wörter dieser Art
gibt welche die anderen, die „Gutmenschen“
(das sollen wir auch nicht sagen) wie eine
Waffe und ein Schild gleichermaßen vor sich
her tragen.
Was mag es sein, dass „eine“ den Lokführer
wählt, ihr den Kopf vom Rumpf zu säbeln?
„Ich erinnere mich genau an das erste Mal“,
schreibt der Eisenbahner in der Sonntagszeitung
dem achtlos blätternden Leser zum
Frühstücksbrötchen (mit in Scheiben geschnittenem,
goldig blond gedottert darauf
gelegtem Ei) leicht lesbar hin.
„Später habe ich immer weggeschaut. Ein
blondes Mädchen mit langem Haar. Lächelnd
legt sie ihren Kopf auf das Gleis. In dem Moment,
wo jede Bremsung zu spät ist.“
Der Eisenbahner fühlt sich verantwortlich,
weil sein Berufsbild ins Absurde geführt
wird, fragt nach dem direkten Bezug, kann
ihn nicht erkennen. Wenn ein Selbstmordattentäter
einen öffentlichen Platz mit für ihn
irgendwelchen Leuten sprengt – die Ange-
Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 7 [Seite 7 bis 9]
hörigen fragen sich genauso: warum unsere
Familie? Eine starke Motivation ist unumgänglich
für jeden Gewaltakt. Wie ist das
möglich? Ich habe gelesen, dass ein Soldat
oder Polizist erst lernen muss, auf einen anderen
Menschen zu schießen, weil es gerade
nicht leicht ist.
Pastor Paul fragt: „Wie müssen wir uns eine
gottlose Gesellschaft vorstellen? Wie ist eine
Welt, in der kein Gott ist? Ist das so, wie bei
dem IS in Syrien?“ (Der Pastor nimmt an, dass
die Bundesrepublik Deutschland nicht gottlos
ist. Sein Gott ist zivilisiert, die Gebote und so).
Ein Gott hat die Welt gemacht, gut und böse.
Weil er es so wollte? Weil es ihm nicht besser
gelungen ist? Weil das Leben selbst ein Fehler
ist und das Ganze ein Missgeschick? Und
wenn da kein Gott ist, warum gibt es Gewalt,
Tod, Krieg – warum? Es gibt Augenblicke, da
schreist du nur noch: Warum?
Ein Mann begeht einen Suizidversuch, scheitert,
liegt verletzt im Krankenhaus. Es stellt
sich heraus, er ist abgewiesener Asylbewerber,
steht vor der Abschiebung. Anschließend
seiner Gesundung im Notfallbereich der Klinik,
verlegt man ihn in eine psychiatrische
Einrichtung. Wann wird die Behandlung dort
zu Ende sein? Was wird danach geschehen?
Es ist anzunehmen, dass er schließlich in sein
Heimatland zurückkehren muss. Ein kausaler
Zusammenhang von emotionaler Not des
Fremden, aufgrund der bevorstehenden Abschiebung
und dem Versuch, deswegen seinem
Leben ein Ende zu bereiten, drängt sich
auf. Leicht malen wir uns den ganzen Horror
aus, fühlen mit: Was soll die Psychiatrie
schon bringen? Am Ende gehts doch in den
Flieger nach Hause.
Nach Hause? Auch hier in unserem gut zivilisierten
Heimatland gibt es Verzweifelte,
denen ihr inneres Zuhause so zerbombt ist,
dass sie nur noch weg möchten: Ganz weit
weg, dorthin, wo sie selbst nicht mehr sind.
Da fehlt jedes Vertrauen. Es gibt gute Gründe,
anderen zu misstrauen. Aber selbst in Krisenregionen
leben Menschen, die sind nicht
krank. In sofern ist es nachdenkenswert, ob
im Bereich des Islamischen Staat unser Gott
keinen Zutritt hat oder unser kreatives Denken
für die Breite der möglichen Form funktionierender
Gruppen zu schmal gebaut ist.
Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen können
wir nicht existieren. Vertrauen bedeutet eine
Hierarchie. Erst ich, dann die um mich herum
und schließlich das Vertrauen in den Fortbestand
der Welt. Luther, der Apfelbaum.
Wir können annehmen, dass jede psychische
Krankheit, wie auch immer wir sie benennen,
eine soziale Störung ist. Wir fürchten uns,
sind in Folge vernünftigerweise aggressiv,
aber wir kämpfen nicht gegen schlechtes
Wetter (in einer Überschwemmung helfen
die Nachbarn einander). Wir fürchten die anderen
Menschen. Und im Begreifen, dass wir
selbst genauso ein Mensch sind, hakt es bei
uns aus. Wir nehmen an, von Feinden umzingelt
zu sein, auch wenn es objektiv so nicht
ist. Das kann jeden treffen, überall, und dann
sind das nicht nur Worte. Wir diskutieren
nicht, dass Menschen verfolgt werden, das ist
ein Fakt – aber nur ein Aspekt. Wer überhaupt
niemanden gegen sich hat? Es sollte uns die
gleiche Sorge bereiten, wie ein von Feinden
in die Enge getriebener Mensch. Mobbing,
politisch verfolgt; hier wird weniger erörtert,
wie groß die reale Bedrohung ist, sondern in
wie weit wir unser Übel selbst fantasievoll
erschaffen. Als Künstler fühle ich mich durchaus
berufen, dazu Stellung zu beziehen. (Ich
habe Fantasie).
Ein Trauma ist eine wiederholte Kränkung,
die seit der Kindheit ihre eigene Logik entwickelt.
Die Ursache psychischer Instabilität.
Wir müssen in der Abhängigkeit einen verlässlichen
Rahmen bekommen, dass wir ihn
als Erwachsene sehen können, wenn die Eltern
uns nicht mehr an die Hand nehmen und
dieser Rahmen nach Tag und Ort ein neues
Gesicht trägt: das Gesicht der Fremden. Niemand
geht vorbei, der nicht irgendwie schaut,
als wären da Gedanken, die ihn gerade antreiben.
Leicht ist es anderen zu trauen, Empathie
zu empfinden, wenn sie Fremde sind.
Enttäuschend sind die, denen wir vertrauten
und von denen wir uns im Stich gelassen
fühlen. Insofern können wir nur bei uns
selbst anfangen. Wer fiel noch nicht herein,
was erwartest du denn? Das Selbstvertrauen
kann nur dort beginnen, wo unsre Hand
sich rührt, unser Fuß einen Schritt setzt und
unser Gehirn eine Richtung kreiert, in die es
gehen soll. Wie ich’s mache, darüber kann ich
verfügen. Warum ich lebe? Denken Sie sich
eine Zahl.
Nun bist du Opfer, und du schreist: warum?
Oder Mörder und fragst dich auch: Ich habe
es getan, warum? Ich möchte mich der Antwort
annähern. Meine Frage ist die nach Verantwortung
und Verwechslung der Schuld.
„Sie hätten“, sagt die Richterin und zeigt auf,
wo der Beschuldigte hätte innehalten können.
Es nicht tun. Noch einmal zur Besinnung
kommen. Ein Raunen im Saal. Der Angeklagte
verbirgt sein Gesicht, schweigt.
Was weißt du schon, mag er denken.
Mein Vater ging, als er alt war, auch nicht
mehr wählen. „Du kennst die Merkel doch gar
nicht“, habe ich gesagt, „was hat sie dir getan?“
Er machte die Politik dafür verantwortlich,
dass die Dinge, die ihm früher gefallen
hatten nicht ihm zuliebe geblieben waren.
Das war so pauschal, dass man es nicht ernst
nehmen konnte. Was geht in uns vor, wenn
wir pauschal werden? Da ist doch eigentlich
ein Unterschied: Es fängt an zu regnen, unabänderlich
hinzunehmen – oder der Nachbar
baut über die Grenze, dagegen können wir
etwas tun. Ich spanne einen Regenschirm auf,
bleibe trocken. Es regnet weiter, trotzdem.
Der Nachbar bricht eine Regel, und ich ändere
den Nachbarn per Anwaltschreiben, das geht.
Der Unterschied: Einen anderen Menschen
kann ich zwingen, bezwingen. Die Natur kann
ich mir vom Leibe halten, das ist aber etwas
anderes. Gegen den Nachbarn hilft, wir haben
Gesetze gemacht. Ein angebrülltes Gewitter?
Hau ab, du Scheiß Regen! Was ist in
meiner Verantwortung? Jedes Kind lernt, bis
es erwachsen ist. So wird dem Erwachsenen
Schuldfähigkeit bescheinigt, wenn er bei Verstand
war, als er schlug, raubte, tötete. Wenn
diese Logik umgekehrt als Theorie angewendet
würde, könnten wir postulieren:
Wer die Umgebung für seine Tat beschuldigt
ist krank.
Wenn es einfach ist, eine Formel wie die bekannte
von Albert Einstein, so eine Art gültige
Antwort, wie die im Anhalter oder „dreiundzwanzig“
(in meinem Fall), dann bleibt
das Problem, die Theorie anzuwenden. Wenn
der Gesunde (als Erkennungszeichen seiner
Gesundheit) Verantwortung übernimmt für
jeden Schritt, jeden Tritt und Schlag, jede
Bewegung, der Kranke hingegen anderen die
Schuld gibt für seine Aktionen, können wir
Krankheit klar erkennen und von Gesundheit
unterscheiden wie schwarz von weiß.
„Ich suche mich!“, hat Hopper (schon beinahe
zornig) gesagt, wiederholt zum Bild „Leeres
Zimmer“ gefragt, was er damit wohl bezweckt
habe? Kurz mal weit weg.
Aus dem Zimmer gehen?
Wenn es einfach wäre mit
der Verantwortung, niemand
würde fluchen, wenn ein
Brötchen auf die Butterseite
fällt. Hopper wollte dem
allgegenwärtigen Zweck
seine Perfektion entgegensetzen.
Das ist durch viele
Textstellen belegt. Perfektion
wird von Psychologen
oft negativ bewertet, aber
nicht nur Sportler, eben
auch viele Künstler sind geradezu
besessen davon. Im
zweckgebundenen Arbeiten
mit Kollegen in einer Firma
kann es schwierig werden,
im Fußball bist du Teil eines
Teams – das ist aber immerhin ein Spiel.
Musiker spielen: „Heute abend arbeitet Herr
Soundso auf dem Saxophon für Sie, meine
Damen und Herren, viel Spaß?!“
Sonnenlicht in einem Zimmer, auf dem oberen
Geschoss eines Hauses? Das hinzubekommen,
war ein Ideal von Edward Hopper.
Er schuf eine amerikanische Kunst, wie Louis
Armstrong eine neue Musik begründete. Es
gibt Künstler, deren Namen mit dem Wendepunkt
der kulturellen Geschichte untrennbar
verbunden sind. Sie werden unsere Vorbilder.
Die traditionelle Musik der sich allmählich
befreienden Sklaven wäre Lokalkolorit
in Louisiana geblieben, ohne Satchmo. Die
Szene-Malerei der amerikanische Realisten?
Besseres Abmalen der Natur; ein Handwerk.
Edward Hopper gelang es zu sehen, sichtbar
zu machen, was das „Amerikanische“ ist. Das
war neu. Hoppers ganz persönliches Kunststück:
Das Neue daran war seine Fähigkeit,
Amerika auf eine „amerikanische“ Weise zu
malen. Die anderen malten einfach nur die
Gegend ab.
Hoppers Perfektion, die er nur meistern konnte,
wenn er frei war: Zeit und Ort des Motivs,
Beginn und Abschluss der Arbeit, und z.B. die
Größe der Leinwand selbst zu bestimmen. Als
der vordringliche Zweck, die Verkaufszahlen
einer mit seinem Bild beworbenen Sache
Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 8 [Seite 7 bis 9]
gewesen war oder seine Beschäftigung darin
bestanden hatte, fremde untalentierte Kinder
vermögender Eltern zu beschäftigen – nach
der Ausbildung hatte er, wie es an der Schule
geraten wird, Illustrationen im Auftrag gemalt
oder Unterricht gegeben – sah er seinen
Sinn, schaffend zu werden, verfehlt. Wer kann
den Mut nachempfinden und seinen Fleiß,
seine Ausdauer, bis er sich seinen Platz in der
Kunst erarbeitet hat! Ein Spiel mit
Farbe, aber eine Arbeit, dahin zu
gelangen.
Gute Tage gehen leicht, da fällt
nichts verkehrt herum. An anderen
ist es wie verhext? Ich kann mich
noch gut an eine Quincy-Folge
erinnern, eine typische Situation
die jeder nachvollziehen kann, der
schon einmal ein Plakat mit einem
Edding beschriftet hat. (Quincy ist
Gerichtsmediziner, übernimmt auch
Detektivarbeit außerhalb vom Seziertisch,
amerikanisches Serien-
Fernsehen, einige werden sich erinnern).
Der vom bekannten Schauspieler
Jack Klugmann dargestellte befragt eine
Frau, die in einem Ladengeschäft mit großer
Schaufensterscheibe arbeitet. Schnell verstehen
wir, dass sie ein wenig einfach gestrickt
ist. Sie beschreibt dem geduldigen Detektiv,
wie es an einem bestimmten Tag war, als
etwas für die Geschichte wesentliches passierte.
Sie sollte ein Schild für das Fenster
machen. Man hatte ihr einen dicken Filzstift
gegeben, einen großen Kartonbogen. Sie beschreibt
dem Gerichtsmediziner, wie sie mehrere
Pappen versaut hat und ganz verzweifelt
war, weil sie den Fehler wiederholte: Die
blöden Buchstaben, sie wollten nicht passen.
In mehreren Anläufen scheitert die Frau, weil
ein bestimmtes Wort, links von ihr begonnen,
zu lang wird, um passend zu enden. Das hat
sie nicht in den Griff bekommen, und es wird
schnell klar, dass einfache Überlegungen,
eventuell auf einem Schmierpapier vorab
zu skizzieren, ihr nicht vermittelbar sind. Die
blöden Buchstaben wollten nicht passen.
Wieder und wieder ist sie gescheitert.
In der Wiederholung des Fehlers wird uns klar,
dass die Frau einfältig oder krank ist. Mitleid
kommt auf. Trotzdem, ich zähle die Finger
und Zehen an Händen und Füßen tatsächlich
nach, wenn ich einen Menschen zeichne! Ich
beginne Schrift auf einem Schild (wenn es
Teil vom Gemälde ist) von links und! rechts,
ende in der Mitte. Ich kontrolliere, wo sich
andere Buchstaben über und unter der Zeile,
die ich gerade schreibe, befinden. Man kann
sich täuschen. Der Musiker zählt Taktschläge,
während er eine Ballade vorträgt. Wenn ich
mit Kugelschreiber zeichne, muss ich mich
konzentrieren. Je nach Tagesform gelingen
erstaunliche Zeichnungen oder eben nicht.
Fang’ am besten ganz klein an, mit dem Giebel,
sage ich mir, und dann klappt es doch
nicht. An guten Tagen sage ich mir nichts. Ich
tu’s einfach. Meine Hand gleitet über das Papier
und ich denke die ganze Zeit wie doof,
das merke ich schon, aber es ist ganz still in
meinem Kopf dabei. Vielleicht meine Definition
von Glück.
Schenefeld, 1. Oktober 2019 (überarbeitet im
Januar 2020)
Jan 24, 2020 - Die Antwort ist das Bild 9 [Seite 7 bis 9]
Kröger
Feb 3, 2020
Im Sommer 1981 habe ich meinen Realschulabschluss
gemacht. Und zwar in Wedel an der
EBS. Das ist eine Abkürzung: Ernst-Barlach-
Schule. Der berühmte Künstler wurde in Wedel
geboren. Sein Geburtshaus ist heute ein
Museum. Es steht oben am Roland, wo Wedel
sein ursprüngliches Zentrum hat. Wedel entstand
aus dem Zusammenschluss von drei
Dörfern. Schulau an der Elbe hat seinen Namen
von dem geschützten Naturhafen in der
Aumündung. Die Wedeler Au (an
der Wassermühle ein Teich) erreicht
durch flaches Marschland
die Elbe. Dort hatte seinerzeit der
unter hohen Bäumen geschützte
Liegeplatz für die Lastensegler
dazu angeregt, einen befestigten
Hafen zu bauen. Der Wind schulte
um die Bäume, das nahm ihm
die Kraft, bot den Ewern Schutz.
Auf halbem Wege von Schulau,
hoch auf die Geest nach Wedel,
lag das kleine Spitzerdorf.
Zunächst ging ich vier Jahre lang
jeden Morgen von der Bahnhofstraße,
wo unser Haus stand, rauf
in die Altstadt (die ein wenig
höher liegt) in die Grundschule.
Der Rektor hieß damals Bauer. Es ist heute
noch immer eine Schule für kleine Kinder.
Ich wurde zu früh eingeschult. Schon den
Verhältnissen im Kindergarten (in der Hafenstraße)
war ich nicht gewachsen. Jahre ständiger
Überforderung. Erst in der EBS wurde
es besser. Der Kindergarten, ich habe nur negative
Erinnerungen daran. Die Grundschule
in der Altstadt war nicht angenehm. Der
Einschulungstest enthielt die Aufgabe, eine
Zeichnung anzufertigen. Das war eigentlich
das, was ich konnte. Ich zeichnete unter den
prüfenden Augen von Herrn Bauer und meiner
Mutter einen Mann. Eine stehende Figur.
„Fehlt da nicht noch etwas?“, wollte der Rektor
wissen, als ich das Ergebnis präsentierte.
Ich dachte nach. Mir fiel auf, dass ich noch
eine Reihe Knöpfe auf den Pullover malen
konnte. Ich zeichnete behutsam drei oder vier
schwarze Punkte senkrecht übereinander auf
den Leib, als wäre das eine Strickjacke: „Knöpfe“,
sagte ich, „jetzt ist es aber fertig.“ Sie waren
nicht zufrieden. Meine Mutter, der Rektor
Herr Bauer: Sie schauten so, dass ich etwas
merken sollte, das begriff ich. Es war unangenehm.
Sie hofften, dass ich von selbst darauf
kommen würde. Da war etwas falsch an meiner
Zeichnung, aber sie sagten nicht was? Sie
fingen an zu drängen, und dann sagte meine
Mutter oder der Rektor, dass ich die Arme vergessen
hätte: Es stimmte! Ich erinnere mich
genau, wie es sich angefühlt hat, als ich das
begriff. Ich hatte es nicht bemerkt.
Ich fügte die gewünschten Arme noch an, und
bald begann die erste Klasse in der Altstadt.
Ich war gerade sechs Jahre alt geworden und
das jüngste Kind. Die Einschulung war im
Sommer, und ich habe Ende August Geburtstag.
Wechselnde Lehrer, Schulstress, keinen
wirklichen Freund habe ich in vier harten
Jahren in dieser Klasse gefunden. Kapitalversagen
in „Rechnen“ (so hieß das damals noch)
– war das Resultat dieser Grundschule. Dass
ich später mal zwei Jahre lang anschließend
der Realschule auf dem Weg zum Fachabitur
immer eine „eins“ in Mathe haben würde,
hätte niemand erwartet. Im Segelschein-Kurs
bei Fiete in Blankenese gab ich den Mädels
Nachhilfe in Navigation. Aber mit dem
Wechselgeld beim Bäcker und überhaupt
beim Kopfrechnen, habe ich bis heute Mühe.
Schwimmunterricht war der Horror selbst.
Das fiel auch in diese Zeit. Ich schluckte Wasser
ohne Ende. Ich fror, weil ich so dünn war,
ständig. Wenn ich konnte, versteckte ich mich
Ewigkeiten auf der Toilette. Der Mathelehrer
schikanierte mich, bis nichts mehr ging.
Meine Mutter übte das Einmaleins mit mir,
wenn wir am Wochenende segeln waren, bis
überhaupt gar nichts mehr ging. Mein Vater
nötigte mich, ich müsse einen Freund in der
Schule finden, man hätte einen – sonst wäre
etwas falsch. Ich zwang mich dazu, Roland
hieß der glaube ich, deswegen zu fragen.
Aber es wurde nicht recht was draus. Dann
setzte meine Mutter gegen die Empfehlung
durch, dass ich am Gymnasium bei Donnhauser
eingeschult wurde. Nach nur einem
Jahr ging ich mit drei fünfen ab und begann
schräg versetzt und sitzen geblieben erneut
eine fünfte Klasse an der EBS.
Nach nicht allzu langer Zeit kam Steffen
auch in die „e“ zu uns, der war schon mit mir
in der Klasse am Rist gewesen. Mit Steffen,
Lenzus, Holger (der schon gestorben ist) und
Jens gelangen dann gute Realschuljahre. Wir
sehen uns heute nie. Wir passen nicht mehr
zusammen, wie damals in der Schule, und
Jens hat unsere Gruppe dominiert. Ich habe
aber wunderbare Zeit auf dem Bauernhof der
Eltern verbracht und vor nicht so langer Zeit
habe ich meinen alten Schulfreund getroffen.
Wir waren ausgiebig griechisch essen, und
das war wirklich fein. Jens ist Bauer und Banker,
und irgendwie war sich zu treffen besser
als früher. Er hat sich nicht verändert, ist
stark und selbstbewusst. Ein wenig frech, ein
handfester Kumpel – wie damals – aber ich,
ich bin heute anders. Ich habe Sven getroffen,
bei Bäckerei-Junge. Man kann direkt am
Strom der vorbei gehenden Menschen sitzen.
„Ich habe meinen Weg gemacht“, sagte er –
das glaube ich ihm aufs Wort. In der Schule
sah es nicht danach aus. Ich bin Maren begegnet,
das ist schon länger her, und sie hat
den Kopf weggedreht, als wüsste sie nicht.
Ich habe Stefan auf dem Fahrrad gesehen,
oft, man kennt sich in Wedel. Der kennt mich
auch nicht? (Ich bin nie zu Klassentreffen gegangen).
Trotzdem, die Realschule war gar nicht mal
so schlecht: Ich hatte Freunde. Natürlich waren
diese Zeiten nicht unproblematisch. Den
typischen körperlichen und psychischen Entwicklungen
vom Kind über die Jugend zum
Erwachsenen folgte ich bei weitem nicht so
gut strukturiert, wie es hätte sein können.
Niemand hat das bemerkt. Ich schreibe wegen
Gerd Kröger. Das muss ich einfach tun. Es
ist so lange her, und ich muss daran erinnern,
dass dieser Lehrer gut war.
Wir hatten (Name geändert), Schwarze und
Kröger. Mit (Name geändert) war es Mist, ein
Lehrer der dem Amt des Klassenlehrers nicht
gewachsen war. Meine Mutter erlaubte ihm,
mich im Falle von Ungehorsam zu ohrfeigen,
und er hat das tatsächlich einmal getan. Im
Sportunterricht, ich erinnere mich genau,
weil es so peinlich war. Ich fand das sogar
gut, weil ich meiner Mutter in allem Recht
gegeben habe. Die Eltern der anderen Kinder
begriffen schnell, was zu tun sei, diesen unfähigen
Mann loszuwerden und mobbten den
Klassenlehrer nach Kräften. Meine Mutter
versagte auf allen Positionen, in der Rolle der
vermittelnden Elternsprecherin und als Mutter
sowieso. Das ist leider nicht zu ändern.
Meine Mutter korrigierte die Vergangenheit
ständig. Die Szene mit der Einschulung und
den vergessenen Armen in der Testzeichnung
erinnere ich so plastisch; aber meine Mutter
hat später immer versucht, mich davon zu
überzeugen, es stimme nicht, was ich erzähle
und die Arme hätte ich nicht vergessen. Und
dass die anderen Kinder älter und kräftiger
waren? Ich selbst hätte es gewollt, mit dem
Nachbarkind Mark zur gleichen Zeit eingeschult
zu werden, und es gäbe ja auch das
Gesetz, wann ein Kind zur Schule müsse. Ich
habe nur diese eine Mutter und liebte sie natürlich;
wie ich sie gleichwohl beschuldigte
für ihre Fehler. Sie ist tot und möge den Frieden
finden, den ich weiter suche.
Von (Name geändert) hieß es, er wäre später
mit einem Auto suizidal in die Elbe gefahren,
keine Ahnung, ob das stimmt. Thomas
Schwarze war ein feiner Lehrer, der wurde auf
der Welle euphorischer Eltern nach vorn an
die Stelle des Klassenlehrers bugsiert, und es
gab Gartenpartys bei den Eltern der hübschen
Inga zum Beispiel. Die hatten einen orangen
Hüpfball zum drauf sitzen für Kinder mit einem
Teufelsgesicht und Hörnern zum festhalten.
Jemand hatte „Herr (Name geändert)“ mit
Edding auf den dicken Leib geschrieben. Wir
hüpften durch das Gras, während die Eltern
grillten. Meine Mutter gehörte nicht dazu. Sie
saß zwischen allen Stühlen der Netzwerker
und verstand es nicht.
Mit Schwarze begann ich die Klassenzeitung,
wir hatten einen Umdrucker im Keller
der EBS. Dieser sympathische Lehrer verließ
die Schule und Wedel. Weit, bis ganz nach
Konstanz, ist er fortgezogen. Keine Ahnung,
warum das nötig war. Ich habe dem noch
geschrieben und er auch zurück. Es tat gut,
endlich respektiert zu werden. Er unterrichtete
Deutsch. Ich schrieb gute Aufsätze. Ich
kreierte die Klassenzeitung, das war eine
Verbesserung. Dann wurde Gerhard Kröger
unser Klassenlehrer, und dabei blieb es
bis zum Ende. Das war nicht nur ein guter
Deutschlehrer, er kam mit der Klasse zurecht.
Es war dieser Kunstlehrer, dem ich eigentlich
alles verdanke, was ich schließlich noch aus
meinem Leben machen konnte, als die Sache
nach dem Abschluss des Studiums ziemlich
in die Binsen ging.
Kröger und ich sahen uns, nachdem ich die
Realschule geschafft hatte, noch regelmäßig.
Mein ehemaliger Lehrer wohnte im Zentrum
von Wedel. Er war mit vielen künstlerischund
kulturell Interessierten befreundet. Ich
Feb 3, 2020 - Kröger 10 [Seite 10 bis 12]
sagte später „Du“ zu ihm und war stolz darauf.
Dieser Kunstlehrer konnte selbst sehr
gut zeichnen und aquarellierte gekonnt. Ich
genoss es, von ihm gemocht zu werden. Ich
malte im Kunstunterricht im Stehen und
wurde für mein Einschleimen beim Lehrer
angefeindet. Ich stand aber, weil man aus
der Distanz das Bild besser beurteilen kann.
Wir machten auch Tages-Ausflüge mit der
Schulklasse: Am Ufer der Este im Gras sitzend,
zeichneten mein Lehrer und ich Seite
an Seite die gegenüber idyllisch gelegene
verschrobene Werft in unsere kleinen Skizzenblöcke
und verglichen anschließend, wer
es besser hinbekommen hatte.
Einmal fuhren wir mit dem Fahrrad alle nach
Hetlingen und lagen eine Stunde am Strand
herum. Wir zogen uns einigermaßen sommerlich
und elbstrandgemäß um. Kröger präsentierte
sich in einer überraschend knalligen
und extra glänzenden, orangen Badehose.
Ein Klassenlehrer so privat, die Mädchen
machten sich lustig, er habe keine Muskeln
und tuschelten Sachen, die ich gar nicht verstanden
habe. Wir waren in der Pubertät, aber
bei mir fand die gar nicht statt. Ich vermute,
dass mein Lehrer Männer liebte, und das war
zu der Zeit noch viel weniger normal. Später
wurde immer sonst was angedeutet, und ich
habe alles von mir abgehalten. Ich verdanke
diesem Mann so unendlich viel. Persönliche
Anerkennung als kreativer und aufgeweckter
Schüler, das hatte es vorher nicht gegeben.
Kröger unterstützte meine Versuche, ein
Praktikum bei Markenfilm zu machen. Das
gelang und wurde mein Weg in die grafische
Ausbildung.
Die große Abschlussklassenreise, mit Gerd
Kröger und weiteren Lehrern nach Ipswich:
Wir fuhren mit dem Hamlet über die Nordsee!
Ich tanzte bei starkem Seegang unter
Deck mit den anderen in der Schiffsdisko. Die
hatte zwei Säulen in der Mitte der kleinen
Tanzfläche, und wenn das Schiff überholte,
hielten wir uns daran fest. Ich trank Whisky-
Cola. In Ipswich habe ich den zweiten Star-
Wars-Film gesehen. Der war brandneu. Ich
habe wenig verstanden, bis heute nicht gut
Englisch gelernt. Steffen und ich wohnten
außerhalb, mussten gelegentlich auf Little
Justin aufpassen, ein kleines Kind. Ich erinnere
mich, dass wir mit unseren Gasteltern eine
Fabrikhalle besuchten. Darin stand ein riesiger
Bagger, möglicherweise zur Reparatur.
Das war dort, wo unser Gastpapa arbeitete.
Die Klassenfahrt dauerte so zehn Tage und es
gab viele Ausflüge, auch nach London.
Wir ruderten mit Mietbooten. Eine Parkanlage
im grünen englischen Rasen, und ein
Schüler hatte eine Super-8-Kamera dabei. Es
gab eine ausufernde Wasserschlacht. Einige
wollten filmen, weil es damals ungewöhnlich
war. Auch ich bekam die Kamera für einen
Moment. Wieder zurück in Wedel, schauten
wir mit der ganzen Klasse die
Aufnahmen an. Natürlich wurde
kommentiert, wer jeweils was
gut festgehalten hatte. Meine
kurze Sequenz war für die
anderen kaum von Interesse,
angesichts der lustigen Ruderund
Badestunde. Ein Tag voll
mit Aktion: Ein Boot war gekentert!
Schüler hatten wie doof
andere mit Wasser bespritzt,
und einige waren baden gegangen.
Ich hatte einen langsamen
Schwenk über die gesamte
Szenerie beigesteuert. Das war
professionell gefilmt. Langsam,
gleichmäßig und nicht verwackelt,
hatte ich mit ungeübter
Hand dennoch einen gekonnten
Bogen durch die englische Natur und das
muntere Treiben gezogen. Unser Lehrer lobte
genau das. Respekt? Das hat mir in diesem
Moment nicht genützt, im Gegenteil. Es ist
nicht gut, der Lieblingsschüler zu sein. Es hat
aber meine Liebe zum Film mitbegründet,
und es ist ein Jammer, dass ich heute, was Filme
betrifft, so grundsätzlich frustriert bin. Ich
ertrage die romantische Liebe im Film nicht!
Wenn die Produktionen gut sind, die Charaktere
faszinierend, ist es am Schlimmsten.
Vor kurzem lief „Zirkus“ von Chaplin im Fernsehen.
Das traf mitten ins Herz: Die wunderbare
Sequenz am Ende, wo der Tramp allein
im Rund der Manege zurückbleibt, die sich
noch im verlassenen Grasplatz abzeichnet!
Ein milchiges Licht des Spätnachmittages
über niedrigen Büschen rahmt die Szene ein.
Im Hintergrund ist fern die Silhouette der
Stadt erkennbar. Wie der ganze Tross staubend
abrauscht, ist so unglaublich gelungen!
Stummfilm, in schwarz-weiß gedreht. Und
man ist als Zuschauer
dabei, als wäre es
gerade heute im Hier
und Jetzt. Der Zirkus
macht sich auf den
Weg! Alte schaukelnde
Kästen sind diese
Wohnwagen, schnaubende
Pferde ziehen
an. Die vielen Darsteller,
mit Krempel
und Hausstand des
täglichen Lebens als
fahrendes Volk, reihen
sich in die Spur
ein. Große Wagenräder,
mit ihren hölzernen
Speichen, malen
neue Furchen wie Eisenbahnwege
noch tiefer in den Boden. Trüb
vom aufgewirbelten Sandnebel ist das Licht,
wenn kurz die Sonne in einer Lücke zwischen
den altertümlichen Fahrzeugen blendet.
Habe ich dies wirklich gesehen oder erinnere
mehr dazu? Wie im Buch, wenn der Autor nur
andeutet: Ein Artist sitzt, in Gedanken versunken,
ganz hinten auf seinem Gefährt, lässt
die Beine baumeln, muss selbst nicht lenken.
Er wird im Ruck der anziehenden Gäule, den
Blick rückwärts gewandt, durch die Szene
befördert – und ein Eimer (zum Pinkeln?)
schaukelt lustig herum, unter der Plattform
angebunden. Wagen für Wagen rollt der zum
neuen Spielort aufgebrochene Zirkus durch
das Bild! Die Kamera fängt viele Details ein.
Einige kurze Schnitte komprimieren das behäbige
Tempo der alten Kutschen und verstärken
den Effekt, wir wären selbst mitten
drin im Geschehen.
Und dann bleibt Charles allein zurück: The
End.
Die allerwunderbarste Szene, die man sich
vorstellen kann! Ich habe wieder daran denken
müssen, wie sehr ich die Kunst, etwas gut
und berührend darzustellen, einmal geliebt
habe – und immer allein geblieben bin, mit
diesen Empfindungen – wer sieht heute noch
Chaplin?
Kröger war in Schleswig-Holstein aufgewachsen,
im Norden, vielleicht in Husum? Er
liebte Nolde und aquarellierte ebenfalls. Wir
sollten Schneebilder machen. „Das ist ganz
einfach“, sagte der Kunstlehrer: „Ihr braucht
kein Deckweiß dafür. Wo Schnee im Bild ist,
macht ihr nichts. Das Papier ist ja weiß.“ Wir
zeichneten mit Sepia Knicklandschaften hinein.
Das ging so: Wir bereiteten eine imaginäre
Ackergegend vor, indem wir einige
bläuliche Schlieren quer hin aquarellierten,
das sollten Schatten sein. Wenn wir dann
einen Knick mit Gebüsch und Bäumen wollten,
nutzen wir die Feuchtigkeit, die noch im
Blatt war oder zogen mit Wasser einen Streifen
in das Papierweiß. Dann setzen wir die
mit Sepia gut gefüllte Zeichenfeder an und
platzierten die Spitze in die feuchte Stelle:
Ein ausufernder brauner Fleck wuchs wie ein
Busch von selbst im Bild, wenn das dunkle
Braun mit dem Wasser in Berührung kam.
Dunkler Himmel macht es „schnee-iger“,
meinte Kröger. Ich habe noch eines der Aquarelle
aus dieser Zeit und kann hier verraten,
dass die schöne Wolke oben im Bild mit sicherer
Hand vom Lehrer hineingesetzt wurde.
Ich war verzweifelt. Mir gefiel mein Bild,
mit dem an einer kompositorisch günstigen
Stelle platzierten Baum, gar nicht. Ich traute
mich nicht an den Himmel ran. Kröger nahm
den Marderhaar-Aquarell-Pinsel, den ich mir
gegönnt hatte, in die Hand. Der Pinsel: fett,
aber mit feiner Spitze, wie es sein soll. Ich
hatte ihn bei Jutta Schwartau gekauft, im
Schreibwaren- und Spielzeuggeschäft nebenan,
wo mein Taschengeld blieb und ich
Stammkunde war. Mein guter Lehrer erkannte
die Möglichkeit, mit leichter Hand das Bild zu
retten. Er mischte im Seitenfach des Tuschkastens
ein farbiges Grau an, fragte (nur mit
den Augen), ob er mir ins Bild hineinmalen
dürfe? Er hat es einfach gemacht, und dann
sah es so toll aus!
Feb 3, 2020 - Kröger 11 [Seite 10 bis 12]
Es gab einen Malwettbewerb: „So schön ist
Wedel“ oder ähnlich, von der Dresdner-Bank
und einigen Wedeler Kunstbeflissenen. Ich
malte das Fährhaus (Willkomm-Höft) und
reichte das Bild ein. Das hing dann mehrere
Wochen im Fenster der Filiale. Alle, die es
dort gesehen hatten, sagten zu meinem Vater:
„Toll, ihr Sohn hat bestimmt gewonnen.“
Nein, es gab nur einen Trostpreis für mich.
Gewonnen hatte ein Mädchen vom Gymnasium.
Der Vater war Lehrer. Mein Vater war
empört. Warum denn gerade mein Bild so
lang im Fenster hing? Das hätten die Bankleute
vor Ort entschieden (weil es so plakativ
war). Bewertet für den Preis, hatte eine kunstverständige
Jury. Nicht die Geldleute aus der
Filiale. Lehrer und Hobby-Kreative der kulturellen
Szene aus Schulen und Kunstvereinen
bewerten, was Kunst ist. Bankmitarbeiter
wissen, was wirkt.
Kröger hat es mir gesteckt: „Sie haben gesagt,
du hättest einen Bildwerfer genommen, aber
ich weiß ja, dass du alles zeichnen kannst. Sie
haben mir nicht geglaubt. Sie haben gesagt,
du hättest eine Postkarte in einen Bildwerfer
eingelegt und abgepaust und dann mit Pelikan
ausgemalt. Das wäre keine Kunst, so etwa
wie gemogelt.“ Ich habe es seinerzeit nicht
zugegeben; wir hatten einen „Paximat“, mit
dem mein Vater Plakate für den Laden pauste,
ja – ich hatte einen Bildwerfer genommen.
Das habe ich meinem lieben Kunstlehrer nie
verraten!
:)
Feb 3, 2020 - Kröger 12 [Seite 10 bis 12]
Aber genützt hat’s ihm nix …
Feb 8, 2020
„Mach’ dich nützlich“, gibt Ziehvater Wilbur
Larch seinem Sprössling Homer mit auf den
Weg, warum? „Gottes Werk und Teufels Beitrag“,
ein bekanntes Buch von John Irving.
Der einzelne nutzt dem System. Beziehungen
werden belastet, wenn ein Partner sich
nicht wie gewünscht für den gemeinsamen
Zweck engagiert. Teamfähigkeit: Ein Mitglied
mit mangelnder Bereitschaft zur Zusammenarbeit
behindert die Gruppe. Die Familie,
Kollegen, Freunde – eine Hand wäscht die
andere, heißt es. Ein Mitarbeiter erfüllt seine
Aufgabe. Nur vom Arzt bestätigte Krankheit
oder geregelter Urlaub erlauben längere
Unterbrechung zweckgebundener Tätigkeit.
Kurze Pausen werden von Chef und Kollegen
aufmerksam registriert. Die gegenseitig geforderte
Leistung kann dazu führen, die Aufgabe
über die Gesundheit zu stellen. Es stellt
sich die Frage, wie frei und unabhängig wir
uns dabei selbst nutzen können und ob das
Wort so noch Sinn macht. Wie viel bleibt von
mir, wenn ich mich dem Projekt unterordne?
Wer in der Gastronomie arbeitet, geht nie
„leer“ durch die Gaststube. Auf dem Weg zur
Küche nimmt die Servierkraft benutzte Gläser
und Teller von den Tischen mit, nachdem bei
den hungrigen Gästen das Essen serviert wurde.
In jeder Branche: Zeit ist Geld. Aus einer
Arbeit wird durch ihren Bezug zur benötigten
Zeit eine Leistung. Der Wettbewerb schafft
das nötige Wirtschaftswachstum. Wenn die
Wirtschaft nicht wächst, bricht unser System
zusammen. Kreativität ist gefragt, weil die
Geschäftsstrukturen zwingend immer weiter
optimiert werden müssen. Das Modewort
„Entschleunigung“ skizziert nur scheinbar ein
neues Problem. Wir müssen schneller werden,
damit wir wirtschaftlich wachsen. So wurde
das Rad erfunden. Der Kutscher gammelt auf
seinem Bock herum, doch die angespannten
Pferde beschleunigen ihn mehr, als den konkurrierenden
Nachbarn, der noch auf Schusters
Rappen unterwegs ist. Die Schwierigkeit,
eine Produktion weiter steigern zu können,
wird durch die menschliche Arbeitskraft begrenzt:
Die unteilbare und nicht erweiterbare
kleinste Einheit im System. Deswegen erfinden
wir neue Maschinen, neue Firmenstrukturen.
Wir schulen Mitarbeiter, versuchen sie
zu optimieren oder wir vereinfachen Abläufe,
um austauschbare, wenig qualifizierte Angestellte,
bei niedrigem Lohn einsetzen zu
können.
Als ich zu illustrieren lernte, zeichnete ich
ein großes Segelschiff, das hoch auf einem
Werftgelände an Land gezogen stand. Ich erfand
einige Arbeiter im Vordergrund. Aus der
entfernten Ansicht meiner Zeichnung hatte
das ganze Schiff Platz. Die Menschen stellten
nur kleine Elemente dar, die das Bild mit
Leben füllen sollten. „Die müssen alle etwas
machen“, meinte Uwe Jarchow zu mir. Ich war
im Praktikum bei ihm, etwa zu der Zeit, als ich
mein Studium begonnen habe. Die Arbeiter
auf der Werft sollten arbeiten, und ich musste
lernen, es glaubwürdig hinzubekommen.
Es gab keine Vorlage dafür. Arbeiter? Einer
sägt ein Brett durch, das auf zwei Böcken
liegt. Jemand trägt eine Leiter. Niemand steht
„nutzlos“ rum.
Rentner leiden darunter, „nicht gebraucht“
zu werden. Sie waren es gewohnt, etwas zu
leisten und die Anerkennung dafür selbstverständlich
anzunehmen. Den Sinn ihres
Lebens hinterfragten sie nicht, solange sie im
Beruf waren, Ernährer der Familie. Für einige
steht der Nutzen ihrer Tätigkeit über der natürlichen
Selbstverständlichkeit ihres Seins.
„Ist das Leben eigentlich ein Zweck?“ (oder
jemandes Fehler) – fragt Verhaltenstrainer
Moshe Feldenkrais einmal und bringt dieses
Beispiel: Eine Uhr bleibt eine Uhr, auch wenn
sie nicht mehr geht. Eine stehen gebliebene
Uhr verfehlt ihren Zweck. Sie zeigt nicht mehr
an, wie spät es ist. Aber sie ist immer noch
eine Uhr. Nachdenklich: Das Leben wird wohl
nur durch etwas erklärt werden können, das
nicht auf Kausalität beruht, meinte er.
Moshe war ausgebildeter Physiker und hervorragender
Mathematiker. Er beherrschte
das Judo so gut, dass er als erster Europäer
einen „Schwarzen Gürtel“ tragen durfte, heißt
es – bevor er Menschen darin unterrichtet
hat, sich gesünder zu bewegen. Eine Uhr lebt
ja nicht. Eine stehen gebliebene Uhr ist nicht
tot, sie ist einfach nur kaputt. Keine große Sache.
Feldenkrais schrieb seine Überlegungen
auf, lange bevor das „Burnout“ als Krankheit
benannt wurde. Als dieser Begriff neu war,
mahnten einige, man solle doch die Kirche
im Dorf lassen: Ein anderer Name für „Depression“
sei Augenwischerei.
Über den Nutzen nachzudenken, führt unweigerlich
dazu, über Beziehungen nachzudenken,
über Werte. Wenn ich auf dem Wochenmarkt
unterwegs bin (ich möchte Äpfel
einkaufen), werde ich zunächst den von mir
bevorzugten Obsthändler aufsuchen. Meistens
gibt es mehrere Stände, die mit Obst
und Gemüse handeln, auf einem Markt. Nun
treffe ich noch die Entscheidung, eine bestimmte
Sorte auszuwählen, und schließlich
die benötigte Menge. Dann ziehe ich das
Portemonnaie hervor und tausche mein Geld
gegen die Äpfel ein. Wir haben eine Kurzeitbeziehung
zum Verkäufer, ein Vertragsverhältnis.
Wenn auch der Kauf unspektakulär
abgewickelt wird – schließlich geht es um
den Wert, den diese Ware darstellt und den
Nutzen, den sie für mich hat. Für ein gutes Ergebnis
werde ich mir meiner Auswahlfähigkeit
bewusst. Der Kauf kommt erst zustande,
nachdem ich eine persönliche Entscheidung
getroffen habe.
Dazu fällt mir noch eine Anekdote ein. Als ich
zusammen mit einem (vermögenden) Freund
auf seiner Yacht mehrere Monate in der Karibik
segelte, gab der mir diesen Tipp mit auf
den Weg: „Wenn du in Blankenese etwas kochen
willst, kannst du dir eine Liste machen.
Dann gehst du in den Laden und kaufst die
Sachen nach Rezept ein. Wieder zu Hause,
kochst du das Essen genau nach deinem Plan
– oder wie es das Kochbuch empfiehlt. Wenn
du in Road Town (Tortola, Virgin Islands) in
den Supermarkt gehst, musst du es anders
machen. Du nimmst, was ansprechend aussieht.
Du entwirfst die Idee, was du daraus
zubereiten könntest am Besten gleich im
Laden; damit du eine spontane Kreation entsprechend
weiterer Bestände (an Bord oder
im Geschäft) noch ergänzen kannst.“
Nicht alle Menschen können wählen, und
das nicht nur bezogen auf die Politik. Da sind
wohl einige, die müssen es nehmen, wie’s
kommt. Unsere moderne Welt ermöglicht
untypischen (durch fatale Gene oder Autounfall
oder sonst was demolierten) Wesen ein
weitgehend selbstständiges Existieren. Wir
sehen sie im Einkaufszentrum. Sie steuern einen
hochkomplizierten Apparat, der mit dem
Wort Rollstuhl nur unvollkommen bezeichnet
ist. Wir begegnen auch Tag für Tag Gestalten,
die psychisch auffällig sind, aber sie stören
nicht. Wie Geister, sind sie Teil des Alltags im
Straßenbild, und wir gehen ihnen aus dem
Weg. Auf jeden Topf passe ein Deckel?
Für manche klingt dieser Spruch wie Hohn,
angesichts der tollen (unerreichbaren) Deckel
links und rechts.
Ich habe einer Bekannten gestanden, dass
ich mir den Playboy mit Laura Müller noch
am Erscheinungstag gekauft habe. Das ist die
Freundin vom Michael Wendler, und einige
kennen den gar nicht. Dann habe ich Laura
mit Greta Thunberg in einem Satz genannt
und behauptet, die beiden jungen Frauen
nutzten sich selbst direkt, als wären sie eine
Ware im Laden. Meine Freundin ist Pastorin.
Ich war frech genug, unseren Herrn Jesus zu
zitieren: „Sehet die Vögel unter dem Himmel
an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln
nicht in die Scheunen; und euer himmlischer
Vater nährt sie doch.“ Ich habe zur Diskussion
gestellt, die modernen Plattformen
YouTube, Instagram oder Twitter könnten es
möglich machen, direkt, wie an „Speakers
Corner“ (in London), das Interesse einer breiten
Öffentlichkeit zu gewinnen und über den
Bekanntheitsgrad schließlich Einnahmen
durch Werbung oder neuen, sich ergebenden
Beziehungen, zu erzielen. Eine Fähigkeit Fußball
„wie Ronaldo“ spielen zu können, sei dazu
nicht nötig. Das hat bei meiner Freundin Kritik
hervorgerufen (möglicherweise weil ich
dreist genug gewesen bin, Greta und Laura
in einem Satz zu nennen), ein Mensch wäre
doch hoffentlich mehr als nur eine Ware!
„Aber genützt hat’s ihm nix“, kommentieren
die drei Bier trinkenden Nordlichter in der
Werbung trocken, nachdem sie den sprachgewandten
Stadtmensch auf der Suche nach
guter Küste für sich und das Mädchen haben
abblitzen lassen. Sie verteidigen ihre einfältige,
dröge Tradition. Wir lachen gern darüber.
Wenn wir „Generation Praktikum“ sind,
Menschen, die nach jahrelanger Ausbildung
befristet jobben müssen? Selbstbewusstsein
und gutes Performen schlägt das trockene
Wissen um die Fakten und gibt die Richtung
vor. Nicht jeder und jede von uns kann Menschen
in den Bann ziehen, das stimmt. „Wir
sollen in Panik geraten!“, mahnt Greta Thunberg,
und ich höre mir das an. Ich schaue ihr
in das von Wut oder Angst verzerrte Gesicht
– glaube ihr mehr als Luisa Neubauer, der
„deutschen“ Greta; das ist Persönlichkeit.
Greta ist die Wahrheit selbst: Ihre Angst ist
real; für sie zunächst allein. Und dann sitzt
sie am Zaun ihrer Schule. Das kann ihr niemand
nachmachen, mit dieser Wirkung – wie
geht das?
Da wir nun schon so viele Jahrhunderte lang
auf das Geld als Mittler zwischen uns Menschen
angewiesen sind, müssen wir realistisch
sein! Niemand geht in den Wald und
versorgt sich mit Fellen zur Kleidung und
Nahrung selbst. Bei der Frage, ob ein Mensch
sich dem Konsum prostituiert, sollten wir
ehrlicherweise schauen, bei wem der Nutzen
ist? Vielleicht fehlt uns auch nur das richtige
Wort, wir vergleichen Äpfel mit Birnen; Menschen
– auch Sex gegen Geld ist menschlich.
Ein Leben auf der Plattform ist selbstbestimmter,
als kommentierend mitzulaufen. Da
sind junge Moralistinnen nicht besser dran.
Zur Weltrettung taugt es nicht, wenn ein Um-
Feb 8, Aber genützt hat’s ihm nix ... 13 [Seite 13 bis 14]
weltpreis an die bravste Klassensprecherin
geht. Mit der Erkenntnis der Wissenschaft zu
polarisieren, einfach weil Thunberg sich direkt
betroffen fühlt, ruft Hass hervor – das ist
unglaublich. Gerade deswegen ist jeder Euro,
der in die „Marke“ Greta fließt, ein persönlicher
Gewinn. Und wenn Menschen
nicht einfallsreicher sind, als ihre Zeit
damit zu verbringen, über Klatsch zu
schimpfen, ist auch jede Einnahme
daraus ein vitaler Erfolg.
Die romantische Liebe, das ist auch
so ein Ding. Vor nicht all zu langer
Zeit wurde behauptet, wie einige es
seit je vermuten, sie sei nur eine Erfindung
der Literaten. Ernüchternd,
wenn es, nun wissenschaftlich belegt,
wahr wäre! Die Forscher sind auf die
Suche gegangen. Zur Zeit von Julius
Cäsar wurde schon schriftlich das
eine oder andere festgehalten, aber
zum Thema romantischer Liebe recht wenig.
Die Verbindung aus Mann und Frau hätte,
würden diese alten Dokumente als Quelle
damaliger Befindlichkeiten herangezogen, in
erster Linie praktische Aspekte. Liebesheirat?
Fehlanzeige. Das Ganze mit dem unglücklichen
Schmachten habe erst später, mit der
sich entwickelnden Romankultur, an Fahrt
aufgenommen. Und wir heute seien mit unseren
Hoffnungen das Ergebnis dieser sich
selbst prophezeienden Fake News: das da
etwas sein müsse, wo eigentlich nie etwas
war. „L-i-e-b-e“ – im Deutschen sind das fünf
Buchstaben, was heißt das schon?
Bleibt der Nutzen der Beziehung, der Wert,
den meine Partnerin für mich hat?
Bitter. Vielleicht sind wir auch einfach das
Opfer von Schrift und Wort. Als letzte Hoffnung
auf das Glück, bleibt schließlich die
Erkenntnis, dass auch Glück und Hoffnung
zunächst nur Worte sind. Und was diese bedeuten,
muss ein jeder- (und jede) ja doch für
sich selbst ganz allein herausfinden …
:)
Feb 8, Aber genützt hat’s ihm nix ... 14 [Seite 13 bis 14]
Ein Ideal ist unerreichbar
Feb 13, 2020
# Mutig gegen Extremismus?
„Macht euch die Erde untertan“, heißt es in
der Bibel. Da sind wir doch gut voran gekommen!
Man ist versucht, an die Ausbreitung
einer planetaren Erkrankung zu denken. Als
wären wir Menschen Krebszellen, die in Metropolen
verankerte Netze bilden, das Ganze
schließlich zerstören. Wirtschaftsoptimisten
sehen es anders, aber freitägliche Schülerdemos
reflektieren begründete Ängste. „Klimanotstand“
ist ein neues Wort. Sind wir in
Gefahr? Die reale Gefahr, die ich kommen
sehe: der Mann mit dem Messer vor mir, und
er sieht böse aus. Die Schlammlawine zermalmt
ein Dorf (im Fernsehen) oder einfach
ein Artikel, in dem steht, dass „es“ schlimmer
wird – die imaginäre Gefahr ist die Basis der
Angst. Wie real sind Befürchtungen, wie nah
dran ist eine Gefahr? Worte wecken dahinter
stehende Erwartungen oder Risiken. Was
ist ein „Gefährder“, ist das ein Tornado in der
Schublade? Wir schließen unseren Kopf ab.
Die Kommode auf dem dunklen Dachboden
bei Oma, und du hast dich nie getraut da rauf
zu gehen, nachzusehen. Presse und Netzgemeinde
gehen salopp mit Randfiguren um,
ordnen Menschen pauschal als extrem, krank,
gestört oder terroristisch weg. Es sind „andere“,
und die sind krank.
Besser wäre „Normalität“ als fragwürdige
Definition und ungeeignetes Instrument zur
Behandlung von Aussenseitern zu begreifen.
Da ist eine lange Linie verschiedener Lebensentwürfe:
Minimal soziale Kompetenz
an einem Ende und die idealisierte Spitze
bestmöglicher Entwicklung auf der anderen
Seite. Zwanghaft oder gelassen? Gesundheit
bedeutet auswählen können. Wesentliches
von nicht relevant unterscheiden zu können.
Die Menschen kämpfen, seit sie sich ausbreiten.
Die Tiere kämpfen auch die ganze Zeit. Zu
unterscheiden, was Mensch, was Tier ist, sind
Worte die Menschen sich ausgedacht haben.
Denken und Reden. Dass wir etwas anderes
„sind“, heißt das noch nicht. Das gibt es oft.
Wir verwenden leichthin Abstraktionen, als
wären damit Dinge gemeint. Wir sagen „Gedächtnis“,
aber deswegen ist es ja noch nicht
real. Der Mensch weiß weniger von sich, als
er meint. Worte sind Platzhalter, damit wir
uns in der intellektuellen Welt orientieren
können. Ohne Intellekt könnten wir nicht
denken. Worte ebnen den Weg dafür, Denken
einfach zu machen.
Was ist „Intellekt“ – ? Jeder hat den seinen,
aber das ist wie mit der Intelligenz: Der Test
muss zum Getesteten passen, um annähernd
brauchbar zu sein. Die Intelligenz eines Indigenen,
der abgeschnitten von der modernen
Welt im Urwald lebt, kann mit einem Test, wie
er zum Beispiel einem Schulabgänger bei der
Bewerbung vorgelegt wird, nicht erfasst werden.
Dass jemand frisch vom Studium einen
Job bekommt, ist das Ergebnis von Zielstrebigkeit,
und nur den Besten gelingt es leicht.
Es bedeutet nicht, dass ein hochtrainierter
Sprössling unserer Elite gleichermaßen im
Dschungel klar kommt, und dass ein Indigener
dumm sei, bedeutet es schon gar nicht.
Ein abstrakter Begriff kann unser Denken
widernatürlich verselbstständigen. Gegen die
Natur zu leben, bedeutet schlussendlich an
der Realität zu scheitern. Ein über das Mittelmeer
unter Lebensgefahr nach Deutschland
geflüchteter Afrikaner kann einen Linienbus
lenken, sich eine neue Existenz aufbauen.
Manche hier aufgewachsene Jugendliche
können nicht einmal im Bus mitfahren und
richtig ankommen, wo sie hin wollen, obwohl
sie die ganze Zeit auf das Handy starren.
„Das Gedächtnis des Körpers“ heißt ein Buch.
Es mahnt, dass Erinnerungen auch in den
Armen und Beinen sind und denken nicht
bedeutet, eine Festplatte zu durchstöbern
oder unser Gehirn ein Regal mit Büchern
ist. In „Schlag den Star“ bekommen wir eine
Ahnung davon, wie schwierig es ist, einen
„Besten“ zu ermitteln. Dazu kommt, die Kontrahenten
haben noch ein „echtes“ Leben
außerhalb vom TV und dem Test. Wir sind ja
nicht dabei, wenn sie morgens ihren Alltag
starten. Natürlich agieren Menschen unterschiedlich
klug. Intelligenz kann nur in Reaktion
zur Umgebung verstanden werden.
Damit spielt die individuelle Vergangenheit
eine Rolle und die Erfahrungen des einzelnen.
Intelligenz oder Gedächtnis sind untrennbar
von der Person. Terrorist, Extremist
oder pauschal „Gestörter“ sind Ordnungswörter,
als könnten wir eine Schublade nutzen.
Weder ist das richtig auf die Person bezogen
deren Herkunft und weiteres Verhalten pauschal
vereinfacht wird, noch haben wir selbst
Schubladen im Kopf. Wir können ein Gehirn
als Ding begreifen, mit dem Gedächtnis ist
das so eine Sache. Ich kann einen Teil des Gehirns
isoliert untersuchen und unterscheiden,
was dort passiert. Aber ich kann nicht Meyers
Gedächtnis irgendwo hintun, wie einen Eimer
mit Sachen. Ich kann nicht machen, dass Müller
implantiert bekommt, was Meyer erinnert.
Gibt es Wissenschaftler, die probieren das
hinzubekommen?
Wir können auf ein Wort hereinfallen. Es gibt
gar kein Gedächtnis. Da ist nur ein Mensch,
der sich erinnert und möglicherweise gibt
ihm noch jemand recht: „Das stimmt, so war
das.“ Trügerische Sicherheit. Was ist Beschleunigung?
Da muss doch zunächst etwas sein,
das schon in einem gewissen Tempo unterwegs
ist: ein Rennwagen, eine Putzfrau, und
dann kann sie noch Gas geben. Beschleunigung,
Gedächtnis, Extremismus – was soll
das sein? Ohne den Mensch, der uns erklärt
worum es geht, wenn er diese Worte sagt,
machen sie keinen Sinn.
In der Schule wird ein engagiertes Kind gelobt
und gefördert. Demokratische Ideale
werden gelehrt. Eine gute Sache. Wir füttern
die Gehirne der Aufnahmefähigsten mit dem,
was uns intellektuell gut und teuer ist. Das
hat nur den einen Haken, dass die in der
Schule fleißigsten Nacheiferer der guten
Sache das Böse selbst in der Regel nicht
kennen gelernt haben, weil sie jung sind
und noch Schulkind. Weltretter müssen stark
sein, und manchmal sind sie der Größe ihres
Anspruchs schließlich nicht gewachsen.
Ein sauber gewaschenes Gehirn macht noch
keinen couragierten Staatsbürger. Der jährliche
Putztag aller Wege im Dorf. Oder: Eine
Truppe hochmotivierter AbituranwärterInnen
besprüht nach Anleitung ein öffentliches Gebäude
mit bunten Motiven; das heißt nicht,
dass hier Graffiti verstanden und „Geschmiere“
vermieden würde und die Welt deswegen
besser. Das wird nur so in die Zeitung geschrieben
(und in die Köpfe der fleißigsten
Mädchen auch).
„Mutig gegen Extremismus“, das war der Titel
vom kleinen, illustrierten Aufsatz, mit dem
Alex einen Preis gewonnen hat, und Christian
hat das im Tageblatt veröffentlicht. Sie wurde
vom Bundespräsidenten als Ausnahmeschülerin
gewürdigt, und ich habe das zum
Anlass genommen, eine wunderbare Freundschaft
zu versuchen. Wie ist das nur schief
gegangen! Wollen wir gegen Extremisten
vorgehen, als könnten wir einen Feind des
Lebens wie einen Tumor wegoperieren, darf
ich das fragen? Ist ein Extremist auch mal
ein Mensch gewesen? Was ist eigentlich ein
Kapitalist, ein Wähler, ein Verbraucher, eine
Person – sind das noch ganze Menschen, die
mal was anderes tun, segeln gehen oder Liebe
machen?
# Wir sind nur ein Baum und werden kein
Fisch
Die Gene sind ein Argument für vieles. Aber
auch ein Gen ist uns nur ein Wort. Niemandem,
der nicht eine spezielle Ausbildung hat,
ist so genau klar, was „die Gene“ tun. Jeder
stellt sich nur ungefähr etwas darunter vor.
Aus einer Eiche wird keine Birke und ein
Baum ist kein Fisch. Wohin wächst der nächste
Ast, wie viele Äste bildet ein Baum? Wird
sein Stamm dick mit den Jahren oder geht’s
mehr in die Höhe? Kann der Wind ihn schief
werden lassen, und wohin schwimmt ein
Fisch am Montag? So ungefähr können wir
beschreiben, was festgelegt ist und was wir
auf der anderen Seite nicht gut vorhersagen
können.
Das Durchdringen von Vogelschwärmen.
Durcheinander in einem Schwarm Makrelen,
in die ein großer Raubfisch vorstößt.
Das Gewimmel von Schlittschuhläufern auf
einem zugefrorenen Gewässer. Wohin geht
es als nächstes? Eine Makrele tut, was Makrelen
machen, und ein kleines Mädchen
auf dem Eis ist nicht der starke Typ, der uns
zeigt, wie toll er laufen kann. Auf der Straße:
Im exklusiven Sportwagen, einem einfachen
Pkw, dem Reisebus oder mit dem Lastwagen
sind wir unterwegs. So ist das Leben in einer
Firma, so ist die Gesellschaft. „Du stehst auf
einer Brücke und schaust auf die Autobahn.
Da kommen zwei VW, ein Lastwagen und ein
Luxusauto, ein Sportwagen; das ist das Leben“,
meinte Gudenau, Professor an der Armgartstraße.
Dort habe ich studiert. Freiheit
bedeutet, begrenzt durch den Ort der Absprungrampe
meiner Vergangenheit, weiter
zu hüpfen. Oder humpeln. Wir sollten nicht
überheblich sein.
# Dem Einzelnen ist die Gesellschaft das
Feld, in dem er sich bewähren muss
Das hat Moshe Feldenkrais, Erforscher
menschlicher Bewegung, Reife und Verhalten,
in einem Buch postuliert. Die Gesellschaft,
das ist auch ein Wort. Lauter einzelne
Menschen in einem Topf dürfen dasselbe, das
andere ist ihnen verboten. Da wird ein Rahmen
formuliert: Deutschland. Ein definiertes
System mit Außengrenze innerhalb der alles
gilt. Und Deutschland, das ist noch viel mehr,
als nur ein paar Regeln im Gesetzbuch. Was
ist deutsch? Wenn ich in China aufwachse, ist
anderes richtig als bei uns. Auch im zeitgeschichtlichen
Rückblick: Ist Schwulsein krank,
ist es eine Straftat oder ist es ganz normal?
Essen wir im Liegen, wie die alten Römer,
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 15 [Seite 15 bis 20]
oder gehört es sich, das Besteck „von Außen“
zu benutzen? Darf ich meinen Cheeseburger
mit den Fingern essen?
Wir werden von unseren Eltern erzogen, wenn
wir Glück haben, sonst machen andere das.
Einige Jahre vergehen, in denen wir nicht frei
von den Erziehern sind. Dann sind wir selbst
erwachsen. Nun sind wir wieder in Abhängigkeiten,
wir machen eine Ausbildung. Wir erleben
Beziehungen, wechseln Bezugspunkte
– aber nie sind wir so frei, dass alles in jedem
Moment uns gehorcht und unser Wille exakt
und wunschgemäß perfekt jede Minute unseres
Lebens gestaltet. Das schafft niemand. Ist
das überhaupt erstrebenswert?
Ein Ideal von Freiheit: Ist Freiheit der unbedingte
Wille? Da denkt man an Astronauten,
die in Schwerelosigkeit herumgondeln.
Schwerkraft ist eine Bindung an Mutter
Erde. Hier fängt die Frage nach dem
Sinn und Zweck von Umgebungen an.
Wir haben sexuelle Lust, Sehnsucht
nach Geborgenheit und Pflichten. Irgendwoher
muss Geld fließen, mit dem
wir unsere Unabhängigkeit finanzieren.
Die Gesellschaft ist ein Gelände, ohne
das wir nicht vorankommen. Selbst
wenn ich heute im Bett bleibe: Zeit vergeht,
mein Herz schlägt, es ist immer
alles in Bewegung. Wenn ich krank bin
und liegen muss? Wer sich nicht umdreht,
liegt sich wund.
# Professioneller Sport ist ein Beispiel für
nicht funktionierende Bewertung
Segeln: Die Elb-H-Jolle ist eine Einheitsklasse.
Ihre Erfinder taten einiges, die Boote
durch Vorschriften einander exakt gleich zu
machen, damit der bessere Segler ermittelt
werden kann. Nicht derjenige mit dem meisten
Geld, der das Boot so optimieren kann,
dass es von allen Schiffen das schnellste ist.
Sport: Meine roten Haare – als ich jung war,
wurde ich gern scherzhaft mit Boris Becker
verwechselt. Wenn ich unterwegs war (einmal
hatte ich einen Sack mit Segelklamotten und
ein hölzernes Paddel bei mir), habe ich diese
Sprüche: „Aber das Geld müsste man haben“,
aufgegriffen und geantwortet: „Ich bin ,Bernd‘
Becker. Er ist mein Bruder.“ Auf das Paddel
deutend sagte ich: „Neu sind diese hölzerne
Schläger.“ Boris machte, dass wir alle Tennis
schauten. Das war so spannend! Jeder hing
am Fernseher, wenn Becker gegen Ivan Lendl
spielte. Wir schauten auch Steffi Graf an. Es
gibt Frauen- und Herrentennis, und die Frauen
spielen nicht gegen Männer, weil dann
immer die Männer gewinnen würden.
Heute ist auch Frauenfußball im Kommen.
Manche sagen, wenn das Feld für die Frauen
kleiner sei, die Tore etwas weniger groß,
würde das Tempo im Spiel dem der Männer
eher gleich kommen, und das wäre doch mal
was. Wir haben viel Regatta gesegelt, ich bin
in der Bezirksmeisterschaft der Elb-H-Jollen
über Jahre ein ernstzunehmender Konkurrent
meiner Freunde auf dem Wasser gewesen.
Aber bei unserem Wochenendsport sind
Jungs und Mädels stets gemischt angetreten.
Neulich habe ich im Fernsehen eine junge
afrikanische Läuferin Alemu gesehen, die
war immer vorneweg. Der Sprecher meinte
irgendetwas von Testosteron, und ich habe
gegoogelt:
„Hyperandrogen zum Sieg. Kommentar von
Herbert Steffny (20.8.2016): Nun zu den Hintergründen
der sehr diffizilen Materie. Nachdem
der internationale Sportgerichtshof (…)
auf Grund einer Klage der hyperandrogenen
indischen Sprinterin Dutee Chand die (…) Regelung
für die nächsten zwei Jahre aufhob,
mussten die betroffenen Athletinnen wie
Caster Semenya keine Testosteron-senkende
Medikamente mehr einnehmen. (…). Eigentlich
ist Semenya der lebende Beweis wie Testosteron
bei Frauen wirkt. Das ist aber kein
Doping, sondern in diesem Jahr ist sie biologisch
wieder so wie sie ist, eben von Natur
aus hyperandrogen (Frau mit höherer männlicher
Sexualhormon-Produktion) und folglich
ungeschlagen. Auch die Zweit- und Drittplatzierte
Niyonsaba und Wambui wirkten
eher wie die „Jungs im Läuferfeld“ und fielen
wie Semenya auch durch burschikose Gesten
wie Muskeln zeigen,
tiefe Stimme
usw. auf. Denkt
man hier nicht
spontan: „Ja, so
sind eben Jungs?“
Hier braucht es
unbedingt eine
zufriedenstellende
IAAF-Regelung. Andererseits
werden
die genetischen
Voraussetzungen
nie gleich sein. Im
Marathonlauf legt
man auch keinen Grenzwert für die maximal
erlaubte Höhe der fettverbrennenden Enzym-
Kapazität fest und im Basketball ist die angeborene
Größe auch von Vorteil. Und trotzdem
tut es mir irgendwie Leid für die hinterher
laufenden „Mädels“ im Frauenfeld …“
Ich möchte mich in meinem kleinen Aufsatz
nicht in den Sport einmischen. Das Beispiel
zeigt, wie die Größe einer Leistung im Vergleich
mit anderen fragwürdig bleibt, die
Höhe einer Marke, die ich im Vergleich zu
meinen früheren Ergebnissen selbst erreichte,
jedoch verlässlich ist. Ich möchte das Haus
von Piet (die Frau möglicherweise) oder genauso
oft die Alsterregatten gewinnen, ich
möchte sein Geld. Aber ich möchte sein Leben
als Ganzes nicht haben, wenn ich meins
dafür aufgeben muss. Es führt in die Irre, sich
vorzustellen, was fehlt. Das ist Neid, selbstzermürbende
Rückschau im Vergleich, was
alles zum Glück hätte sein müssen – weil du
dabei vergisst, wer du bist. So wie ich heute
male, das hat sich erst entwickelt. Wer fällt
vom Himmel?
# Die Umgebung beeinflusst die nächsten
Schritte in unsere Zukunft
Es gibt eine Stelle in „Sherlock Holmes“, wo
der Detektiv seinen Freund verblüfft. Holmes
konfrontiert Watson damit, was dieser seiner
Vermutung nach im Moment gedacht hatte:
„Wir gingen die Treppe runter“, rekapituliert
er. „Sie schauten auf das Bild vom (irgendein
Name) und auf der Straße schließlich
angekommen, fiel Ihr Blick auf“ – (er nennt
etwas). Scharfsinnig beschreibt er, was ihm
am Freund aufgefallen ist, ob der schwer
geatmet hat oder nervös wurde: „Sie gingen
schneller, als Sie bemerkten, dass“ – kombiniert
Holmes mutmaßliche Gedanken von
Watson. Beide verbringen viel Zeit miteinander.
Holmes hat dieselben Bezugspunkte.
Er kennt alle Menschen, denen sie begegnet
sind. Schließlich gipfelt die ganze Deduktion
in einer fulminanten Behauptung: „Und weil
Sie dies grad dachten, sagten Sie schließlich“
– er nennt den ausgesprochenen Gedanken
als Ende einer langen Kette von Folgerungen.
Watson ist vollkommen von den Socken. „Das
stimmt alles ganz genau!“, ruft er aus.
Im Buch „Die zehn dümmsten Fehler kluger
Leute“ (Arthur Freeman/Rose DeWolf) geht
es darum, eigenen Gedankenketten auf die
Spur zu kommen und das Selbst im Bemerken
stereotyper Denkweisen zu korrigieren.
Die Autoren mutmaßen, unser Denken führe
zu daran gekoppelten Emotionen welche
wiederum Gedanken und Handlungen nach
sich ziehen, die gewohnheitsmäßig zu Komplikationen
führen. Das ist für das Begreifen
verschiedener psychischer Erkrankungen von
Bedeutung. Ein Mensch in einer Psychose ist
nicht Herr planvoller Aktivität, kann aggressiv
Schaden bei sich und anderen anrichten.
Er wird aber kaum einen terroristischen Anschlag
nach Überlegung durchziehen, vom
Einkauf bestimmter Materialien, Waffen und
der Zeit, Bomben zu basteln, bis zum Tag der
eigentlichen Aktion. Beide werden von der
Gesellschaft als extrem, krank und gestört
beschrieben. Aber der eine ist ein Psychopath
der plant, der andere ist durch seine Fantasie
traumatisiert und wehrt sich spontan. Er weiß
nicht, was er tut. Der Attentäter plant Rache
oder er ist auf religiöse Weise fanatisch.
Für mich, der ich viel drüber nachdachte warum
dies oder jenes nicht besser lief, ist das
Ganze von Interesse, weil die Frage nach dem
eigenen Willen, den Genen, der Gesundheit
und die Frage nach Talent und was jemand
daraus macht, grundsätzlich in Relation zur
Umgebung gedacht werden muss. Wir können
größer denken. Wir denken, mein Fuß tut
weh und suchen einen Spezialisten auf. Wir
könnten zunächst an uns als ganzen Mensch
denken. Wir können noch überlegen, ob uns
generell ein übergeordnetes Schicksal führt?
So gibt es Menschen, die glauben, sie erlebten
ihr Dasein nur und ihr Alltag sei komplett
vorherbestimmt. Im Gewusel bunter Punkte
auf dem Eis eines gefrorenen Sees herumlaufender
Menschen, die wir von einer Anhöhe
beobachten, denken sie sich wie Treibholz im
Strudel. Wie die durchkreuzenden Vögel oder
Makrelen im Schwarm unter Wasser. Und
wenn der böse Orca hineinschießt und Leben
frisst, kann niemand etwas tun. Der Meteor
fiel vom Himmel, und ich war tot.
# Therapie wird behindert vom gesamtgesellschaftlichen
Interesse der Stabilität
Das Brötchen fällt runter, immer auf die
Butterseite. Eine höhere Macht, was schief
gehen kann, geht schief? Aber wenn dir die
Wurst auf den Boden fällt, und du sagst: „Dafür
kann ich nicht“, kommt Kritik. „Natürlich
warst du das. Da bist du selbst ganz allein
dran schuld!“ In Worten denken, bedeutet innere
Dialoge zu führen. Insofern sind andere
schon am Tun beteiligt. Es kommt darauf an,
wie bewusst uns ist, dass wir nur denken und
nicht wirklich mit anderen Menschen reden.
In „Don Camillo und Peppone“ spricht der
Pfarrer mit Jesus in der Kirche, was geschieht
dort? Im Film „Cast Away“ spricht Hanks auf
der Insel mit dem eiförmigen Ball Wilson wie
mit einem Freund. Was ist das: Schuld? Es
gibt Menschen, die glauben, erst Ruhe finden
zu können, wenn sie wissen, wer ihr Kind getötet
hat und noch besser, wenn er dafür eine
gerechte Strafe erhält. Manche Menschen
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 16 [Seite 15 bis 20]
schlafen schlecht, auch ohne Verbrechen
gegen sie. Wem sollen die die Schuld geben,
wenn sie keine Ruhe finden?
Da ist eine Schwierigkeit anderen zu helfen,
wenn die Helfer nicht den Hilfesuchenden
primär im Blick haben, weil das Interesse für
Ordnung zu sorgen übergeordnet ist. Das ist
dann der Fall, wenn eine psychische Störung
vorliegt, die das Allgemeinwohl genauso betrifft,
wie das Wohl dessen, der Hilfe benötigt.
Im Gericht wird die Schuldfähigkeit festgestellt.
Fähig bestraft zu werden, oha! Das
muss ich leisten können? In einer geschlossenen
Psychiatrie zu sein ist keine Strafe? Dann
müsste das der Ort sein, den ich frisch und
munter, gesund und geheilt verlassen kann,
nachdem der Arzt meinen kranken Kopf neu
ausgerichtet hat. Das wäre ein Ziel. Wer sich
selbst und andere krankheitsbedingt gefährdet,
wird per richterlichen Beschluss zwangsweise
eingewiesen. Wer freiwillig in die Klinik
geht, kann gehen wann er will. Wer nicht
schuldfähig ist und gegen andere krankhaft
handelte, ist im forensischen Teil der Psychiatrie.
Das ist ein Gefängnis das nicht so heißt.
Die Gesellschaft ist hilflos, angesichts der
nichtkontrollierbaren Aktivität einiger.
Generelle Angst vor psychisch Erkrankten
ist zum Nachteil der Betroffenen, man tut
etwas, ja. Aber in erster Linie versuchen Arzt,
Polizei und Angehörige, die Kontrolle zurückzugewinnen.
Das entspannt. Das Ziel, einen
Erkrankten dauerhaft gesund rezuintegrieren,
wird nicht verlangt. Wenn jemand ein
Medikament nimmt, nach Klinikaufenthalt
Besuche in einer Praxis wahrnimmt, sieht die
Gesellschaft ihre Aufgabe als getan. Das wird
doch dem Menschen nicht gerecht. Das ist
eine Leistung an allen Menschen, das ist eine
Ordnungsfunktion, die der Gesellschaft insgesamt
nutzt. Das ist nicht für den Menschen,
das ist für die Menschen allgemein. Das ist
zu wenig. Wir werfen psychisch Kranke weg!
Wir halten sie für gestört? Wir sind nicht bereit,
in Verantwortung dessen, dass wir diese
Menschen störten bis sie krank wurden, sie zu
entstören. Mit einem Begriff machen wir aus
ihnen eine andere Sorte, keine Menschen wie
wir. Gestörte sind illegale Alien.
Das mag daran liegen, dass es schwierig ist,
ohne Manipulation anderen zu helfen. Der
Teufelskreis besteht darin, dass an der Umgebung
sozial gestörte Menschen nun wiederum
durch diese Umgebung beeinflusst
werden sollen, unabhängig von anderen
gesund zu denken. Wie kann das möglich
werden? Wie helfe ich demjenigen, der sich
nicht helfen kann, dahin zu kommen, wo er
sich selbst nicht nur hilft, sondern tut was er
mag? Vielleicht ist ein Grund dort zu suchen,
wo wir ihn zunächst nicht vermuten: Es gibt
wohl zahlreiche Menschen, die nicht tun, was
sie mögen sondern was sie sollen. Die gelten
aber nicht als krank.
Ich kann als Präsident dafür verantwortlich
gemacht werden, eine Linienmaschine (aus
Versehen) vom Himmel geholt zu haben, im
Streit mit meinem Nachbarland. Beschuldigt,
eine Halbinsel zu mir ans Staatsgebiet rangezogen
zu haben. Ich kann, als ein anderer
Populist, derjenige sein, dem vorgeworfen
wird eine Insel, ja ein ganzes Land, sinnloserweise
aus einer Union hinaus auf das Meer
getrieben zu haben, in einen Brexit gelabert
– und habe getan, was mir gefällt! Dafür gibt
es keine Strafe. Ein (grüner) Politiker (mit
mädchenhaft süß gescheitelt langem Haar)
fordert im TV-Interview die Bundeskanzlerin
auf, dieses oder jenes (endlich) zu tun, um
Druck! auf Putin zu machen. Die Realität ist:
Er übt nicht einmal Druck auf die Frau M. aus.
Das ist seine Ohnmacht. Es scheint ihm nicht
bewusst zu sein.
Ich kann der andere Präsident sein, der in
den Medien als krank beschrieben wird, und
ich mache (als der Präsident, der ich geworden
bin) was ich mag. Als Präsident bin ich
im Recht. Wenn andere Präsidenten zu mir
sagen: „Das darfst du nicht.“ Gewöhnliche
Menschen auf der Straße: „Der ist krank.“ Der
amerikanische Präsident, ihn ficht das nicht
an: „Ich bin ein stabiles Genie.“ Im Land drinnen,
als einfacher Mitbürger, werde ich nicht
gegen andere Menschen so selbstbestimmt
oder selbstherrlich etwas vergleichbar
machtorientiertes zum narzisstischen Lustgewinn
tun können. Ich würde bestraft, als
„krank“ therapiert: „Was sind Sie, stabiles Genie?
Oha! – dann bin ich der Kaiser von China“
– und ab in die Zelle. Als Abteilungsleiter
oder selbstständiger Unternehmer, kann ich
vergleichsweise mehr tun, von dem was ich
mag, als ein untergeordneter Angestellter.
Das kann ausgefallen sein, was ich mir so erlauben
kann, als kreativer Zeitgenosse – oder
öde und fremdbestimmt, als Mitarbeiter in
armseliger Jobsituation.
Insofern führt der Weg vom psychisch Kranken
in dauerhaft geistige Gesundheit nicht direkt
vom Klinik- oder Arztbesuch in das sozial
gut angepasste Verhalten, wie man es immer
probiert. Der Weg vom psychisch Kranken
zum Gesunden, ist ohne selbst erlebte und
erfahrene Aggression kaum möglich. Durchsetzungskraft
bedeutet, mit dosierter Gewalt
ein Ziel zu erreichen. Gewalt? Das möchte
man ja gern vermeiden, aber ohne Aggression
zu erleben, kann niemand drauf verzichten.
Ich kann nicht auf Gewalt verzichten, wenn
sie mir nicht zur Verfügung steht. Gewalt zu
vermeiden, ist nicht Verzicht. Vermeiden kann
man Gewalt unter Beruhigungsmitteln. Normale
Menschen wenden ständig Gewalt an,
mal mehr mal weniger. Verbale Gewalt, Intrigen,
scharfe Abgrenzung, wenn zuviel verlangt
wird. Länder führen Kriege. Waffen werden
gebaut, verkauft und eingesetzt – das ist
Wirtschaft, Krieg, gesunder Alltag. Es ist ein
Geschäft. Kein Leben ohne bösartige Gewalt
auf dieser Erde.
Die Gesundheit besteht im Kalkül: „Das kann
ich mir erlauben.“ Ein Polizist darf von Berufs
wegen Macht ausüben, kann ein Gesetz
machtvoll anwenden. Jeder kann Rechte einfordern.
Das ist beliebig rauf- und runter auf
der Messlatte von Gewalt durch- und nachzudenken.
Eine deutliche verbale Forderung,
und komme ich weiter damit? Muss ich in
das Gefängnis oder komme ich zur Bewährung
noch gerade davon? Moderne Therapie,
die dem psychisch Kranken hilft, als einzelner
der er ist und nicht nur einer gesamten
Gesellschaft, die vor den Gestörten Schutz
verlangt, müsste verstehen, dass Gewalt ganz
normal ist. „Rechte hat, wer sich traut, für sie
einzutreten“, Roger Baldwin, Gouverneur von
Connecticut. Wenigstens soviel Traute müssen
wir haben! Wenn wir zum Anwalt gehen,
sind wir mutig genug, um als gesund zu gelten.
Die anderen müssen zum Arzt.
# Schwein sein?
Meine Eltern empörten sich: „Etwas mitgehen
lassen“ – eine Freundin hatte das gesagt, und
sie hatten den Ausdruck nicht verstanden. Im
Restaurant: Man hat gegessen und klaut im
Anschluss einen Löffel oder etwas der Hoteleinrichtung
nachdem übernachtet wurde.
Das fanden die Freunde meiner Eltern cool,
witzig – andere in der Runde lachten.
Mein Vater und ich kreierten seinerzeit ein
Heft des Segelvereins, unsere Vereinszeitung.
Ehrenamtliche Mitarbeit, wie zum Beispiel
im Segelausschuss Regatten zu organisieren
oder die Bootshalle in Eigenarbeit anstreichen?
In einem Verein ist immer zu tun. Es
wird geklagt, heute sei es schwieriger, Motivierte
zu finden. In der Redaktion unseres
Vereinsheftes wurden wir von Mitgliedern
unterstützt, die Beiträge einschickten: Was
auf einer Reise in die Ostsee passiert war,
wie das gemeinsame Grillfest gefallen hatte
und ähnliches.
Für die Umsetzung wurden wir von einem
Werbegrafiker unterstützt, der wie meine Eltern,
inzwischen gestorben ist. Er stand schon
kurz vor seiner Pensionierung, arbeitete in einer
großen Hamburger Agentur. Einmal hatte
er zwei Handvoll bunte Fine-Liner einer
typischen Marke dabei (wie sie damals alle
Grafiker verwendeten). Bekannt wie der NT-
Cutter oder das Fixogum. Jeder kannte den
Zack-Zack-Layout-Kleber, das Lösungsmittel
„Bestine“ und andere vertraute Dinge: Schöllerhammer-Karton
oder eine „Lucie“ (ein
Episkop, mit dem man im verdunkelten Büro
was abpausen kann). Es gab den Computer
noch nicht. „Wollt ihr welche?“, fragte unser
Layouter. „Das machen alle“, antwortete der
Segelkamerad auf Nachfrage, wie er in den
Besitz der Stifte gekommen sei. Alle? Ich fing
grad an, mit selbstständiger Illustration neben
dem Studium Aufträge anzunehmen und
dachte, dass ich mich selbst wohl schlecht
beklauen könne?
Wir erleben kollektiven Beschiss der Autoindustrie
am Bürger, hatten mit dem verurteilten
Uli Hoeneß einen weiter hochangesehenen
Manager beim FC-Bayern, und wer
erinnert sich nicht an den Deutsche-Bank-
Chef, der sich Vorwürfen ausgesetzt, nicht
emotional eingebrochen ist? „Schwein sein“
gilt als nachahmenswert, kommt an. Zahlreichen
Beispiele: Die Liste der Mogeleien wird
lang, wenn wir Fernsehformate heranziehen,
wo ein Sender (oft mit verdeckter Kamera)
Alltagsbetrug zum Thema nimmt. Die böse
Telefongesellschaft. Der miese Schlüsseldienst?
Aber das sind wir. Wir arbeiten bei
der Deutschen Bahn, die immer alles falsch
macht. Wir sind in der Autowerkstatt, die das
lose Kabel in der Elektrik übersehen hat, und
wir sind es selbst, die einen Löffel mitgehen
lassen, im Hotel.
Wir sind die, die achtlos oder mutwillig den
Gehweg verdrecken. Wir werfen das Papiertaschentuch
nicht in einen der vielen Mülleimer.
Wir begehen Fahrerflucht, nachdem wir
einen Pkw leicht beim Ausparken touchierten.
Wir wenden auf der Autobahn im Stau,
verstopfen die Rettungsgasse und fahren zur
Ausfahrt zurück, weil es einfach nicht weiter
geht. Wir sind auch die, die das dann filmen
und auf YouTube zeigen, wir sind der Polizist,
der Gute? Meister Lynch ist dein Nachbar.
Morgen drehen wir dann selbst ein Ding. Un-
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 17 [Seite 15 bis 20]
ser Film ist kaum besser als der der anderen.
Es gibt immer gute Gründe, Regeln zu brechen.
Niemand ist nett. Eine gefährliche Illusion,
man sei gut und alle anderen schlecht.
Genauso gefährlich ist der Glaube, alles gehöre
wie es ist, weil der Mensch als göttliches
Wesen deswegen schon gut ist. Gut und
menschlich zu sein, ist eine echte Herausforderung.
Neue Empathie zu entwickeln, nach
dem Schock des Erwachsenwerdens, ist eine
Aufgabe – und nicht zu vergleichen mit dem
unbegrenzten Vorrat davon, den ein Kind
möglicherweise verschleudern kann, weil ein
attraktiver junger Mensch gelegentlich mal
leicht in die Zukunft spaziert.
Im Akzeptieren und Begreifen der Realität
haben wir die Wahl, unser Selbst zu formen.
Es steht uns zu, entrüstet zu sein, verletzt! Ist
doch wahr. Die anderen sind schuld. Und? Was
nützt es, das zu beklagen? Da ist ein Mann in
meiner Heimatstadt Wedel unterwegs. Tag
für Tag geht er durch die Bahnhofstraße (ich
habe dort gelegentlich zu tun, man kommt ja
nicht umhin, Leute zu bemerken, die irgendwo
typisch sind). Er hat eine Tüte bei sich und
eine längere Greifzange. Er trägt Handschuhe.
Ein komischer Hut sitzt schräg auf seinem
Kopf. Der Mann ist nicht gerade groß und im
Auftreten bescheiden, ein wenig unscheinbar.
Er ist schon älter. Er geht, den Boden absuchend
im Zickzack den Gehweg entlang, vom
Bahnhof in Richtung Elbe. Er pickt mit dieser
Zange am verlängerten Arm jeden Müll auf,
den er bemerkt. „Warum machen Sie das?“,
habe ich ihn gefragt. „Mich stört der Dreck.“
Ich wollte dann wissen: „Sind Sie bei der
Stadt angestellt?“ „Nein.“ Er antwortet wortkarg
(nicht unfreundlich). Jetzt sage ich einfach,
wenn ich ihm begegne: „Schön, dass Sie
da sind!“ Er schaut kaum auf. Seine Augen
wandern über die Pflastersteine. Ein Zigarettenstummel
klebt am Boden. Schließlich
gelingt es ihm, das Ding aufzusammeln.
# Kunst ist Selbsthilfe
Was ist Kunst? Erst nach dem Tod berühmt,
vorher brotlos? Ich weiß nicht, bin Maler
und Zeichner. Von sich selbst sagt man nicht
unbedingt, man sei Künstler. Das ist wie mit
dem Namen des Indianers: Stampfender Büffel?
Die anderen bewerten, und dann ist man
Künstler. Ich war schon vor dem Kindergarten
gut. Talentiert. Ich konnte: „Schiffe schräg
von vorn“ – Perspektive ist nicht allen gleich
gut zu eigen. Beim Zeichnen ist es ein Vorteil.
Es gibt Menschen, die nie einen falschen Ton
singen. Sie finden es leicht, eine neue Melodie
zu lernen, hören sicher, wo die anderen
sind, begreifen sofort, in welcher Tonart und
mit welcher Note ein Stück beginnt. Da bin
ich nicht gut. Auch die Farbe: Das Malen ist
nicht gerade das, was mir selbstverständlich
gelingt.
Der großartige M. C. Escher sagt, eigentlich
könne er gar nicht zeichnen! Angesichts dieser
wunderbaren und zauberisch verdrehten
Meisterwerke, die der ja geschaffen hat, darf
ich mir nicht anmaßen zu sagen, ich wüsste,
was er gemeint hat. Aber – ich zeichne
anders. Escher zeichnet, wie ich male. Er
zeichnet ausgefeilte Kunstwerke. Ich zeichne,
besonders wenn ich gerade fit bin, also
tagtäglich zeichne und viel mache, treffsicher
und schnell. Ich zeichne mit nur einer
einzelnen, nicht gestrichelten, gut sitzenden
Linie alles runter. Ich kann dafür einen Kugelschreiber
nehmen. Ich radiere nicht. Wenn ich
male, habe ich Deckfarben und viel Zeit, und
ich zeichne nach einer anderen Zeichnung
ab oder nach einem Foto. Das ist etwas ganz
anderes.
Es gibt Berufe, bei denen nicht gut sichtbar
wird, was „du“ heute getan hast. Im traditionellen
Handwerk hast du schlussendlich
ebenfalls ein Ding geschaffen, etwa wie der
Maler ein Bild. Wenn du fertig bist, kannst
du’s dir anschauen und sagen: Das habe ich
gemacht! Wenn ich Musik mache, verfliegt
der Ton, aber ich kann wiederholen, was ich
drauf habe und die Musik aufnehmen. Wenn
ich eine Melodie gut beherrsche, kann ich
Varianten erfinden, die genau so gut wie der
Chorus selbst zu den Akkorden passen. Ich
kann schaffen ohne Ende. Wenn ich einen
Roman schreibe, habe ich soviel gelernt, um
das zu tun! Wenn das Buch fertig ist, kann
ich mich selbst lesen, noch umformulieren,
bis ich ganz genau sage, was mir vorschwebt.
Wenn ich „im Job am Arbeitsplatz“ nur das
Gefühl habe, dass es möglichst schnell Feierabend
oder Wochenende werden möge, weil
meine Arbeit mich in jeder Hinsicht fertig
macht, dann wird das wohl dazu führen, dass
ich mich nach einer Verbesserung umsehe?
Mein Vater wollte selbstständiger Unternehmer
sein. So haben meine Eltern umgeschult,
ein Fischgeschäft eröffnet. Erich (ich
nannte ihn beim Vornamen) hat sich über die
aufkommende Formulierung „Arbeitsplätze
schaffen“ aufgeregt. Auch über das seinerzeit
neue Wort „Job“ (anstelle Beruf), das
mein Vater vorn wie J-ogurt (nicht englisch)
aussprach, machte er sich lustig; über alles
modische sowieso. Männer mit Bart waren
ebenfalls Ziel seines Spotts. Ich glaube, dass
es eher Angst vor Veränderung war als Stärke.
Arbeitsplätze würden nicht geschaffen, sagte
mein Vater. Das erinnere an Spielplätze. Die
würden geschaffen, für Kinder. Zu erwachsenen
Wählern solle man ehrlich sein. Arbeitsplätze
schaffen, eine Forderung der damals
populären sozialdemokratischen Politik:
„Willy wählen!“ – das empfand mein Vater
als verdrehende Idiotie, niemand schaffe Arbeitsplätze.
Wer eine Firma führen wolle, versuche
doch, mit so wenig wie nötig an Kosten
und Gehältern, effizient zu produzieren.
Auch: Unkrautvernichtungsmittel sei dazu
da, unliebsames Kraut zu vernichten, sagte er.
Deswegen müsse es so genannt werden. Man
hätte jetzt „Pflanzenschutzmittel“ drauf geschrieben,
was für ein Blödsinn, noch einer!
So ging es jeden Tag. Mein Sohn bemerkt,
dass auch ich stereotyp über die gleichen
Dinge schimpfe. Ein Zeichen, dass ich offenbar
alt bin. Das beunruhigt mich.
„Bassi“ (so nannte man Erich unter den Seglern)
wollte ein eigenes Boot, wollte selbst
steuern, auf einer Regatta und auch am Wochenende,
wenn er mit Greta (meine Mutter
nannte ich ebenfalls beim Vornamen) oder
später mit uns allen in Familie auf Tour segeln
ging. Erich wollte selbst steuern. Meine
Mutter musste ihm viel zuarbeiten. Auf Regatten
hatte er gern einen guten Mitsegler,
der ihm taktische Tipps geben konnte. So war
es auch im Geschäft. Mein Vater hatte große
Ideen, unternehmerischen Mut und ein fröhliches
Auftreten (als er jung war), meine Mutter
musste alles durchrechnen.
Vielleicht bin ich ja ein Künstler und werde
berühmt? Vielleicht auch nicht. Ich habe
bereits so viele große Bilder geschaffen, das
hätte ich niemals gedacht. Was mir alles
schwierig war und fertig wurde! Ich war fleißig
und einfallsreich. „Ich würde gern malen,
aber – “, höre ich gelegentlich. Was aus diesen
Bildern einmal wird? Keine Ahnung. Es ist
mir kaum noch wichtig. Kunst ist Selbsthilfe.
Niemand macht soviel nutzlosen Kram, wenn
er nicht irgendwie muss. Kunst kommt von
„nicht anders“ können. Die Fachhochschule
für Gestaltung Armgartstraße, an der ich
mein Diplom als Info-Grafiker gemacht habe,
ist schon immer Teil einer Reihe verschiedener
Fachbereiche gewesen, und dass wir
ein „Diplom“ erworben haben, ist dem Problem
geschuldet, dass die angewandte Grafik
nicht als Kunst und nicht wirtschaftsnah zu
bezeichnen ist. Heute heißt es dort HAW,
das ist die Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Mir gefällt daran, dass ich sagen
kann, ich wäre Wissenschaftler, eine Art
Kunst-Forscher. Ich suche Lösungen, grabe in
meiner Fantasie, wie der Archäologe in der
Wüste. Das gefällt mir. Ich habe an anderer
Stelle gesagt, dass Glück nur der Gipfel des
Fühlens sein kann, und das kommt bei mir
durchaus vor. Immer glücklich sein, geht das?
Man würde es ja wohl gar nicht mehr bemerken.
Die krampfhafte Suche nach Glück!
In einem Armstrong-Buch erzählt der Trompeter,
wie ein amateurhaft musizierender Fan
ihn anspricht: „Mein ganzes Leben habe ich
versucht dir zu folgen Louis“, und Pops antwortet
aber: „Dann bist du wohl zuallererst
dir selbst gefolgt, oder?“
# Macht Glaube krank?
Alex; sie lügt wie meine Mutter, denke ich.
Aus Angst, nicht aus Bosheit, sie kann es
nicht anders. Es war so vertraut. Was hilft
wem? „Religion ist heilbar“, das habe ich auf
einem schäbigen VW-Bus gelesen, mit einem
großen Peace-Symbol, hinter dem ich eine
Zeitlang fuhr, bis der dann abgebogen ist. Ich
bin wieder in die Kirche eingetreten. Das kam
im Zuge der Erkrankung von Greta. Es war
schon absehbar, dass sie bald sterben würde.
Eine Beerdigung mit einem professionellen
Redner anstelle eines Geistlichen? In diesem
Moment wir das ernsthaft planten, wurde
klar, dass es nicht ging.
Als wäre es für immer gleich, ein Moment
wie eine Ewigkeit, in die ich jederzeit eintreten
kann, so beständig ist diese Erinnerung:
Meine schon sterbenskranke Mutter und ich
sitzen nebeneinander in dunkelbraunen Ledersesseln
im Wohnzimmer in Wedel. Gegenüber
ist der große Mahagoni-Einbauschrank
mit dem Fernseher. Ich sitze nah am Fenster,
sie mehr in der Mitte vom Zimmer. Ich spüre
links die Wärme des langen Heizkörpers. Es
steht eine schmale Keramikschale mit Wasser
darauf. Aus drei kreisrunden Öffnungen
soll die Feuchte in die Raumluft verdunsten.
Das milchige Licht eines herbstlichen Nachmittags
erhellt uns noch durch das breite
Fenster an der Seite. Meine Mutter, traurig
– aber auch mutig und gefasst – ein unvergesslicher
Augenblick in dieser Zeit. Als wäre
dieses Zimmer noch immer so eingerichtet
(und jederzeit aufzusuchen), und sie sitzt
dort, wie oft. Ich kann einfach hingehen, die
Erinnerung ist ein Zimmer in meinem Kopf.
Sie hat die Beine hochgelegt, auf dem passenden
lederbezogenen Schemel dafür, und
zwischen uns ist der kleine Tisch auf dem
auch der Tannenbaum in der Weihnachtszeit
stehen konnte. Unten ist er gefüllt mit den
Zeitungen der letzten Zeit (im schmalen Fach
die aktuelle vom jeweiligen Tag, im breite-
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 18 [Seite 15 bis 20]
ren die der jeweiligen Woche). Der Tisch, in
Form eines Würfels mit dunklen Holzleisten
rundherum, ist oben mit vier weißen Fliesen
hübsch gestaltet, die mein Vater anstelle der
ursprünglichen Holzplatte eingesetzt hat. Als
wir beginnen, nachdem wir eine Liste mit
Trauergästen skizziert haben, nun über die
zu spielende Musik auf der Beerdigungsfeier
nachzudenken, haben wir wohl beide gerade
eine Träne jeweils nicht zurückgehalten. Wir
blieben cool.
Nachts – ich komme vom Klo im Cotton-Club,
und Alex sitzt vorn auf der Bank, wartet auf
mich. Ich sehe ihr wunderbar dunkelrotes
Haar. Sie trägt es offen heute Abend, schaut
nach links in Richtung der Band, die gerade
eine Pause macht, ich sehe ihr Profil. (Es ist
immer). Ich gehe den engen Gang an den Bäuchen
der dicken Dixielandfans fortgeschrittenen
Alters vorbei, wieder zurück zu meinem
Platz (an ihrer Seite). Morgen ist die Beerdigung
von Greta. Norbert, beinahe zu laut und
fröhlich dafür; sie spielen nun „New-Orleans-
Function“, und ich weiß genau, dass ich, wäre
ich allein hier, selbstständig gar nicht zurück
nach Hause finden kann. Alex filmt mit dem
Handy: „Die Musik meines Vaters.“ Neben uns
sitzt eine nervöse Frau, die auf ihre Tochter
wartet die dann aber nie kommt. Ich drücke
meinen dicken blauen Pullover dazwischen.
Was kann man glauben?
Der Montag vor Heiligabend. Norbert singt:
„What makes your big head so hard?“ Wir gehen
mitten in „Caldonia“, Alex ist überrascht,
dass ich mich nicht verabschiede, aber ich
habe den Trompeter schon vorher getroffen.
Eine kühle Dezembernacht, als wir nach der
letzten S-Bahn hasten. Chaotisch glaubt sie,
noch zurück zu müssen; Mütze vergessen?
Nein doch nicht. Es klingt wie ein erfundenes
Problem, um kurz allein zurück zu eilen. „Ich
kann gut laufen!“, drängt mich Alexandra beschwörend,
doch vorzugehen, um mich davon
zu überzeugen, sie würde die Bahn (und mich
dort am Bahnsteig) noch rechtzeitig schaffen.
Irgendetwas stimmt nicht dabei, aber
das macht nichts. Ich will das nie wissen! Wir
sind dann unterwegs. Erst mit der Bahn im
Tunnel und später im Bus. Wir schaukeln, sausen
durch die Nacht: „Du fragst Sachen, die
fragt nicht einmal meine Mutter.“ Wir fahren,
und Alex redet und redet, und einmal endet
ihr Satz ohne jeden Sinn – wie in der Luft
bleiben die unfertigen Worte hängen, als sie
mich mit ganz großen Augen anschaut.
Wieder Greta, das ist einige Wochen vorher:
Wir gehen über den Friedhof, meine Mutter
beschreibt, wo und wie sie liegen möchte. Erinnerung,
im Hospiz: Siaquiyah und ich sind
an Gretas Bett, und meine todkranke Mutter
schläft unruhig. Mein Freund der Pastor
zeichnet ein kleines Kreuz mit dem Zeigefinger
auf die verschwitzte Stirn meiner Mutter.
Im Winter: Ich tauche in den kalten Hafen
und freue mich noch, es geschafft zu haben
mit diesem Gewicht im Gepäck – Albträume
und Erlösung, ich finde die neue Welt, wie
Astrid Lindgrens Brüder Löwenherz. Das ist
nicht krank, das ist das Leben. Und das hat
nun noch so viel zu bieten? Das kann man
wohl nur schreiben, wenn man erst 23 Jahre
alt ist.
# Die Gesellschaft könnte kaputte Menschen
recyceln?
Da gehen Leute los und möchten ein neues
Organ, eine Niere ist hin. Wie ein Auto in der
Werkstatt einen neuen Auspuff bekommt,
geht der Mensch zur Reparatur zum Doktor.
Augenarzt, neue Linse. Orthopäde: neue Hüfte.
Neues Hirn? Alle Doktoren können Ärztepfusch
machen, weil es gute Ärzte gibt und
man prüfen kann, was der Doktor kann. Nur
der Psychiater kann es nicht. Niemand weiß,
was der Psychologe genau bewirkt. Hilflos ist
der Seelenklempner dem Zufall ausgeliefert,
dass der Patient den Weg in die Gesundheit
für sich findet. Und so „begleitet“ der Arzt, der
Therapeut. Er gibt ein Medikament, redet,
hört zu. Vor allem das.
Wichtig ist auch die Polizei, vor allem im
Sachgebiet eins. Wichtig tun die Gutachter,
und sie müssen eine Einschätzung abgeben,
was wir zu erwarten haben. Wir, die normalen
Menschen, die Angehörigen und die, die vom
Wahnsinn betroffen im Sinne der Gefährdung
durch „ihn“ sind. Was wird „er“ tun? Sicherungsverwahrung?
(Auch Frauen werden
verrückt). Es ist aber nicht dasselbe. Es gibt
unzählige Formen und Diagnosen. Wenn es
möglich würde, die kranke Seele zu reparieren,
wie der Klempner die Wasserleitung, wie
der Chirurg das Knie, dann könnte die Gesellschaft
scheiternden Menschen, auch die
extremen Attentäter, gegen die wir so mutig
voranschreiten sollen, stattdessen in eine gemeinsame
Zukunft mitnehmen.
Ich glaube, dass wir viel zu fokussiert schauen.
Wir schauen auf den einzelnen Gestörten.
Wir schauen auf seinen Kopf, möglicherweise
hinein. Aber weder gibt es einzelne Köpfe,
noch gibt es so isolierte Menschen, dass wir
das Drumherum außer Acht lassen dürfen. Ein
Fehler ist, die Umgebung zu missachten. Ein
Fehler ist, den ganzen Mensch, Körper und
Geist, auf ein Reden im Behandlungszimmer
zu reduzieren. Und dass es wirksame Medizin
gibt, jemanden zur Ruhe zu bringen, wenn
eine Situation eskaliert, sollte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass es keine Medizin gibt,
die klug macht. Dass es Medizin gibt, die Depressive
stabilisiert, ist fein. Dass ein Mensch
sich positiv verändern kann, da könnte doch
noch mehr möglich sein?
Wir können auf den Gestörten schaun, auf
den Gefährder, aber wir könnten es zum Wohl
des Sonderlings tun. So wie wir es im Moment
machen, inklusive der Pannen einer
ungeschickt schlecht koordinierten Polizei:
Verdecktes Überwachen macht Verrückte
noch gestörter. Bis es knallt. Wir denken an
das funktionierende System, das empfindlich
gestört wird, wenn ein glücklicher Weihnachtsmarkt
in die Luft fliegt. Wir beweinen
die sinnlosen Opfer. Wir stellen Kerzen auf,
wir erschießen den Attentäter. Wir schauen
von uns weg auf den psychisch Kranken,
aber dass ist ein Narr, der uns zum Narren
hält, wenn wir ihn nicht respektieren. Eine
schmerzhafte und teure Angelegenheit, verstörend
für alle. Warum? Einer von uns, nichts
anderes. Da hat eine Jugendgang einen Rentner
vermöbelt und die Zeitung bringt ein
Foto vom jungen Schläger: „Er sieht sich als
Opfer!“ So sind wir, das kaufen wir, das lesen
wir und das bestätigt uns. Und alles bleibt,
wie es ist. Schade, finde ich.
# Feldenkrais: Das Körperschema der Angst
Moshe Feldenkrais hat einiges tun können,
verquastetes Denken zu entlarven, aber das
sollte in der Schule unterrichtet werden. An
dieser Stelle sei auf umfangreiche Literatur
und zahlreiche qualifizierte Feldenkrais-
Lehrer verwiesen. Was ist die Basis seiner
Methode? Das ist zum einen das Begreifen,
dass Lebewesen gegen die Schwerkraft ausgerichtet
Bewegungen machen. Wir werden
nicht im Weltall geboren, wir wachsen zuhause
auf der Erde auf. Von Beginn an lernen
wir in Relation zur Schwerkraft Bewegungen
zu machen. Dazu hat die Natur zwei Strategien
entwickelt. Der Mensch als Landtier
kümmert sich weniger um sein grundsätzliches
Funktionieren, er verfolgt Ziele. Damit
jemand nach Plan wohin gehen kann, muss
er so gehen können (oder ein Auto fahren),
dass die Kontrolle über den eigentlichen Bewegungsvorgang
einer selbstständig arbeitenden
Abteilung seines Selbst überlassen
sein kann. Wir können ein Auto fahren, ohne
dass wir Motor und Schaltung genau verstehen.
Ich kann Licht einschalten, Elektrizität
verwenden – aber ich weiß nicht genau, wie
Strom zustande kommt, so ungefähr.
Im Märchen ruft der Prinz erschrocken: „Heinrich,
der Wagen bricht!“, aber dann sind es nur
eiserne Bande um das Herz des Freundes,
die gerade nacheinander abgesprungen sind.
Wer erleben darf, wie sich die Muskulatur
um die Rippen des Brustkorbes lockert und
mit einem Mal begreift, wie tiefe Atmung
möglich wird, kann das real begreifen. Heute
wird gern der Begriff Autoimmunerkrankung
verwendet. Google: In der Medizin ein Überbegriff
für Krankheiten, denen eine gestörte
Toleranz des Immunsystems gegenüber dem
eigenen Körper zugrunde liegt.“ Etwa: Die
eigenen Leute arbeiten gegen mich (wenn
ich das Immunsystem als Soldaten verstehe,
mich als zu verteidigendes Terrain).
Feldenkrais erkennt Bewegung als Möglichkeit,
die Qualität von Gesundheit erlebbar
zu machen. Er nimmt an, dass ein gesunder
Mensch nichts tut, sich selbst zu behindern.
Er haut nicht groß auf die Kacke, übertreibt
seine Extrovertiertheit. Er drückt sich umgekehrt
nicht feige an der Wand lang, wenn das
gar nicht zu ihm passt. Also direkter, als im
vergleichsweise abstrakten Modell einer Autoimmunstörung,
bei der der Laie mit diesem
Begriff seiner Krankheit konfrontiert, sich
zwar vorstellen kann, er beschädige seinen
eigenen Körper selbst, weiß aber nicht wie.
So behauptet Moshe Feldenkrais, in der Beobachtung
eigener Beweglichkeit einen Schlüssel
zur Fähigkeit zu besitzen, diese leichter
und fließender zu machen und im Wege angenehmerer
Beweglichkeit sich weniger gegen
die eigene Motivation zu stellen.
Er beschreibt den verbreitet unbewussten
Mensch als ein Problem seiner selbst. Eine
Methode für jedermann. Im Zuge um sich
greifender psychischer Erkrankung als eine
Entwicklung, die der modernen Gesellschaft
zusetzt, sollte nicht nur jedermann, sondern
Betroffene und Helfende im Bereich „Geisteskrankheiten“
sich zunutze machen, dass
kein Geist separat ohne Arme und Beine herumläuft.
Und mittendrin ist immer ein Leib,
der atmet. Ob man nun will oder nicht, au-
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 19 [Seite 15 bis 20]
tomatisch folgt ein Atemzug auf den nächsten.
Aber wie? Die Methode des israelischen
Physikers, die dieser aus der Not einer Knieverletzung
entwickelte, zeigt dem Menschen
Möglichkeiten zur Selbsthilfe auf, die ihm
normalerweise nicht vertraut sind. Dem automatisierten
Gehen, Atmen und Schlucken unserer
Funktionalität, hält Moshe die Fähigkeit
entgegen, bewusste Kontrolle aus Selbstbeobachtung
wie ein Werkzeug zu nutzen. Bewegung
generell zu verbessern. Hier geht es
nicht um selbstverliebtes Herumturnen. Was
ist der Sinn des Trainings?
Wenn wir uns erinnern, wie Sherlock Holmes
nicht nur beobachten kann, was Watson
denkt und weiter voran trottet, von einem
zum nächsten, sollte klar werden, dass der
Detektiv bei sich selbst ebenfalls in der Lage
ist, deduktiv denkend zu begreifen. Anders als
Mitläufer Watson, zieht er Schlüsse wohin die
Reise geht. „Wir wollen ein anderes Denken,
nicht andere Gedanken“, sagt Feldenkrais.
Effiziente und bewusste Bewegung gibt dem
Menschen die Fähigkeit, sich nicht unnötig
zu bremsen. Die Qualität guter Bewegung ist
dort, wo fließend innerhalb anatomischer Beschränkungen
gehandelt die Absicht erreicht
wird. Paul Watzlawick (Die Anleitung zum Unglücklichsein),
schreibt treffend: „Den einen
zerrt das Schicksal, den anderen führt es.“
Ich glaube, dass die Gesellschaft gut daran
täte, sich in Gesamtheit zu verstehen. Nach
dem Motto: Ein Land sei ein System, und da
kommt es auf die Qualität der Einzelteile an.
Weg vom fokussierten Blick auf die schuldhafte
Stelle, hin zu gesamtheitlichem Denken.
Anstelle man sich einen schmerzenden Fuß
abschlage, oder gesellschaftlich betrachtet:
Menschen wegsperrt, ist es möglich in besserer
Bewegung des Gesamten, diese Problematik
mit Integration zu lösen. Da wird nicht
der Fuß amputiert sondern unsinniges Denken.
Lieb gewonnene Überzeugungen aufgeben
müssen, ist der Preis den wir zahlen,
wenn wir uns weiterentwickeln möchten.
Maler John Bassiner? Ich habe mein unbeschwertes
Lachen wiedergefunden, bin in
vielem so, wie ich als Jugendlicher war, zu der
Zeit ich noch gehalten von Eltern und Schule
keine Karriere machen musste. Niemand
kann zurück. Jeden Tag laufe ich zu Fuß durch
Schenefeld – immer auf der Suche nach mir
selbst? Mehr habe ich nun das Gefühl, angekommen
zu sein. Wenn Schenefeld der
Ort ist, an dem „ich bin“ – gemessen an den
Kilometern, die ich, seitdem wir hier im Dorf
wohnen, in das Einkaufzentrum, dem „Staddi“,
gelaufen bin und zurück – dann bin ich von
ganz weit weg hierher gekommen. Ich fühle
mich nun zuhause.
# Der Grund psychischer Erkrankung in Abhängigkeit
von Bezugspersonen
Wir sollten uns auf die Suche nach dem
Grund einer Erkrankung machen, das ist keine
schlechte Idee. Der Psychiater ist gern anderer
Meinung. Der Grund sei eh nicht exakt
auszumachen, der Arzt beschäftigt sich lieber
mit der Gegenwart. Meiner Auffassung nach
wollen junge Menschen, die psychisch krank
werden, die Probleme ihrer Eltern lösen. Als
Kind bist du abhängig vom wohlwollenden
Rahmen. Das sind für gewöhnlich deine Eltern.
Die Eltern sind aber auch einzeln unterwegs.
Ich kann: „die Eltern“ sagen, aber das
ist bereits abstrakt. Vater mag, was Mutter
verbietet und so was. Dazu kommt, dass Eltern,
jedes Elternteil für sich, mit eigenen
Problemen kämpfen. Die kennen wir ja nicht.
Kommunikation ist eine verzwickte Sache, sie
findet auch in Mimik statt. Auf diese Art „erbt“
das Kind Verhalten, auch das Gegenteil von
dem was es spürt, falsch, wie der „kluge Hans“
(ein Pferd) vermeintlich zu rechnen lernte.
Die eigene Formel der Erklärung emotionaler
Krisen der Vergangenheit, im Modell alter
Muster aktuell in der Gegenwart nachzuerleben,
kann nützen. Was das genau heißen
soll, möge bitte jeder für sich selbst allein
herausfinden.
# Der selbstständige, gesunde Mensch
Mein Ideal ist unerreichbar! Eine feine Sache:
Für Verbesserungen gibt es keine Grenze. Das
Optimale kannst du definieren, das Normale
nicht. Wir wissen nicht, was krank ist, solange
wir vom Normalen ausgehen. Ein Denkfehler,
er könnte leicht korrigiert werden. Ein alter
Freund ist neuerdings unsicher: Würde er
überhaupt merken, ob er allmählich depressiv
wird? Er spürt, dass was anders ist, seit
er nach erfolgreichen Jahren schließlich aus
dem Ausland heimkehrte. Er fühlt sich unterfordert
– aber auch nicht motiviert zu neuen
Anfängen und überlegt, was in seiner Situation
normal wäre: „Lass’ uns im Sommer segeln
gehen“, meint er. Wie um sich selbst Mut
zuzusprechen?
# Mutig gegen das Normale!
Was ist ein normaler Mensch? Darüber sollte
jeder für sich nachdenken. Karl Lagerfeld, der
gute Zeichner und scharfsinnige Humorist:
„Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle
über sein Leben verloren“, dem ist es
leider gerade trotzdem passiert: Er hat die
Kontrolle und das Leben verloren, und er
fehlt. Aber war der normal? Der war nicht
krank, oder? Ein guter Gedanke, ob wir es mit
einem gesunden oder kranken Gegenüber zu
tun haben, ist wohl zu prüfen, ob mein „neuer
Freund“ frei und offen lachen kann?
Nicht für ein gutes Foto, ein Doppel-Selfie
oder das Plakat zur Wahl ins Amt der VerwaltungschefIn.
Professionell eingeübte Authentizität
nützt der Karriere. Freundschaften
kann man damit nicht gestalten. Das spontane
Lachen, das nichts kostet, nicht nützt:
Einfach so. Kinder können das meistens, und
dafür gibt es kein Stück Zucker oder ein:
„Gut gelacht, Kleines.“ (Für eine gute Note im
Zeugnis gibt die Oma einen Euro). Wir finden
Zeitgenossen, die kommen nie über ein spöttisches
oder melancholisch schiefes Lächeln
hinaus.
Da ist kein Freund: Ein dicker Opel ist ihm
sein BMW der anderen? „Ein Popel nur, er
kann mich nicht leiden.“ Du begreifst spät,
dass sich dein scheinbar sympathischer, dicker
Kumpel nur von einem Spruch zum
nächsten hakelt: „Er ist mir (vom Bahnhof
schon) nachgelaufen“, der Schatten-Mann.
Asterix waren wir, Obelix. Der Detektiv Nick
Knatterton auf heißer Spur? Lucky Luke, der
Mann, der schneller schießt als sein Schatten?
Ich habe einen, meinst du? Da spring’ ich
noch drüber.
Wer sein Lachen verkauft …
:)
Feb 13, 2020 - Ein Ideal ist unerreichbar 20 [Seite 15 bis 20]
Ein Stern ist immer nah
Feb 19, 2020
Ein guter Lebenslauf ist beneidenswert. Das
fehlerfreie Leben? Hier wird es (für den neuen
Chef) perfekt ausformuliert. Einigen gelingt
es. Ihr Leben gibt genug Wahrheit her,
alles noch ein wenig besser wirken zu lassen.
Erfolgreiche Karriereschritte gefallen in der
Bewerbung. Meine Geschichte ist durchaus
eine Predigt! Ein Sonntag im Februar, weit
östlich von Hamburg und weit von Schenefeld.
Ich bin in der Kirche: sitze in unbekannter
Stadt, zwischen fremden Menschen – um
zuzuhören, unbedingt dabei zu sein, wie genau
dieser Afrikaner hier ein weiteres Mal
im Leben sein Amt beginnt. Liberia ist näher
gekommen.
Der Lebenslauf vom neuen Pastor wird beschrieben,
und weil es dem Sonntag vorgegeben
ist, erfahren wir: Der Prophet Hesekiel aß
die Schriftrolle mit dem Leid der Welt (wie es
ihm aufgetragen wurde), aber sie schmeckte
wie Honig süß; dann ging er los und predigte.
Prediger aus Afrika: Heimat, wo kommst du
her? Ein kleines Dorf, fernab von Monrovia.
Was sagt er, alle fünfzig Meter steht dort eine
Kirche, und die Kinder beten jeden Morgen
eine ganze Stunde vor der Schule? Bei diesem
Radau, dem Lachen und allgemeinen Palaver
muss man aufstehen, kann nicht lange
ausschlafen im Zimmer daneben: Kinderlärm
heißt das bei uns? Sie sind zufrieden dort im
Unterricht, lernen, lachen; aber sie können
nicht sicher sein, anschließend zuhause ein
Essen zu bekommen. Mein Freund erzählt, er
predigt immer, mit jedem Satz, den er sagt. Er
lacht, er albert, er packt mich … wir schleudern
uns herum, geradezu – vor Freude uns
wiederzusehen – und er ist doch immer ganz
ernsthaft. So einen trifft man nur einmal
im Leben. Für den norddeutsch-rothaarigen
Probst ist sein afrikanischer Name ein Zungenbrecher.
Er übersetzt ihn für uns, es heißt
in etwa: Die lange Reise.
Lebenswege kreuzen sich, Menschen begegnen
sich. „War das Glück?“, fragt mich Siaquiah
später im Gemeindehaus mit vielen
Gästen, erinnert an den Anfang, sieht die
anderen Kinder ohne Perspektive im Heimatdorf.
„Oder war das Gott?“, er will die Antwort
erzwingen, fixiert meine Augen, stellt sich
mir in den Weg, wir rangeln wie Jungs; ich
weiche aus.
Zuhause in Deutschland. Ich bin im Wohlstand
aufgewachsen und habe bezahlt: Hier
kannst du alles kaufen. (Die Gesundheit
nicht). Gegen Ende des Studiums wusste ich
noch nicht, was auf mich zukommt! Mein
Leben? Möglicherweise hätte ich’s anders
gelebt (wenn es uns voraus gesagt würde)?
Eine Geschichte vom anderen Stern, aber das
suchst du dir aus? „Eine kurze Geschichte der
Zeit“, hat Stephen Hawking sein Buch genannt.
Physik und Glaube, können sie Freunde
sein? Kunst sei meine Physik – das habe
ich gesagt. Ein Versuch zu retten, was zu retten
ist: Was geht?
Am Anfang meiner eigenen langen Reise:
In der Übergangszeit, noch während des
Diploms, habe ich damit begonnen an einer
privaten Kunstschule Unterricht zu geben.
Nachdem ich mein gutes Zeugnis in informativer
Illustration erworben hatte, war ich
noch einige Jahre lang Lehrer für figürliches
Zeichnen und Perspektive an der HTK.
Ich unterrichtete junge Menschen in einer
grafischen Ausbildung. Über das Büro dieser
privaten Hamburger Schule, vermittelte mir
die Sekretärin nach Rücksprache mit dem
Leiter auch einen Erwachsenen. Bald erklärte
ich diesem Mann perspektivische Grundlagen
im Zeichnen. Einzelunterricht, zuhause
bei meinen Eltern in Wedel. Er kam dafür mit
dem Auto etwa vierzehntägig aus Kiel zu uns
gefahren! Das hatte nichts mit der Schule zu
tun, da passte der gar nicht rein. Während es
mit den Jugendlichen und ihrer Motivation,
perspektivisch zu zeichnen problematisch
war, wollte dieser Mann wirklich lernen.
Vollkommen untalentiert, ein junger Architekt.
Er hatte einen Job an der Uni angenommen.
Seine Aufgabe: Architekturstudenten Grundlagen
des Freihandzeichnens beizubringen,
und das konnte er gar nicht. Er wollte deswegen
vorbereitende Nachhilfe von mir. Mit
dem, was ich ihm riet, bekam er Erklärungen,
die er dann vor Ort in der Gruppe weitersagte.
Mal hatten seine Schüler und er vor einer
Treppe im Gebäude der Uni gesessen, ratlos
wie das Ding korrekt abzuzeichnen sei. Was
ich gemeint hätte, wenn ich dabei gewesen
wäre? Das waren Fragen!
Die Erinnerung ist ein Fenster in die Vergangenheit.
Das kann sich jederzeit öffnen: Beim
anschließenden Empfang für den Pastor in
seiner neuen Gemeinde nach der Predigt gab
es noch ein Buffet und mehr Musik vom hervorragenden
Chor. Geselliges Beisammensein
mit den Menschen, die ihren Prediger nun
ganz aus der Nähe kennen lernen konnten.
Jetzt musste ich wieder an meinen Unterricht
für den Architekten damals denken!
Für meinen Schüler seinerzeit, war Perspektive
abstrakt wie die Mathematik. Er hatte
bisher nur darauf geachtet, sich zielgerichtet
im Raum zu bewegen ohne mit dem Rahmen
einer Tür zu kollidieren, wenn er ein Zimmer
betrat oder ein Auto zu fahren und dabei exakt
der Straße zu folgen. Er sah Filme wie er
las, wegen der Romantik oder dem Inhalt an
sich. Das Geschick, eine Kamera szenisch zu
verwenden, blieb ihm verborgen.
Wir hatten über ein Jahr lang miteinander die
anregendste Zeit während der Lektionen, die
ich ihm gab. Dieser Schüler war ganz anders
als ich selbst. Der fragte Sachen! Ich war es
gewohnt, dass die Mädels im Unterricht nicht
zeichnen konnten – und sich auch nicht dafür
interessierten. Dieser Mann, ein wenig älter
als ich, war sehr interessiert zu lernen. Das
gefiel mir. Ich konnte alles erklären, was er
fragte. Das Problem war nur zu oft, dass er es
trotzdem nicht verstand. Er ging theoretisch
vor, fragte: „Warum sind die Köpfe der Menschen
auf einer Höhe, auf einer Linie?“ Ich
musste darüber nachdenken, denn es stimmt
ja nicht.
Besonders neulich, mit all diesen Kirchenleuten
im Raum, kam mir das wieder in den Sinn.
Für meinen Schüler war das Ganze mit der
Perspektive eine Sammlung von Lehrsätzen,
die er selbst in Büchern gelesen hatte und
nicht mit der Realität überein bringen konnte.
Für mich heute, mit der Lebenserfahrung
aus eigenständiger Malerei, anders noch
als früher, ist mit den Augen die Umgebung
wahrzunehmen, wie Musik hören für den Musiker.
Die anderen konsumieren. Ich schaue
nicht einfach: Wo ist das Buffet?
Auf diesem Empfang waren mehrheitlich
Menschen, die ich nicht kannte. Ein kleiner
Raum, randvoll mit etwa hundert Personen.
Ein Chor zwischen uns hinein gestreut, der
rund um den Flügel in der Ecke sein passendes
Liedgut beigesteuert hat. Das ist doch ein
Erlebnis! Man steht dicht an dicht, ist höflich
bemüht, niemanden anzurempeln und muss
diese Entscheidung treffen: Soll ich applaudieren
nach Ansprache oder Musik, und was
mache ich dann mit meinem Sekt?
Das mit den Köpfen, die alle gleich hoch
wie auf einer Linie mit dem Horizont sind?
Es steht wahrscheinlich in einem Buch, das
uns den Unterschied zwischen den unterschiedlichen
Perspektiven erklären möchte.
Ich schweife (vernünftigerweise) ab: in das
Studium. Wir machten zweimal einen längeren
Ausflug mit Kommilitonen nach Bologna
zur Kinderbuchmesse. Dort habe ich viel
skizziert. Italien ist wunderbar. Florenz, ein
Tagesausflug: Einmal habe ich mich direkt in
den Strom der Leute im Marktweg auf den
Boden gesetzt und gezeichnet. Die Menschen
kamen auf mich zu (traten mich nie oder rempelten
mich an, sie schimpften nicht). Ich war
da unten zeichnend kleiner als ein Kind.
Aus dieser Perspektive waren die Köpfe der
Marktbesucher ganz bestimmt nicht wie auf
einer Linie aufgereiht. Welche, die mir schon
ganz nah waren, erschienen bedrohlich groß
und hatten ihren Kopf hoch über mir. Ich sah
hinauf, konnte ihr Kinn von unten sehen. Die
anderen, weiter entfernt, ragten bei weitem
nicht so auf, aus meiner Sicht jedenfalls. Sie
kamen im Bereich der Beine der nahen Personen
heran, und ihre Köpfe waren etwa in
Höhe der Knie von denen, die mir gerade ausweichen
mussten. Von den weiter entfernten,
sah ich die Hüfte dort, wo ich die Köpfe der
Menschen noch weiter im Hintergrund erkannte:
Das ist Froschperspektive.
Klar, für die anderen, die alle aufrecht laufen,
sind die Gesichter gleichauf in einer Höhe,
vom Unterschied der Körpergröße einmal
abgesehen. Wenn ich und alle anderen laufen
oder herumstehen, ist der Horizont unsere
gemeinsame Linie und Augenhöhe. Theorie
und Praxis beginnen dort, wo das wirkliche
Leben spürbar ist und Geschichten in Gang
kommen. Natürlich, ein Architekt zeichnet
mit dem Lineal perspektivische Fluchten
messerscharf, aber es sind Menschen, die in
den Häusern leben. Den Mensch kann ich mit
einem geraden Lineal nicht erfassen.
Zwischen den Gästen anschließend der Einführungspredigt
war eine alte Dame, ganz in
Schwarz gekleidet aber vergnügt, und die war
klein wie ein Kind. Weil sie so verschmitzt
durch die Menge stocherte, einen Gehstock
in der Hand, war ich mutig genug (und ein
wenig frech) sie, obwohl sie mir ja ganz unbekannt
war, anzusprechen. Sie wollte in
Richtung der Tür, und ich machte ihr gern
Platz. „Sie sind ja ziemlich klein“, habe ich gescherzt,
„aber das sind sie ja schon länger.“ Sie
lachte und erzählte, wie alt sie sei und einige
Weisheiten zu großen- und kleinen Leuten
Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 21 [Seite 21 bis 23]
gab sie zum Besten. Und verließ dann endlich
den Raum, wie sie es eigentlich gewollt
hatte, zur Toilette oder Garderobe. Unter den
Riesen rundherum fand sie den Weg.
Bald nach der Musik durften wir uns den kulinarischen
Genüssen zuwenden: Die Menschen
drängten in die Ecke mit dem Buffet.
Kleine, runde Stehtische waren hier und da
aufgestellt. Die Schwierigkeit, sauber zu essen
bestand nun darin, dass es keine Teller
gab. Ein richtiger Probst war unter den Anwesenden;
es galt sich zu benehmen! Verlockend:
Da waren silberne Platten, so Tabletts
in guter Größe, reichlich mit Happen gefüllt
und einige Schüsseln mit Klopsen und ähnlichem
Fingerfood appetitlich aufgebaut. Die
Gastgeber hatten mundgerechte Häppchen
fabriziert. Oft steckte ein kleiner Spieß darin,
mit einer Olive noch verfeinert. Es gab auch
Stapel mit grünen Servietten. Sinnvoll, eine
dazu zu nehmen? Man musste die kleinen
Käse-, Wurst- oder Lachsbrote, die Frikadellen
und dergleichen ja mit den Fingern essen.
Was aber mit dem Sektglas machen?
Während ich mich den leckeren Raffinessen
allmählich näherte, musste ich geduldig sein.
Da gab es keine Richtung. Die Gäste strömten
von allen Seiten in die Ecke mit den weißbetuchten
Tischen, den verschiedenen Leckereien.
Vor mir stand ein Mann mit ergrautem
Haar, beginnender Glatze. Er war nicht besonders
groß. Ich konnte nun leicht von oben auf
seinen Kopf sehen oder das Terrain davor mit
den zu erwartenden Speisen sondieren und
bemerkte dazu ein silbernes Hörgerät hinter
seinem Ohr. Es dauerte, und ich liebe es
zu schauen. Der ältere Herr trug ein legeres
Jackett, aber immerhin – ich war dort im einfachen
Pullover. Sicher ein Mensch, der dem
Anlass entsprechend sonntäglich fein war.
Nun hatte er links in der Hand ein nur noch
halb gefülltes Sektglas, aus dem er schon getrunken
hatte. Das konnte ich gut beobachten.
Für mich war es leicht, ein wenig über
seine Schulter zu schaun; ich bin kein kleiner
Mann. Er wollte ein Kunststück zu Wege bringen
und geriet dabei unvermittelt in schwere
See: Sein Problem, wohin mit dem Brot? Das
hatte er sich genommen, und anschließend
fiel ihm ein, noch eine Serviette zu nehmen.
Das kleine Käsebrot? Der ältere Herr legte es
nun einfach auf dem Sektglas ab. Wie praktisch.
Das Käsebrotstückchen war quadratisch,
kaum größer als das Glas oben.
Eine riskante Sache! Der Senior war aufgrund
seines Alters nicht fest im Stand. Er schien
mir ein wenig unsicher. Nun griff er mit der
anderen Hand in Richtung Tisch – um sich
die Serviette zu nehmen? Das kann ich nicht
sagen. Während sich der distinguierte Gast
ganz auf seine Tätigkeit rechts konzentrierte,
beobachtet ich fasziniert, wie das schmale
Häppchen allmählich ins Glas rutschte! Eine
Ecke sackte runter in den Sekt. Nur eine kleine
Käsekante blieb tapfer, verankerte den
Leckerbissen gegen die Schwerkraft am gläsernen
Kliff. Die klebende Butter hielt (noch)
das Brot am Käse.
Eine Bindung auf Zeit …
Jetzt war der Alte rechts zu Potte gekommen
und bemerkte das beginnende Malheur auf
der anderen Seite in seiner linken Hand. Noch
war ja nichts verloren! Er spitzte zwei Finger
zu einer Zange für die letzte Ecke Käse, die
noch oben am Rand vom Glas das Ganze
hielt. Aber das dünne Schwarzbrot darunter
löste sich langsam – scheinbar in Zeitlupe –
und ich konnte sehen, wie es zunehmend in
einem größeren Winkel vom Käse, nach unten
in Richtung Sekt kippte.
Der Mann hatte den Käse inzwischen erfolgreich
zwischen Daumen und Zeigefinger, die
Serviette noch irgendwie nebenbei in der
Hand verknotet, wie mit einer Pinzette ergriffen
– und bewegte seine Hand, als behutsamen
Hebekran mit schwieriger Fracht auf
der Baustelle, sacht nach oben. Das sah ganz
gut aus!
Aber, wie in einem Film für mich inszeniert,
es kam zum Schlimmsten: Den Käse konnte
er retten, das Brot stürzte schließlich doch
in den Sekt. Jetzt: Ich wurde von hinten behutsam
angerempelt, ich sollte voran machen?
Die wussten ja nicht. Ich blieb stehen,
schweigend, eine Mauer für die Hungrigen
hinter mir. Niemand sollte wissen, warum es
hier nicht weiter ging.
Der ältere Herr, ich wollte ja nicht, dass er’s
noch merkt, wie ich bei allem der Voyeur
dabei war. Aber man kann nie wissen. Seine
hinteren Augen werden mich erspürt haben.
Eine von höheren Mächten herrlich arrangierte
Situationskomik. Alles geschah unauffällig
und dezent in die Handlung integriert,
mit Lebenserfahrung feinfühlig gestaltet,
sparsam peinlich und absolut wortlos. Ein
mir unbekannter Mann. Später stand er gelegentlich
noch irgendwo im Gespräch, ich
habe hinüber geschaut, was das wohl für einer
sei; er hatte Bekannte im Raum und ich
war fremd in seinem Film dabei gewesen.
„Stern, auf den ich schaue“, war das abschließende
Lied drüben in der Kapelle, bevor wir
Kirchgänger hier in das kleine Gemeindehaus
zum Empfang und dem Buffet hinüber
gewechselt waren. Und so komme ich in diese
Geschichte, jetzt erst. Vor nicht so langer
Zeit hatte das angefangen.
Eine andere Kirche. Ottensen – Chorkonzert
zum Ausklang der Weihnachtszeit, die genau
genommen bis Anfang Februar gerechnet
wird. Der große Baum stand noch am Übergang
vom Altarraum zu den Kirchenbänken,
weihnachtlich ausgestattet, mit all seinen
Kerzen. Im Januar war ich dort Teil der Zuhörer
eines allerfeinsten Musikabends mit Chor.
Wir wurden gebeten, die Handys abzuschalten.
Man funke auf der selben Frequenz, das
Gespräch käme unweigerlich in guter Lautstärke
aus den Lautsprechern für alle, erklärte
man uns gleich zu Beginn.
Eine musikalische Reise, und Ende Januar unerwartet,
wurden wir noch einmal mit dem
Stern von Bethlehem vertraut gemacht. Was
war damals geschehen? Die drei Weisen aus
dem Morgenland waren einem Stern nach Israel
gefolgt, bis sie zu der Hütte kamen, wo
sie Maria und das Christkind im Stroh fanden.
Der Moderator beschrieb es uns: Man nimmt
heute an, eine ungewöhnliche Konstellation
von Planeten sei der historische Hintergrund
dazu. Anschließend zitierte er den Maler
Leonardo da Vinci: „Binde deinen Karren an
einen Stern.“ Leonardo auch? Das habe ich
gedacht und wieder überlegt, was ich mich
schon als Kind gefragt habe: Kein Stern steht
über einer Hütte!
Perspektive: Wenn ich die Hütte erst erreicht
habe, ist der Stern wieder ganz dahinten, über
dem Horizont. Vielleicht steht er dann über
einem Berg oder über einer neuen, anderen
Hütte? Das hat mich weiter beschäftigt. Leonardo
ist ein Freund! Der gute Zeichner: ein
Vorbild und eine Anregung für jedes talentierte
Kind. Was hat er gemeint?
Jeden Tag habe ich ein wenig daran gedacht.
Ich fing schon im Januar an, mich an
den Schüler damals aus Kiel zu erinnern, der
nicht begriff was eine Perspektive ist. „Warum
ist der Horizont auf Augenhöhe?“, wollte er
wissen. Wie erkläre ich das, überlegte ich seinerzeit.
„Hinter dem Horizont geht’s weiter“,
Udo Lindenberg, der muss es wissen. Es ist
mehr als eine rote Linie im „Zeichnen leicht
gemacht!“
Ich kam auf diesen Einfall: „Hören Sie zu“,
sagte ich, „wir machen ein Gedanken-Experiment.“
Er schaute interessiert, und ich fing
an: „Wir gehen in das Weltall, so etwa auf den
Mond, aber kleiner; stellen Sie sich mal vor,
da stehen wir auf so einer kleinen Scholle
rum, weiter nix.“ Er verstand es nicht. Ich
sagte, dass der Horizont für uns auf der Erde
gleichermaßen abstrakt wie gewöhnlich sei
und ich neue Bedingungen schaffen wolle,
um das besser zu verstehen.
Ich erläuterte meine Fiktion: „Wir nehmen
eine Platte, und da stellen wir uns drauf. Stellen
Sie sich vor, dass diese Platte recht klein
ist, wir beide passen rauf, aber es ist so, wie
auf der Ladefläche vom Lkw. Rundherum ist
nur das Weltall. Machen Sie sich keine Sorgen
wegen der Luft, wir können atmen, und
es ist auch genügend Schwerkraft vorhanden,
fast wie zuhause. Wir stehen auf einer kleinen
Platte im Weltall herum.“
Er fand das prima, aber er wusste nicht, wo
es hinführen sollte. Ich erklärte: „Schauen Sie
nun zum Rand der Platte, nehmen Sie einfach
an, das ist gleich da vorn.“ Wir waren aufgestanden,
und ich zeigte auf die Fußleiste
vom Zimmer vor uns, wo die Wand den Raum
begrenzte. „Wir schauen in einem Winkel abwärts,
nicht ganz zu Boden, wo unsere Füße
sind, aber auch nicht waagerecht – wenn wir
mit diesem Zimmer im Weltall wären und
alle Wände entfernten, dann wäre das so
etwa unser Horizont“, behauptete ich. (Er verstand
das nicht).
Ich bemühte mich weiter: „Sehen Sie“, fing ich
erneut an, „nur als Idee.“ Ich meinte: „Der Horizont
ist umgangssprachlich dort, wo Himmel
und Erde sich berühren. Das kommt, weil
die Erde, auf der wir normalerweise stehen,
sich nach unten fort krümmt. Als eine Kugel,
kommt schließlich irgendwann der untere
Teil, den wir nicht sehen können. Für meine
Idee, Ihnen das zu erklären, benötige ich eine
kleinere Erde. Das soll der Fußboden hier
sein.“
Ich führte weiter aus: „Eine kleine Platte, und
dort, wo wir beide den Rand sehen, fängt für
uns der Himmel an. Wenn der Boden näher
bei uns als für gewöhnlich endet, beginnt der
Himmel entsprechend näher. Und weil der
Raum recht überschaubar ist, müssen wir dafür
ein wenig nach unten schauen. Wir können
uns eine noch kleinere Plattform vorstellen,
eine Art Teppich, so ein kleiner Fußläufer,
dann schauen wir deutlich nach unten, und
das nennen wir jetzt einfach mal Horizont.
Denn dort, wo der Teppich zu Ende ist, wird
sichtbar unser Weltall beginnen.“
Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 22 [Seite 21 bis 23]
Er blieb skeptisch, und ich holte Luft und weiter
aus: „Bei einer sehr kleinen Platte, schauen
wir runter auf unsere Füße, um den Beginn
vom Himmel zu sehen. Das ist so etwa eine
große Schallplatte. Wir quetschen uns darauf
und schauen diesen Rand an, unseren Horizont:
unten bei den Füßen. Je größer wir nun
diesen Mond zum Herumspazieren für uns
beide hier im Weltall machen, zunächst etwa
in der Größe einer Ladefläche entsprechend
der Pritsche auf einem Lastwagen, umso mehr
werden wir den Blick von abwärts geneigt in
der Nähe unserer Füße anheben müssen, um
die Kante zum Himmel zu sehen. Je mehr Boden
da um uns herum ist, desto entspannter
schauen wir immer noch ein wenig höher, näher
zur Waagerechten, wo wir schließlich den
Himmel beginnen sehen.“
Unendlichkeit, was ist das? Ich wollte helfen:
„Stellen Sie sich ein Gartengrundstück vor
und anschließend fügen Sie weitere Grundstücke
vom Nachbarn an, bis der Fußboden
recht groß geworden ist. Dann ist die Kante
der Welt scheinbar immer weiter weg, und
für uns gesehen: rauf. Sie beginnen bei Ihren
Füßen, schauen auf die Schuhspitzen und
beginnen den Kopf zu heben. Da ist quer vor
Ihnen ein Zebrastreifen aufgemalt. Wie auf
der Tastatur vom Klavier, Balken für Balken,
definieren Sie eine größer werdende Platte
als Ihren Fußboden. Eine Querlinie folgt auf
die nächste, und Sie müssen, um die wahrzunehmen
den Blick immer weiter dafür anheben.Unendlichkeit:
Irgendwann schauen Sie
geradeaus, und da fängt der Himmel an.“
Es war hoffnungslos. Er blieb bei dem hängen,
was er bereits zu Beginn ergrübelt hatte,
unverändert: „Ich schaue waagerecht, und
der Boden ist parallel dazu?“ Mein verzweifelter
Schüler störte sich nach wie vor an seiner
ihm eigenen Logik. Er fuhr fort zu fragen:
„Und trotzdem sehe ich den Himmel dort beginnen?
Schlimmer noch, die Erde wölbt sich
unter mir weg, aber ich müsste doch in einer
Schüssel stehen, damit es klappt?“ Er verstand
nicht. Es war nicht zu schaffen: Die Flucht der
Parallelen, das konnte so nicht sein. (Ich habe
ihm viele Skizzen gemacht).
Was soll das heißen, binde deinen Karren
an einen Stern? Ich sehe einen leuchtenden
Punkt am Himmel: „Ah! Dahinten ist er
ja!“ Und nun man los. Über der Hütte (dahinten)
steht das funkelnde Licht. Noch ein
überschaubarer Marsch zu Fuß: „Wir werden
schon bald dort sein.“ Die drei Weisen! Wir
müssen nicht lang in uns gehen, um zu begreifen:
Wenn das wirklich der Planet Jupiter
oder sonst ein fernes Gestirn am Himmel
gewesen ist, damals. Was passiert, wenn man
bei irgendeiner fernen Hütte angekommen
ist? Der Stern ist schließlich nicht etwa da
oben, genau über unsrer Hütte, die wir aus
der Ferne zum Ziel bestimmten, geführt vom
fernsten Licht, wenn wir sie endlich erreicht
haben. Der Stern ist nun aufs Neue: „dahinten“
– weit, so ganz weit weg.
Leonardo, der gute Zeichner, wusste das. So
sind diese Sterne doch schon immer gewesen,
außerhalb unsres Begreifens. Das macht
sie aus: die andere Welt, die uns kein Bildnis
vollständig erklärt. Selbst Einstein blieben
schließlich neue Fragen, und der ist weit, auf
eine ganz lange Reise gegangen, mit seinem
Relativitätsbaukasten im eigenen Schädel.
Die Weisheit der drei Könige bestand in erster
Linie darin, an genau diesem Abend, nach
einem sehr langen Marsch, einer langen Reise,
an genau dieser Hütte eine grundsätzliche
Rast zu machen: das ganz persönliche Ende
glaubhaft zu finden und anzukommen. Einem
Stern zu folgen, kann nur heißen, dass man
dabei selbst auch stoppen darf, kann (und von
neuem loslaufen). Das ist der Beginn davon,
selbst zu denken, aber weiter in Beziehung zu
bleiben, mit der ganzen, großen Welt.
Die „Wega“ in der Leier ist recht hell. Die
Leier ist ein kleines Sternbild, und in unseren
nördlichen Breiten steht sie hoch am
Himmel. Daran erinnere ich mich: Das ist im
Sommer, und in einem der schönen Jahre mit
lang anhaltend gutem Wetter, war ich mit einer
Freundin und dem Boot in der „dänischen
Südsee“ unterwegs. Wir konnten jede Nacht
„offen“ schlafen, hatten das Persenning nur
im Bereich vom Vorschiff sicher gegen den
Wind gebaut. Es hat nie geregnet und kaum
einmal lag Taufeuchte in der Luft. Achtern lagen
wir, auf dem Rücken nebeneinander, in
den einfachen Kojen der Jolle. Wir schauten
jeden Abend noch lange in den Sternhimmel,
bevor wir einschliefen!
Wir können „Steinbock“ sein oder „Jungfrau“,
aber niemand ist „Leier“ – die Ekliptik verläuft
woanders. Der Jupiter geht hier über
den Himmel, wie die Sonne und der Mond.
Quert diese Bahn der Wandergestirne Israel
im Scheitelpunkt des Himmels? „Dichter bei“,
als in Dänemark jedenfalls – das können wir
sagen. In einem Land, wo die Sonne im Zenit
stehen kann, wird es wohl möglich sein,
einem Planeten beim Aufgang entgegen zu
wandern, weiter die Richtung des eigenen
Weges seinem Lauf stetig anzupassen? Und
schließlich Halt zu machen, die Schritte in
eine Raststätte zu lenken, wenn auch der
Himmelswanderer genau über uns ist. Eine
unendlich ferne Begegnung und eine Erklärung.
Aber, so finde ich jede Nacht „meine“
Hütte neu. Jupiter geht auf, und ich mache
mich auf den Weg? Bis er über mir steht, wie
bei uns die „Wega“ das so ungefähr hinbekommt.
Dann noch die passende Herberge zu
dieser nächtlichen Uhrzeit finden? So können
wir alles zerreden.
Ich habe mich immer gefragt, warum die Bibel
nicht fortgeschrieben wird: Die Wunder
waren nur früher? Dann wären es Märchen,
und wir könnten den Glauben gleich aufgeben.
Dass es nicht so ist – wir sollten realisieren,
wie viele denkwürdige Momente uns
widerfahren, die wir nicht begreifen.
„Stern, auf den ich schaue“, haben wir gesungen,
und wie sehr mich das an gerade diesem
Tag berührt hat! Nicht lang vorher, kam tatsächlich
etwas über Leonardo auf „Arte“. Und
dann dies, im Café am Backshop, wie es das
überall gibt. Sie haben dort so runde Tische.
Klein sind die und aus dunklem Holz, beinahe
schwarz. Es galt eine gute halbe Stunde
Zeit zu verbringen, weil der Schlüsseldienst
zu dem ich wollte noch nicht geöffnet hatte.
Meine neue Brille: „Gleitsicht“ wie vorher,
aber dies ist die Beste, die ich je hatte. Ich
trage sie den ganzen Tag und merke das gar
nicht. Sie ist so gut! Man liest irgendwelche
Schilder, schaut nebenbei auf die Armbanduhr,
dann zum Horizont, problemlos und gestochen
scharf, muss nicht nachdenken. Die
alte habe ich noch jedes Mal abgenommen,
wenn ich nicht gerade lesen wollte.
Da ist nach wie vor einiges an Glas verbaut,
das gerade nicht nutzbar ist. Um scharf zu sehen,
muss man die Dinge gezielt betrachten.
Man dreht den Kopf. Wo ich nun, die Brille
so lang am Tage auf der Nase, ein wenig wie
früher den Blick schweifen lasse, kommt tolerierte
Unschärfe auf, wenn meine Augen
durch einen Bereich träumen, der nicht geeignet
ist.
Beim Bäcker warte ich, und mein Blick geht
hier- und dorthin. Ich beginne ein wenig an
meinen Schüler und die kleine runde Platte,
auf der wir im Weltall stehen wollten, nachzudenken.
An Leonardo denke ich. Träume,
was antreibt! Das Leben und mein Stern,
darüber sinne ich nach. Ganz weit weg. Eine
ferne Sonne – wo sie wohl gerade ist und
ihre Aufgaben erfüllt? Warum musste alles
so kommen? In unendlicher Ferne, weit
hinter jedem Horizont – riesengroß und für
mich doch so klein, unerreichbar. Ein zackiger,
flinkernder Lichtpunkt in der Ferne, am
schwarzen Nachthimmel. Dahin denke ich –
und träume.
Mein Blick duselt auf der dunklen, kreisrunden
Holzplatte vom Tisch rum – und woanders
hin. Zurück! Da war doch was? Was habe
ich gerade gedacht, ein Stern, Leonardo und
so weiter; wieso habe ich gerade jetzt daran
gedacht? Und was sehe ich eigentlich dort
auf dem Holz genau? Ich nehme im unscharfen
Bereich vom Brillenglas einen ganz kleinen,
hellen Punkt wahr – aber es ist ja ganz
einfach, eine geringe Bewegung mit dem
Kopf – und jede Entfernung wird gestochen
scharf, tatsächlich: Ein kleiner Stern ist auf
dem Tisch!
Ich beginne das Ding zu untersuchen. Es ist
ein winziger, heller Punkt, fast etwa einen
Meter von meinem Kopf entfernt. Und ich
zähle nach, sechs Zacken hat das Ding, ganz
symmetrisch perfekt. Aber dieser Stern ist
nur einen oder zwei Millimeter groß; es ist
ein winziger Brotkrümel! Nicht mehr als ein
halber Stecknadelkopf.
Ich beuge mich vor: Sofort hört der winzige
Stern, inmitten der großen, runden, dunklen
Platte auf, einer zu sein! Dieser vertrackte
Krümel. Je dichter ich mich an das Ding
annähere, desto länglicher wird er und sieht
immer weniger wie ein Stern aus. Vorsichtig
richte ich mich wieder in die vorherige Position
auf und nehme exakt den alten Sitzplatz
ein. Ganz schön weit weg ist der Krümel nun,
aber die gute Brille macht es möglich, sogar
in dieser Entfernung noch kleinste Schrift zu
lesen: Das ist keine Schrift; was ist das?
Nur von hier, aus ganz exakt dieser Perspektive,
ist das ein vollkommen regelmäßig ausgebildeter,
sechs-zackiger Stern. Das Stück
Brösel erinnert unweigerlich an eine kristalline,
extra-kleine Mini-Schneeflocke. Wie
gezeichnet, so perfekt sieht das aus und so
winzig. Eine ganze Welt! Ich spinne, träume,
bin im Café und rase durch die unendlichen
Weiten einer braunen Holzplatte – ich habe
gerade meinen Stern gesehen, und er ist hier
bei mir. So weit weg – und hier auf diesem
Tisch. Mein Fenster in das Universum. Ich
habe das Allergrößte gesehen, direkt vor mir
– und es ist ein winziger, kleiner Krümel.
:)
Feb 19, 2020 - Ein Stern ist immer nah 23 [Seite 21 bis 23]
Corona?
Mrz 30, 2020
„Kunst kommt von Können“, manche beißen
sich an diesem Satz fest. In einer Doku, die
ich vor einigen Jahren sah, wurde ein etablierter
amerikanischer Maler vorgestellt. An
seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr.
Er erzählte, dass er vor längerer Zeit den
Durchbruch in die Szene der Sammler erzielt
hatte. Irgendwie habe seine Art, Porträts vor
flächigem Hintergrund zu malen, eingeschlagen.
Seitdem würde es laufen. Zum Verkauf
gefragt, antwortete er: „Die Galeristen halten
mir die Leute vom Hals.“ Eine Art Pufferzone,
er wolle in Ruhe arbeiten. Was ein junger
Mensch tun müsse, um Künstler zu werden?
Er antwortete als Maler: Er sagte zum einen,
dass er den Erfolg den er habe, nicht genau
erklären könne. Schließlich meinte er, ein Interessierter
solle erst einmal fünf, sechs Jahre
malen und die Anerkennung nicht so wichtig
nehmen. Er sagte es mit einer Spur Humor.
Das hieß nämlich: Nachdem du mehrere Jahre
gemalt hast, bist du Maler. Die anderen
hören vorher wieder auf.
Dieser Künstler mochte für sich bleiben. Die
Galeristen halten ihm die Leute vom Hals,
und das gefällt ihm. Die Menschen sind
verschieden: Wer hingegen in eine Musik-
Casting-Show geht, sucht das Publikum. Dem
gegenüber steht die Liebe zum Material, das
eigene Werk, die andere Seite der Kreativität.
Fünf, sechs Jahre arbeiten, dann wüsste man
schon – die Beschäftigung mit Farbe, was
kann ich machen? Mit den Tönen der Farbe
spielen; wie in der Musik.
Kunst, Können? Nicht mehr anders können.
Wen es zur Kunst hinzieht, fragt sich, warum
bei ihm das Normale nicht gut funktioniert
oder schließt es gleich von Beginn aus. Dafür
gibt es verschiedenen Gründe. Die größere
Freiheit ist ein Grund. Ein eigenes Werk. Ein
Aspekt ist Unabhängigkeit und zwar auch in
der Form der Beschäftigung, nicht nur finanziell.
Dagegen steht die ernüchternde Realität,
dass dieses Ziel oft nicht erreicht wird,
auch nicht nach fünf, sechs Jahren malen.
Anerkennung: Für Musiker ist die Bewunderung
des Publikums ein Teil der Arbeit. Maler
oder Schriftsteller können dagegen zurückgezogen
schaffen. Deswegen bedeutet die
Suche nach Kreativität, sich die Frage nach
dem Platz in der Gesellschaft zu stellen. Die
eigene Identität. Was mich ausmacht (und
was ich nicht mag) beschreibt, was zu mir
passt. Ob es noch zu mir gehört und damit
auch meine Grenze: Was ich nicht leiden
kann oder nicht hinbekomme, bleibt draußen.
Was ich also kann und was nicht. Kunst, Können?
Das ist die exakte Kenntnis der eigenen
Fähigkeit und weniger, ob man eine Blumenvase,
ein Still-Leben oder Figur wie ein alter
Meister malen kann.
Maler entwickeln Themen. Über meinen Professor
Flurschütz schrieb jemand: Die Beschäftigung
„mit dem Weiß“ sei es bei ihm.
David Hockney mahnt hinzuschauen: Ist, was
ein Künstler über seine Bilder sagt, wirklich
Teil des Werks? Ich bin nicht gerade Maler
von Grenzlinien, wie als wären da Länder
auf meinem Bild kartengleich beschnitten,
dennoch: Mir ist erst nach und nach klar geworden,
dass mir die Definition der eigenen
Grenze das wesentliche Element meiner Arbeit
ist.
# Kunst zeigt mir die Grenze
Ein Virus zeigt uns allen die Grenze.
Die Menschheit macht eine Pause.
März 2020 – Wir bleiben zuhause. Wie
weit reicht das Licht unserer Welt?
Kein neues Wort: Die Korona (lat. Corona
= Kranz, Krone) der Sonne. Sie ist
für das menschliche Auge nur bei einer
Sonnenfinsternis zu sehen, da sie
sonst von der restlichen Sonne überstrahlt
wird.
Wie weit reicht das Ich? Mit dem Aufbruch
in das freie Malen, bin ich meinem
Ursprung wieder näher gekommen. Der
Anfang meiner Persönlichkeit: eine Erinnerung.
Wir waren eine kleine Familie und ich
das Kind. Unser Boot, die H-Jolle – ein kleines
Schiff aus Mahagoni-Holz, schön glänzend
lackiert. Das war damals modern. Ich erinnere
mich nur, weil mein Vater es immer wieder
erzählt hat, diese Geschichte.
Wie er mein Talent entdeckte.
Meine erste kreative Leistung. Das war keine
Zeichnung, das war – ich kann das nacherzählen:
Ich hatte etwas gesehen. Ein Duckdalben
im Schulauer Hafen. Das ist so ein Gebilde
aus großen, dicken Holzpfählen. Schiffe
machen daran fest. Oder Schlengel werden
davon gehalten, und an den Schlengeln liegen
die Schiffe. Ich war noch ganz klein. Die
Eltern mussten aufpassen, wenn wir über die
wackligen hölzernen Bahnen zum Boot gingen,
dass ich nicht unversehens in den Hafen
fiel. (Einmal wollte ich über das Wasser laufen,
erzählte meine Mutter, weil es so glatt
und ruhig dalag, an einem windstillen Tag).
Und mein Vater: „Das sieht wie ein A aus“, hätte
ich gesagt, einen Dalben beschreibend.
Für meinen stolzen Papa war es die Initialzündung.
Der Beginn einer besonderen
Begabung. Etwas, was von Anfang an in mir
gewesen sei. Das, was man nicht lernen kann.
Meinte jedenfalls mein Vater. Ein Moment der
bewiesen hätte, ich würde sehen, was anderen
gleichgültig sei. Der besondere Blick, das
Talent. Er glaubte daran. Dass ich als Grafiker
Geld verdienen würde, glaubte er nicht. Dennoch
wurde ich auf diesen Pfad gesetzt, denn
eine eigene Meinung dazu hatte ich nicht. Ich
„durfte“ eine Ausbildung zum Grafik-Designer
machen, und deswegen habe ich es gemacht.
Was sollte man mit einem Talent auch sonst
machen? (Natürlich hat es nicht funktioniert).
Aber diese Anfänge, das war schon was! Es
hat sich gut angefühlt. Erst ging gar nichts.
Ich war ganz klein und bekam die ersten
Buntstifte. Mit der ganzen Hand griff ich die,
auch mehrere gleichzeitig wie Mikados, und
hielt sie gebündelt fest in der Faust. Eine
Batterie, eine Gatling-Gun. Diese Welt, was ist
das hier? Rausgehen, den Weg frei machen!
Das Leben schien etwas anzubieten; ein Instrument,
eine Waffe! Das Malgeschütz für ein
Feuerwerk der Farbgewalt: Und dann ging es
los! Mit irrem Druck, das die Spitzen auch mal
brachen und rasend kreisenden Bewegungen,
bekritzelte ich das Papier.
Farbstürme.
Strudel und Ausbrüche in immer neu kombinierten
Farbkaskaden. Meine Oma beschimpfte
dieses Tun, so mache man es
nicht! Ich wäre doof und würde es bleiben,
wenn ich diese Dinger so falsch verwendete.
Sie ereiferte sich: „Du greifst die wie
einen Besenstiel!“, pöbelte sie. Ich lernte
die Stifte auf die „richtige“ Art anzufassen.
Es ist eine Erfahrung: Ein gerader Weg bis
zum Ende des Studiums; ich wurde immer
besser darin zu zeichnen. Und ich wurde
immer dafür gelobt. Anschließend wurde
es schwierig. Ich fand mich nicht zurecht.
Tatsächlich: Ich war ein Info-Grafiker geworden,
immerhin.
Eine Entwicklung. Sich ausprobieren, in ein
neues Terrain vorzustoßen, umkehren müssen,
wenn die Gegend feindselig wird, man
dem fremden Boden nicht gewachsen ist? Es
sind diese Gedanken, die das Malen bringt.
Darum ist der Tipp, eine Zeitlang zu probieren,
nicht schlecht. Es wird sich ein Stil
herausbilden, wenn man einige Jahre malt.
Eine Form zu finden, bedeutet zu definieren
was einem selbst das Malen bedeutet.
Damit schafft die Malerei kreative Identität.
Schließlich, mit einer eigenen Ausdrucksform
befähigt, wird daraus die Kunstfertigkeit, sich
selbst auf diese Art zu verwenden. Das ist
Mrz 30, 2020 - Corona? 24 [Seite 24 bis 28]
keine blinde Suche, sondern die Forschung
des geübten Künstlers, wenn ein neues Motiv
seine endgültige Form erhält und zum Schaffenden
passt. Eine Form zieht die Grenze um
individuelle Vorlieben, wie um die Fähigkeit
dessen was dem Künstler möglich ist. Allgemeines,
Regeln und Gesetze, bleiben draußen.
Identität: Man wird sich fügen müssen,
gegebenenfalls – aber selbstbewusst.
Bilder zu malen, macht selbstbewusst. Etwas
schaffen, bedeutet sich ein Können anzueigenen,
sich kennen zu lernen. Ein Bild ist
zudem soziale Kommunikation, aber diese
Form der Sprache ist mit den Fähigkeiten des
Malers verknüpft, so kommt das. Begriffe wie
„Netzwerk“ und die sozialen Plattformen sind
Bestandteil des Lebens geworden. Es ist gut
möglich, dass der moderne Mensch, der erst
jetzt den Schritt in die Welt der Erwachsenen
macht, nach einer Ausbildung, sich anders
empfindet als wir älteren. Dass der Mensch
soziale Strukturen bildet, kann darüber hinwegtäuschen
auf welche Art ein einzelnes
Wesen seinen Vorteil sucht. Bei der Frage ob
Liebe und Empathie oder das Böse schlechthin
die Welt zusammenhalten, muss man sich
Angst, Hass und Aggression vor Augen halten
und eingestehen, dass der Mensch versucht,
sich dem Besseren zuzuwenden.
Was stört
mich? Dann probiert
man, das loszuwerden,
dagegen an zu gehen,
woanders hin zu gehen.
Wir können sagen, dass
Angst und aggressive
oder zumindest kraftvolle
Strategien dagegen
unser Antrieb sind.
Wir möchten dorthin,
wo wir uns wohlfühlen.
In der nicht lösbaren
Frage, inwieweit der
Mensch frei ist zu tun,
was er will oder bestimmt
durch die Umgebung,
kapitulieren
wir. Bleibt die Möglichkeit
zu kommunizieren,
wie sich das Leben anfühlt.
Ich beschreibe, was meine Perspektive
ist. Wer das nun rezipiert, wird beeinflusst
sein und Zuspruch oder Ablehnung werden
auch den Empfänger meiner Kunst im Weg
verändern. Mit kraftvoller Bildsprache kann
Leben weitergegeben werden. Wenn Bilder
zu schaffen die eigene Identität begrenzt, so
füllt sie diese genauso aus.
Ein Mensch endet nackt, mit der Haut als
Außengrenze. Einiges Drumherum: Kleidung,
Wohnsituation und weiterer Besitz, Job, Partner
und intellektuelle Vorlieben, beschreiben
die ganze Existenz. Das hat nicht damit zu
tun, ob wir im Büro arbeiten, Handwerker,
Angestellter oder Künstler sind.
Identität kann in immer weiter gefassten
Begrenzungen rund um den Kern
der Person dargestellt werden.
Kunst lässt uns über den Sinn und
Zweck der Existenz nachdenken. Malen
zeigt Parallelen zum Leben an sich auf.
Bei den Problemen, mit dem Bild fertig
zu werden, ein Thema zu kreieren
und dessen Verkäuflichkeit auszuloten,
erfahren wir uns als Individuum, Inhalte
und Grenzen. Wo gehöre ich hin, mit
meinem Werk ist auch die Frage: Wo
bin ich zuhause? Meine Burg.
Moderne Technik zeigt, dass die eigenen
vier Wände nicht sicher schützen.
Über Telekommunikation, zahlreiche
digitale Geräte im Haushalt, können
Fremde einbrechen, wie andere, die mit
der Brechstange Fenster aufhebeln,
wenn wir verreist sind. Der digitale
Einbruch. Wenn wir einen alten Krimi
schaun: Der Kommissar geht rum.
Er stellt Fragen, eine Nachbarin, die gern
tratscht, an der Wand lauscht: Da kommt „es“
schließlich raus! Auch zu Zeiten von Sean-
Connery-Bond wurde schon mitgehört. Das
ist nicht neu. Die durchlässige Grenze. Man
macht mal ein Fenster auf. Wir leben nicht im
Rathaus von Schilda, müssen das Licht hinein
tragen. Den Müll tragen wir in Säcken raus,
wie wir aufs Klo gehen, atmen und essen.
Grenzen sind mehr oder weniger flexibel.
Hast du einen Persilschein? So fragte man
früher, wenn eine Grenze freigegeben werden
sollte. In Russland interniert oder frei
auf einem deutschen Acker? Meinem Großvater
gelang der schwierige Weg aus dem
Osten über Schleswig-Holstein bis in die Gegend
von Uelzen. Er behauptete schließlich,
er sei der Erbe eines Bauernhofes.
Als Seemann war
er ungeschickt, die große
Sense von Onkel Georg zu
schwingen, aber das ist eine
Beschreibung von meiner
Mutter. Heinz wusste sich
selbst und seine Familie in
schweren Zeiten über alle
Grenzen hinweg zusammenzuhalten
oder wieder
zu vereinen, das Überleben
zu sichern.
Damals wie heute: Meinen
Mac schützt die „Firewall“
wie eine Burg. Die Stadt
hatte Mauer und Graben –
aber eine Zugbrücke. Und
normalerweise war dieser
Weg offen. In Friedenszeiten
passierten täglich die
Händler und allerlei Volk
den Eingang. Zwei Wachtposten links und
rechts vom Stadttor, locker auf eine Lanze
gestützt, genügten. Die offene Grenze. Wie
unser Körper, der Mensch. Wir essen, trinken,
wir atmen, nehmen Dinge auf. Kommt
ein Grippevirus angeflogen, schleicht sich
ein, durch das offene Tor unter meiner Nase,
macht ja nix – mein Immunsystem verhindert
das Meiste und das Schlimmste.
Zitat: „Ich denke, dass die vielfach kritisierte
Gentechnik uns befähigen wird zu verstehen,
was bei Krebs eigentlich schiefläuft auf
der zellulären Kommunikationsebene. Dort
findet eine andere Art der Kommunikation
statt als zwischen Menschen, es kommunizieren
Zellen miteinander. Doch es geschehen
ebenfalls Fehler. So übersieht der Körper,
dass Zellen entartet sind, sie haben sich
getarnt gegenüber dem Immunsystem. Wenn
wir aber verstehen, wie Körperzellen miteinander
kommunizieren, dann ist es möglich,
den Krebs zu besiegen“, sagt Gerd Ganteför,
Professor für Experimentelle Physik im Interview
mit Melanie Heike Schmidt im Schenefelder
Tageblatt vom 6. Januar 2020, gefragt:
„Den Krebs zu besiegen wäre sensationell.
Wie könnte das gelingen?“ Zitat Ende.
Worte dringen ein, durch das Ohr – wie
Nahrung durch den Mund. Gegen manches
braucht der Mensch ein Immunsystem, muss
„auf Durchzug schalten“, damit Bemerkungen
nicht kränken. Bei der Anfrage um eine begehrte
Sache abgewiesen zu werden, kränkt:
„Tut mir leid. Hier ist kein Platz für dich.“ Ein
neuer Anlauf. Was ist das: erwachsen werden?
Als ich mich um Info-Grafik in freier Mitarbeit
beworben habe, bei Verlagen, hat es
nicht lang gedauert, und ich konnte loslegen
damit. Ich hatte einen Computer, ich hatte
das gelernt und auf meine Anfrage hieß es
bei einer Zeitschrift schließlich: „Das da (in
Ihrer Mappe) möchten wir nicht – aber wir
brauchen Karten. Können Sie für uns Karten
zeichnen?“ Das habe ich viele Jahre gemacht.
Kleine Info-Land- bzw. Seekarten mit einer
Tourlinie und attraktiven Häfen darin oder
Routen für Rennrad- und andere Touren mit
dem Fahrrad. Ich habe die verschiedenen
Anker gezeichnet, und wo der Skipper sie jeweils
einsetzt. Ich habe unzähliges Material
abgebildet, das an Bord Verwendung findet.
Wie das GPS mit seinen Satelliten funktioniert
oder das Wetter in den verschiedenen
Schichten der Atmosphäre abläuft, habe ich
auch gezeichnet. Ein Handwerk, der Kunst-
Klempner – das bin ich gern gewesen.
Dann kam Schröder mit dem Gesetz gegen
„Scheinselbstständigkeit“, und außerdem
wurde weniger gedruckt, weil die Leute anfingen,
alles online zu machen. Mit den Büchern
wurde es weniger: „Herr Bassiner, Sie haben
jetzt alles digitalisiert, was (Name des Verlages)
im Programm hat.“ Ich wollte wissen:
„Entwickeln Sie denn keine neuen Bücher,
die könnte ich doch illustrieren?“ „Wir kaufen
Mrz 30, 2020 - Corona? 25 [Seite 24 bis 28]
die Bücher fertig in England ein.“ Ich dachte,
vielleicht hätte ich Übersetzer werden sollen.
Die werden noch gebraucht? Ich schaffte es
nicht, mich für eine vergleichbar zuverlässige
Existenz weiter neu- und umzuorientieren,
und das lag nicht an der sich ändernden Welt.
Das lag an meiner Unfähigkeit, mich für etwas
zu bewerben, Rückschläge hinzunehmen
und meine Arbeitsstruktur neuen Bedingungen
anzupassen.
Mit meiner Malerei, die ich eher als Flucht vor
der Realität begann, konnte ich nach kurzer
Zeit Ausstellungen gestalten und verkaufte
Bilder von Leuchttürmen oder Aquarelle aus
dem Dänemark-Urlaub im bezahlbaren Bereich.
Mit ein wenig Klugheit wäre ich nahtlos
zum Wohnzimmerbildermaler geworden,
nachdem es mit den Karten nicht mehr lief.
Auch als Info-Grafiker, wäre die Zukunft auf
meinem damaligen Lebensweg gangbar gewesen.
Es gibt sie noch, die Info-Grafik. Was
brachte mich ab vom Kurs der handwerklich
soliden Existenz? Meine aktuellen Bilder, wie
sie zum Beispiel im Menü „Zoom“ bis in das
Detail der Pinselstriche gezeigt werden, sind
gutes Handwerk. Ich pfusche nicht.
„Die Galeristen halten mir die Leute vom
Hals“, das hatte der Künstler im Fernsehen
gesagt. Schön wär’s, wenn das bei mir so
wäre, denke ich gelegentlich. Ich gebe das zu.
Nach wiederholten Absagen auf meine Anfrage
im Verlauf langer Jahre bei verschiedenen
Kultur- und Verkaufstätten, bewerbe ich mich
gar nicht mehr um Ausstellungen.
Ich dringe nicht ein, das Immunsystem der
Galeristen erkennt mich als Krankheit. Mein
Bild: Der getarnte „Bassiner“. Sieht zunächst
toll aus, aber dann will das niemand kaufen.
Es hat ein wenig gedauert, bis ich daraus
ein Prinzip machen konnte: Bilder malen,
die Leute sehen wollen, aber nicht kaufen.
Das befriedigt mich! Ich habe meine eigene
Kunstfertigkeit gefunden. Kritik an meinen
Bildern oder nicht ausstellen,
verkaufen können, verletzt
mich kaum, weil die Exponate
so sind, wie ich das möchte.
Meine Bilder: Der lange
und aufwendige Prozess ihrer
Herstellung ermöglicht mir,
den Galeristen und Betrachter
als nebensächlich und
außerhalb meines Selbst zu
begreifen. Der Verkaufspartner
ist der Händler, der Käufer
ist der Sammler und ich
habe das gemalt. Drei Positionen, und ihre
Kompetenz gilt nur im jeweiligen Bereich.
Unterteilen, abgrenzen und unterscheiden zu
können, stärkt den Menschen. Draußen wie
drinnen: Auch innerhalb eines Systems, wie
bei der Titanic, die aufgrund des mit Schotten
unterteilten Rumpfs in Sektionen für unsinkbar
gehalten wurde, sind Begrenzungen.
Abgegrenzte Regionen mit ihren speziellen
Aufgaben. Beim Menschen sind es Kopf und
Körper, Rumpf und Glieder, die Muskeln und
die inneren Organe, die auch noch
weiter unterteilt sind. Im ganz Kleinen
dann die Zellen, aus denen die natürliche
Struktur des Körpers gebildet ist.
Wie Bundesländer und darin enthaltene
Landkreise, als Teil des Staatsgebietes.
Nehmen wir ein großes Gebäude mit
vielen Büros: ein tagtäglicher Betrieb,
mit unzähligen Menschen darin. Es
geht zu wie in einem Bienenstock. Es
kommt vor, dass in einem großen Haus
(voll mit herumwuselnden Menschen,
die alle einer Beschäftigung nachgehen
und das Objekt mit Leben füllen,
wir im Gebäude selbst eine Art Lebewesen
sehen könnten), einzelne Räume, Wohnungen,
Geschäfte oder Büros leerstehen.
Im geringen Umfang ist
das normal. Ein Mieter kündigt,
und eine Übergangszeit vergeht,
bis das Leben in Form neuer Bewohner
zurück kehrt. Wandel und
Veränderungen gehören dazu.
Die Statik kann gefährdet sein,
wenn eine zu große Anzahl der
Abteilungen nicht ihrem Zweck
entsprechend das System stützt.
Das kann im übertragenen Sinne
der Rentabilität verstanden werden.
Bei zu viel Leerstand, gehen
die verbleibenden Mieter ebenfalls.
Das Vertrauen in das Ganze
geht verloren. Oder im baulichen:
Prinzip Kartenhaus. Bei zu großen
Beschädigungen in ausreichend vielen
Räumen stürzt das Haus ein. Die Titanic sank,
weil der durch den Eisberg verursachte Riss
im Schiffsrumpf zu lang war. In den langen,
dramatischen Stunden der Nacht des Untergangs,
waren schließlich zu viele Sektionen
vollgelaufen, als dass die verbleibenden mit
Luft gefüllten Kammern den Auftrieb vom
Ganzen sichern konnten.
Am Anfang malt man nur so irgendwie. Du
merkst, dass manches besser wirkt und anderes
stört. Es dauert, bis daraus Erfahrung wird.
Dann lernt man, im Bild das System zu sehen.
Die Ordnung zwischen den vier Außenkanten.
Einzelne Elemente im Bild sind begrenzte
Formen, und alles zusammen muss dem
Leben ein nachvollziehbares Abbild sein. Es
gibt keinen Rest in einem guten Bild. Wie bei
jeder Kunst. Auch wenn nicht alle Musiker die
ganze Zeit in einem Stück spielen:
Wir können unterscheiden,
ob die Aufführung gelungen ist
oder im soundsovielten Takt
das Klavier kaputt ging und
von da an gefehlt hat. Malen zu
können, bedeutet dem Charakter
des Lebens an sich, seinem
Sinn oder Zweck (und wenn es
keinen Zweck gibt, wir wissen
es ja nicht), dann doch dem optischen
Eindruck seiner Funktion,
wie in einer persönlichen
Karte auf der Spur zu sein. Das hilft auch der
eigenen Funktion. Ein Mensch funktioniert?
Genügend viele Bereiche im Körper und der
Leitstelle des menschlichen Gehirns müssen
strukturiert zusammenarbeiten, sonst ist das
Leben gefährdet, ja.
Wie es dir geht, das steckt dir in den Knochen.
Die Muskulatur macht aus deinem Gangbild
eine persönliche Abweichung vom Ideal der
optimalen Funktion. Angespannt, was bedeutet
es individuell: Stress? Jeder macht
ein Gesicht, sein Gesicht – wieso? Muskeln
ziehen ein gequältes Lächeln, formen Tag für
Tag den schnippischen Mund – bis es eine
eingefleischte Sache ist. Die anderen sehen
es gleich, ahnen was sie zu erwarten haben,
wenn sie mit dir ein paar Tage Urlaub machen
müssten. Es ist nicht einfach, sich selbst
zu bemerken. Wenn wir in den Spiegel schauen,
belügen wir uns gern, machen unser Spiegelgesicht.
Emotionen und Denken rechnen einige ausschließlich
dem Kopf zu. Medizin wird entwickelt,
um das Gehirn zu steuern, wenn ein
Mensch psychisch erkrankt. Die Leitstelle unserer
Orientierung. Die eigenen Steuerungsmöglichkeiten,
die wir über das Verständnis
unseres gesamten Selbst erlangen können,
werden gern übersehen. Geistiges sehen
viele noch vom Körper getrennt. Nur weil es
diese Worte gibt. Unser Körper ist die Basis
des System Mensch, wie der Schiffsrumpf des
erwähnten Unglücksdampfers. Kein Künstler
schafft aus voller Kraft, wenn er nicht über
sich als ganze Person verfügen kann. Kein
Sportler kann seine muskuläre Kunst ausüben,
wenn er nicht Körper und Geist als synchronisiertes
Ganzes versteht. Es gibt keine
berührende Musik und keinen attraktiven
Sport von Menschen, die nicht selbstbewusst
sind. Sport und Kunst machen den Ausübenden
selbstbewusst.
Warum erlaubt sich die Gesellschaft, so viele
Menschen einfach mitzuschleppen und warum
erlauben sich diese Menschen das selbst?
Verbissen, eilig, verkrampft sind sie und überaktiv
unterwegs, machen gehetzte, ruckartige
Bewegungen, immer auf dem Sprung zum
nächsten Termin. Alternativ unsportlich, fettleibig,
eingebildet, gefrustet. Zeitgenossen,
süchtig nach Anerkennung „im Netz unterwegs“
– ihrer eigentlichen Natur entfremdet
und deswegen unattraktiv sind sie – obwohl
sie’s nicht müssten. In einem Job, der sie nicht
erfüllt. Mit einem Partner leben sie zusammen,
den sie nicht wählten, sondern schließlich
akzeptieren; warum suchen sie nicht?
Stattdessen machen sie Online-Dating und
verlieben sich alle 11 Minuten.
Menschen! Sie kennen ihre Angst nicht. Sie
fürchten sich davor, peinlich zu sein, laut
zu werden oder gar aggressiv. Sie tun, was
man ihnen sagt, klammern sich an eine soziale
Gruppe und spüren nicht im Leib, was
Mrz 30, 2020 - Corona? 26 [Seite 24 bis 28]
es mit ihnen macht. Sie handeln gegen sich
selbst. Grundsätzliche Ausflüchte, Risiken
vermeiden, Selbstbetrug: dazu gibt es viele
Möglichkeiten, und die betreffen den Körper
durchaus. Menschen essen weiter, obwohl sie
satt sind. Sie gehorchen dem Chef, weil sie
nicht spüren, dass sie ausgenutzt werden.
Sie gehen nicht auf einen guten Weg, weil
sie die offene Tür nicht sehen: neigen lieber
ihren Kopf, um das Display zu studieren. Sie
bemerken nicht, wo sie sind. Im Netz? Gefangen
sind sie. Gefangene der Kommunikation.
Ein Wort ist niemals, was es bezeichnet. Wie
ein Bild, ist es nicht mehr als ein Modell der
Realität. Ich bin nicht überheblich! Meine
eigene Erfahrung; krank bin ich geworden,
habe mich selbst verleugnet, einen harten
Weg akzeptiert.
Warum?
Wir können Erfahrung nur in Worte packen
oder durch unsere Handlungen selbst lehren:
Die Sektionen der Titanic schotteten
den Rumpf ab, sollten das Schiff unsinkbar
machen. Der Kapitän, weit oben auf der Kommandobrücke
darüber, im „Gehirn“ des Apparates,
hatte dem Maschinisten AK befohlen.
Volle Fahrt in dunkler Nacht. Es galt einen
Rekord zu beweisen? Das könnte ein Grund
gewesen sein. Das hohe Tempo der Titanic ist
belegt. Andere in der Nähe im Eis fahrende
Schiffe hatten ihre Maschinen gedrosselt,
krochen nur langsam durch die Nacht, warteten
auf das neue Licht des Morgens.
Kapitän Smith will es wissen! Zu spät bemerkt
der Ausguck den Eisberg. Zu lange
dauert die Kommunikation mit der Brücke.
Und dann wird noch Backbord mit Steuerbord
verwechselt. Schließlich, der lange Riss
unter der Wasserlinie, im stählernen Leib. Ein
böses Schrammen ist zu hören und plötzliche
Furcht ergreift die Überraschten unter Deck:
Wasser schießt in die Kabinen! Menschen
rennen durch die verschachtelten Flure, als
sich der Koloss zu neigen beginnt. Fach für
Fach läuft der unsinkbare Ozeanriese voll,
aber das dauert. Hätte es die vielen Sektionen
nicht gegeben, in wenigen Minuten hätte
sich der gesamte Rumpf mit dem Eiswasser
gefüllt, und der riesige Vierschornsteiner
wäre sofort untergegangen.
Der mitfahrende Ingenieur Andrews erkannte,
nachdem er den Schaden inspizierte, dass
das Schiff nicht zu retten sei: Nacheinander
würden die beschädigten vorderen Sektionen
ganz gefüllt sein. Dann hätte die Titanic eine
Lage, die dazu führen würde, dass Wasser ein
nächstes Schott zum achteren, unverletzten
Teil des Rumpfs übersteigen könne – dieses
hatte der Schiffbauer Andrews niedriger gestaltet
– und es würde dem Wasser nur noch
kurze Zeit widerstehen. Die anschwellende
Flut liefe schon bald einfach oben darüber,
und dann würde sich wieder eine Sektion füllen.
Dadurch läge das Schiff noch tiefer, und
schließlich: „Die Titanic wird untergehen“, erkannte
Thomas Andrews früh.
Wer war schuld am Untergang? Die Titanic
war gut konstruiert. Obwohl, hätte Andrews
nicht sämtliche Schotten hoch genug zeichnen
müssen, dass das Wasser gestoppt würde,
als die vorderen Sektionen beschädigt
waren? Viel wird noch heute diskutiert. Der
verwendete Schiffbau-Stahl wäre minderwertig
gewesen, heißt es. Auch soll ein Brand
den Rumpf geschwächt haben. Noch vor der
Ausreise, wäre das Schiff so durch Materialermüdung
zufällig in dem Bereich, wo es
anschließend vom Eisberg getroffen wurde,
geschwächt gewesen. Da ist die Frage wieder
aktuell: Wie stark ist unsere Außengrenze?
„Der Mensch – als Konstruktion denkbar. Aber
das Material ist verfehlt; Fleisch ist ein Fluch“,
meint Ingenieur Homo Faber im bekannten
Buch von Max Frisch. Wir arbeiten am Roboter.
Deswegen? Alternativ möglich wäre, die
Titanic (oder den Menschen), so zu nehmen,
wie er eben ist? Sich bewusst sein, was damit
getan werden kann und was nicht. Ein Tempo
durch die Umgebung zu wählen und einen
Kurs (in der Nacht), der gut ist.
Die vielen diagnostizierten Varianten psychischer
Labilität beinhalten alle dasselbe
Problem: Wie fest ist der Mensch im intellektuellen
Terrain drumherum eingebunden
und gegen soziale Anfeindungen geschützt
oder eben nicht? Der wesentliche Ansatz zu
Hilfe und Selbsthilfe muss darin bestehen,
das Selbst exakt zu definieren. Das bedeutet
eine individuelle
Grenzziehung. Ein
Medikament oder
der zentralverriegelte
SUV können
genauso wie
Fahrradhelm und
Warnweste zum
falschen Schluss
führen, Angst generell
abgeschafft zu
haben. Künstliche
Sicherungen um
den natürlichen
Leib verkleiden unsere Nacktheit draußen.
Im Badezimmer, im Bett und vor dem Spiegel
wirkt es nicht. Ob Udo Lindenberg den Hut
auch nachts im Bett aufbehält? Das wurde er
mal gefragt.
Das starke Selbst. Unsinkbar im Alltag? Im
speziellen Fall der einzelnen Person, müssen
wir uns im Ganzen verstehen, um Abwehr
einerseits und Integration andererseits auf
unsere Bedürfnisse zugeschnitten hinzubekommen.
Natürliche Hilfe: Der Mensch kann sich über
die Muskulatur und seine Bewegung, wie er
handelt, erkennen. Wir können unser Fühlen
und das tägliche Bewegen nutzen, unser Tun
analysieren und auf Gefühle und Verstand
Einfluss nehmen, wenn wir uns als ganzen
Menschen begreifen. Wenn wir hingegen damit
fortfahren, unsere Emotionen abgetrennt
vom Bewegungsapparat zu betrachten, zementieren
wir unser Denken und Fühlen als
eine rein „geistige“ Angelegenheit. Werden
damit fortfahren, Ratgeber zu schreiben und
Therapien erdenken, in denen ein Mensch einem
anderen sagt, was zu tun sei. Wir sollten
uns fragen und besser prüfen, wie viel davon
(oder wenig) den Behandelten auch erreicht.
Die Menschen gehen alle verschieden, warum?
Wer latscht, ist ein Schlaffi. Genauso:
Ein Angeber tritt auf, mit nichts dahinter; das
sieht man. Älter zu werden hat diesen einen
Vorteil: Es ist leichter zufrieden zu sein, leichter
sich von einem Schock zu erholen. Mehr
merken ist möglich. Man kennt sich irgendwann.
Das Bild, das bin ich. Wenn ich nicht will, mache
ich alle Schotten dicht. Malen bedeutet,
Abgrenzung gelernt zu haben: Meine Kunst
zieht die Grenze. Ich konnte Kränkung, Abweisung,
wenn ich von jemand etwas möchte,
als persönliche Macke begreifen. Na und? Ich
lernte meine Existenz zu sichern, ohne Bilder
zu verkaufen.
„Was du machst, ist ein Hobby“, sagt dazu
mein Freund Piet. Er verkauft U-Boote, die
großen, mit denen wir und andere Länder
eine Menge Mist machen können, aber auch
die Grenze schützen; je nachdem. Wenn Peter
nicht arbeitet, baut er U-Boote. Kleine, so
bis zu einem Meter lang und noch ein wenig
größer; das ist sein Hobby. „Du hast unrecht“,
sage ich. Du baust deine Modelle exakt nach
Plan, ich denke mir meine Bilder ganz und
gar selbst aus, das ist was anderes. „Wenn
man nicht verkauft, ist es ein Hobby“, meint
Piet hart, und er verdient entsprechend seiner
Arbeit sehr viel Geld. (Er muss es wissen,
deswegen). Mein Freund.
Wie erkennt ein Fremder die Grenze? Astro-
Alex und andere: „Aus dem Weltraum siehst
du keine Grenzen.“ Wo ist die rote Linie denn,
und wer zieht diese Grenze? Ich habe
gemalt, bis es knallte: Strafanzeige.
Nun kenne ich die Stelle, wo die anderen
sie definieren. Warum habe ich
so gemalt? Ich konnte endlich wieder
bestimmen und aktiv handeln, konnte
deutlich machen, wo meine eigene
rote Linie schon längst überfahren
war.
Niemand malt wochenlang exakt und
mit gutem Handwerk, ohne zu wissen,
was dann passiert. Wie stellt man ein
Fernrohr scharf ein? Jeder hat seine
eigenen Augen, und wenn man einen Feldstecher
bekommt, mit dem gerade beobachtet
wurde, muss man neu justieren. Du drehst
am Okular. Schraubst vom unscharfen Bild
weiter, bis es besser wird – darüber hinaus
und wieder zurück – und dann erst weißt du,
wo du exakt scharf sehen kannst. Man überfährt
die rote Linie bewusst, unbedingt. Wer
ahnungslos trottet, wird totgeschossen.
Grenzüberschreitung: In dauerhafter Harmonie
zu leben, ist unmöglich. Nie die Beherrschung
verlieren, warum? Nach meiner
Auffassung ist es nicht falsch, provoziert im
Affekt mit aller Macht vorhandener Mittel
anzugreifen. Ich bereite mich nicht vor, wie
Dominik Brunner, von dem es hieß, er habe
Kampfsport geübt, für den Fall man das einmal
benötige, vor seinem couragierten Einschreiten
auf dem Bahnhof. Er ist tot. Ich bin
untrainiert. Ich mache keinerlei Sport, trotzdem:
Die Faust kann ich ballen; ein Messer
nehme ich nie mit.
In einem Video habe ich gesehen, wie ein Polizist,
provoziert in einer unübersichtlichen
Situation mit vermummten Gegnern eines
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Camps das die Ordnungskräfte zu räumen
hatten, zugeschlagen hat. Mit einem harten,
gerade gestreckten Faustschlag direkt gezielt
in das Gesicht des schwarz bekleideten jungen
Mannes, schlug der Polizist zu. Natürlich
wird es ein Verfahren gegeben haben, Uniformierte
sind leichter zu identifizieren als Chaoten,
obwohl: unter Kollegen wird man Verständnis
geäußert haben. Schließlich macht
der Beamte einen Anti-Aggressionskurs (das
wird nichts ändern) und eventuell wird er
suspendiert. Auf der anderen Seite, egal ob
links- oder rechtsextrem – solche Bilder werden
lustvoll gepostet, und die Emotionen gehen
hoch. Das ist der Mensch.
Ich habe mich mit paranoider Angst auseinandergesetzt.
Das ist, wenn man denkt, die Leute
reden über einen, aber die reden über was
ganz anderes. Paranoia ist Einbildung. Man
denkt dran, Feinde zu haben, aber in Wahrheit
interessiert sich gerade gar niemand für einen.
Das Problem ist umgekehrt. Man möchte
gemocht werden, und das scheint zu misslingen.
Zwei Lösungen gibt es – man wird so toll
mit was, und alle rennen dir die Bude ein. Der
andere Weg: Du beginnst auszuleben, was in
dir steckt.
Man beginnt auszusprechen was man denkt,
schreibt es auf, entwickelt eine eigene Meinung.
Malt was man meint – und dann trifft
man ja nicht den Nerv der Welt. Ein Beginner
ist kein Könner darin. Man geht nur den
Nachbarn auf die Nerven. Dann reden die
Nachbarn aber wirklich! Hast du keine, mal
dir Feinde. Das ist das Ende der Paranoia. Ich
habe gelernt, mit offenen Grenzen zu leben.
Ich kann das.
Beim Aktzeichnen lernten wir, genau hinzuschauen.
Der Professor erklärte: „Die Kontur
ist eine zufällige Grenze.“ Die Schwierigkeit
besteht darin, sich entweder sicher dem Talent,
es zu können, hinzugeben oder mühsam
zu lernen. Wenn man zeichnen kann, muss
man nicht bewusst denken. Dann fährt die
Hand mit dem Stift entsprechend dem was
du siehst zielsicher über das Blatt. Dann sollte
man nicht viel nachdenken und gutes Tempo
vorhalten.
Während ich gelernt habe, konnte und durfte
ich so nicht arbeiten. Bevor ich studierte,
zeichnete ich einfach so, und ich war recht
gut. Im Studium kam es dann aber nicht darauf
an, schöne Bilder zu machen. Wir lernten
die Räumlichkeit der Körper zu begreifen, wie
etwa ein talentiertes Kind die Harmonien in
der Musik studiert, statt nur zur Freude der
Eltern Stücke aufzuführen.
Wir lernten, im Akt eine Binnenzeichnung zu
machen. Das bedeutet, die Kontur, was jeder
zunächst denkt zeichnen zu müssen, wegzulassen.
In erster Linie schauten wir, wo die
unveränderlichen Meridiane der Figur sind.
Wir stellten uns eine Mitte vor. Eine Linie,
über den Nasenrücken hinunter, das Kinn
in zwei Hälften mittig geteilt, zwischen den
Brüsten durch, den Buckel des Bauchs in
der Mitte beim Bauchnabel passierend bis
in die Scham. Wir sollten lernen, diese Mitte
zu zeichnen, den Körper im Raum verstehen.
So entstand ein inneres drei dimensionales
Modell.
Ein Scan, den ich in vielen Stunden zeichnend,
dem Professor zuhörend, eingebrannt bekam.
Das hilft, die Kontur außen, dort wo die Figur
sich vom Hintergrund abhebt, exakt zu sehen.
Die Idee ist Verlässlichkeit. Eine Mittellinie
verläuft immer in der Mitte des Körpers. Aber
nicht immer in der Mitte meiner Zeichnung. In
dem Moment, wo ich die Abweichungen von
dem was ich sehe nachvollziehen kann, wird
das Sehen leicht. Wenn das Modell schräg zu
mir steht, ist von der vorderen Brust mehr zu
sehen, sie sieht breiter aus, wird deswegen
größer gezeichnet. Und aus meiner Perspektive
ist der Bauchnabel in Richtung des Hintergrundes
verschoben, nicht in der Mitte des
Körpers zu sehen, wo er sich doch befindet.
Die andere Methode ist, sich blind auf Intuition,
Erfahrung zu verlassen. Manchmal ist das
wirklich besser! Das kann man nicht gut unterrichten.
Das hieße zum Schüler zu sagen:
„Geh los und zeichne!“ Theoretisch kommt
dabei auch das Beste heraus. Das Bild korrigiert
sich selbst. Wenn man irgendwo anfängt
zu zeichnen, müssen die Formen dessen, was
man zeichnet und die von dem was dazwischen
nachbleibt, insgesamt stimmen.
Wenn also vorn ein Mensch steht und dahinter
ein Auto, geht das Ganze nur auf, wenn
das, was links der Figur als „Mercedes“ angefangen
wurde rechts entsprechend fertig
wird. Der innere Anspruch, eine ästhetische
Idee auf der Fläche umzusetzen, wird immer
dazu führen, die Grenzen der Form genau zu
definieren. Das gilt auch für gegenstandslose
Kunst. Nach einer gewissen Zeit der Beschäftigung
damit, wird man bemerken, dass
willkürliches Pinseln einem selbst nicht
gefällt. Was als spannend oder kraftvoll,
kühl oder hitzig, strukturiert oder flächig
gefällt, wird den banalen Geschmack
der Laien vergessen lassen. Es entsteht
künstlerische Identität: „So genau möchte
ich das haben!“
Die Auseinandersetzung mit der Fläche führt
zur Bestimmung persönlicher Grenzen. Damit
entsteht über die Malerei hinaus eine Standortbestimmung.
Nicht jede Situation kann
stereotyp nach Regeln gemeistert werden:
Wir fahren auf der rechten Straßenseite, und
alle sollen sich daran halten. Das klappt prima,
bis das Müllauto seinen Zwischenstopp
macht. Wir warten den Gegenverkehr ab, bis
dort eine Lücke kommt. Dann entscheiden
wir selbst, ausnahmsweise kurz die linke
Seite der Fahrbahn zu nutzen, überholen das
Hindernis.
Das ist ganz einfach. Wir kennen unser Fahrzeug,
haben gelernt, beherzt Gas zu geben
und einen passenden Gang dafür einzulegen,
und wir fahren dem Müllmann nicht ans Bein.
Wenn jemand unsicher ist, bildet sich eine
Schlange hinter dem Müllauto, und
die Leute hupen: „Mensch, fahr doch!“
Selbstbewusstsein heißt, die eigenen
Grenzen zu kennen und was möglich
ist, kraftvoll zu tun.
Neue Sicherungen sollen die Welt
besser machen. Man stelle sich vor,
die Müllwerker müssten in Zukunft
zusätzlich ihrer normalen Arbeit noch
jeweils zwei kleine Ampeln bei jedem
Kurzhalt aufstellen, die den Verkehr
regeln. Vielleicht kommt eine Zeit,
in der Fußgänger auf dem Gehweg
Helmpflicht haben, weil Drohnenverkehr
zugenommen hat. Der Helm
muss zwingend in der Wohnung aufgesetzt
werden: weil die meisten Unfälle
schließlich im Haushalt passieren.
Kameras werden es überwachen.
Die Hamburger Morgenpost war die
Zeitung, die vor vielen Jahren einen
Namensfindungswettbewerb ausgerufen
hat. Seit geraumer Zeit gab es
diese Trennstäbe an der Supermarktkasse.
Die waren schon einige Jahre
im Einsatz, und nur wenige ganz alte Menschen
(wie ich zum Beispiel) werden sich daran
erinnern, dass wir früher zur Kassiererin
sagten: „Stopp. Jetzt kommen meine Sachen.“
Der Name heute: Corona?
:)
Mrz 30, 2020 - Corona? 28 [Seite 24 bis 28]
Mehr tun …
Apr 26, 2020
… können, von dem was gefällt: weniger
zwanghaft sein, Auswählen macht frei. Was
dir Spaß macht, ist nicht was ich mag. Leben
nach dem Lustprinzip ist verpönt? Leben ist
genau das, es wendet sich dem Besseren zu.
Probleme werden gelöst. Erfüllung bedeutet,
auf Unerreichbares zu verzichten, um tun zu
können was befriedigt: Sich selbst in der Situation
einschätzen können, auch nicht vorhandene
Freiheit akzeptieren. Der freie Wille?
Nicht nur die Verpflichtungen, die Gesetze
beschränken (auch Atheisten). Wir können
nicht alles tun, schon deswegen, weil wir es
gar nicht möchten. Aktuell: Die Corona-Krise
erlaubt das Reisen nicht? Aber niemand setzt
sich in einen Zug und macht eine Reise nach
Mailand, nur weil es
theoretisch möglich ist.
Urlaub oder Geschäft;
es gibt ein Motiv für
jede Handlung.
Eine Frage, der besondere
Einfall; ein
bestimmter Gedanke
geht der Tat voraus,
bevor jemand aktiv
wird. Die Erinnerung
an einen Termin, eine
Verpflichtung oder
eine Sehnsucht, die
erfüllbar ist? Nur ein Gefangener trottet
ausschließlich auf fremden Befehl – weil er
muss. Die Kunst zeigt uns, das Einreißen von
Mauern ist möglich.
Ein lesenswertes Buch beschreibt den Trompeter
Chet Baker: Der Autor ist seinem Lieblingsmusiker
zu vielen Auftritten nachgereist.
Einmal, das Konzert in Frankfurt oder
Stuttgart (ich erinnere mich nicht genau)
beginnt verspätet.
Der Musiker, so stellt
sich heraus, war noch
mit dem Sportwagen
unterwegs. Lothar Lewien
ist ein vertrauter
Bewunderer und
zitiert aus zahlreichen
Backstage-Gesprächen
mit seinem Star: „This
is the fan we need“,
sagt Baker, lobt den
Eifer des unermüdlichen
Zuhörers, der immer
auftaucht und die
Nähe zu den Musikern
sucht. Chet Baker war, so scheint es, ohne
Anlass mit dem neuen Auto von Deutschland
aus, also bereits vor Ort, nach Italien gefahren
und wieder zurück und nicht ganz rechtzeitig
auf der Bühne gewesen? Es bleibt sein
Geheimnis, warum es nötig gewesen war,
die Strecke Frankfurt / Mailand und zurück
an einem Tag abzufahren – so ähnlich kommentiert
der Zuhörer dieser Geschichte (und
hingebungsvolle Fan) die Aktion.
Es war möglich gewesen. Er konnte vor dem
Auftritt noch hinfahren und war beinahe
rechtzeitig zurück, trug Sandalen auch im
Winter, da wird viel erzählt bei Lewien. Auch
Bakers eigene Lebensbeschreibungen sind
empfehlenswert. Meine Schwester, die mich
mit der Musik des wunderbaren Trompeters
und ausdrucksstarken Sängers bekannt
machte, gab unverlangt Hinweise von ihrer
Freundin weiter (die ihr die Platte empfohlen
hatte), wie’s einzuordnen sei: Bakers Musik
sei erst nachdem er seine Zähne eingebüßt
hatte und durch Drogenkonsum beeindruckend
geworden.
Wenn ich mich daran zurück erinnere (das
ist ja lange her), passt diese (typische) Belehrung,
wie zu hören und begreifen sei, in
die Textstelle eines Freud-Buches, in dem
ich vor ein paar Tagen herumblätterte. Maler
Lucian Freud äußert sich zum Thema Erotik.
Da steht etwas darüber, was Menschen, die
selbst nicht malen,
in Bildern sehen,
hineininterpretieren.
Wenn ich eine
Kulturerklärerin im
Fernsehen oder so
erlebe, die gerade
eine Ausstellung
von Nolde, van
Gogh oder einem
anderen (verstorbenen)
Maler eröffnet,
denke ich jedesmal:
Was redet die da?
Ein Gespräch unter
Musikern, noch eine
Textstelle. Der erwähnte Jazztrompeter Chet
Baker und ein Kollege kommen zum Schluss:
„Nur zwei Prozent vom Publikum kann hören,
den Melodielinien des Trompeters überhaupt
folgen.“ Die anderen sind aus privaten Gründen
im Club. Miles Davis, er spielte mit dem
Rücken zum Publikum, störte sich am Herumalbern
auf dem Podium von Louis oder Dizzy.
Sie waren Unterhalter, sagt Miles abwertend
und einordnend, für die ältere Generation
gehörte das eben dazu, um Erfolg zu haben.
Die reine Musik? In der Kunst reden wir vom
Motiv und in der Kriminalistik auch. Lewien
gibt in seinen einfühlsamen Beschreibungen
„Engel mit gebrochenen Flügeln“ viel vom eigenen
Leben preis.
Er hat amateurhaft
Trompete gespielt,
erzählt privates –
wurde nie ein Star.
Sein Buch ist eine
sensible, künstlerische
Einordnung
des Musikers, die
jeder der selbst
kreativ ist nachvollziehen
kann.
Nun bin ich ja weder
berühmt noch
tot, aber Maler bin
ich. Am aktuellen Bild „Gurken und Rosen“
arbeite ich seit über einem Jahr, und inzwischen
beginnt es mir zu gefallen. Es sieht
recht fertig aus. Ein schwieriges Problem. Als
ich das Thema anfing, im März 2019, war meine
Lebenssituation ganz anders. Ich beginne
stets mit einem Bild, wenn ich mich an einer
Idee festbeiße. Es ist dann weniger, weil ich
den soundsovielten Bauernhof oder das xte
Porträt malte, weil es mein Beruf ist, Landschaften
oder ein anderes Genre auszufüllen.
Ich bin meiner Psyche auf der Spur und packe
ein Problem an.
Es heißt, dass der „Herr der Ringe“ seine
Form beim Schreiben gefunden hat, Tolkien
also nicht genau wusste, wie es enden würde.
Edward Hopper beklagt, dass sich eine Idee
während der Arbeit immer wandelt. Dennoch
ist gerade Hopper derjenige, der wie John Irving
darauf drängt zu betonen, wie genau ein
Werk vorher geplant ist: „Wenn ich mich an
die Staffelei setze, ist alles erledigt.“ Und von
Irving heißt es, er schreibe den letzten Satz
eines Romans zu Beginn auf. Solche immer
verbreiteten Anekdoten sind Märchen für Leser,
die selbst nicht malen oder schreiben.
Es gehört zu meiner tiefen Befriedigung, auch
im verzweifelten Zorn und unflätigen verbalen
Ausbrüchen, die mich regelmäßig vor der
Staffelei packen, wenn es irgendwo hakt mit
der Arbeit, den Unterschied vom Konsumenten,
Erklärer und Schaffenden zu verstehen.
Ich bin der, der’s macht.
Ich lese diese Bücher anders, deswegen. Das
kann man nicht erklären.
:)
Apr 26, 2020 - Mehr tun ... 29 [Seite 29 bis 29]
In alter Freundschaft
Mai 2, 2020
Ein Mann, ein Wort! Menschen sprechen,
schreiben, erinnern; sie tauschen sich aus,
geben Erfahrungen weiter. Verträge werden
gemacht. Es gibt die Sprache der Juristen, die
der Seeleute, und manche bleiben Analphabeten,
das ist seltsam. Alle, außer mir, telefonieren
mobil. Niemand schreibt noch mit
der Hand?
Direkte Kommunikation:
Manche achten mehr
darauf, wie etwas klingt,
als auf den Inhalt der
Botschaft. Wie kommt
das? Wenn jemand zu
mir spricht, muss ich
entscheiden, ob derjenige
mir wohlgesonnen
ist. Erst dann bewerte
ich, ob ich mich für das
was er sagt interessiere.
Wünsche werden erfüllt,
manchmal dauert es: „Ich
rufe Sie nächste Woche deswegen an.“ Die
Absichtserklärung. In jedem Wortbeitrag, den
ein Mensch von sich gibt, ist die Motivation
warum er sich äußert untrennbar integriert.
Eine Absicht ist immer dabei. Niemand ist allein
und vollkommen autark im Denken, Handeln
und Sprechen. Hinter jedem Menschen
stehen die, die mit ihm durch Beziehungen
existentiell verwoben sind. Bei einem jüngeren
Menschen sind die Eltern, Großeltern
wichtige Bezugspersonen. Weil die Ernährung
und die Existenz überhaupt von ihnen
abhängt, wird ein junger Mensch diese bei
jeder verbalen Äußerung innerlich abschätzend
miteinbeziehen. Das heißt, wenn ein
junger Mensch spricht oder schreibt, stehen
nicht nur enge Freunde, sondern auch die
Meinungen und Ansichten enger Bezugspersonen
hinter jeder Kommunikation. Niemand,
der spricht oder schreibt ist frei, wird sich
immer an den Eckpunkten seiner Existenz
ausrichten.
Ein Mann, ein Wort? Die moderne Gendersprache
irritiert mich schon etwas älteren
Mann. In der Politik ist sie heute verpflichtend.
In einer der letzten, noch die Öffentlichkeit
bedrängenden Ansprachen der
scheidenden CDU-Vorsitzenden, bevor sie erkannte,
dass jemand anderes diese Position
erkämpfen würde, hörte ich sie sagen: „Die
Bürgerinnen und Bürger müssen, wie gleichwohl
wir Politikerinnen und Politiker und die
Soldatinnen und Soldaten“ – als sie soweit
gesprochen hatte, war ich schon weg – weit
weg, vom Thema, um das es ging, dass ich es
nicht mehr mitbekommen habe.
Sprache ist Kampf? Krampf-Karrenbauer, das
etwa dachte ich. Wer sich nicht an die Struktur
anpasst, verliert möglicherweise. Sprache
ist immer von den Ideen und Absichten
dahinter manipuliert. Wir sehnen uns nach
Menschen mit Ecken und Kanten, heißt es.
Die Gesellschaft schleift die Ecken und Kanten
rund, wie die Brandung die Steinchen am
Strand.
Man kann nicht einfach an die Elbe fahren
und sich einige Eimer Sand aus dem Strandbad
holen, um damit im Winter den Gehweg
bei Eisglätte abzustreuen. Aus zwei Gründen:
Dieser Sand beißt sich nicht fest und ist kein
guter Streusand. Der im Baumarkt gekaufte
kommt nicht vom Strand, und die winzigen
Krümmelsteinchen darin sind eckig. Sie rollen
nicht auf dem Eis, wenn du deinen Fuß
drauf setzt! Der zweite Grund ist, wenn du
dem Nachbarn sagst, wie clever du billig deinen
Sand vom Strand ge-eimert hast, für den
Winterdienst, belehrt dich der Nachbar, zeigt
dich womöglich noch an, wegen unsachgemäßem
Streugut. Wir hatten ein Geschäftsgrundstück
und einen großen Hof mit Parkplatz.
Mein Vater hat es mir erzählt, daher
weiß ich das.
Wer auch immer
kommuniziert, andere
stehen im Geiste
dahinter, das sollten
wir wissen. Eine
neue Entwicklung
ist die schriftliche
Dauerkommunikation,
mit nur wenigen
Hinweisen auf die
individuellen Besonderheiten
des persönlichen
Ausdrucks.
Deswegen basteln
manche die unterschiedlichen Emoji in jeden
Text. „Ich wusste nicht, was ich dir antworten
sollte“, schrieb mir eine Freundin – und
da war es bereits aus. Wenn wir nicht mit der
Tastatur kommunizieren würden, sondern
von Angesicht zu Angesicht, könnten wir
nicht in ein verzögertes Schlamassel geraten,
wir müssten sofort entscheiden: Antworten,
Schweigen, Weggehen? Unser Gesicht dazu,
der Ausdruck – das spricht Bände, heißt es.
Ein Bild sage mehr als tausend Worte, heißt
es auch. Warum beginnen Kinder, Musik zu
machen oder malen? Weil es schon Musik
gibt und weil die Eltern Buntstifte verteilen?
Weil es Lob gibt, wenn man’s macht? Ein anderes
Kind spielt immer mit dem Ball, aber
wenn der Wunsch kommt, professionell Leistungsport
zum Beruf zu machen, werden nur
wenige Eltern die Begeisterung teilen.
Auf dem Weg in das Erwachsenwerden, müssen
wir jungen Menschen verstehen, dass
auf unsere Umgebung nur bedingt Verlass
ist. Die Umgebung spricht zu uns, sie kommuniziert,
und wir lernen, darauf zu antworten.
Nun kommt es darauf an, wie verlässlich
unsere Eltern sind. Sie müssen einem chaotischen
Drumherum Sinn geben, den es möglicherweise
gar nicht hat. Ob Gott die Welt
geordnet hat, er „nicht würfelt“, wie Einstein
meinte? Das wird noch bestritten. Und es gibt
Eltern, die den Glauben so moralisieren, dass
Kinder davon erdrückt werden oder Eltern,
die desorientiert dem Geld nacheilen, dass
jeder Sinn zerredet wird.
Bilder werden gemalt, wie der Golem geformt
wurde: ein starker Platzhalter – etwas,
das dem Künstler den Weg bahnt. Ein sprachloser
Partner. Ein Bild redet anders. Ein Bild
gibt der Umgebung einen Sinn, den persönlichen
Sinn. „Du sollst dir kein Bildnis machen“,
mahnt mich die PastorIn – „Er sitzt zur Rechten
Gottes“, sprechen wir aber. Auf der Wolke?
John Steinbeck hatte den Einfall, uns mit
dem Wort „timschal“ bekannt zu machen, das
etwa „du kannst“ bedeutet. Wird dies in die
Gebote gesetzt, heißt es: Du „kannst“ nicht
töten, ehebrechen oder stehlen. Weil wir wissen,
dass wir es gleichwohl können, gibt uns
dies die Würde und Verantwortung, selbst zu
entscheiden.
Das ist Freiheit.
Kommunizieren ist immer auch die Frage an
die Umgebung, Bestätigung zu bekommen.
Und das Echo wird immer nur bedingt verlässlich
sein, weil am Gegenüber der große,
unbekannte Teil der anderen Beziehungen
hängt, die wir nicht kennen. Das ist nicht
erst so, seitdem die Menschen sich auf das
manipulierbare elektronische Wort verlassen.
Die Welt zeigt uns ihr modernes Gesicht, das
unsere Eltern uns noch anders lehrten. Die
Welt – sie hat ihr Vertrauen verspielt. Gestern
waren wir jung. Wir glaubten, was man
uns gesagt hat. Es ist vorbei damit. Trotzdem
glauben? Es gibt sie noch, die Welt von gestern:
# Unglaublich, Danke!
Mir ist gestern Abend am Feiertag erster
Mai nach dem Essen ein Inlay raus gefallen.
Feier- und dazu Freitagabend-Feiertag, und
ich sitze vor meinem Bild, ziehe nebenbei
gedankenverloren Zahnseide durch. Fällt es
spontan goldig auf meinen Pullover, einfach
so. Das war ja vollkommen unbeschädigt, und
behutsam lege ich das Ding neben meine Tastatur,
ohne noch groß daran herumzufingern.
Dann nehme ich das Telefon, suche die Nummer
und rufe meinen Zahnarzt an, erzähle. Er
sagt: „Ich mache noch schnell meine Bratkartoffeln
fertig, esse – und in etwa einer Stunde
können wir uns vor der Praxis treffen.“
:)
Mai 2, 2020 - In alter Freundschaft 30 [Seite 30 bis 30]
Das Spiel
Mai 5, 2020
„Jeder kennt dich.“ Zwei „ältere Damen“ am
Nachbartisch laden mich ein, mich doch zu
ihnen dazu zu setzen. „Ich bin Ute, das ist Bärbel“,
wir sind gleich per du, und sie rauchen.
„Jeder kennt dich, John“, und ob ich noch von
Appen treffe?
Was heißt das eigentlich, jeder? Ist das ganz
Schenefeld, Hamburg,
auch noch Wedel,
Fehmarn und Backnang?
Niemand weiß,
wer jeder ist. Jeder
kennt Donald Trump.
Es dürfte schwierig
sein, denjenigen zu
finden, der den amerikanischen
Präsidenten
nicht kennt. Und:
Die graue Maus, niemand
kennt sie, ich kann es mir vorstellen.
Zwischen der Bekanntheit von so einem
verhärmten Wesen, unattraktiv, es arbeitet
angestellt im gesichtslosen Job, wohnt im
Hochhaus nahezu anonym und dem Trump
aus dem Fernsehen, liegt die Spanne dessen,
was „jeder“ bedeuten kann. Das weiß niemand,
wie viele es sind. Die digitalen Freunde
bei Social-Media geben nur ungefähr ein
Bild. Es gibt Fake. Ich selbst bin in keinem
Profil. Ich verwende
kein Handy. Einige E-
Mail-Bekanntschaften
habe ich und das Wissen
um alte Freunde
und Bekannte. Einige
grüßen auf der Straße;
ich habe kaum Anhaltspunkte,
wie viele
„jeder“ es in meinem
Fall sind. Die Webseite?
Ich stelle nicht
aus. Es gibt keine Resonanz.
Ob niemand
den Blog liest oder
jeder, ist nicht wichtig.
Mir ist die Situation
ganz recht, warum?
Ich hatte ein Problem damit, ob ich gemocht
würde. Ich habe nach einer Lösung gesucht
und eine gefunden. Ich nenne es „das Spiel“.
Das Spiel, das hat eine Vorgeschichte. Meine
Eltern spielten Karten, trafen sich regelmäßig
mit Freunden. Anfangs wurde Skat gespielt,
dann gab es Streit, und mit anderen spielten
meine Eltern dann Rommé oder ähnliches,
weniger kluges Kartenspiel. Man musste laut
„ich“ rufen, und es wurde gelacht. Hornblower,
der Kapitän aus den Romanen von Forester,
spielte Whist. Das ist anspruchsvoll. Ich
selbst spiele gar nicht Karten. Mit „Mensch
ärgere dich nicht!“ ging es noch, und „Risiko“
bei der Bundeswehr; natürlich haben wir
Monopoly gespielt und Stadt-Land-Fluss,
aber Kartenspiel? Ich kann es nicht, mag
es nicht. Ich habe dem sozialen Druck, der
z.B. beim Skat aufkommt, nie stand gehalten.
Risiko? Im Laufe der 15 Monate in Seeth
wurde jeder, der nicht ganz bescheuert
war, schließlich Obergefreiter. Das ist
auch mir gelungen. Ich war 19 Jahre alt
und nicht wirklich erwachsen. (Ich kann
das heute begreifen). Nach dem Ende vom
Wehrdienst, war ich Reservist. Ein- oder
zwei Übungen habe ich so mitgemacht,
meinen großen Sack mit den Klamotten
im Keller gehabt, dann war irgendwann
Schluss, man gab das ab.
Gerlach (Name geändert) war Leutnant und
hatte Abitur. Wir normalen Soldaten hatten
auch größtenteils eines, ich zumindest ein
Fachabitur. Gerlach spielte mit Begeisterung
„Risiko“ – das ist Krieg, und wir waren ja deswegen
beim Staat. Wenn wir also nicht durch
die Stapelholmer Wiesen robbten, mussten
wir uns angemessen weiterbilden. In der gedruckten
Spielanleitung hieß es, die Aufgabe
bestünde darin, mit der eigenen Armee andere
Länder zu befreien. Gewonnen hat aber
derjenige, der einen Kontinent an sich binden
kann. Es ist also Angriff zum Machtgewinn, bis
niemand mehr übrig bleibt, weil du die Welt
dominierst. Angreifen befreit nur den, der es
selbst tut: vom Gefühl machtlos zu sein und
zu verlieren. Wir hatten die Regeln insofern
modifiziert, dass wir eine Handvoll neuer Armeen
per Luftweg einsetzen konnten. Nicht
nur das angrenzende Terrain befreiten wir,
wie vorgeschrieben. Wir konnten Australien
befreien, auch wenn das ganz woanders liegt.
Asien an sich zu binden, war stets erfolgsversprechend.
(Europa war nie zu halten).
Zuhause kreierte ich eine liebevoll lackierte
Sperrholz-Weltkarte mit farbigen Ländern
selbst – aber damit machte es nie so viel
Spaß zu spielen, wie beim Bund.
Ich gestaltete auch eigene Kreuzworträtsel
und suchte Freunde, die sie lösen
sollten. Ein Kreuzworträtsel selbst machen,
wenn es ganz aufgehen soll wie in
der Zeitung, ist schwierig. Die Zeitschriften
fertigen ihre Rätsel mittels Computer an.
Da wird nur das Programm gepflegt, damit
nicht immer dieselben Begriffe abgefragt
werden.
Im Studium war es Professor Hans Klie,
bei dem ich ein Semester lang ein Spiel
entwickelte. Das war in meinem Fall so
ein rotes Segeltuchsäckchen mit kleinen
Chips darin, das waren Signalflaggen aus
der Schifffahrt. Als ich schon verheiratet
war und mein Sohn noch klein, dachte ich
mir ein großes Brettspiel aus. Das reingezeichnete
Spielbild wurde nie ganz fertig,
aber mit dem Prototyp, der auch eine Reihe
kleiner Memory-Karten enthielt, spielten
wir.
Ein großes Bild zu malen, ist auch ein Spiel
selber machen. Für den Betrachter muss es
möglich sein, jede Stelle auf dem Gemälde
so lang anzuschauen, wie er das möchte.
Das ist die Grundregel der Komposition.
In einem schlechten Bild wird derjenige,
der es anschaut, getrieben. In einem guten
nicht. Ein schlechtes Bild hat den Fehler
einer Schallplatte mit Kratzer. Man weiß
schon vorher, gleich kommt der.
Als ich mit der Realschule fertig war, fand ich
die neuen Freunde beim Segeln auf der Elbe,
und die sind es bis heute geblieben. Eine
starke Gemeinschaft, geprägt durch die jährlichen
Regatten und die wiederkehrenden
Begegnungen bei Touren am Wochenende.
Das ist heute anders, der Verbund besteht
dennoch. Das kommt schon von unseren Eltern,
die nach dem Krieg das Segeln auf der
Elbe begannen. Ich kenne wirklich viele Leute.
Als ich mit der H-Jolle anfing, also unsere
alte Jolle wieder kaufte, die mein Vater 1955
neu hatte bauen lassen, fingen gute Jahre an.
Das Regatta-Segeln ist das Spiel, das mir am
besten liegt. Ich mag auch auf Tour segeln,
und im Sommer waren wir wochenlang unterwegs.
Das hat heute nachgelassen, aber
es bleibt die Basis meines ich. Zum Anfang
der H-Jollen-Zeit hatte ich einen Freund, und
der ist gestorben. Es heißt, er habe sich umgebracht;
genau weiß ich es nicht. Er wurde
zum Leitbild meiner Idee, das eingangs betitelte
„Spiel“ zu gestalten.
Bevor ich selbst ein eigenes Boot segelte,
waren meine Freunde die Schulfreunde.
Damals gehörte es dazu, einen kapitalen
Schulstreich zu entwickeln. Unser größtes
Mai 5, 2020 - Das Spiel 31 [Seite 31 bis 32]
Projekt war vielleicht, dass wir die Tonanlage
für den Gong manipulierten. Das andere war
die Gemeinheit, ein Mädchen mit fingierten
Liebesbriefen zu schikanieren. Das war insofern
doppelt blöd, weil ich dieses Mädchen
mochte und also gleich selbst mit beschissen
wurde. Wir hatten CB-Funk. Beston. Das waren
so Geräte, etwa in der Größe einer Kaffeeverpackung,
wenn sie noch vakuumhart ist.
Oben wurde eine Antenne ausgefahren, die
war wohl einen Meter lang. Wir hatten drei
Kanäle, zwischen denen wir wechseln konnten.
Wir waren auf Fahrrädern unterwegs, und
heute – man kann sich das vorstellen, wo alle
whatsapp oder vergleichbare Gruppen bilden.
Damals war das modernes mobben, wer hatte
denn Funk? Ich habe es mir nicht ausgedacht.
Mir fehlt die kriminelle Energie noch immer.
Ich kann mich wehren, heute. Mobbing?
Das üben Schulkinder, und später ist es das
Durchsetzungsvermögen des erfolgreichen
Erwachsenen. Legale Gewalt, keine Karriere
gibt es ohne diese Fähigkeit.
Nun versuche ich die beiden Geschichten, den
verstorbenen Segelfreund, diese Funk-Verarsche
und mein eigenes Leben zu skizzieren:
Mein Freund war schizophren erkrankt, und
zwar weniger schubweise, sondern dauerhaft.
Ich fasse mich kurz. Die schizophrene Erkrankung
hat viele Gesichter, aber eine grundsätzliche
Unterscheidbarkeit. Es gibt Menschen,
die werden unter einer besonderen
traumatischen Belastung in ihrem
Leben eventuell nur ein einziges
Mal psychotisch krank. Dann nicht
mehr. Eine Schwangerschaftsdepression
kann sich so entwickeln.
Ein Drogenrausch kann psychotische
Formen annehmen. Bei derart
singulärem Realitätsverlust, wird
man kaum als schizophren diagnostiziert.
Das kann als einmaliger
Liebeswahn daherkommen, und
gut ist. Eine zeitlang Medikamente
nehmen, ein wenig Therapie machen,
und die Hasch-Psychose wird
später gern erzählt. Man kann sich
an alles erinnern.
Bitter ist, wenn sich das Krankheitsbild
verfestigt. Der Betroffene
erkrankt schubweise immer wieder
heftig psychotisch. So etwas spricht
sich rum, und dann macht keiner mehr Witze
darüber. Furcht bestimmt alle, die damit zu
tun haben, schade. Wen es so trifft, heftige
Schübe im Abstand von ein oder zwei Jahren,
dazwischen normalgesund, was immer das
heißt, hat es noch gut.
Schlimmer dran sind diejenigen, die den Ausgang
aus ihrem Wahn mit dem ersten Abgleiten
aus der Realität nie mehr finden. Die sind
dann immer leicht bescheuert. Sie haben
ihre Schübe nicht heftig, ein Arzt begleitet
sie therapeutisch und verschreibt ein
Medikament, das nicht hilft.
John Bassiner, der Schenefelder Künstler,
den jeder kennt, ich bin krank?
Einige Anhaltspunkte: „Das können
Sie (Bassiner) nicht bekommen.“ Wer
es in heftigen Schüben hätte, würde
anschließend immer wieder normal,
meinte der Arzt damals. Da war mein
Freund bereits tot. Während der Zeit
wenige Jahre vorher, als ich mit ihm
segelte, begriffen wir gar nicht recht,
dass er krank war. Der war ja einige
Jahre älter. Er hatte für sich und eine
Bekannte, die selbst ein kleines Boot
hat, zwei Karten für den „Hamlet“ (die
England-Fähre) gekauft, für einen
gemeinsamen Kurzurlaub – aber sie
wusste gar nicht davon. Und dass er
sich in sie verliebt hatte, wusste sie
auch nicht. Was sie ihm wohl darauf
geantwortet hat?
Als ich selbst dann einige Jahre später
nach Chicago flog und mit (Name
geändert) etwa zehn Tage verbrachte,
wurde klar, dass da nichts mit Liebe ist.
Anschließend zuhause, machte ich die bekannten
Doofheiten, die einer psychotisch so
macht. Ein Schock, das erste Mal, und danach
passierte das häufiger. Immerhin kam ich
stets wieder auf die Füße. Heute? Es geht mir
gut! Ich habe alle Gefühle, die kannte ich gar
nicht. Malen hilft – „Gurken und Rosen“, ich
bin fertig, nach gut einem Jahr. Es gefällt mir,
und das genügt. Ungeziefer im Gebirge: Wespen;
ich erkläre es nicht.
Eine Segler-Krankheit? Neben mir und dem
Verstorbenen kenne ich noch einen, der es
hat. Ich kenne auch viele aus meinen Klinikaufenthalten
und fühle mich verpflichtet,
etwas für psychisch Kranke zu tun. Weil ich
mein Leben im Griff habe. Weil der Arzt und
die Gesellschaft dem einzelnen nicht helfen.
Sie helfen in der Not, sie helfen der Gesellschaft,
dass die Sicherheit gewährleistet ist.
Wir können nicht zusammenhalten wie z.B.
die Homosexuellen oder die Ausländer, weil
wir das nicht können. Eine psychische Krankheit
trägt das asoziale, nicht zusammenhalten
Können grundsätzlich in sich, als das
prägende Element ihrer Störung – sonst wär’
man ja nicht krank. Gesunde Freunde finden,
kann gelingen. Sie dauerhaft behalten, eine
Frau finden, verheiratet sein und es bleiben,
ich habe das gelernt. Nicht so leicht!
Die Gesellschaft im Ganzen grenzt alles aus,
was anders ist. Wenn du eine Angriffsfläche
dafür bietest. Schwule, Ausländer, Alte, Kranke,
Reiche. Reich sein heißt, man wirft es dir
vor. Arm sein? Du wirst benachteiligt. Schön
sein? Man wirft dir vor, dass dein Leben zu
leicht sei usw. Verstecken geht nicht wirklich.
Sich selbst offen zu präsentieren, bedeutet
den Mut zu haben, auch zur Zielscheibe zu
werden. Sie stellen dir eine Falle, du bist allein
und bescheuert; das denken sie. Ein spaßiges
Spiel.
„Come To The Cabaret“ – das Spiel ist nicht
neu. Jeder spielt mit, jeder kennt es. Eine Beschreibung,
keine Aufforderung oder Anleitung:
Insofern ist „das Spiel“ meine Lösung
des Problems. Es ist alternativlos. Die Alternativen
wären, dauerhaft zugedröhnt am
Rand der Gesellschaft anonym zu leben. Oder
stationär im psychischen Krankenhaus zu
existieren. Im forensischen Knast zu enden.
Suizid. Mut bedeutet in meinem Fall dieses
Risiko: Kein Arzt, keine Therapie, die Medikamente
nur als Notfalldosis zuhause – und ansonsten
das tägliche Abenteuer: Was halten
die anderen von mir? Es spricht sich ja rum.
Den Stil damit umzugehen, muss jeder selbst
finden. Mein Spiel, ein Risiko ist dabei! Wer
hat aktuell den schwarzen Peter? Die Polizei
kann mitspielen, unter Umständen. Ein Rätsel?
Mit Booten kann man es nicht spielen. Es
geht mit dem Fahrrad, wie damals in Wedel,
und es funktioniert in Bus und Bahn.
Das Spiel hat viele Facetten.
Es gibt unter Umständen einen Gewinner, es
können auch alle gewinnen, mit dem Ende
des Spiels nämlich, und es kann auch einen
oder mehrere Verlierer geben. Jemand kann
das Leben dabei verlieren, ja – das kommt
vor. Das ist das Vermächtnis meines toten
Freundes, darum spiele ich: mein Einsatz. Das
Leben? Dann ist das gar kein Spiel?
Im Moment spielen „wir“ Auto –
:)
Mai 5, 2020 - Das Spiel 32 [Seite 31 bis 32]
Ich weiß noch Kunst
Mai 8, 2020
Kapitulation: Der achte Mai. Der Tag der Befreiung
ist heute. Wir erinnern uns. Schon
gestern kam es (wieder einmal) im Tageblatt:
Ein böses Relikt aus finsterer Nazizeit, ein
kriegsverherrlichendes Denkmal ist immer
noch da – und eine Initiative hat sich festgebissen,
etwas dagegen zu tun. Das Ding steht
wie überall, an einer wenig beachteten Stelle,
hinter dem Bahnhof oder hinter dem Rathaus
oder hinter dem Friedhof. Gefallenen des
Ersten Weltkrieges wird gedacht, aber auf
die falsche Art, sagt die Initiative. So wie das
da stünde, sei es Propaganda für den Krieg.
Wenn die Stadt es nicht entferne; wenigstens
ein Gegendenkmal müsse her.
Es gibt schon einen Beschluss. Geld müsse
fließen, Bildhauer sollen gesucht werden,
und der im Wettbewerb Einfallsreichste legt
dann los und gibt den Hrdlicka. Die Provinz
will auch mal. Natürlich geht das nicht recht
in Gang. Kaum jemand interessiert sich dafür,
und so schafft es die anklagende Gruppe
in die Dorfzeitung. Ein bisschen Anne Frank
wollen sie sein, wenigstens das. Corona
macht ihnen den letzten Strich durch die
Rechnung, in dieser Sache voran zu kommen.
Es gibt gerade Wichtigeres, als dafür Geld
auszugeben?
Braucht die Kunst eine Initiative, muss eine
Vereinigung von besonders guten Menschen
einen Auftrag dafür geben? Gunter Demnig
hat mit seinen Stolpersteinen gezeigt, dass
es eine moderne Kunst gibt, die nicht malt,
die wirkt und unsere böse Vergangenheit berührend
für jedermann thematisiert. Das Thema
der Kunst heute, was kann das sein?
Es soll wirken, wenn ein weltbekannter Gegenwartskünstler
Schwimmwesten per Straßenkran
an das Brandenburger Tor hängen
lässt, von einigen Arbeitern, die ansonsten
damit Beton vergießen oder sowas. Es sind
Schwimmwesten von Menschen, die über das
Mittelmeer aus Afrika geflüchtet sind.
In der Zeitung war ein Foto von einem ertrunkenen
Kind am Strand. Das wirkt. Im
Januar 2016 stellte der chinesische Künstler
Ai Weiwei das Bild von Alan nach, indem er
bäuchlings an einem Strand liegend posierte.
Wir lernen: Das nennen Menschen Kunst.
Nicht alle gehen bei allen Themen mit: Auf
der Veddel wurde vergoldet, und das ist umstritten.
Ich war seit dem Fall der Mauer nur wenige
Male in Berlin: die Hauptstadt. Es war ja immer
Bonn gewesen, ich bin alt. Das Stelenfeld
in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein
Foto davon oder ein Bericht, den man darüber
liest, nicht dieselbe Wirkung erzielt, wie
das Begehen der Klötze selbst.
Ein schöner Tag und laue Luft machen das
Kennenlernen der Metropole angenehm.
Später Nachmittag, die Sonne steht schon
tief. Eine milchige, gelbe Soße ist dieser Himmel
über Berlin. Das ist kein Film: Engel sind
da oben nicht zu sehen. Unser Bummel durch
die neue Hauptstadt neigt sich dem Ende zu.
Schon einige Jahre her. Mein Sohn war noch
klein, und ich erinnere mich gar nicht genau,
wie lange es zurück liegt, dass wir dort waren.
Das tut hier nichts zur Sache. Wir laufen
so rum, groß ist die Stadt – schau mal, das
Kunstwerk, da ist es ja. Graue Betonklötze,
und wir dödeln einfach rein. Schnell verliert
man sich, biegt links ab oder rechts (anders
geht es ja nicht, nur manche Kinder klettern),
und die Dinger ragen auch mal auf, dass du
nicht recht weißt –
– wo die Familie abgeblieben ist.
Man trifft auf andere, manchmal. Schweigende
Begegnungen. Kinder, allein und dann
zwei, drei Stück von Fremden, huschen durch.
Zwischen den Stelen ist es einsam kühl, und
ich bin noch in der touristischen Stimmung
eines Bummlers. Das Reden der anderen im
Irrgarten, das Lachen der Fange- und Verstecken
spielenden Kinder hallt ein wenig nach,
undeutliches Gemurmel. Wo meine Frau ist,
mein Sohn – ich mache mir wenig Gedanken.
Es ist ein schöner Tag, ein Ausflug, wir sind
in Berlin!
Wir haben schon Eis gegessen.
Ich gehe so herum, die grauen Betonklötze
bilden enge Gassen. Eine Zeitlang kann ich
nicht über den Rand der Wände schauen. Kurze
Spalten, ganze Wege: Mal biege ich rechts
ab, dann wieder links, und eine Zeitlang treffe
ich niemand. Ich bin ganz allein, in diesem
kalten Beton. Ich höre auch keine Stimmen
mehr. Ich denke auch gar nichts mehr. Ich
trotte vorwärts.
Wohin?
Dann werden die Kanten zum Himmel wieder
niedrig. Ich bin offenbar in westlicher Richtung
unterwegs. Es wird hell, als ich schneller
gehe, es reicht mir. Ich sehe den schmierigen
Himmel des Spätnachmittages, mit seinen
warmen Farben und der wässrigen Sonne
darin, während die Stelen links und rechts
absinken. Aus den monströsen Betonkanten
sind niedrige Spielsteine für Kinder, gerade
noch führende Wege in einer weiten Fläche
geworden, und in einiger Entfernung quert
schon eine alltägliche, hauptstädtische Groß-
Straße die Szene.
Ich sehe eine Bushaltestelle, Spaziergänger,
Touristen und gewöhnliche Stadtbäume im
Gegenlicht. Ein warmer Abendhauch berührt
jetzt mein Gesicht. Das ist wirklich malerisch
schön: Menschen sitzen hier und da, auf einem
der nun allmählich abgeflachten, bequemen
Elemente der unglaublichen Anlage.
So normal. Sie essen einen Snack, Kinder sind
wieder reichlich vorhanden. Die kalte Stille
der letzten Minuten, was war das? Es ist vorbei.
Auch die Geräusche leben wieder auf,
Großstadtgeräusche –
– aus einiger Entfernung.
Mir schießen Tränen in die Augen wie ein
Wasserfall.
Und ich weiß nicht, woran ich denke. Aber
bis heute kann ich mich genau an jeden Moment
im Beton exakt erinnern. Ich probiere:
Mir fällt nicht ein, warum wir in Berlin waren,
wann das war. Und was wir an diesem Tag
sonst noch angesehen haben – Sehenswürdigkeiten,
wo wir was gegessen haben, unser
komplettes Hauptstadtmenue, in welchem
Hotel wir waren –
– davon weiß ich nichts mehr.
:
Mai 8, 2020 - Ich weiß noch Kunst 33 [Seite 33 bis 33]
zeitig verlassen. Das Wohnhaus am Michel
wurde zerstört, und mein Vater war als Kind
zu der Zeit in Friedrichskoog. Meine Oma
kehrte zurück nach Wedel. Schließlich, nach
einiger Zeit „in der Baracke“ außerhalb, fanden
die drei Hamburger hier eine neue Bleibe:
beim Vater meiner Oma.
Zeitzeugen sind weitestgehend verstorben.
Erinnerung ist wichtig. Beschreibungen: In
den letzten Kriegswochen kam mein Vater
zur Hitlerjugend; nicht militärisch. Ältere
wurden noch zum Töten ausgebildet, wie ein
Freund meiner Eltern erzählte, sollten mit der
Flak gegen anfliegende Engländer schießen,
waren noch Kinder. Mein Vater im Fanfarenzug
musste nur trompeten, konnte das nicht
und tat wie die anderen. „Sie stellten immer
einen guten neben einen schlechten Bläser“,
meinte er.
Die Menschen damals waren anders: Wenn
die Kinder Schlittschuh liefen, dann liefen
sie auf dem zugefrorenen Mühlenteich, nicht
auf einer Eisbahn mit Musik. Brachen sie ein,
am Rand und hatte einen langen Stock zum
Stökern, schipperte die Scholle mit der Tide
wie ein Boot. Fiel man ins kalte Wasser: Post,
das warme Rohr.
Der andere Großvater war auf großer Fahrt
gewesen. Ein vergriffenes Buch: Opa Heinz
ist mit der Pamir um Kap Horn gesegelt. Das
hat er aufgeschrieben. Seinerzeit bei Stalling
verlegt, ist es ein lesenswerter Text. Die auf
diese Reise folgende, hat Heinrich Hauser
als Journalist und Filmemacher begleitet.
Ich habe viele Erinnerungen, war gern mit
meinem Opa zusammen. Einige Ausschnitte
mit dem jungen Kapitän Robert Clauß und
eine Fassung des Films mit Untertiteln findet
man leicht. Ich habe das zweimal im Kino auf
großer Leinwand gesehen. Auch mit Heinz
zusammen: „Das ist echt Clauß“, meinte er an
einer Stelle. Der bekannte Laeisz-Kapitän war
vielen ein Begriff. Man muss sich diese Männer
an Bord anschauen: Sie waren anders (als
die Menschen heute). Das muss man sehen.
Eine treffende Beschreibung? Keine Extremsportler
auf dem Weg zum Pol, dem Gipfel
oder gegen den Wind rückwärts
um die Welt allein, mit täglichem
Selfie für uns daheim.
Fernsehgarten heute, anders früher
Mai 10, 2020
Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist 75 Jahre
her, und wieder wird daran erinnert. Das
ist auch gut so! Wir müssen nur Nachrichten
schauen, es gibt ihn noch, den Krieg. Wer will
das denn? Hier, man muss es sich vorstellen:
Einige Male am Tag könnten die Sirenen heulen,
und statt eine Corona-Maske anzulegen,
befiehlt die Regierung: „Geht in den Keller,
wenn es heult!“
Unser Keller ist dafür gar nicht eingerichtet.
Meine Oma hat uns regelmäßig von früher
erzählt. Der Feuersturm, Hamburg. Heute
wäre Lina eine „Zeitzeugin“ und man würde
ein ziemliches Geschieß drum machen, was
sie sagt. Auch wenn sie wenig klug wäre. Besonders
natürlich, weil sie kein Nazi gewesen
ist.
Das wäre prima geeignet, für das Fernsehen
heute.
Meine Oma Lina war nicht politisch, Glück
gehabt. Mein Opa Wilhelm, den ich nicht kennen
gelernt habe, weil er gerade vor meiner
Geburt starb, der dazu gehörende Ehemann,
war im Straflager interniert. Damit könnte
ich angeben. Willy hatte lautstark: „Dat gift
Kriech!“ gesagt und abfällig über den Führer
und „Gröfaz“ polemisiert, öffentlich. Ein Fehler.
Mit Onkel Karl könnte ich heute zur Feier der
Befreiung nicht so gut renommieren. Er war
ein mittelhohes Tier in der Verwaltung. Sein
Problem: Meine Tante Janneke war „Halbjüdin“
– . Albern finde ich Menschen, die heute
annehmen, wie selbstverständlich zu den guten
Widerstandskämpfern gehört zu haben,
hätten sie damals gelebt.
Mein verstorbener Vater wurde in Hamburg
ausgebombt. Er war nicht vor Ort. Vorausschauend
hatte die Familie die Stadt recht-
trauten sie sich nicht nach Hause „wegen
Arschvoll“. Damals wurde regelmäßig gehauen.
Man trocknete sich an der Post: Dort
gab es ein warmes Rohr außen (was immer
das heißt). Abluft der Heizung? Das kann ich
nicht sagen. Es wurde immer erzählt.
Als noch Krieg war, gruben die Kinder ein
Loch im Garten, deckten das mit Balken ab
und tarnten es mit Zweigen und Erde. Kam
Fliegeralarm, krochen alle Nachbarskinder in
den selbstgebauten Bunker. „Eine Brandbombe
hätte er (der Bunker) wohl abgehalten“,
Erich beschrieb dann dünne Stiftbomben,
die gelegentlich rumlagen, weil sie nicht gezündet
hatten. Sie spielten damit. Es wurden
Kohlen geklaut, vom Güterwagen. Der Zug
wartete auf die Einfahrt ins Kraftwerk. Der eigene
Bunker, der Krieg war nur ein Spiel? Das
Gewicht einer schweren Fliegerbombe allein
hätte alle im Erdloch getötet. Offenbar hatten
die Erwachsenen nichts dagegen, wenn
die Kinder bei Alarm in den Garten gingen?
Immerhin wurde „die Ölfabrik“ (Mobil-Oil)
in Wedel angegriffen. Das war eine schlimme
Bombennacht. Die Industrie wurde auch
verfehlt. Unser Haus hatte einen Schaden im
Dach, unschön schwarze Dachpfannen, in der
orangen Fläche: Dort hatte eine Brandbombe
eingeschlagen. Aber sie brannte nicht. Der
Opa löschte mit Hausmitteln. Und gut war
das.
Mein Vater beherrschte noch das Eisschollen-
Schippern. Das wäre heute verboten? Im Winter
fror es heftig. Auf der Elbe gab es reichlich
Eis. Man suchte sich eine günstige Scholle in
Ufernähe, fand womöglich eine Art Wriggloch
Ganz normale Seeleute.
Ursprüngliche Männlichkeit, gekennzeichnet
durch die Härten
des Alltages. Auch, das Fahrrad
meines Vaters, mit dem er als
junger Mann von Wedel nach
Pinneberg morgens zur Berufsschule
fuhr, hatte keine Gangschaltung.
Mein Vater trug keine
Handschuhe. Im Winter musste
er radeln, und Pinneberg ist nicht
um die Ecke.
Natürlich hatten die Alten Defizite. Emotional
versagte ein Teil der Bevölkerung: Die
unzureichende Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus
ist bekannt. Meine Eltern
„konnten nicht Familie“, das Wirtschaftswunder
überforderte sie. Sie gaben sich ganz dem
Geschäft hin, aber Geschäftsleute, das waren
sie auch nicht. Geld kann emotionale Schwächen
nicht ersetzen.
Unsere Eltern und Großeltern hatten eine natürliche
Qualität, dem Leben zu widerstehen,
als die Zeiten schlecht waren. Es gab viele
Menschen, die beide Weltkriege überlebt
hatten. Wer möchte um die individuelle Gestaltung
seines Lebens betrogen sein? Heute,
wo es üblich ist mit einer hohen Anspruchshaltung
nach vorn zu planen.
Die Corona-Krise hat uns kalt erwischt. Greta
Thunberg haben viele nicht ernst genommen.
Die Zukunft wird Herausforderungen bringen,
und die sind global. Wir können von den Alten
lernen: Sie waren anders. Es war nicht
besser, damals. Gerade, weil das Leben hart
war, waren diese Menschen mit einer anderen
Qualität zum Überleben ausgestattet als
wir heute (die ihnen kaum bewusst war).
Ich habe zeitgemäße junge Menschen eifrig
arbeiten sehen: Doku im Dritten. Retter sammeln
eine bedrohte Schlangenart am Rande
des Nord-Ostsee-Kanals ein. Dort wird gerade
verbreitert. Im Hintergrund erkannte man
drehende Krane und Bagger. Schuten lagen
sandbeladen am Ufer, Bauarbeiten in der Böschung
wurden gezeigt.
Mai 10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher 34 [Seite 34 bis 35]
Die Schlangen wussten nicht von der Gefahr.
Ich dachte: „Karl der Käfer hat
nichts geahnt“, einige werden
sich erinnern. Die hochmotivierten
Tierwohlretter stürzten
sich auf jede Otter, die im Gras
zuckte, packten den Landaal geschickt
und tüteten das Tier liebevoll
ein: Ins Rettungsreservat
umgesiedelt. Ich habe nur halb
interessiert zugeschaut. Ständig
sterben Arten. Ohne engagierte
Menschen wäre es schlimmer
und das Ende morgen. Das wird
bestritten? Ganz schön doof.
Ewig gestrige scheinen sich über
Gretas Freunde aufzuregen.
Aber diese beiden Otter-Retterinnen und
Retter –
Am Kanalufer im Gras unterwegs. Stürzen
sich sportlich, wie wir früher, wenn wir Grashüpfer
fingen, mit ausgestreckten Armen, auf
die Schlange, packen das Tier in der grünen
Natur. (Der NDR filmt zurückhaltend). Achtung,
Warnung! Die Retter kommen: Es sind
Studenten in blendend gelb. Sie tragen extra
leuchtende Neon-Westen, mit funkelnd integrierten,
silbernen Reflektorstreifen, wie das
viele Fahrradfahrer tun. Bei aller Liebe zur
Natur! (Klar, dass man Handschuhe trägt, um
nicht gebissen zu werden, vom Tier).
Die Alten waren anders. Wir können lernen:
Einbildung los werden, effizienter retten,
was zu retten ist. Auch die eigene Natur: Uns
selbst. Ich glaube, wir könnten ursprünglicher
sein – ohne Drang, alles extra sicher
und korrekt zu wollen. Auf der anderen Seite
– und nicht nur in Afrika, gleich um die Ecke,
am Rand der Stadt – lässt der Existenzkampf
keinen Fernsehgarten zu.
:)
Mai 10, 2020 - Fernsehgarten heute, anders früher 35 [Seite 34 bis 35]
und „Kalte Küche“, die ich wie einen Rahmen
um eine größere Idee zuerst gemalt habe.
Dazwischen wird die Geschichte vom Erwachsenwerden
erzählt. Die Basis: Einiges an
persönlicher Erkenntnis der letzten Jahre. Ich
habe mir ein Modell der Vergangenheit geschaffen,
wollte endlich verstehen. Ich habe
ein paar Leute näher, besser kennen gelernt.
Das hat ganz gut hingehauen, mit dieser
Idee, zurück zu gehen. Ich male das jetzt auf,
schreibe. Nun hätte ich ja eigentlich bereits
Ende der Achtziger erwachsen werden müssen,
und auf meine Art bin ich das ja auch:
„Leider erlebt man die Jugend in einem Alter,
in dem man nichts davon hat“, habe ich neulich
gelesen.
Daran denke ich, wenn ich diese Themen forme.
Für den Nicht-Maler ist unbegreiflich, wie
ein Thema gestaltet wird. Weil er, so sehr er
auch darüber liest und sich in den Lebenslauf
des Künstlers einfühlt, außen vor bleibt.
Neue Themen: Heute kommt es mir vor, als
hätte ich ein Füllhorn davon gefunden. Ich
bin nicht darauf angewiesen, mein eigenes
Leben zu malen und kann trotzdem thematisieren,
was ich erlebt habe. Eine neue Tür
in die Fantasie.
Grüneres Gras
Mai 14, 2020
Heute habe ich mit einem
neuen Bild begonnen. Das
heißt, ich übertrage meine
Idee auf die Leinwand. Mit
dem Bild selbst zu beginnen,
bedeutet, dass die Idee weitgehend
fertig entwickelt ist. Ich male nicht in
der Natur. Ich zeichne draußen, aquarelliere;
meine großen Bilder male ich im Atelier, nach
einer genauen Idee – nicht spontan.
„Das grünere Gras“ war schon ein interessantes
Motiv, das mich parallel zum Projekt
„Gurken und Rosen“ beschäftigt
hat. Erwachsenwerden,
Männer und Frauen. Es gibt
keine treffenden Worte für
ein Gemälde. Es muss gemalt
werden. So war es nicht
schwer, das zu entwickeln. Ich
mache kaum noch Skizzen für
ein großes Bild mit dem Bleistift.
Anfangs habe ich so gearbeitet,
weil ich es gut kann.
Direkt mit Fotos zu arbeiten,
gefällt mir heute besser.
Es hilft, zeichnen zu können.
Aber man muss nicht ungefähr
sein, wenn Material aus
einer Suchmaschine zur Verfügung
steht. Ich weiß nicht,
wie man „richtig“ malt. Mir
gefällt besonders, dass ich
frei bin, es so zu machen, wie
es gerade mir gefällt.
Das neue Bild wird ähnlich
den Gemälden „Eingänge“
Weiter lernen, heißt Dinge zu verstehen, die
man bloß erlebt hat und nun
erst gezielt in Erfahrung umwandeln
kann. Ein Bild zu malen,
ist wie auf eine Reise gehen.
Da ist ein Ziel – aber wenn
das alles wäre, müsste man
nicht auf die Reise gehen. Es
würde genügen, ein Buch darüber
zu lesen. Eine Beschreibung
des Ziels, ist nicht den
Weg dahin zu gehen. Das ist
das Eigentliche: Die Reise zu
bestehen. Ankommen beendet
das Projekt. Das Ziel besteht
im Gesamten: das fertige Bild
plus der Zeit, die es braucht,
das zu malen. Am Ende steht ein fehlerfreies
Werk. Ein Fremder könnte das Bild kritisieren,
einen Fehler finden? Der Künstler ist am Ziel,
wenn er das Bild nicht mehr weiter verbessern
kann, mag oder will. Der persönliche
Leistungsstand an dieser Stelle seines Lebens
ist erreicht. Mehr geht nicht. Damit unterscheidet
sich das Gemälde,
als abgeschlossenes Projekt
und fertiges Produkt, wohltuend
vom Alltag. Ein Bild kann
ich kompromisslos beenden.
Ich höre erst dann auf, daran zu
arbeiten, wenn es mir gefällt.
Ich habe die schließlich befriedigende
Zeit der Produktion
(weil ich es schaffte fertig zu
werden) erlebt – und das Bild
habe ich auch noch. Das Leben
ansonsten, als ein Prozess voller
Fehler, macht Kompromisse
unumgänglich. Da sind immer
Störungen.
Manche verdrängen, Künstler
suchen!
Das hat mit dem Wunsch nach
Perfektion zu tun. Was wir auch
anfangen, es wird einen Fehler
enthalten. Immer ist Unruhe.
Die Welt rast. Andere stören,
und meine eigenen Fehler
Mai 14, 2020 - Grüneres Gras 36 [Seite 36 bis 37]
auch noch: Keine Bewegung ist perfekt. Ich
stelle eine Tüte mit Einkäufen kurz an einer
Wand ab, weil ich meinen Haustürschlüssel
suche? Gut möglich, dass die Tüte entgegen
meiner Annahme, sie stünde sicher im Winkel
der stützenden Wand, nach vorn umfällt.
Und statt dass ich meinen Schlüssel hervor
krame, muss ich davon rollende Tomaten aufsammeln.
Das ist immer.
Es gibt keine ideale Handlung. Mit dabei wird
immer ein Widerstand oder ein Fehler sein,
ganz egal, was ich gerade mache. Konzentration,
Bewusstheit, selbst wenn wir fit sind,
wir sind niemals perfekt. Das stört doch. Es
bringt Ärger hervor, und wer möchte sich ärgern?
Malen hilft.
Das Leben ist Scheiße: Mal mehr, mal weniger.
Nur dumme oder unreife Menschen bestreiten
das. Jammern auf hohem
Niveau, klar, belehrt mich
gern – aber wer wo ist, möchte
noch woanders hin. Die
Welt: Wenn der Erdboden uns
nicht Halt gäbe, wenn wir kein
Gewicht hätten und es keine
Schwerkraft gäbe, wir nicht
essen müssten oder schlafen,
also vollkommen frei wären
– könnten wir annehmen, den
freien Willen zu haben. Realität:
Wir können aber allenfalls
dorthin, wo es weniger
Gegenwind gibt (wenn wir es
denn voraus sehen).
Darum malen wir: Weil wir
irgendwann fertig sind. Wir
erkennen einen Fehler im Projekt: Zunächst
besteht der Fehler darin, dass die Leinwand
weiß ist, und unsere Idee ist nicht sichtbar.
Dann beginnen wir. An einem Tag werden wir
nicht fertig. Das bedeutet, am nächsten Tag
die Fehler an der unfertigen Idee zu sehen. So
reicht es nicht, es muss noch besser werden.
Am wieder nächsten Tag sind wir nicht fertig,
das wäre gar nicht zu schaffen. (Einen Mount
Everest besteigen wir nicht in zwei Stunden).
Also bemerken wir, was am Bild noch falsch
ist – und müssen rekapitulieren, das wir gestern
den Fehler machten, das Bild nicht perfekt
beendet zu haben. So geht es fort, bis die
Fehler insgesamt kleiner werden.
Wir schlafen eine Nacht.
Morgens gehen wir zum Bild – und bemerken
einen Fehler darin. Wir nehmen das Bild
wieder ab. Wir malen ein wenig, hängen es
wieder auf. Vielleicht eine Woche kann das
so gehen. Aber dann: Es kommt der Tag, da
reicht es einfach. „Es ist so gut, wie ich es
eben machen kann“, das denken wir. Das ist
die Perfektion vom Tag!
Das perfekte Glück.
Wir Maler sind Menschen, essen Farbe wie
Reiche Geld und Hungrige das Brot? Kunst ist
Luxus. Niemand braucht ein Bild. Kein Geld
der Welt befriedigt uns – aber das fertige Bild
bereitet nur eine kurze Freude … wenn wir
nicht wüssten, dass wir wochenlang drüber
fluchten … wir würden das Glück nicht spüren.
Definitiv.
Einmal hat es hingehauen:
Fehler folgt auf Fehler,
aber dann ist es toll fertig
geworden. Kurze Entspannung,
schlafen. Nach einigen
Tagen kommt dann
wieder die Unruhe. Alle
täglichen Fehler, das mit
den Tomaten aus der Einkaufstasche
und so etwas
passieren ja weiter. Wenn
wir nicht saufen, Psycho-
Pillen einwerfen oder täglich
Sex bis zum Umfallen
haben können? Wir müssen
wieder malen …
Wir suchen das grünere Gras, wir sind auf der
Suche und haben Hunger.
(Da kommt noch ein Rind in das Bild).
:)
Jeden Fehler, den wir bemerken, korrigieren
wir mit einem neuen Fehler, den wir ja unweigerlich
machen: da jeder Pinselstrich für
den wir uns entscheiden, nicht so ganz gelingt.
Wir malen über. Wir haben den Farbton
falsch gemischt. Wir malen die Hand, den
Fuß, das Tischbein nicht richtig, zu groß, zu
braun, zu schief.
Und selbst wenn wir gut malten, heute, beinahe
perfekt, so machen wir den Fehler, dass
wir nicht fertig wurden, heute. Wir müssen
schlafen. Irgendwann kommt der Tag, da erklären
wir das Projekt für erfolgreich beendet,
signieren, hängen das Ding an die Wand.
Mai 14, 2020 - Grüneres Gras 37 [Seite 36 bis 37]
Jeder kennt das Rumpsteak
Mai 25, 2020
Die ersten eigenen Bücher? Karl May. Meine
Mutter hat mir abends vorgelesen, nach
einem guten Dutzend Seiten einfach mitten
drin aufgehört – Winnetou.
Ich wollte wissen …?
„Lies selbst.“
Die Macht der Worte. Ich glaubte alles. Ich
glaubte an Henry und den Stutzen, und dass
dieses Greenhorn aus Deutschland stark genug
war, den verdutzten Büchsenmacher am
Kleiderhaken aufzuhängen: „Habt Ihr eine
solche Körperkraft!“ Neue Geschichten, ich
war süchtig danach. Ein zufälliger Fund in
der Bücherei: Mo vom anderen Stern. Die erste
Liebe? Ich wollte alles von Astrid Lindgren
lesen. Ich liebte das, lebte mich ein: Kalle
kombiniert unter dem Birnbaum. Nebenan
wohnt Eva-Lotte, singt: „Josefin’, die hat ’ne
Nähmaschin’. Wo ist Kleinköping? Ich habe es
im Atlas gesucht …
Nach Kalle Blomquist kam Hornblower. Ich
fing mit dem „Kapitän“ an, folgte der Reihenfolge,
wie Forester seine Bücher schrieb. Die
napoleonischen Kriege. Ich segelte weiter,
kämpfte mit, stieg die Karriereleiter auf, in
die Würde der Admiralität, liebte die pferdegesichtige
Barbara, mehr noch Marie und
war beim Grafen in Frankreich versteckt. Eine
letzte Begegnung mit dem Erzfeind Napoleon.
Es interessierte mich: „African Queen“
und andere habe ich ebenfalls gelesen. Im
Urlaub in Kärnten entdeckte meine Mutter
für mich die „Hotspur“, das schloss eine Lücke
in der Chronologie. In „Meine Bücher und ich“
erfuhren wir, dass die ungelenken und linkischen
Aktionen des späteren Seehelden am
Anfang seiner maritimen Laufbahn, als Fähnrich
an Bord der Indefatigable unter Kapitän
Pellew, später geschrieben wurden.
Ich verstand, wie Hornblower Maria geheiratet
hat, aber nicht warum.
Nelson ließ die Victory schwarz/gelb anmalen.
Das waren seine Farben. Nicht alle britischen
Schiffe waren gleich? Es scheint, als
hätte es noch Freiheit gegeben. Clausewitz
hat mit der Romantik aufgeräumt. Der Krieg
wurde effizient. Heute sind die Schiffe grau
wie das Meer.
Nelson wurde erschossen. „Ankern, Hardy,
ankern“, jeder kennt die letzten Worte des
Admirals, Trafalgar. Scharfschützen saßen
auf dem längsseits treibenden Franzosen.
In der Marssaling des Besanmastes hockten
sie, mit ihren langen Flinten auf Beute lauernd,
geschützt durch das massive Holz und
das dichte Gestrüpp der Wanten und hatten
gute Sicht auf das Getümmel unten auf dem
Deck: „Der mit dem ganzen Gold, das ist der
Wichtigste“, werden sie gesagt haben. Horatio
Nelson hatte Ratschläge, sich doch unauffällig
zu kleiden, als es in die entscheidende
Schlacht ging, unwirsch in den Wind geschlagen.
Erweiterter Suizid.
Ich habe mich gefragt, warum die französischen
Schiffe den englischen glichen? Klar,
ein geübtes Seemannsauge konnte schon aus
der Distanz Unterschiede bemerken: „Starker
Mastfall – das wird ein Froschfresser sein, Sir.“
Aber heute, unsere Fregatten: Es ist wieder
ähnlich – die Schiffe der anderen sind nicht
Dreimaster geblieben. Wir kämpfen mit denselben
Waffen gegeneinander. Die Zeit geht
auf der ganzen Welt voran. Alle wichtigen
Staaten haben denselben Scheiß.
Darum ist da auch kein verrückter Trump
oder gefährlicher Putin, der Chinese, der Erdogan
– und bei uns die gute Angela? Das
ist zunächst ein Krieg der Worte. Wir füttern
uns mit dem, was wir lesen wollen. „Gelenkte
Demokratie“ ist unser Schimpfwort. Wir werten
uns auf. Bei uns sind die guten, die besseren
Demokraten, die richtigen. Vielleicht
stimmt es. Sind wir frei? Natürlich, investigativer
Journalismus zeigt uns, was fies gelenkt
heißt. Ich lebe sehr gern in Deutschland, das
gebe ich unumwunden zu. Wir sollten nicht
naiv sein: Wir müssen mit unseren Wortfregatten
gegen die der anderen mithalten,
dürfen nicht langsamer segeln oder weniger
Kanonen an Deck stellen.
Auch bei uns wird gelenkt. Niemand möchte
Chaos. Wir tragen eine Maske in der Corona,
weil der Staat anordnen kann, was sich gut
umsetzen lässt. Nützt das? Vielleicht nur ein
hilfloser Aktionismus. Die Diskussionen müssen
gemäßigt sein. Wir sehen in anderen Ländern
den massiven Lockdown. Das Fernsehen
zeigt die Katastrophe in ihren Kliniken. Überlastete
Ärzte, Pfleger – wir sehen die schlichten
Kiefern-Särge, mit den vielen Toten der
Pandemie, wie sie in schnell ausgebaggerte
Massengräber gestaut werden. Das ist ein
Krieg heute und hier. Wir begreifen, dass es
bei uns bei weitem nicht so bescheuert zu
geht, wie wir dachten. Wir sind weit vorn in
der Krise. Der Vergleich zeigt es.
Manche wollen nicht glauben, was das
Fernsehen zeigt. Das Internet schürt ihre
verschworene, verschrobene Welt, facht
eine kollektive Neurose an. Das Misstrauen
kommt nicht von ungefähr. Wir fahren nicht
nach New York, Moskau oder in den Iran, prüfen
selbst nach, wie wahr die Nachrichten
sind. Ich habe gern geglaubt, was ich gelesen
habe, als Kind. Aber: Karl May war nie Old
Shatterhand. Ein paar Dinge müssen wir lernen,
ein Wort ist nur ein Wort: Liebe, was soll
das sein? Das hat es nie gegeben. Genauso
wenig freie Demokratie. Es gibt Freiheit nur
in den Grenzen der Beziehung: zum Partner,
zum Staat, zur Natur – zu Gott.
Wir sind gemeinsam eine Welt. Das hat Corona
gezeigt, es trifft nun zunehmend alle gleichermaßen.
Wir halten zusammen dagegen.
Greta Thunberg wird noch belächelt? Ein
Fehler. Da kommt kein böser Asteroid angeflogen,
und die Menschheit schießt dem eine
Atomrakete entgegen – das ist ein Film. Was
ist denn: „Die Menschheit?“
Zunächst du und ich. Wir sind die Basis einer
guten Demokratie. Ein kleines Schlachtfeld.
Wenn es die Liebe gäbe, würden sich leicht
alle denkbaren Verbindungen ergeben. Wir
liebten einander voll und ganz, so wie wir
wirklich sind. Wir verstünden uns, liebten
wie im Roman, im Traum. Die Erfüllung – am
Ende wahr geworden. Es ist aber anders: Was
uns fehlt, das lieben wir. Wir erweitern unser
Selbst. Wir erleben, sogar nach langen
Jahren in einer Beziehung, dass wir einander
nicht wirklich kennen. Außerdem fühlen wir
uns unverstanden, nicht geliebt dafür, was
wir sind. Wir können nie genug Bestätigung
bekommen. Wir gehen auf die Suche danach.
Wie im Restaurant. Das Leben soll uns bedienen.
Wir bestellen ein Luxusmenü: Wenn
es schließlich wohlduftend vor uns steht, erinnern
wir uns der Speisekarte, wir schauen
bereits in diesem Moment, was die anderen
gerade bekommen. Ich hätte das Lamm nehmen
sollen, nicht die Ente mit Rotkohl. Der
Reinfall beim Neuverlieben ist die Projektion
unsrer Sehnsucht in das andere Geschlecht.
Mann lebt mit Frau, etwa gleiches Alter, ist
die Regel. Je mehr die Partner von der Normalität
abweichen, desto heftiger der Gegenwind.
Im Dorf ist die Provinz, und das ist die
Welt im Kleinen: Wenn der Künstler mit einer
Studentin los zieht, zerreißt man sich’s Maul.
Zu mir hingegen sind sie „meine Freunde“ …
„Das ist so einer.“
Wie verrückt der ist. Apfelfestbomber, Reichsbürger,
Gefährder – was können wir aus ihm
machen? Das Dorf braucht Schubladen. Worte.
Ein Rumpsteak ist ein Rumpsteak.
:
Mai 25, 2020 - Jeder kennt das Rumpsteak 38 [Seite 38 bis 38]
Lernen müssen
Mai 28, 2020
Über Schule wurde schon
viel geschrieben. Dass wir
für das Leben lernen, nicht
für die Schule. Heute wird
mehr über Pisa verwandte Themen diskutiert,
also wie Schule besser werden kann. Es werden
Länder verglichen und argumentiert, was
die anderen hinbekommen und wir nicht. Darum
haben wir den Föderalismus. Auch die
Bundesländer probieren sich aus.
Manchmal sehe ich Plakate, mit denen um
Spenden für Afrika geworben wird. Ein Mädchen
möchte lernen, suggeriert das Motiv.
Wenn ich mutmaßlich reicher Europäer für
Afrika spende, könnte in einer strukturschwachen
Gegend eine Schule gebaut werden.
Arme Afrikaner. Dass Menschen etwas lernen
möchten, also gern in eine Schule gehen
würden, wenn es eine gäbe? Wir sind reich.
Eine Fragestellung soll unsere Denkgewohnheit
aufbrechen. Die doofe Schule! Mein Vater
hatte wenig übrig für seine kurze Zeit in
der „Volksschule“ – es war Krieg gewesen, es
gab immer Prügel.
Lehrer seien nicht nur faule Säcke, wie der
geschasste Altkanzler Schröder so politisch
unkorrekt und pauschal geflappst hat, Lehrer
sind anstrengend, oha, das ist verboten
kommuniziert. So ein böser Kanzler. Damals
hatten wir weltweit keinen Trump. Heute
bietet der amerikanische Präsident die beste
Angriffsfläche für Kritik. Der ist noch größer,
noch dicker, als der inzwischen verstorbene,
noch ältere Altkanzler Kohl. Den hat es auch
immer getroffen: Worte, Eier, Farbbeutel. Zu
Angela Merkel sind wir freundlicher. Sie ist
smart. Trump als Amerikaner ist gut geeignet,
angeschimpft zu werden. Besonders, weil
er so weit weg ist. Er hört es nicht und wird
kaum einmal bei uns vor der Tür stehen und
uns verhauen.
Und Schröder genießt sein Leben mit einer
neuen Frau.
Diese mächtigen Menschen haben für das
Leben gelernt, und wir für die Schule, so
scheint es. Wir sind privater Polizist (aber
ohne Macht) und petzen einander: „Das sagt
man nicht!“ Manche merken nicht, dass sie
erwachsen sind und die Lehrerin keine Autorität
mehr ist, die zuhört, hilft und Dinge regelt.
Mehr denn je werden Vorfälle angezeigt,
die früher selbstständig gemeistert wurden.
Ein Autobahnpolizist geht nach Jahren in
den Ruhestand, es hat sich einiges geändert.
Nicht nur die Aggression, auch die Reaktion:
Es seien typischerweise Akten anzulegen, ungefähr
nur – ein blaues Fahrzeug, eventuell
Mazda, und er hat mich bedrängt, geschnitten,
das Kennzeichen – unvollständig. Wie
soll man damit zielführend ermitteln? Und
die Schule ist im Spiegel unsrer heutigen
Welt anders zu begreifen. Heute, das ist nicht
mehr die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Spezielle Fächer und Leistung werden wie
immer gelehrt. Aber wir bauen gerade kein
zerstörtes Deutschland demokratisch
neu auf. In der bereits gut
ausgestatteten Welt, soll es noch
deutlich besser werden. Wir haben
Autos, schicke Häuser und wollen
schöne Menschen haben, die viel
und gerne etwas leisten.
Mein Vater hat uns den Begriff
der Leistung in der Formel erklärt.
Eine Arbeit ist nur, dass etwas
getan wird. Du schraubst was zusammen
oder räumst dein Zimmer
auf. Eine Leistung ist es, wenn es
schnell gemacht wird. Die Zeit, die
du benötigst in Relation zur Arbeit,
das ist die Leistung. So kommt es zum
Vergleich. Wie viel Sand wird weggebaggert,
das ist die Arbeit. Wie lange schaufelt Meyer
mit der Hand, bis es getan ist, wie lange benötigt
er, wenn er den Bagger nimmt?
Klar, der Bagger, damit kostet es mehr: Anschaffung,
Unterhalt der Maschine. Erich hatte
eine kaufmännische Ausbildung und war
zunächst angestellt als Maschinenschlosser,
bevor wir den Fischladen hatten. Erst Handwerker
mit einem Chef, dann selbstständig.
Er kannte sich aus, mit der Arbeit und der
Leistung. Für meinen Vater war diesen Zusammenhang
zu begreifen das Lebensprinzip.
Das Wirtschaftswunder fing an, und Bassi
war jung …
Wir gingen gern schwimmen. Wenn wir in der
Kabine die Badehose anzogen oder hinterher
beim Abtrocknen und Anziehen redeten, nur
durch eine dünne Wand in der Umkleide getrennt,
schauten wir, wer es zuerst zum Föhn
schaffen würde.
Genau genommen ist jede Arbeit eine Leistung.
Alles braucht Zeit. Das Wort Qualität
kann für etwas Gutes verwendet werden
oder einfach als Unterscheidung der Sorten.
Die grüne Qualität oder die rote, welche Paprika
möchtest du? Wenn du nach drei Jahren
aufgeräumt hast, weil du allein bist, und es
ist nicht gerade dein Kinderzimmer gewesen,
sondern ein ganzes Leben oder doch eine
große Fabrikhalle, dann ist es eine gute Leistung.
Wer bewertet das, und bist du abhängig von
der Bewertung? Ist da ein Lehrer, gibt dir eine
Note, du bist weiter für einen Recall? Ist da
ein Geldgeber – oder kannst du nach einem
Unfall wieder laufen und hast lange dafür
gebraucht, aber weniger lang, als alle das angenommen
haben?
Das sind Fragen!
Romane sind wahr, auch wenn sie erfundene
Geschichten sind, weil sie das Leben wiedergeben.
In den Büchern von John Irving kommt
immer irgendwann „der“ Unfall. Ein Ereignis
das alles ändert. Etwas lernen können, etwas
lernen dürfen oder etwas lernen müssen? Ein
Beispiel: Monica Lierhaus wird fünfzig Jahre
alt, herzlichen Glückwunsch! Wir verstehen,
dass jemand lernen muss, der etwas nicht
(mehr) kann, was alle normalerweise können.
Barbra Streisand singt: „People who need
people, are the luckiest people.“ Das habe ich
als Jugendlicher gehört und nicht verstanden.
Ich ging weiter in die andere Richtung.
Je weniger tief die Beziehungen, desto freier
meinte ich zu sein.
Ich erlernte nur schwer die Oberflächlichkeit.
Nicht verbindlich, aber freundschaftlich mit
anderen verbunden sein. Bekanntschaften
ohne Tiefe haben und wenig vom Gegenüber
erwarten, ohne deswegen enttäuscht zu
sein. Die eigene Grenze erhalten und selbst
bestimmen, bis mehr Herz in die Beziehung
kommt. Gibt es ein gutes Wort dafür, oberflächlich,
unverbindlich – so sagt man es
eigentlich nicht. Eine Qualität? Keine Schule
empfiehlt das so, sozial und menschlich sollen
wir handeln. Der Therapeut kennt sich
nicht aus, uns das zu vermitteln, wie’s auch
hier schwer verständlich hinzuschreiben ist
…
Wer sich die Beine bricht, findet einen guten
Arzt. Wem „der Kopf bricht“, dass ihm sein
Mundwerk unbewusst alles rausplappert,
was dort oben gespeichert ist und grenzenlos
die Meinungen der anderen ins Gehirn
hinein waschen, muss lernen, die Worte zurückzuhalten.
Das als gut beschworene dicke
Fell, ist bestenfalls eine durchlässige Membran.
Jeder muss erst lernen, eine Meinung
zu entwickeln. Und die unter Umständen für
sich behalten. Dafür benötigt es Zeit, bis man
spielerisch mitreden kann. Lebhaft sein ist
eine Qualität, plappern nicht. Ich habe die
Mai 28, 2020 - Lernen müssen 39 [Seite 39 bis 40]
Erfahrung gemacht, dass man sein Naturell
nicht ändern kann, aber formen. Klare Kante
können, aber nicht immer gewinnen müssen?
Ich sehe ein Licht am Horizont, ein lohnendes
Ziel. Das hat mich die Schule nicht gelehrt.
Wir lernen, bleiben aber individuell,
unterscheiden uns, werden nie jemand
anderes, auch wenn wir es so wünschen.
Wir gehen ganz weit weg, aber wir können
nur zu uns gehen. Das ist kein Ausland.
Wir lernen für uns, auch wenn ein
Bein fehlt, nach dem Unfall. Wir können
kein Bein nachwachsen lassen. Weglaufen
oder ankommen? Echte Not und
eingebildetes Leid unterscheiden sich
hier: Alles umschnippeln lassen, Titten,
Arsch und Lippen, ist ein dekadenter
Luxus, mit zweifelhaftem Wert.
Ich habe zu leicht geglaubt, was man
mir sagt und mich immer ganz eingebracht.
Grenzenlose Offenheit führt in die Auflösung
des Selbst. Also habe ich lernen müssen, die
anderen wesentlich nicht zu brauchen. Der
lange Weg als ein Geschenk?
Damit bin ich tatsächlich so glücklich geworden;
denn die Ausgangslage war ja schlecht:
Mir musste man helfen. Wer mehr lernen
muss, ist reich beschenkt. So viele könnten
lernen und bleiben Mitläufer. Sie können wie
der Nachbar gehen und arbeiten, schimpfen
und wissen Bescheid. Es genügt ihnen, normal
zu sein und sie überheben sich gern über
die Spinner.
Ich fand’s schwierig zu arbeiten, Geld zu verdienen.
Ich fand schwer zu Frau, Kind und
Haus. Eine Existenz zum Vorzeigen. Ich blieb
abhängig von Eltern, Ärzten und brauchte lange,
meine Zimmer aufzuräumen. Meine Kunst
ist in erster Linie, unverstümmelt zu bleiben
(kein van Gogh zu sein). Ein weiter Weg in ein
normales Leben. The luckiest people, deswegen
stimmt es: Der Weg zur selbstverständlichen
Normalität, allein klar zu kommen, ist
länger bei denen, die Hilfe brauchen. Normalität
ist also nicht selbstverständlich.
:)
Mai 28, 2020 - Lernen müssen 40 [Seite 39 bis 40]
Der schwarze Peter ist wieder tot
Jun 4, 2020
Mal entspannt nichts tun. Für einige bedeutet
Nichtstun, sich festhalten zu müssen, mit aller
Kraft. Es muss geübt werden, warum? Zusammenreißen
ist keine Leistung, wenn man
in sich ruht. Der einzelne Mensch ist dabei
ein Teil der anderen und untrennbar von der
eigenen Geschichte. Vorbestimmt, festgelegt:
Nicht nur durch die Gene, auch durch das frühere
Verhalten. Mal sind wir gut, dann böse
und krank. Der Mensch ist in allen Farben
unterwegs. Jetzt können wir gut sein. Es ist
gerade einfach. Heute zeigen wir Flagge!
Wikipedia: Aus dem Englischen übersetzt –
George Floyd war ein Afroamerikaner, der am
25. Mai 2020 starb, nachdem der Polizeibeamte
von Minneapolis, Derek Chauvin, mindestens
sieben Minuten lang auf Floyds Hals
kniete, während er mit Handschellen gefesselt
war und mit dem Gesicht nach unten auf
der Straße lag.
Wir empören uns! Solidarität ist eine Kraft,
die spontan Netze bilden kann, Menschen
mobilisieren, die nun zusammenhalten. Wenn
aus Recht Unrecht wird, passiert das. Die Polizei
ist Dienstleister der Gesellschaft. Sein
Machtmonopol darf der Staat nicht missbrauchen.
In der Demokratie ist der Präsident
oder Kanzler der angestellte Verwalter, der
das System zum Wohle aller lenkt. Aber dieser
Präsident riskiert die innere Sicherheit:
Die Welt ist fassungslos.
Eine Gesellschaft ist gemischt: vielfarbig und
unterschiedlich leistungsfähig. Die einen
zahlen mehr Steuern und anderen Mitgliedern
müssen wir helfen, weil sie unbedingt
dazu gehören. Es gibt immer Bestrebungen,
Menschen irgendwo hinauszudrängen. An
der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung
oder dem Brexit wird deutlich, dass
Teile im System auch
selbst gehen wollen.
Gerade die britische
Fluchtbewegung zeigt
aber, dass Großbritannien
zwar durch den
Kanal getrennt vom
Festland ist, dennoch
nicht wie ein Schiff in
die Freiheit davon segeln
kann.
Frei sein, unabhängig
und weiter alle Rechte
und Verträge, die in
vielen Jahren ausgehandelt
wurden, beibehalten?
Das geht nicht.
Alle müssen lernen. In
der Welt hängt jedes
Teil am anderen. Wie
sieht die Freiheit in einer
sozialen Beziehung
aus, und wie integriert
eine gesunde Gesellschaft
ihre verschiedenen
Mitglieder? Die eigene
Farbe, ist sie eine
Qualität oder ein Brandzeichen: Cowboys
und ihr Vieh, was sind wir denn?
Ein Katalane oder Brite, der für die Unabhängigkeit
seiner Region kämpft, hebt ein Schild
hoch und demonstriert. Den Juden verpasste
Adolf Hitler einen Stern, um sie kenntlich zu
machen. George Floyd unterschied sich durch
seine Hautfarbe? Von wem denn? Ordnung
muss sein. Die Fußfessel der Sexualstraftäter
in Freiheit, die Corona-App; wer noch keine
roten Haare hat, dem setzen wir eine dicke
Brille auf die Nase, damit er nicht sehen kann,
das wir ihn gerade daran
erkennen: Wo ist Walter?
Ha-ha.
Liberia ist ein Teil von
Afrika. Ich habe einen
Freund gefunden, der ist
in einem kleinen Dorf
abseits der Hauptstadt
Monrovia geboren. Ich
soll dich „Schwarzer“
nennen? Wir dürfen nicht
„Neger“ sagen – das ist
„falsch“ (heute)? So frage
ich ihn. Er grinst und hält
seinen bloßen Unterarm
neben meinen, der in einem
schwarzen Hemdsärmel
steckt, vergleicht und
sagt: „Ist nicht schwarz. Ist
braun.“ Wir lachen beide.
Ich lobe seine spontane Fröhlichkeit, die
Coolness, die Beweglichkeit im Sport, Musik
und mehr, was wir an den Schwarzen insgesamt
bewundern. Es stimmt nicht? Er hat in
England studiert: „Ich sitze im Bus“, erzählt
er, „schräg gegenüber einer wie ich. Ich bin
so, wie du mich kennst, lache den an und
probiere, ihn kennenzulernen. Mutmaßlich
ein Freund? Weil er schwarz ist wie ich. Das
denke ich. Der aber verzieht keine Miene, ignoriert
mich komplett. Das ist alles erlerntes
Verhalten. Wenn du in England aufwächst,
bist du Engländer. Großbritannien“, sagt er –
„Da lacht man nicht im Bus.“
# Solidarität?
Weltweit wird nun demonstriert. Der Tod
von George Floyd bringt überall Menschen
auf die Straße, die sich gegen Rassismus in
Stellung bringen. Vielleicht ändert sich etwas
und Gesetze werden geändert. Ausgrenzung
an sich wird es aber immer geben. Solidarität
ist großartig, wenn wir sie erfahren dürfen.
Oft genug geschieht es andersrum, wir fühlen
uns unverstanden. Wenn eine Gruppe gegen
den Einzelnen mobilmacht: Das ist ihr eigenes
Rechtsverständnis. Anpassung soll durch
Ausgrenzung des unerwünschten Verhaltens
erzwungen werden. Aus schwarz mach’ weiß.
Polizeigewalt bedeutet im Fall Floyd, dass
das Recht verbogen wird. Eine Gruppe von
Polizisten unterscheidet sich dann nicht von
einer Bande, einem Clan oder den bösen Kollegen
in der Firma. Es sind welche, die „Meyer“
verarschen oder bei einemProjekt nicht
unterstützen, das sie in Schwierigkeiten bringen
könnte. Manche unterstützen selbst eine
gute Sache nicht, wollen nichts damit zu tun
haben, und auch dann ist es Gruppendynamik:
Die faule Gruppe, dieTrägheit der Masse,
die jemanden hängen lässt.
Im Stich gelassen in der Not. Wenn dir jemand
eine Falle stellt, wirst du andere, die
darüber offensichtlich bestens informiert
sind, aber nicht an deiner Seite stehen, mehr
verachten, als deinen anonymen Gegner. Wir
haben immer „Zwölf-Uhr-Mittags“ mit Gary
Cooper angeschaut, wenn es im Fernsehen
kam: Lässt sich eine Methode entwickeln, die
fehlende Solidarität geradezu provoziert, um
allein gelassene Menschen in dieser Situation
stark zu machen? Das sollten wir probieren.
Es ist klüger, einzelne gezielt zu stärken,
als die Welt insgesamt ändern zu wollen.
Eine Theorie kann durch
gezielte Beobachtung
gefestigt werden, dann
kommt anschließend
praktisches Training. Das
Problem ist in erster
Linie, Unabhängigkeit
möglich werden zu lassen.
Zu manipulieren erzeugt
Paranoia, verstärkt
die Bindung an den Helfenden.
Ein Freund wird
eher direkt helfen, als ein
Psychologe mit einigen
verbalen Kniffen im Gepäck.
Dem Arzt ist eventuell
nicht bewusst, dass
er ein Teil des Problems
wird, wenn er den Patienten
lebenslang begleitet.
Ein Patient könnte ein
Mensch sein wie andere, wenn wir es ihm
zutrauen, bald so gesund zu sein, dass er unabhängig
vom Arzt ist.
Die Freiheit wird größer, wenn du wählen
kannst. Krank zu sein, bedeutet zwanghaftes
Verhalten. Die Eltern, der Lehrer, ein Therapeut;
das sind alles Menschen, von denen wir
abhängig sind, wenn wir ohne Unterstützung
nicht klar kommen. Wie kann Hilfe gegeben
werden, wenn das Problem Abhängigkeit an
sich ist? Dafür müssten wir neu denken. Einige
Grundlagen sind bereits bekannt. Wir
müssen uns fragen:
Warum ist dieser Film erfolgreich? Wir laufen
nicht mit dem Colt herum, normalerweise
steht kein Schwerverbrecher gegen uns allein.
Teeren und Federn, so ist Amerika. Die
Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 41 [Seite 41 bis 43]
Worte Empathie, Freundschaft,
Treue, Liebe sind
dehnbar, weil sie abstrakte
Begriffe sind. Solidarität
ist unverwechselbar. Das
ist die Freundschaft, die
besonders dann stark wird,
wenn du sie nicht erwartest.
Sich nicht erfüllende Erwartung
kränkt. Ich bin
mir sicher, dass jede psychische
Erkrankung, wie
immer wir sie benennen,
das Ergebnis nicht zu
begreifender Verletzung
durch andere Menschen
ist. Mehrmals wiederholt,
kann das ein traumatischer
Teufelskreis werden. Wer psychisch
krank ist, blickt die Ursache nicht, weil es aus
seiner Perspektive gar nicht geht, ist nicht
bescheuert oder gestört, sondern wurde
nachhaltig verstört. Ein böser Strudel saugt
uns tiefer ein. Schwindeln nannte meine Oma
das Lügen. Oma lügt nicht, aber du machst,
was man nicht tut, heißt es das? Wir lügen
einander nicht bewusst an, aber wir stellen
Sachverhalte so dar, wie es individuell zu uns
passt. Werbung für ein Produkt stellt es gut
dar und ist keine Lüge. Das ist die Wahrheit
der Hersteller.
Eine Firma will Erfolg.
Der kleine Familienbetrieb: Jedes Kind muss
erst lernen, was Worte bedeuten. Papa redet
anders als Mama und nicht immer kommt
dasselbe dabei raus. Was kannst du erwarten?
Du probierst es aus, manipulierst ein Preisschild
auf dem Spielzeug, das du eigentlich
nicht bezahlen kannst, weil einige Cent fehlen
– ein schwindelndes Gefühl. Tatsächlich:
Das Blut rötet deine Wangen, der Puls klopft
in den glühenden Ohren. Kommt man damit
durch, machen das alle? Fühlt sich Scheiße
an – oder ist es der Kick, den du brauchst?
Immer die Wahrheit sagen, damit niemand
strafen kann. Immer brav und den anderen
Menschen alles glauben? Mitschüler verpetzen,
die sich nicht an das halten, was die
Lehrerin sagt – das kann genauso schwierig
werden. Gefühle: ein Wirbel! Verrückt steht
keiner sicher, stürzt in den Graben. Erst abfüllen,
dann verspotten – die Gesellschaft ist
mal solidarisch und mal schadenfroh. Daumen
hoch oder runter wie im alten Rom.
# Im Kreis gedreht bis zum Kotzen!
Vor vielen Jahren, als das Fernsehen noch die
Masse der Zuschauer hatte, die heute mehr
das Internet nutzen, habe ich dies gesehen:
In einer Show wird ein Mann vorgeführt, der
zunächst nicht weiß, dass er im Mittelpunkt
der Sendung steht. Er sitzt im Publikum. Man
hat ihn in die Sendung gelockt. Die eigene
Ehefrau, die Kinder, die Freunde – sie haben
ihn beim Fernsehen „angezeigt“. Er hat einen
sozialen Fehler. Etwas an ihm nervt. Man
kann es ihm nicht erklären, so scheint es.
Seine „Bestrafung“ besteht schließlich darin,
dass er auf einem Bürostuhl mit verbundenen
Augen gedreht wird und unter allgemeinem
Gelächter sofort anschließend, als die
Augenbinde abgenommen wird, einen Weg
geradeaus durch seitlich aufgetürmte Tortenberge
finden muss, um am Ende einen Buzzer
zu erreichen. Dort winkt ein Preis! Natürlich
schafft der das nicht sauber.
Dieser Typ, an den ich mich
erinnere, macht schließlich
gute Miene zum bösen
Spiel. „Verstehen Sie Spaß“
ist ähnlich. Was bleibt dir
übrig in dieser Lage? Für
den Sheriff Kane in „High
Noon“ ist die sich nicht
erfüllende Solidarität seiner
Umgebung schließlich
harter Überlebenskampf.
Es ist kein Spiel. Er schießt
sich frei, mit dem Colt.
Ganz allein.
Wir sind zivilisiert und
dürfen nicht schießen,
schlagen. Die Polizei darf
es. Cool bleiben, nichts tun kann auch Stärke
sein: „Reiß’ dich zusammen!“ Manchmal ist es
möglich. George Floyd hatte keine Wahl. Er
konnte nur nichts tun, und Menschen haben
gerufen: „Aufhören! Der kriegt gar keine Luft
mehr.“ Es hat nicht gereicht. Man hätte einen
Polizisten wegtreten müssen, mit aller Macht
hätte man einen Ordnungshüter angreifen
müssen! Wer hätte das probiert? Die Polizei
war in Mannschaftsstärke, Floyd ein mutmaßlicher
Straftäter – und schließlich allein.
Frank Miller ist dargestellt als ein vielfacher
Mörder, eine Figur im Film. Miller kommt mit
einigen Freunden, um Rache zu nehmen, und
der gute Sheriff Will Kane bleibt allein.
Die Ironie des Lebens will es so: Plötzlich ist
Zivilcourage anders herum. Harmlose Zivilisten
sind spaßig, und gewaltfrei gute Menschen,
meinen sie. Solidarisch mit den Unterdrückten.
Im Fernsehen sein, vor aller Augen
bloßgestellt und noch dazu lachen müssen?
Anschließend zuhause. Wieder zur Arbeit, die
Kollegen – wir können uns das vorstellen.
Menschen sind so, und da
muss die Hilfe ansetzen,
wenn sie ernst gemeint
ist, die psychisch Kranken
wirklich nützt. Es
gibt keine Pille, die klug
macht, aber manche werden
nicht vorgeführt. Sie
sitzen nicht auf einem
Drehstuhl, bis sie’s nicht
mehr blicken und in die
Torte eiern. Sie fahren
Benz.
# Den Spieß umdrehen?
Das böse Spiel im Netz,
das kann man auch anders
herum spielen. Ich
habe den Fernseher damals
abgeschaltet. Diese
Sendung habe ich nie
wieder angesehen. Ich mag mit dem immer
noch populären Moderator nichts zu tun haben.
Die Freunde, die Ehefrau von diesem Typ
– die möchte ich nie treffen.
Aber ich habe darüber nachgedacht, was passiert,
wenn man ein derartiges soziales Vergehen
(der hatte immer mit den Fingern auf
dem Tisch getrommelt, während man gesellig
zusammen saß) bewusst ausprobiert. Es
muss so harmlos sein, dass aus einer Mücke
ein Elefant werden kann, ohne dass es diesen
Elefant je gegeben hat. Es ist etwa so, wie
die andere Hautfarbe. Unter Umständen genügt
ein banaler Unterschied für eine heimtückische
Attacke. Eine eigene Meinung ist
ausreichend, und erst recht eine Schwäche
zuzugeben, wird jemand auf den Plan rufen,
sie auszunutzen.
Anderen eine Unsicherheit zu offenbaren,
bedeutet eigentlich, diese zu kennen. Einmal
angenommen, wir kennen uns nicht. Unsere
Krankheit ist das Unwissen der eigenen Verletzlichkeit.
Narren fühlen nicht, ist ein hebräisches
Sprichwort. Es ist möglich, Gefühle
vor anderen zu verbergen: In einem Geschäft
verhandelnd, hat private Trauer keinen Platz.
Auf einer Beerdigung lachen wir nicht, und es
gibt Menschen, die eiskalt lügen.
Es kann zu einer Gewohnheit werden, die
Furcht vor anderen Menschen durch individuelle
Verhaltensmuster zu überspielen. Das
bedeutet die Gefühle nicht nur vor anderen
zu verbergen, sondern sich so in eine Rolle
einzuleben, dass wir unsere Natürlichkeit
aufs Spiel setzen. Eine Gefahr für die psychische
Gesundheit ist das in jedem Fall. Dann
wissen wir selbst nicht mehr, dass wir Angst
haben. Indem wir uns fortwährend treu zum
bisherigen Getue verhalten, maskieren wir
unsere Schwäche.
Der Grund eines Problems ist verborgen? Wir
können ausnutzen, dass andere uns zeigen
werden, wo genau wir verletzlich sind, wenn
wir annehmen, dass Bosheit mindestens so
menschlich ist, wie zu helfen in der Not. Es
ist leicht, Solidarität zu zeigen, wenn das
Böse fern im Ausland stattfindet, und es ist
schwer Zivilcourage zu beweisen, wenn der
soziale Druck hoch ist oder Gefahr für Leib
und Leben besteht.
Wenn die Angst des psychisch labilen Menschen
ist, von anderen und sich selbst in die
Pfanne gehauen zu werden, kann es nützlich
sein, bewusst in diese Lage zu geraten. Der
eigenen Angst zu begegnen, das wird uns
für immer verändern. Wir sind frei, uns so zu
verhalten, wie es angemessen ist, können uns
verteidigen, wo wir früher mit einem schiefen
Lächeln ausgehalten haben. Statt das Gesicht
zu machen, das alle von uns gewohnt sind,
können wir unser bisheriges Selbst verwerfen
und klare Worte finden oder kühl schweigen,
gegebenenfalls kämpfen. Mut muss erfahren
werden, wird solidarische Mitstreiter auf den
Plan rufen. Ein Narr sein, ist krank sein. Einen
Narren zu geben, bedeutet den Vorhang
selbst fallen zu lassen, wenn es reicht.
Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 42 [Seite 41 bis 43]
# Heigh-Ho!
Der „Fehler“ vom Sheriff Kane besteht darin,
dass namentlich er es gewesen ist, der
Miller seinerzeit gestellt hat. Deswegen
hatte dieser im Gefängnis gesessen. Frank
Miller hatte einen ganzen Landstrich terrorisiert.
Seine Opfer fand er im weitläufigen
Farmland, rund um eine kleine Ansammlung
hölzerner Pionierbauten, mit
einem typischen Bahnhof am einsamen
Gleis, wie er in vielen Western in Szene
gesetzt ist. Die Freunde aus dieser Zeit,
die an der Seite ihres Town Marshals gekämpft
hatten und so alle gemeinsam endlich
Frieden und zivilisiertes Dorfleben für
ihre Familien erreichten, begreifen, dass
Miller nicht ihretwegen nach Hadleyville
unterwegs ist. Der freigekommene Outlaw
und seine finstren Kumpane, wollen in erster
Linie mit dem Sheriff abrechnen. Die biederen
Farmer der Gegend und die Kaufleute des
Städtchens finden ihre persönliche Lösung,
einige verstecken sich im Haus: Zunächst vor
Kane, der auf der Suche nach wenigstens einem
Hilfs-Sheriff bei jedem anklopft, den er
für geeignet hält. Du bekommst dafür einen
Blechstern auf die Brust! Alle menschlichen
Abgründe von Angst, Feigheit angesichts
der drohenden Gefahr werden sichtbar, und
der in dieser Situation unnachahmliche Gary
Cooper in seiner größten Rolle geht in die
Filmgeschichte ein. So sieht Enttäuschung
aus.
Kane glaubt zunächst fest daran, Leute zu finden.
Seine Existenz, Ehefrau, Liebe; alles erweist
sich als Trugbild. Dramatische Bilder in
schwarz und weiß, bis zum unvermeidlichen
Showdown am Ende. Der Film zeigt einen
Mann, der unaufhaltsam der Konfrontation
mit der eigenen Vergangenheit entgegen
geht. Aber er hat kein Verbrechen begangen,
wie so oft im Roman, keine düstere Tat holt
ihn ein: Sein Schicksal ist die eigene Aufrichtigkeit!
Ein ums andere Mal laufen seine Versuche,
einen kleinen Trupp zusammenzustellen,
ins Leere. Die Männer schieben Gründe
vor, als der Sheriff sie auffordert, eine Bürgerwehr
zu bilden, wie damals oder verlassen
die Stadt im selben Zug, mit dem Frank Miller
ankommt. Sie sehen sich erst in zweiter Reihe
in Gefahr. Großes Kino, wenn Kane allein
kämpfen muss. Schaun wir mal.
# Bilder zu malen ist besser, als die Einbildung,
besser zu sein
Der Film ist ein Erfolg geworden, weil man
das unsolidarische Spiel überall inszenieren
kann, im Fernsehen oder mithilfe einer
WhatsApp-Gruppe. Es ist unsere menschliche
Realität, der wir uns alle nicht entziehen können.
Und genau hier muss die erfolgreiche
Therapie ansetzen, die Menschen zur Normalität
verhilft, die normalerweise im Kreis
gedreht werden. Ein Maler malt, Filme werden
gedreht und einschneidende Erfahrung
kann uns lehren, Texte zu formulieren, Bilder
zu finden, die wahr sind. Der Mensch ist in
seiner Gesamtheit zuverlässig: Wir mobben
nie grundlos, wir können das nicht ändern.
Empörung ist Selbsttäuschung. Wir sind alle
so gut nicht und könnten erleben, dass auch
wir einmal feige sind.
Wenn wir einsehen könnten, wie hoch der
Druck werden kann, würden wir damit aufhören,
schlimme Zustände pauschal anzuklagen.
Wir würden uns auf eine realistische
Hilfe für einzelne konzentrieren und könnten
echte Erfolge erzielen. Eine moderne Gesellschaft
ist deswegen in der Pflicht, Menschen
die „bescheuert“ sind, fit zu machen. Wir solidarisieren
uns erst und helfen dem Schwachen,
wenn die Situation eindeutig ist. In
einem schwarzen Kleinkriminellen sehen wir
einen Helden. Wenn er tot ist. Einen Amokläufer
erschießt die Polizei auf dem kurzen
Dienstweg, im Selbstgericht; niemand trauert
um ihn. Und einen Spinner stoßen wir in eine
Torte? Das sind doch alles Menschen wie wir
selbst und waren ein Kind mit einer Zukunft.
Und selbst dran schuld am Schicksal heute?
Das kann nur glauben, wer täglich die Einbildung
übt.
# Wir helfen zu spät
Einer wird gekreuzigt, ein anderer tot gedrückt.
Wir lesen die Bibel, wir schauen einen
Film aus dem wilden Westen damals oder
ein wackliges Video von gestern, heute. Anschließend
merkt die Gesellschaft zuhause
auf dem Sofa, dass sie zu weit gegangen ist.
Wir benötigen eine noch zu findende Form
der Hilfe, ein Training für die, die gemobbt
werden, krank auf vielerlei Art diagnostiziert,
aber alle so, dass sie nicht mitspielen können.
Sie bekommen den „Schwarzen Peter“ – und
den nicht weiterreichen zu können, bedeutet
schwarz zu bleiben – es zu sein.
Wen auch immer man auf so einen Stuhl
setzt, den Menschen, der unmittelbar darauf
gelassen zum Buzzer schreitet, gibt es nicht.
Aber dieser Mann im Fernsehen – spätestens,
als man ihm seine „Vergehen“ klar gemacht
hat und vor aller Augen auf den Stuhl befohlen
– er hätte begreifen können, sogar jetzt
noch: Da sind Alternativen.
Dafür ist er nicht der Typ. Es stimmte wohl,
er hatte andere genervt. Eine kleine Macke.
Nun klare Kante zeigen: „Ne’ Leute – kein
Bock mehr. Ich fahre nach Hause.“ Hat er
das erwogen? Er windet sich. Aber das ganze
Umfeld drängt, das Publikum johlt – eine
Gesellschaft, die zwanghaftes, automatisiertes
Verhalten fördert, treibt einzelne an den
Rand und über die Kante. Cäsar, das alte Rom,
Brot und Spiele.
Er saß ahnungslos im Publikum.
Sie hatten einen Spot auf ihn gerichtet, es
wurde (angeblich) ein Schlagzeuger gesucht.
Da könne doch wohl jemand sein, der mit einer
kleinen Blechtrommel einen Tusch hinbekomme?
Dankbar hatte er das Ding genommen
und gleich gezeigt, dass er fein wirbeln
kann, mit den Drumsticks.
„Ich bin im Fernsehen“, wird
er gedacht haben. Gern ist
er nach vorn gegangen.
Dann wurden aber kleine
Filme eingespielt, von zuhause
oder mit den Kollegen,
heimlich gedreht. Der
Mann, der immer trommelt.
Er findet Bleistifte, Kochlöffel,
er klopft sich auf die
Schenkel. Mit den Fingern
taktet er jederzeit auf dem
Küchentisch, dem Lenkrad
vom Familienauto – immer
– ein Unruhegeist, der
noch Lob dafür möchte und
nur nervt. Das Blatt wendet
sich, nun lachen die Leute.
Da ist der Stuhl. Nimm
Platz! Jetzt – kein Zurück mehr! Ein Spielverderber
sein? Er hätte neben dem Stuhl stehen
bleiben können.
Nichts tun.
Oder, er hätte nach den hundert Umdrehungen
einfach sitzen bleiben können. Er hätte
selig beduselt, wie ein verwuseltes Honigkuchenpferd,
ins Publikum grinsen können. Der
lachende Gewinner. Der Mann hätte sagen
können, dass er Karussell fahren nun wirklich
mag, den musikalischen Radau und das
Schlagzeug-Tara im Zirkus liebt, das Theater
sowieso und natürlich das Publikum – und
eben gerne trommelt. Er hätte deutlich machen
können, dass er auf eine Bühne gehört!
Nach kurzer Zeit vom Wirbel erholt, wäre er
hingegangen und hätte lustvoll den Buzzer
gedrückt …
Und damit das nicht passiert, hat man ihn direkt
nach dem Drehen hochgerissen und in
die Torten geradezu hinein gestoßen.
Das ist der Mensch.
:
Jun 4, 2020 - Der schwarze Peter ist wieder tot 43 [Seite 41 bis 43]
Das wirsche Getüm
Jun 9, 2020
Es sind diese kleinen Geschichten, aus denen
anschließend Bilder werden. „Ästhetische-
Design-Repertoires“ war die Bezeichnung eines
Studienbereichs; ich erinnere mich, dass
ich die Formulierung damals (an der Armgartstraße)
nicht ganz verstanden habe. Das
sollte wohl heißen, hier lernt ihr die verschiedene
Ausdrucksformen kennen, eure Ideen zu
gestalten. Seitdem Menschen miteinander
kommunizieren, werden immer wieder neue
Mittel dafür etabliert.
Dies ist so eine Geschichte, und ich schreibe
sie kurz hin. Das ist ja auch ein Bild. Es
entsteht im Kopf, wenn wir einen Text lesen.
Vor einigen Tagen bin ich am Yachthafen unterwegs.
Mein Persenning ist undicht, und
ich habe mit einem Segelmacher vereinbart,
dass es professionell imprägniert wird. Einige
Erläuterungen sind nötig? Mein Boot ist
nicht besonders groß. Das Persenning ist wie
ein Zelt darüber gespannt, wenn meine Jolle
im Hafen liegt oder vor Anker.
Seit meinem Realschulabschluss 1981 in Wedel,
der folgenden Zeit, in der ich das Abitur
machte und den Monaten bei der Bundeswehr,
die der Fachhochschule voraus gingen
und noch viele an das Studium anschließende
Jahre, haben wir am Wochenende auf der
Elbe gesegelt. Die meisten Sommerurlaube
segelten wir in der Ostsee, besuchten Dänemark
mit dem eigenen Boot. Wir umrundeten
mehrfach die große Insel Fünen, segelten
um Seeland herum, genossen einen oder
zwei Tage in der sehenswerten Hauptstadt.
Wir bummelten durch den Tivoli, während
das Boot in der abenteuerlichen Umgebung
vom Christianshavn festgemacht lag.
Mit der Elb-H-Jolle unterwegs. Nur unter
Segeln sind wir immer klar gekommen,
wir paddelten oder ruderten, wenn der
Wind uns im Stich gelassen hatte, fanden
einen „Schlepp“ durch den Nord-Ostsee-
Kanal. Dann wohnten wir wochenlang
auf engstem Raum. Wir kochten an Bord.
Wir schliefen jede Nacht auf dem kleinen
Schiff. Bald bewegten wir uns so gelenkig
und selbstverständlich darauf, jeden Tag an
der frischen Luft, dass uns normales Wohnen,
nachdem wir wieder im Yachthafen in Wedel
angekommen waren, unbegreiflich schien.
Morgens wurde das Persenning zusammengerollt
und im Vorschiff verstaut. Anschließend
steht dem trainierten Segler sein Sportgerät
zur Verfügung. Das ist auch heute noch
der Fall (nur dass wir weniger trainiert sind).
Gelegentliche Ausflüge am Wochenende genügen.
Dass ich eine Regatta mitgesegelt bin,
liegt Jahre zurück. Die Perspektiven, Zeit zu
gestalten, sind anders geworden.
Viele Segler haben mit den Jahren immer
größere Schiffe gekauft. Dort spielen Persenninge
nur eine untergeordnete Rolle. Ein
zünftiger Skipper von heute segelt
ein Boot, das an Komfort nichts zu
wünschen übrig lässt. Es hat eine
Kajüte.
Bei meinen Eltern war das genauso.
Sie haben sich beim Segeln kennengelernt.
Als mein Vater mit meiner
Mutter zusammen kam, war die Jolle
zunächst optimal. Damit passten sie
perfekt in die damalige Szene. Mit
dem schönen kleinen Schiff aus
Mahagoni konnten Regatten, Wochenend-Touren
und längere Reisen
im Sommer gesegelt werden. Man
benötigte keinen Motor oder elektrischen
Strom und das Schlafen unter
dem Persenning gefiel: „Globetrotter“
– alle Boote, die wir hatten,
trugen diesen Namen. Für meinen
Vater war die Möglichkeit, mit einer
knapp sechs Meter langen Jolle bis
Kopenhagen zu segeln oder (gefährlich
nahe der Zonengrenze) bis
Lauenburg, nachdem sie die ungewohnte
Richtung elbaufwärts eingeschlagen
hatten, das allerfeinste
und größte Weltenbummeln.
Das wollte ich auch erleben! 1986
gelang es mir, unser altes Boot zurück
zu kaufen. Nachdem ich nicht
bei „Peter Panter“ bleiben wollte,
probierte ich eine Saison lang „Antares“
aus – musste schließlich entnervt wieder
„Globetrotter“ auf die Außenhaut schreiben.
Wie kam das?
In jedem Hafen, den wir ansteuerten lag mindestens
ein „Antares“ – oftmals irgend ein
schäbiges, blaues Motorboot aus beuligem
Plastik – trug den vermeintlich wohlklingenden
Namen meines funkelnden Sterns! Weitere
Freunde, etwa Thomas oder Peter, haben
die Boote ihrer Eltern zu ihren gemacht. Peter
kam gar nicht auf die Idee, den Bootsnamen
seiner „Herz Jung“ zu ändern, den der (legendäre)
Vater ausgesucht hatte. Piet übernahm
die Jolle einfach, wie sie war. Mein Freund.
Unser erster gemeinsamer Sommerurlaub
mit zwei Booten nach Dänemark: „Da ist wieder
eins, Johnny“, sagte er und zeigte uns den
Kahn gleich, noch bevor wir überhaupt angelegt
hatten, während wir in schöner Fahrt
paarweise mit unseren Jollen dicht an dicht,
kühn in eine dänische Molenöffnung schossen,
„Antares.“
Für mich gab es nie einen Grund, ein größeres
Boot zu kaufen. So sind meine Tätigkeiten
auch heute die vertrauten geblieben.
Das Schleifen und Lackieren im Winter und
der Umgang mit dem Boot ohne Motor und
wenig Komfort sind mir bekannt und angemessen
zu dem wer ich bin und sein möchte!
Es regnet rein, Mist. Aber ein bekanntes Problem,
das irgendwann auftritt. Das Persenning
kann man auf einem Rasen mit der Imprägnierung
einpinseln oder direkt an Bord? Ich
habe darauf keine Lust.
Der Segelmacher soll es bekommen und hat
die passenden Mittel, den Platz für eine wenig
angenehme Arbeit. Man kann mit dem
Auto hinfahren. Dafür tausche ich es
einfach gegen ein älteres, hole es aus
der Segelkammer am Hafen, baue um.
Es ist ein schöner Morgen, windstill.
Die Sonne scheint. Kaum Betrieb, ein
anderer mit einem kleinen Motorboot
fährt gerade los. Wir kennen uns, reden
etwas, dann tuckert er davon.
Unter dem Rumpf meiner Jolle sind
Fischbändsel gespannt. Die werfe ich
alle los und rolle den Stoff zu einem
kleinen Paket. Das lege ich auf den
Schlengel, muss die Plane noch gegen
meine andere tauschen. Ich werfe das
alte Persenning über Gaffel und Baum,
binde es an den Wanten, am Steven
fest, rolle die Stoffwurst nach achtern. Ich
führe die Fischbändsel unter dem Boot herum
und hake sie in die Kauschen. Schließlich
ziehe ich den Zipfel über die im Hafen
achtern überstehende Gaffel und winde mich
aus meiner Höhle, verschließe letzte Knöpfe,
fertig.
Das Persenning ist nicht schwer, man kann es
wie eine große Reisetasche auf der Schulter
transportieren. Ich habe mir keine Karre aus
dem Unterstand genommen und bin nun wieder
auf dem Weg zum Auto. Der Yachthafen
ist recht groß. Da gibt es einen langen Fußoder
Hauptschlengel, von dem die einzelnen
Abteilungen der verschieden großen Boote
abzweigen. Motorboote in der Regel getrennt
Jun 9, 2020 - Das wirsche Getüm 44 [Seite 44 bis 45]
von Seglern, kleine Jollen liegen zusammen
und große Yachten in ihren Boxen dort, wo
sie ihren speziellen Platz haben.
Mit der beginnenden Saison kam die Corona-
Krise. Es fanden sich nur wenige Schiffe im
Hafen ein. Ihre Eigner hatten es noch rechtzeitig
vor dem Lockdown
geschafft, sie aus
dem Winterlager zu
holen und ins Wasser
zu lassen. Wir waren
mit nur drei oder vier
Booten die einzigen
am Jollenschlengel,
und gegenüber lagen
einige Yachten hier
und da. Dann war wochenlang
kein Slippen
und Kranen möglich,
und ich ging oft ganz
allein zu meinem einsamen
„Globetrotter“,
über ungewohnt leere
Stege. Ich traf niemanden
in der großen
Anlage, wenn ich nach
dem Rechten schauen
wollte. Ich dachte an die Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl. Auch damals haben wir uns
gefragt, was eine unsichtbare Gefahr ist.
Grenzen können geschlossen werden, Häfen
– aber wenn der Mensch aufhört zu atmen,
ist er tot. Um ein Boot zu Kranen oder den
Mast zu stellen, hätte es einiger Leute bedurft,
besonders bei einem größeren Schiff.
Geselliges Beisammensein im Cockpit? Das
war nicht gewollt. Wir hatten etwa eine halbe
Stunde, uns im Hafengelände aufzuhalten.
Eine „Leinenkontrolle“ war dem Eigner erlaubt,
komplexe Arbeiten am Boot, zu segeln
oder über Nacht an Bord zu schlafen, nicht.
Wasser aus der Bilge ösen, das macht man regelmäßig.
Die Polizei stand mit einem Fahrzeug
am Beginn vom Gelände. Der kuriose
Aspekt, dass es Hamburgern untersagt war, zu
ihren Yachten zu fahren, weil der Hamburger
Yachthafen in Wedel ist und das in Schleswig-Holstein
liegt, amüsierte. Ein Pförtner
kontrollierte die Autofahrer, fragte nach dem
Grund, warum man kam: Hafen geschlossen!
Gegenüber von meinem Boot an einem anderen
schwimmenden Steg (Schlengel) hat
eine größere Yacht ihren Liegeplatz. „Reder
an Avel“ steht am Heck, und seit einigen
Jahren frage ich mich, was es heißt. Der eigene
Bootsname, wie kommt man dazu?
Ich habe den Moment genutzt, den Skipper
angesprochen. Anfangs
waren Abstandsregeln oder
Mundschutz kaum von Bedeutung,
und überall auf den
wenigen Schiffen freuten wir
uns auf die Saison. Wir rechneten
nicht damit, dass eine
Zwangspause so massiv unseren
Sport betreffen könnte,
wie es dann geschehen ist. Es
sei bretonisch, sagte mir der
Besitzer der Yacht, bedeute
„Läufer über dem Winde“, wer
hätte das gedacht?
Inzwischen sind schon viele
Schiffe aus den Bootshallen
wieder im Hafen angekommen.
Das Leben kehrt zurück,
auch an der Elbe. Corona verliert
gegen die aktuelle Realität.
Wir sind mehrheitlich gesund. Befürchtungen
der Virologen, die Pandemie könne
schnell wieder zurück kommen: Die zweite
Welle?
Das ist unsere Bugwelle, die munter plätschert,
wenn wir segeln gehen!
Als ich nun mit dem Persenn auf der Schulter
an der kleinen, schwimmende Tankstelle vorbei
komme, macht dort gerade jemand sein
Boot fest. Ich denke wieder an die besonderen
Namen von Schiffen, denn hier wird
sichtbar, wie individuell unser Hobby
ist. Dies ist kein typisches Serienschiff
das anlegt, und wie es genannt wird,
das passt irgendwie.
Ich versuche zu beschreiben.
Der ältere Mann ist ganz allein auf seinem
Boot, und auch ein Tankwart ist
nicht sichtbar. Man wird anrufen müssen,
im Laden hinten am Deich, damit
jemand kommt. Es ist fast windstill,
hohe Bäume verschatten die morgendliche
Sonne, und ein erfahrener Segler
schafft es leicht anzulegen und Leinen
anzubringen. Ein bereits zu Ende gehendes
Manöver. Unspektakulär belegt
der Besitzer noch eine weitere Leine
auf der Klampe, außen am Rand vom
Cockpit und führt sie behutsam durch
die Lippe; das ist ein kleiner Durchlass dafür,
in der Scheuerleiste, die den Rumpf gegen
das Deck abschließt. Ich muss nicht freundlicherweise
helfen?
Ich schaue nur zu: Das Schiff ist weniger groß
als heute üblich, hat aber eine Kajüte, eine
eingebaute Maschine und muss regelmäßig
Treibstoff nehmen. Das Boot sieht nach einem
älteren Eigenbau aus. Man wollte offenbar
weniger die Regatten gewinnen, sondern
mit eigenen Mitteln ein komfortables Wochenend-Hobby
pflegen. So etwas ist selten
geworden.
Das Schiff sieht sehr gepflegt aus, und der Besitzer
wirkt kultiviert und geschickt. Nur die
eckigen Formen und Aufbauten an Deck, mit
einer hoch aufstrebenden, kastigen Kajüte
mit großen Fensterscheiben, sind eigenwillig.
Wir sind heutzutage gegossenes Plastik
gewöhnt, stromlinienförmig. Eine schnittige
Bemalung ist ein Muss. Eine Nummer steht
in einem Pfeil oder einer Linie am Rumpf, die
wie beim Auto den Typ und seine Größe angibt.
Dann kann man sagen: „Ich habe eine
Soundso-36“, und alle wissen Bescheid.
Dieses Boot ist anders. Man muss an ein
kleines Häuschen mit Gartengrundstück denken,
das mit den Jahren hier und da erweitert
wurde. Ein recht individuell verbautes
Segelfahrzeug – vorsichtig formuliert – und
entsprechend amüsant empfindet der Betrachter
den Bootsnamen, der in goldenen
Klebebuchstaben das Heck ziert:
„Getüm“.
Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn, Künstler
denken anders, und so spreche ich den
Mann einfach an: „Ich muss gerade an Gerd
Vohwinkel denken“, beginne ich, und weil der
Skipper und ich einander fremd sind, schaut
der ob dieser Einleitung überrascht. „Der hat
seinerzeit für die Old-Merry-Tale ein Stück
komponiert“, fahre ich unbeirrt fort: „Wirsche
Klänge.“
Ich begreife, dass ich’s noch erklären muss.
Der Mann schaut mich inzwischen einigermaßen
verwirrt an. Ich schiebe also schnell
nach: „Ihr Bootsname, deswegen komme ich
drauf“, sage ich. Ich erkläre ihm, der Musiker
hätte gesagt, jedesmal bevor sie dieses Stück
spielten, wenn es das Wort unwirsch gäbe,
müsse es doch auch „wirsch“ geben; eine
ganz zarte, feine Musik solle nun erklingen –
Nun lacht der Mann, und beruhigt erkenne
ich, dass ich’s mir erlauben konnte, so anzufangen.
„Das
Schiff ist ja alt“,
sagt er fröhlich,
„mein Sohn war
noch klein, so
kam es zu dem
Namen …“
:)
Jun 9, 2020 - Das wirsche Getüm 45 [Seite 44 bis 45]
So wie es war
Jun 14, 2020
„Die Summe unseres Lebens sind die Stunden,
in denen wir liebten.“ Wilhelm Busch,
deutscher Dichter. So steht es im Tageblatt.
Der Spruch des Tages. Ich denke an Dürrenmatt:
„Was gedacht wurde, kann nicht zurück
genommen werden.“ Festgehalten bedeutet
für immer: Physiker sind gnadenlos und konsequent
logisch. Und die Kunst? Der Schriftsteller
hat das geschrieben, nicht etwa einer
der Wissenschaftler.
Zusammengezählt: Es gibt keine Liebe, denke
ich heute – das ist nur ein Wort. Früher glaubte
ich daran, und diese Zeit ist
ein Schatz der Erinnerung? Ein
Lernfeld, das zu üben. „Es war
doch immer klar, dass wir uns
nicht geliebt haben“, sagt der
Ex einer Freundin, wohl als Begründung,
warum er geht. Sie
schluckt nur – antwortet ihm
nichts. Sie hat es mir gesagt:
zwölf wunderbare Jahre – alles
weggewischt, mit diesem Satz.
Wegwischen kann man etwas,
Schmutz? Aber manche Dinge
kommen hartnäckig wieder zurück.
Und die Liebe, der Glaube
daran? Die saubere Liebe.
Verletzt zu werden, tut weh. Wir
können aushalten, weglaufen, uns wehren.
Wir können die Justiz anrufen. Nach der Trennung
die vergangene Zeit neu bewerten? Das
macht aus unseren früheren Gefühlen eine
Schublade mit Argumenten. Bewertung in
Zahlen: „Wir sehen uns einmal die Woche.“
(Du nimmst die Kinder vierzehntägig. Ich
zahle dir soundso viel). Richter: „Sie gehen
für drei Jahre in das Gefängnis, weil.“ Abrechnung
in Zahlen.
Ich liebte dich drei Stunden.
Geliebt zu werden, schenkt Zeit, die vor Angriffen
schützt. Empörte probieren, das Böse
insgesamt abzuschaffen, den Schmutz, Dreck,
den Abschaum des Lebens – und so viele
Menschen nehmen an, dass sie gute Menschen
sind, aber das stimmt nicht.
Wir haben Gesetze gemacht und die „Straftat“
erfunden, um Ordnung zu schaffen – aber
ob das nützt? Strafen ist der hilflose Versuch,
nachträglich in etwas einzugreifen, das rekonstruiert
nur mehr oder weniger wahr ist.
Die anschließende Bewertung: zwölf Jahre
geliebt oder nur ausgehalten? Ein paar Worte
zum Machtgewinn: Das ist ein Urteil.
Im Angesicht des Konflikts ist die direkte Lösung,
auf weitere Reaktionen zu verzichten,
die bessere Alternative. Zwanghaft zurück
schlagen oder über die Freiheit zu verfügen,
es nicht zu tun macht den Unterschied. Nur
durch Lernen können Lebewesen sich positiv
verändern. Eine Strafe ist das schlechteste
Mittel dafür. Der Mensch könnte größer als
in Worten denken. Eine Emotion auf eine
Definition zu reduzieren, bedeutet individuelle
Wahrheit komprimieren. Eine allgemeine
Formel für jedermann.
Liebe als gültigen Begriff
für alle anzusehen,
hieße dann für jeden
von uns, sie auf dieselbe
Art zu empfinden, und so
ist es ja nicht.
Wir kommunizieren oft
unbewusst auch in Gesten.
Bilder bestimmen
unser Tun. Geräusche der
Umgebung haben Einfluss.
Sinneseindrücke
und innere Befindlichkeiten,
Signale, die unser
Körper an das Gehirn
überträgt, beeinflussen
unsere Entscheidungen.
Die Qualität des Lebens
wächst mit zunehmender Freiheit, bewusst
innehalten und wählen zu können. Zu verstehen,
dass zwanghafte Reflexe unumgänglicher
Teil des Lebens sind, fällt uns immer
noch schwer.
Vom freien Willen zu reden oder davon, ein
guter Mensch zu sein und auf die Moral zu
pochen, verrät nur den Eingebildeten, der es
gewohnt ist, auf’s eigene Denken hereinzufallen,
wie bei der Selbstbefriedigung.
Das Leben zu genießen – ist bewusst nur
möglich, wenn wir unsere Überzeugung aufgeben
können: Woran wir glaubten, bis es zu
unserer persönlichen Enttäuschung wurde.
Es bleibt nur die Erinnerung – und ich kann
noch fühlen, wie es einmal war …
:)
Jun 14, 2020 - So wie es war 46 [Seite 46 bis 46]
Matilda nimmt einen anderen
Jun 17, 2020
Wikipedia: „Der Aufstand des 17. Juni wurde
von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen“,
das war einmal ein Feiertag. Vergessen:
Kein Wort davon im aktuellen Tageblatt.
Schnee von gestern, genauso: Schwarze
Leben zählen – vorbei.
Niemand will die Zeitung von letzter Woche
noch lesen. Das neue Schwarz auf Weiß ist
bunt: Grün ist im Dorf gescheitert. Die Konservativen
verhindern rote Zahlen, wir beerdigen
die Stadtwerke im braunen Acker. (Als
Friedhof ungeeignet, nicht gewollt, ebenfalls
durch Bürgerentscheid begraben). Lang ist es
her. Mit alten Farben können wir nicht malen.
Corona ebbt ab. Das wird auch Zeit, genug davon.
Ach ja, die Bauern haben das historisch
falsche Symbol genommen – schlimm!
Und, so nebenbei – dafür benötigen wir die
Zeitung nicht – eine schöne Sache: Mitte Juni,
die Zeit der mündlichen Abi-Prüfung. Dann
noch das Abschlusszeugnis. Viele sind nun
so glücklich, nicht nur die Abiturienten. Noch
besser, wenn die kommende Ausbildung
steht – Ja!
Als vor zehn Jahren das Bild „Enkelhund“
entstand, war mir nicht klar, wohin mich die
Malerei bringen würde. Zurückblickend ist es
eine nachvollziehbare Linie. Die konsequente
Suche nach der Lösung verschiedener Probleme.
Kunst erspürt den individuellen Weg,
bei dem die Antworten auf persönliche Fragen
wie Straßenschilder montiert sind. Jedes
Bild sollte so entstehen, als müsste der Maler
eine Autobahn beschildern.
Man stelle sich vor, alle fahren diese Straße,
nutzen die am Straßenrand montierten Schilder
der Autobahn und fahren wie geplant zum
Ziel. Ein Maler schaut interessierter, probiert
mehr zu sehen. Die Sicherheit und Orientierung
auf der festen Straße genügt dafür nicht.
Das ästhetische Vergnügen beim Schauen,
anstelle schnöde die Wegpunkte abzuhaken,
zeigt dem Künstler neue Inhalte für eigene
Tafeln. Wir entdecken unsere Bilder neben
den vorgefertigten Richtungsgebern.
Der Schaffende bekommt die Idee während
des Fahrens. Die Kunst ist die ästhetische
Umsetzung des Themas, eine neue Richtung
zu erforschen. Wohin das Bild deutet, wird
erst klar, wenn das Motiv fertig gemalt ist. Die
kreative Methode besteht darin, die Umgebung
individuell auszuloten, zu reflektieren.
Das fertige Gemälde wird zum Wegweiser. Es
führt zu den Aufgaben von Morgen.
Die selbst gestellte Aufgabe; wer suchet, der
findet. Wenn nichts stört, kannst du chillen
und gut ist. Wenn dir unwohl ist und du nicht
weißt, wo der Schuh drückt? Du wirst dich
auf die Suche machen. Ich erinnere mich:
Wir saßen in einem Baumarkt zusammen,
ein Kunstkreis wollte sich gründen. Man hatte
eine Kultursachverständige geladen und
in der Zeitung dafür geworben. Es gab einen
Vortrag über Kirchner. Wir erfuhren Details:
das wilde Leben der Künstler früher.
„Die waren alle nackig!“
Schmunzelnde Damen mit kultureller Vorbildung
und hobbymalende Seniorinnen,
konfrontiert mit der ausufernden Jugend
von damals! Schockierend. Der als „Enkelhund“
bezeichnete, kroch gleich zu mir und
verdöste die Erläuterungen, was der Kollege
auf Fehmarn machte (und warum) bei meinen
Füßen.
Die Hunde der anderen Leute kommen immer
zu mir. Tiere mögen mich? Eine komische Sache.
Wir hatten selbst nie einen Hund, aber
ich komme gut mit ihnen klar. Solange ich
nicht verantwortlich bin? Mein Malerkollege
Ernst-Ludwig, wieder-geboren auf der Suche
nach Frieden; das denke ich nun wirklich.
Meine Freundin hat auch einen: „Er spürt sofort,
wenn es mir nicht gut geht. Dann bellt
er alle Leute an“, sagt sie. Klar, die Ernährung
ist gefährdet, wenn Frauchen ausfallen würde.
Das wäre ein echtes Problem. Der Hund
ist kein freilaufendes Tier, das leicht Nahrung
im Gelände findet und kann selbst nicht im
Geschäft einkaufen gehen, wenn das Futter
zu Ende geht.
Erwartungen an die Kinder, sie sollen es mal
besser haben. Fördern und fordern nennt
man den Versuch zu erziehen. Wenn die Kinder
einen Erfolg nach Hause bringen, freuen
sich die Eltern. Was ist, wenn das Kind scheitert?
Da beginnt die individuelle Lösung der
Familie, und das ist verschieden gut gelungenes
Coaching.
Wer einen auffälligen Hund hat, macht ein
Training. Anschließend gibt es eine gute
Chance auf ein besseres Zusammenspiel mit
dem Tier. Die Erziehung eines Kindes wird
nicht als Spiel verstanden. Wenn das Kind im
Vergleich mit den anderen eine Verhaltensstörung
entwickelt, wird selten gut darauf
reagiert.
Der Ernst des Lebens.
Die Eltern, deren Kinder häufiger auf dem Lebensweg
stecken bleiben und scheitern, machen
die Fehler, die Hundebesitzer machen.
Es hat aber eine andere Dimension. Der Hund
wird als Begleiter nie erwachsen, im Sinne
auszuziehen und allein für seine Existenz zu
sorgen. Es hilft den Familien selten, auf die
Wahrheit hinzuweisen, dass Eltern die psychischen
Krankheiten ihrer Kinder maßgeblich
verschulden und durch ihr Verhalten erst
auf den Weg bringen.
Wir können das nicht ändern.
Wir können Eltern nicht ändern wie Hundebesitzer.
Das Problem ist zu groß, es sind zu
viele Menschen an der Zerstörung des Kindes
beteiligt. Die Erwartungen der Eltern und
die der Großeltern an das Enkelkind: keinen
Hund – bitte! (macht uns ein richtiges Spielzeug,
das wir verwöhnen können), die wie
Konkurrenz empfundene Umgebung, der mit
den Eltern befreundeten anderen Erwachsenen
– schaffen einen Rahmen. Das kann eine
Drohkulisse werden. Lehrer, dazu die anderen
kleinen Monster: Die Mitschüler stellen eine
Falle, filmen dich in deiner Peinlichkeit.
Ein Krieg kann das sein.
Wenn dein Leben auf einer schiefen Bahn
verläuft, bleibt es so. Die anderen werden immer
erwachsen sein. Sie werden dich tracken,
aus der Deckung provozieren, bis du im Knast
oder in der Klapse gelandet bist. Sie werden
sich damit brüsten, dass sie es waren, die für
Ordnung sorgten. Anschließend gehen sie als
die besseren Menschen demonstrieren: Black
Lives Matter oder sowas. Fassaden werden
wie Schilder vor Existenzen gestellt, meine
Familie, unser Haus, unsere Ansichten: was
sich gehört. Die Natur ist immer aktuell verkleidet.
Wir rufen die Bäume freundlich an,
wie es empfohlen wird?
Der Schilderwald verzerrt sein Echo.
Wir müssen uns um die Kinder und jungen
Erwachsenen kümmern, ja – aber am Besten
ist es, wenn Menschen mit Problemen selbst
den Weg finden, der diese Probleme löst. Es
gibt keine bessere Lösung, als Angebote zur
Selbsthilfe wie Plakate aufzustellen. Genau
das tut die Natur. Die neue Landschaft ist
menschlich verbaut. Statt See und Wald, wo
kleine Kiesel einen Weg begrenzen, folgen
wir digitalen Medien. Anstelle Wiese und
Fluss mit ihren natürlichen Wellen, das Fahrwasser
bedrohlich verschlickenden Sandbänken,
mäandern uns die sozialen Ströme unserer
Nächsten. Jeder von uns ist so ein Schild,
durch das was er sagt und wie er sich gibt.
Meine Bilder sind wie Landmarken, die ich in
der Natur sehe und erst begreife, wenn sie
festgehalten sind.
Themen tauchen auf, ich nähere mich ihnen
an, male und verstehe, runde sie wie eine
Wendemarke in der Regatta meines Lebens.
Ich navigiere damit auf einen neuen Kurs
im aufgewühlten Meer. Die nächsten Ideen
warten schon. Hinter der gekrümmten Kim
kommen sie hoch. Erst eine Ahnung nur, ein
freundliches Segel im Kieker oder ein Riff,
ein Trugbild im flirrenden Licht – ist es gerade
meine Zukunft?
Das zeigt sich dann.
Suchen und kreativ sein. Das kann ich empfehlen,
und das ist besser, als andere nachzuahmen.
Es ist müßig, die Fehler der Menschheit
anzuprangern, weil wir machtlos sind,
alles auf einmal zu ändern. Demonstration:
„Ich bin ein guter Mensch?“ Es bedeutet,
sich mit einem Etikett zu schmücken: die
Armut ist schlimm, die Natur wird versaut
und Fleisch zu essen ist verkehrt und mehr.
Die Themen dafür wechseln, die Farben der
Fahnen ändern sich. In jeder Umgebung ist
innere Stärke einzelner Mitglieder möglich
und besser, als eine neue Maske aufzusetzen.
„Gesellschaft“, das bedeutet eine böse und
feindselige Umgebung – aber auch die guten
Wege, die wie eine Treppe aufwärts führen.
Oben ist nicht etwa viel Geld oder Macht,
oben ist es angenehmer, wärmer und freundlich.
Da sind die anderen Menschen sympathisch,
und man beruhigt sich.
Oben kann, so verstanden, räumlich wirklich
überall sein.
Die verhaltenskranken Menschen werden um
die Liebe betrogen, das ist der Grund, der sie
verstört. Sie werden nicht geliebt, sie können
keine Liebe geben und kennen den Grund
nicht. Kranke Menschen werden um ihr Leben
beschissen, wie die jungen Soldaten: „And
the Band Played Waltzing Matilda.“
Es gibt Umgebungen, denen kannst du dich
nicht entziehen, und dann wird dein Leben
ein Krieg sein, solange, bis du den Ausgang in
eine bessere Welt gefunden hast.
:
Jun 17, 2020 - Matilda nimmt einen anderen 47 [Seite 47 bis 47]
Party bei Greta!
Jun 21, 2020
Sonnenwende mit Greta, alle sind nackt! Zitat
des Tages, Morgenpost am Sonntag: „Die Kaiser
sind nackt, jeder einzelne von ihnen. Es
zeigt sich, dass unsere ganze Gesellschaft nur
eine große Nudistenparty ist.“ Klimaaktivistin
Greta Thunberg über Politik und Wirtschaft in
der Klimakrise.
Worte sind wie Kleidung. Eine Rüstung oder
ein Schmuck, Kommunikation ist mehr oder
weniger manipulativ. Damit
ist das Böse, die Lüge
nämlich, unser allgemeines
Erbgut, eine Fähigkeit
für jeden. Alle lügen, und
es gibt nur böse Menschen,
das heißt es wohl.
Damals, die ersten Nudisten
ziehen sich an, das
Tier wird zum modernen
Neandertaler, dem Cro-
Magnon-Menschen, dem
Homo sapiens – oder wie
auch immer wir das heute
nennen. Wir waren nicht
vor Ort, wissen nicht, wie
die damalige Sprache
klang und kennen die
Namen unsrer Vorfahren
nicht wirklich. Wir stellen
Funde zusammen und rekonstruieren
etwas, das wir
nur bruchstückhaft kennen,
eine beschränkte Wahrheit
wie immer. Felle werden
wärmend umgehängt, Erzählungen
von der Jagd,
sie werden farbig ausgeschmückt
von dem Moment
an, wo der Mensch menschlich
wird.
Wir stellen uns die Anfänge
vor. Eine kleine Siedlung
mit den ersten unserer
Gattung, ein Feuer brennt.
Zelte aus Tierfellen sind
aufgestellt, eine Höhle mit
Vorräten ist im Hintergrund
vom Lagerplatz und einige
mehr oder weniger nackte
Gestalten hocken rum. Kommt ein Jäger aus
dem Wald zurück, die anderen schauen interessiert:
„Humm, humm, keine Beute wir fragen?“
Der Jäger antwortet: „Ähem, hem … nix
Tiere gewesen im Wald.“
Es kommt nicht auf die Grammatik an. Seit
wir kommunizieren, lassen wir weg, stellen
Erlebtes da, wie es unsere Art ist, berichten
nur mehr oder weniger wahr. Zur Wahrheit
gehört so unglaublich viel, und wir kennen
sie ja gar nicht! Nehmen wir an, dass der
Jäger stundenlang nach vorn geschaut hat.
Hinten hat er keine Augen. Zu seiner Wahrheit
im Wald gehört, dass er vom Wald nur
wenig mitbekommt.
Bei den anderen angekommen meint er:
„Ich habe keine Tiere gesehen.“ Dann sagt er
nicht: „Alles war voll mit Bäumen, und das
Licht schien durch die Zweige und meine
Füße versanken im weichen Boden“, weil das
die Hungrigen nicht interessiert.
Heute: Greta hat immer recht, sie ist die Wahrheit
selbst. Das ist ihr Beruf. Die Wahrheit, sie
steht neben dem Jägersmann, sagt den anderen:
„Hinter ihm ist ein großes Wildschwein
durchs Dickicht gebrochen, aber unser Jäger
hat gerade nichts davon mitbekommen, war
anderweitig beschäftigt.“
Greta findet alle bedrohlichen Nachrichten
für uns zusammen, sie mobilisiert uns, weil
wir gerade keine Zeit haben, uns nicht kümmern.
„Wir nehmen einen anderen, aufmerksameren
Jäger“, sagt sich die Sippe, als sie
begreift: „Mit diesem Schnarchzapfen werden
wir immer Hunger leiden!“ Das werden auch
wir heute bald merken, dass wir handeln
müssen. Greta Thunberg sagt nur Wahrheiten
weiter. Einem nerdigen Wissenschaftler hört
man ja nicht zu. Einer nerdigen Schülerin
schon. Sie kehrt ihr Innerstes nach draußen,
wenn sie für uns über das Meer segelt oder
vor Trump ausrastet.
Danke.
Wir müssen Greta verzeihen, sie ist genauso
nackt, und vielleicht weiß sie es nicht – sie ist
gerade erwachsen geworden. Eine gesunde
Gesellschaft ist auf die Jugend angewiesen,
besonders, wenn die Alten ihre Jugendlichen
krank machen. Erwachsene nennen diagnostisch
Störungen, verwenden ein wichtiges
Wort wie eine Waffe gegen ihren eigenen
Nachwuchs. „Autist!“, sagen sie, „Borderline“,
was ihnen gerade recht ist. Sie vergrößern
die Gefängnisse und psychiatrischen Krankenhäuser.
Sie probieren die lebenslange Gehirnwäsche,
sie füttern Medikamente, mehr
als nur ein ganzer Wirtschaftszweig lebt von
anderen Menschen, die sich gängeln lassen.
Wir schaffen unsere Außenseiter selbst, wir
drücken sie jedes Mal wieder raus aus unserer
Mitte, wenn es scheint, dass sie unsere
Jun 21, 2020 - Party bei Greta 48 [Seite 48 bis 49]
Wahrheit gefährden können. Manipulation
macht krank, und wenn wir modern von Fake
reden, das haben wir immer schon gemacht.
Laura: „Leute, ich war Titelseite Playboy!“ Das
gibt junge Frauen, die scheren sich nicht um
die Natur, sie sind gesund in geilen Klamotten
unterwegs und genießen ihre Jugend einfach.
Sie möchten nicht im Mittelalter vegetieren
oder heute vegan speisen, weil es als
besser gilt. Moral predigende Zeitgenossen
bewerten hier falsch und da ebenso: Manche
nennen Greta Thunberg autistisch oder krank
nach Asperger. Das sind diejenigen, die ihre
Wahrheit nicht ertragen können.
Deren Pseudo-Gesundheit möchte
ich nicht haben.
Vom eigenen Körper leben, weil ein
junger Mensch mal schön anzusehen
ist oder davon, die Wahrheit
der Wissenschaft zusammenzuklauben
und dabei ein kiebiges Gesicht
machen; mit den sozialen Medien
gelingt die Performance im Home-
Office.
Kreativ bleiben!
:)
Jun 21, 2020 - Party bei Greta 49 [Seite 48 bis 49]
Zuschauen geht immer …
Jun 26, 2020
… verarscht für immer.
Etwas ging kaputt. Meine Geschichte mischt
sich mit der Gegenwart: „Hey, ich treffe mich
jetzt mit einer Freundin und bin (…) zu Hause,
dann können wir gerne los in die Kunsthalle.
Ich schreibe dann nochmal. Bis später!“
Pause im Leben.
Es gab noch die Zukunft. Ich habe daran geglaubt,
meinem Leben eine grundsätzliche
Wendung geben zu können, als hätte ich
selbst aktiv die Chance dazu. Das wird ja
immer behauptet: Lebe deinen Traum und
solche Sachen. Nur die Hauptfigur im Roman
darf darauf hoffen, dass ein Märchen wahr
wird. Bäume bilden neue Äste aus, aber sie
gehen nicht fort: in einen anderen Wald, auf
eine Wiese hinter dem Horizont.
Die schöne Künstlerin – verplantes Theater –
kramt hektisch, kann den Studentenausweis,
der zur Ermäßigung an der Kasse geführt
hätte, nicht finden. „Sie studiert in Schottland!“,
sage ich eifrig, unterstützend.
Ich erinnere mich, als wäre es Gestern; sie
ist der liebenswerte Chaot! „Ich muss lernen,
mich besser zu organisieren“, sagt sie in so
einem Fall. Die Überzeugung mit der ich’s
vorbringe: „Edinburgh“, genügt an der Kasse.
Man glaubt uns: Wahrscheinlich Vater mit
Tochter (beide rothaarig). Ich bezahle für uns
zwei. Vorbei – so ein schöner Tag war das. Vor
einigen Jahren besuchten wir die Kunsthalle
in Hamburg.
Dann, daran anschließend und kaum geplant,
herumlaufen. Wir nutzen den Rest, der vom
Tag noch übrig bleibt, für eine Verlängerung
der Zeit. Hauptsache reden und gehen, ein
orientierungsloses Kreuzen in der City, rund
um den Bahnhof: „Wo ist wohl ein Café, warst
du hier schon mal, wo ist das Klo?“ Grüner
Tee, Kaffee trinken. Ein paar Skizzen machen,
schauen: Haare hoch, dann wieder offen
… wir fahren mit dem Bus. Die Erinnerung
bleibt, und nie mehr gehe ich in so eine Halle,
die voll ist mit guten Bildern. Die sind alle
in meinem Kopf.
Früher habe ich gute Bilder geliebt. Als Student
lernte ich die qualitativen Unterschiede
gelungener Komposition, die Schönheit
gekonnter Malerei der verschiedenen Stile
verstehen. Ich war häufig in der
Kunsthalle am Hauptbahnhof.
Heute mache ich einen Bogen
um faszinierende Kunst. Die
armseligen Bildchen der HobbymalerInnen
kann ich anschauen.
In hochkarätige Ausstellungen
gehe ich nie mehr, aber nicht
wegen der Pandemie.
Posthum gewürdigt, der geniale
Fotograf und seine wunderbaren
Porträts: Die Lindbergh-Ausstellung
wird im Fernsehen beworben?
Das zappe ich sofort weg.
Ich ertrage gute Kunst nicht, aus
Ärger über verlorene Werte. Ich
kann das nicht rückgängig machen.
Es ist die grundsätzliche
Abrechnung mit der Vergangenheit,
Schluss machen. Nie ins Kino! Begeisterungsfähigkeit
wird meiner Gesundheit
gefährlich, eine Grundsatzentscheidung: Empathie
und dergleichen ist ein Unkraut, das
tunlichst beseitigt wird.
Etwas zu glauben, hat mit Vertrauen zu tun.
Partnerschaften ohne jedes Vertrauen in das
Gegenüber sind undenkbar. Ausgeklügelte
Verträge werden erdacht, um Beziehungen
zu gestalten, bei denen es um viel Geld geht.
Aber in meinem Fall
hat Geld keine Rolle
gespielt. Da sind grundsätzliche
Werte verloren
gegangen. Liebe, das
wäre ja noch mehr, als
sich nur zu mögen. Darüber
müssen wir nicht
reden. Meine Grenze
ziehe ich früher, schmeiße
jede pauschale Unterstützung
für andere
(weil es sich gehört)
weg. Ich kann freundlich
sein. Ich bin fröhlich.
Aber nicht immer.
Mein Vater wurde 1932
geboren. Er hat sich immer
über den typischen
Unterricht der Schulen
geärgert, uns Kindern
würde die Geschichte
verdreht. Adolf Hitler
wäre in jedem Fall an
die Regierung gekommen,
und wenn nicht er, dann jemand anderes
mit ähnlicher Strategie. Die diabolische
Sogwirkung des Demagogen relativierte er
gern mit seiner Ansicht, die zerstrittene Demokratie
der Weimarer Republik hätte den
Nährboden für eine radikale Politik gelegt.
(Mein Vater gefiel sich darin, Zeitzeuge zu
sein, und er war politisch ungebildet).
Erich vertrat die Auffassung, dass die Nationalsozialisten
zwingend an die Macht kamen,
ob nun mit Hitler oder einem anderen Führer.
Allgegenwärtig war Chaos gewesen. Straßenschlachten
verschiedener Gruppierungen,
Schlägereien in der Kneipe, eine instabile innenpolitische
Lage ging dem Nazi-Übel voraus.
Der unbeteiligte Passant auf dem Bürgersteig
war nicht sicher. Seine Mutter wäre
mit ihm im Kinderwagen in einen Hauseingang
geflüchtet, erzählte mein Vater. Meine
Oma Lina, die wir ständig um uns hatten und
unsere ganze Familie bekochte, da meine
Eltern in ihrem Geschäft arbeiten mussten,
bekräftigte das detailreich, wenn wir mittags
zusammen saßen.
Natürlich erinnerte mein Vater sich nicht
selbst. Seine Eltern hatten es ihm erzählt,
als er ein wenig älter war, weil sie erklären
wollten, warum Adolf Hitler zum „Führer“ der
Deutschen wurde. Schon als Baby nebenbei
erschossen zu werden und dann in der Folge
gar nicht gelebt zu haben, hatte seine Fantasie
aufgewühlt. Er hat es immer wieder erzählt:
Schießereien zwischen Kommunisten
und Nationalsozialisten auf offener Straße
waren typisch. Eine Kugel hatte das Verdeck
durchschlagen! Wenige Zentimeter tiefer, und
es hätte unseren Vater Erich (und damit auch
die Familie) nicht gegeben.
So wurde das in der Küche erzählt, wenn wir
alle Mittags zusammen kamen. Wir hörten
diese Geschichte oft. Es gab noch Steckrübeneintopf,
wie in der schlechten Zeit, und
meine Oma wusste, wie man das kocht.
„Adolf Hitler konnte im offenen Wagen durch
die Massen fahren, und die Leute jubelten“,
erzählte mein Vater. Ich glaube, dass ihn vor
allem schockierte, wie begeistert die Gesellschaft
von ihrem Führer gewesen war und
uns Kindern in der Schule beigebracht wurde,
das Böse selbst an dieser einen Person
Hitler festzumachen.
Der Beliebtheitsgrad
eines Anführers als
grundsätzliche Täuschungskraft:
Der
konnte offen fahren
– und Kennedy hatte
jemand erschossen.
Man muss nicht Politik
studieren, um
diese Relativität erstaunlich
zu finden.
Mein Vater begeisterte
sich für Adenauer
und Erhard
und wurde überzeugter
Demokrat.
Je älter er war, desto
mehr kollidierten
seine idealisierten
(und durch das selbst
erlebte Wirtschaftswunder
angefachten)
Leitbilder mit
der Realität. Individuelle
Enttäuschungen
nahm er zum Anlass, anderen dafür die
Schuld zu geben. Das hatte genau genommen
wenig mit der Politik zu tun, aber die
Bundesrepublik hatte immer offensichtlichere
Fehler. Er war kein hilfloses Baby mehr im
Jun 26, 2020 - Zuschauen geht immer ... 50 [Seite 50 bis 51]
Kinderwagen, wollte und
durfte mitbestimmen. Seine
Erwartungen an die Gesellschaft
waren hoch. Es war
Krieg gewesen, dann immer
besser geworden, und
nun gab es Widerstand. Das
passte ihm nicht. Er begann
zu maulen, lehnte pauschal
viel ab. Persönliches
mischte sich mit objektiven
Beurteilungen auf bedenkliche
Weise. Ich bekomme
heute eine Ahnung, wie es
sich angefühlt haben muss.
Wir sind anfällig dafür, die
anderen zu beschuldigen. Die Gesellschaft
straft ab. Selbstgerechtigkeit ist ein gefährliches
Unkraut, und durch Bestrafung wächst
es noch hoch.
Menschen sind in der jeweiligen Gegenwart
so gut nicht. Die sich daran begeistern, die
Vergangenheit neu zu bewerten und Straßen
oder eine Kaserne umbenennen, werden
kaum verhindern, dass Massen zornig aufbegehren,
wenn der Lebensstandard in Gefahr
ist.
Die schöne Neue Welt hat das Virus. Meine
Kunst ist die Beobachtung. Ich schaue hin,
heute ist immer: Die Spitze fährt offen. Politik
zum Anfassen hier im Dorf, eingefrorene
Strahlkraft, schön wie fotografiert. Beliebt.
Fährt mal grün, mal rot, mal offensiv – die
Bürgerin für ihre Bürger laviert gekonnt.
Das großartige Plakat radelt vorbei.
Sie muss lächeln.
Ich kann.
Die Freiheit bleibt der Kunst: Ich werfe mein
Leben weg, jeden Tag. Es geht ohne leitende
Ideen, den moralischen Anspruch, alte Vorbilder.
Ich opfere meine Ideale, kann die Vergangenheit
zurück lassen und fahre auf Sicht. Es
gibt keine Zukunft, das denke ich und arbeite
nicht für Geld, nicht für Anerkennung, nicht
für die Liebe in einer Beziehung. Ich male,
weil der Alltag erträglich wird, wenn man
tut, was man kann. Je weniger lang meine
Zukunft sein wird, desto besser. Warum Menschen
gerne leben? Das sagen ja viele – ich
glaube, sie sind einfach unbewusst ihrer Gefühle
und schlicht dumm. Ich lebe nicht, ich
überlebe; und kann das sogar genießen. Wie
lange noch, ist nicht wichtig.
Da wir uns das schwerlich aussuchen können,
wir schalten uns nicht einfach ab und
können genauso wenig die alten Träume
wieder lebendig werden lassen, bleibt die Arbeit
an einer Fähigkeit als verbleibende Befriedigung.
Der Wunsch gemocht zu werden,
ist eine Schwäche, die ausgenutzt wird und
schließlich der Grund für pauschalen Hass.
Zurückgewiesen oder vorgeführt zu werden,
zeigt die Undurchschaubarkeit menschlicher
Gefühle, da immer viele verschiedene Menschen
und deren persönliche Vorteilsnahme
unsere Wünsche zu Fall bringen. Wir scheitern
an der Spitze des blonden oder rothaarigen
Eisbergs. Wir kennen die Motive dahinter
nie.
Das Leben zu genießen,
ist einzig
möglich in der
Perspektive, die
alten Werte jeden
Tag wegzuwerfen.
Beinahe
die Bereitschaft,
die Existenz täglich
aufs Spiel
zu setzen, um
Enttäuschungen
wider besseren
Wissens vorzubeugen.
Dem
einzelnen Gegenüber
misstrauisch bleiben, oberflächlich
zu plaudern, bedeutet dem großen Ganzen
mehr Vertrauen entgegen zu bringen. Der
Glaube daran, dass letztendlich das Gute
siegt, gelingt eher mit Selbstvertrauen und
Distanz zum Partner.
Eine bittere Erfahrung.
Aus Erfahrung klug werden, bedeutet innehalten
zu können und die Bereitschaft dafür
auszubilden, einen anderen Weg einzuschlagen
als gewohnt. Wählen zu können oder
eine Wahl, die mir individuell und emotional
gar nicht nützt, zu verweigern, heißt selbst zu
entscheiden. Das ist zu trotzen und Gift für die
Gesellschaft, Anarchismus
für Stubenhocker, und es
befüttert die Parolen, die
früher am Stammtisch
Eindruck gemacht haben,
im Netz. Kultivierte Pubertät
und die Chance,
sich auf die speziellen
Fähigkeiten zu besinnen:
Können bedeutet, etwas
nicht zu müssen, und diese
Freiheit macht spontane
Fröhlichkeit erst
möglich. „Soziale“, nach
Möglichkeit angepasste
Menschen, die sich am
Allgemeinen ausrichten
und definieren, bleiben
gefangen in Ansprüchen.
Sie zeigen mit dem Finger
auf andere, bemerken
ständig Verstöße. Eine
leichte Übung, die sie
befriedigt und dazu verleitet,
das eigene Leben
zu verpassen. Sie dürfen
nicht egoistisch handeln
und müssen doch um die
Macht kämpfen. Das Vermeiden
von Angst und
Hass wird ihr Dauerlächeln: Ehrenamtliche,
Politiker, Polizisten und Kirchenleute müssen
von Beruf her das moralisch Gute vertreten
und scheitern nicht selten an der Größe dieser
Aufgabe.
Vertrauen in die Politik, die Ordnungskräfte
und die selbstverständlichen Freundschaften,
das hat Schaden genommen. Der Verlust
meiner natürlichen Fähigkeit, erst einmal
emphatisch auf andere zu reagieren, scheint
mir endgültig. Ein Vergleich mit der bedrohten
Natur drängt sich auf: Als wären die
vertrauten Haustiere Hund, Katze und Pferd
unwiederbringlich ausgestorben wie der
Brontosaurus.
Dinosaurier brauchen wir ja nicht.
Es geht zu leben ohne alles. Ein Krieg, und
die Einschläge sind näher gekommen. Alte
Freunde wurden getroffen. Bleibt nur, zu arbeiten.
In meinem Fall bedeutet es zu malen,
die Kollegen ignorieren. Meiner früheren Begeisterungsfähigkeit
keinen Raum zu geben,
ist nicht etwa Ignoranz. Das ist Selbstschutz.
Die Gesellschaft ist das notwendige Übel. Die
Demokratie – schön, dass es sie gibt. Früher
war ich begeistert davon, aber ich empfinde
nichts mehr. Ihr bringt meine Visionen zu Fall
und ich eure.
„Dagegen“ geht immer.
In Stuttgart gibt es auch eine Kunsthalle wie
in Hamburg, aber es heißt nicht „Halle“ – die
haben was Besseres: die Staatsgalerie! Ich
war schon drinnen; früher bin ich gern gegangen.
Bei uns auch häufiger, man kann mal
eben mit der S-Bahn hinfahren. In Hamburg
bin ich zu Hause, und hier kenne ich mich aus.
Die aktuellen, aggressiven Bilder aus Baden-
Württemberg ähneln denen vom G-20-Gipfel
bei uns, und mich wundert es nicht. Jeder hat
in den letzten Jahren seine Erfahrungen mit
Enttäuschungen gemacht, viele beklagen
den Werteverlust. Einige haben die persönliche
Form für ihren Zorn finden müssen. Da
ist entsprechend der jeweiligen Existenz eine
ganze Bandbreite von mehr oder weniger extremen
Ausbrüchen
in unsere
Welt gekommen.
Der Bundespräsident
wirkt wie
ein Zauberkünstler,
dem nicht
klar ist, dass wir
seine Tricks bereits
kennen.
Ein Komiker, der
Witze von Gestern
erzählt, und
wenn er Werte
beschwört, lachen
die Leute.
Einige lachen
nicht, sie treten
zu. Der hilflose
Staat bemüht die
längst verpufften
Ideale der Alten,
die noch wussten
wofür sie
kämpften, was sie
motivierte, etwa
zu malen oder
schlicht Brötchen
zu verkaufen, und
andere rufen heute nach harten Strafen. Bedenklich.
Wertschätzung ist zu einer Worthülse
geworden. Werte sterben aus, wie der
Glaube an den Weihnachtsmann.
Die neue Gesellschaft wird erwachsen sein –
oder in naiver Herde untergehen.
Schaun wir mal – (zu).
:
Jun 26, 2020 - Zuschauen geht immer ... 51 [Seite 50 bis 51]
Peng passiert halt mal
Jun 28, 2020
Viele Wege führen nach Rom. Das sagt man,
wenn jemand von der Lehrmeinung abweicht
und etwas trotzdem schafft. Es kann Spott
dabei sein: „Du hättest es leichter haben können,
aber – viele Wege führen nach Rom, angekommen
– herzlichen Glückwunsch.“
Sich das Leben schwer machen; mir hat einmal
ein Berater erzählt: „Ich komme in die
Werkshalle, um mir einen Eindruck zu verschaffen,
und das Erste was ich sehe – “, dann
kamen die unmöglichen Details, die ich nicht
mehr erinnere. Für Fremde ist es oft leicht,
einen Fehler zu bemerken, der im Geschäftsbetrieb
viel Geld kostet. Gewohnheit kann
problematisch sein, betriebsblind ist das
Wort dafür, wenn eine Firma unnötig Geld
verbrennt.
Die Firma als ein System macht unbemerkt
Fehler, weil die Abläufe der einzelnen Abteilungen
aus der Sicht der jeweiligen Mitarbeiter
dort durchaus Sinn machen. Der einzelne
Mensch unterliegt demselben Problem, nicht
das Beste für sich zu tun, sondern das Gewohnte.
Wohin ein Mensch als nächstes geht,
seine Entscheidungen für gerade diese Aktivität,
mit der er jetzt beginnt, ist nicht immer
nachvollziehbar für andere. Die Motivation
die schließlich zum Impuls führt, wirklich
zu beginnen, findet ihre Parameter im Spannungsfeld
zwischen Lust und Pflicht und der
Zeit, die eine Handlung benötigt.
Der Mensch wird probieren, einen zukünftigen
Ort der Verbesserung zu erreichen. Der
Ort ist im Raum der Zeit
zu verstehen, weniger
gebunden an den begehbaren
Raum, in dem
wir uns befinden. Ein
Individuum bewegt sich
auf zweierlei Art: Wir
beschreiten den Boden
und wir gehen in der
Zeit voran. Das tun wir
auch, wenn wir eine Woche
herumliegen. Das
waren die letzten Zeitmeter
meines Vaters:
„Ich bleibe jetzt einfach
im Bett, bis ich tot bin.“
So ist es gekommen,
aber die letzten Wochen
waren unerträglich (für
alle).
Einige haben sich selbst getötet, erschossen:
Ernest Hemingway nahm sein Gewehr dafür.
Adolf Hitler hatte eine Pistole und zusätzlich
Gift genommen? So wird es vermutet. Mein
Vater hatte keine Waffe, und niemand war
bereit gewesen, ihm etwa ein Kissen auf das
Gesicht zu drücken, damit er ersticken würde.
Er hat nicht darum gebeten. Er lag in seinem
Bett im Altersheim und aß wenig, blieb deprimiert
und wortkarg und hoffte auf eine
Erkältung, die zu einer Lungenentzündung
führen würde? Damals gab es noch keine
Corona-Epidemie.
Im Film sehen wir die verschiedenen Suizid-
Themen. Es gibt wiederkehrend Szenen, wo
Menschen mit dem letzten Schritt hadern
und auf einem Haus oder Brücke mit sich
ringen, es zu tun. Das Thema fasziniert, auch
die moderne Form der in einigen Ländern erlaubten
Tötung auf Verlangen.
Im Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ endet
das Leben eines Protagonisten mit einer Art
Gnadenschuss, um das unvermeidliche Ende
zu beschleunigen. Der Wildwest-Mann leidet
seit geraumer Zeit, ohne es seinem Freund
mitzuteilen, still an einem nach Schießerei
(mit den Feinden) stecken gebliebenen Projektil
im Unterleib.
Es braucht mehr als eine Gelegenheit abzudrücken.
In der Zeitung findet sich gerade
diese Schlagzeile: „Polizist verliert schussbereite
Waffe“, und im Text erfahren wir, dass ein
aufmerksamer Bürger das Ding schließlich
gefunden und korrekt abgegeben hat, nachdem
die (vermutlich gestressten) Beamten
erfolglos blieben. Dumm gelaufen, aber gut
ausgegangen, und das LKA droht in diesem
Artikel auch gleich, dass, wer eine schussbereite
Waffe fände, sich strafbar mache, wenn
er die nicht bei der Polizei abgibt. Liegen sie
oft an jeder Ecke, können leicht versehentlich
aus dem Holster purzeln?
Schussbereit ist so eine Pistole, wenn sie
geladen ist und entsichert. Dann muss man
seinen Finger krumm machen und einen
Druckpunkt überwinden. Schließlich kommt
es darauf an, das Ding wirklich gut festzuhalten
und sauber zu zielen. Beim Schuss reißt
es die Waffe in der Hand hoch. Es ist auf Anhieb
kaum möglich, gut und genau zu treffen
und muss deswegen wirklich geübt werden.
Einige Hürden sind zu überwinden, um damit
gezielt zu arbeiten. Nicht zuletzt kostet es
Überwindung, einen Menschen zu verletzen
im Ernstfall. Dem
Sportschützen liegt
daran, eine Getränkedose
oder eine
mit Kreisen gekennzeichnete
Scheibe
zu treffen, aber es ist
eine Waffe, mit der
jemand töten kann.
Was ist der Tod, und
warum werden Suizide
mit einer Pistole
begangen? Ein
Grund dafür ist die
Schnelligkeit mit der
das Ende erreicht
wird und die Zuverlässigkeit
des Todes.
Aus dem zweiten
Stock zu springen, kann zu verkrüppelten
Beinen führen und nicht zum Tod. Eine gute
Planung ist anzuraten, keine halben Sachen.
Für meinen Vater war der Zeitpunkt guter
Planung längst verstrichen – alt, schwach
und depressiv lag er da und ohne jemals eine
Waffe besessen zu haben (außer vielleicht
eine Seenotpistole an Bord). Als er im Heim
gelandet war, hatten meine Mutter und ich
das Schiff längst verkauft. Und ob seine rote
Seenotmunition überhaupt geeignet gewesen
wäre?
Quickborn: „Gute Gelegenheit“, das wäre die
Schlagzeile gewesen, auf die er gewartet hat
(mal eine Waffe herumliegend zu finden). Es
kommt auch darauf an, wohin man damit
schießt. Es wird empfohlen, den Lauf in den
Mund zu stecken und schräg nach oben in
Richtung auf das Gehirn zu zielen. Natürlich
darfst du nicht verreißen! Dann tritt die Kugel
aus der Wange aus und es gibt jede Menge
Schmerzen, Ärger mit den Verwandten
und Freunden und eine noch beschissenere
Zukunft als sowieso schon.
Bevor man abdrückt, nachdem die Waffe
geladen wurde, muss sie entsichert werden.
Das ist ja auch im übertragenen Sinne beim
Selbstmord an sich die Problematik. Der Weg
durch die Tür, die uns ins Jenseits führt, ist
durch unsere Unfähigkeit, leichthin fort zu
gehen gesichert. Man macht es nicht mal
eben. Es braucht mehr als einen Grund, beherzt
zu springen, schießen oder wie man es
eben tut.
Die Motivation an sich: Was ist das Bessere
daran zu sterben, wenn es noch einen Weg
gibt, der zu einem guten Essen führt, zum Sex,
zu viel Geld oder einfach dorthin, wo es warm
und trocken ist?
Die ganz persönliche Perspektive.
Wer probiert in den Tod zu gehen, hat den
guten Grund dafür klar vor Augen, so viel ist
mal sicher. Das mag objektiv anders bewertet
werden, ist aber theoretischer Blödsinn
von Menschen, die typischerweise selbst so
weit nie denken konnten. Wenn es der Natur
sinnvoll dienen würde, hätte jedes Lebewesen
einen Schalter in Reichweite hinter dem
Ohr, am Hintern oder am Hinterkopf. So eine
Art Pistole für jeden im Schrank zu Hause.
Jun 28, 2020 - Peng passiert halt mal 52 [Seite 52 bis 53]
Die Verfechter des „Sterben-Auf-Verlangen“
können sich möglicherweise nicht wirklich
in die Perspektive einer bewussten Tötung
hineinversetzen, aber sie selbst sind fest davon
überzeugt, dass es not tut, angeboten zu
werden.
Sich im gesunden Alltag dabei zu
beobachten, warum man gerade dieses
tut, wozu man sich entschlossen
hat und nicht etwas anderes, mag
helfen, besser zu verstehen. In das
Meer hinaus zu gehen, schließlich
zu schwimmen – und dann wird es
kalt. Nun durchhalten. Immer weiter
weg vom Land schwimmen; da wäre
so ein Knopf hinter dem Ohr doch
wohl praktischer, warum haben wir
das nicht?
Das Leben hat diese Sicherung eingebaut:
Es fällt uns mehr als schwer,
es selbst zu tun. Gerade deswegen
entsteht dieser Wunsch nach Erlösung.
Gott oder der Arzt möge es
(endlich) tun.
Abwarten, das Leben ertragen, wo
auch immer – ist ein guter Rat. Niemand
weiß was auf der anderen Seite
wirklich kommt. Wir lernen: „Der
Tod ist sicher, die Stunde ungewiss.
Mors certa, hora incerta.“ Alternativ: „Todsicher
geht die Uhr verkehrt, Herr Lehrer“, übersetzt
Fritz das (im bekannten Witz).
Wie auch immer es richtig heißt.
Ein schlechter Witz: Dienstpistole mal aus
Versehen verloren, wo auf der Straße liegengelassen
– und strafbar ist, die mit nach
Hause zu nehmen? Alles klar. Wieder was
gelernt vom LKA – und dem unverzichtbaren
Schenefelder Tageblatt.
:)
Jun 28, 2020 - Peng passiert halt mal 53 [Seite 52 bis 53]
Und du begreifst nicht einmal, warum
Jul 3, 2020
Stürmer und Verteidiger gebe es, meinte
mein Vater. Er spielte selbst kaum Fußball,
ging aber ins Stadion, traf sich mit Freunden
anschließend in einer Kneipe, fachsimpelte.
Das mit den Stürmern und den Verteidigern
war ein auf das Leben bezogener Sinnspruch,
mit dem er gelegentlich probierte, Eindruck
zu machen. So konnte er im Gespräch beginnen,
wenn ein neues Thema diskutiert wurde.
Die Welt in zwei Sorten Mensch aufzuteilen,
schafft Ordnung.
Ich komme oft an einer Bettlerin vorbei, die
immer wieder an einer bestimmten Stelle der
Straße sitzt. Wenn es regnet, verlagert sie ihren
Platz ein wenig unter den Dachüberstand
des gegenüber liegenden Gebäudes. Dort
wird sie aber weniger gesehen, es ist nur ihre
zweitbeste Stelle. Das ist eine kleine Frau, in
bunt gestückelter Kleidung mit olivgrünem
Grundton, etwa in meinem Alter, und die
deutsche Sprache beherrscht sie kaum.
Sie hat ein schmuddeliges Schild aus Pappe
aufgestellt, einige Gründe für ihre Not stehen
darauf. Mit einem Becher in der Hand sitzt sie
auf einem Kantstein für ein Blumenbeet und
ein farbiges Tuch ist um den Kopf gewickelt.
Ihr Gesicht ist sonnengebräunt, und wenn ich
mich nähere, lächelt, ja lacht sie gleich – und
auch ich beginne mich sofort zu freuen, vertrautes
Wiedersehen, spontanes Strahlen, als
gäbe es keine Not; mehrere Zähne fehlen ihr.
Ich weiß das, weil wir uns schon kennen und
immer lachen.
So viele der vorbei hastenden Menschen
scheinen nie zu lächeln. In ihrem ganzen
Leben lachen diese Menschen scheinbar
nie. Meine Freundin, das schreibe ich mal so
hin, denn ich weiß ja kaum etwas von der
bettelnden Frau, und ich – wir können uns
schnell freuen. Sie bekommt von mir ausnahmslos
immer Geld. Bei Regen habe ich
ihr schon Kaffee gebracht, und einmal hat
sie eine Folie für die Aufbewahrung von Papier
von mir bekommen, die ich gerade nicht
mehr brauchte. Ich mag sie, und ich kann das
kaum vernünftig erklären.
Mal habe ich sie traurig am Bahnhof sitzen
sehen, was war passiert? Die Polizei hatte sie
weggejagt. Das hat sie nicht lang abgehalten,
bald darauf war sie zurück, und nun ist sie oft
am vertrauten Platz. Wir benötigen nur wenige
Worte und machen immer viele Zeichen
mit den Händen: Das Wetter, es regnet nicht?
Wunderbar. Sie freut sich, weil ich ihr immer
Geld gebe? Ich freue mich, weil ich das sehr
gern mache. Es kann ganz einfach sein, für
einen Moment glücklich zu sein, aber die anderen
Menschen finden vieles wichtiger, als
sich zu freuen.
Heute, ausnahmsweise, habe ich mein Fahrrad
dabei. Normalerweise bin ich mit dem
Bus und der S-Bahn gekommen und deswegen
zu Fuß in der Straße. Seitdem die Corona-Pandemie
uns beherrscht, fahre ich Fahrrad
oder nehme das Auto; ich mag die Maske
nicht. Ich schiebe also das Rad bis zu ihrem
Sitzplatz und stelle es für den Moment ab, um
nach dem Portemonnaie zu suchen. Wie immer,
gebe etwas Kleingeld in den Becher, wir
strahlen einander gewohnt an, sind etwas albern,
naiv – „Alles Gute für Ihre Familie“, sagt
sie. Dieses Mal halte ich mich nicht lang auf.
Sie schaut mir noch nach (und ich ihr), als ich
bereits nach einem neuen, dauerhaften Platz
für mein Fahrrad in der Nähe suche. Ich habe
die Absicht, einige Meter weiter beim Bäcker
Kaffee zu trinken und finde nicht gleich den
richtigen Bügel zum Abstellen.
Vielleicht fünfzig Meter habe ich mich, das
alte Hercules schiebend, dorthin bewegt, und
während ich das Schloss jetzt einpicke, stellt
sich raus, dass mir eine Frau, die ebenfalls ein
Rad dabei hat (glaube ich mich zu erinnern)
gefolgt ist. Eine fremde Person, es scheint
wichtig zu sein. Sie schaut mich drängend
an:
„Darf ich Sie kurz ansprechen?“
Sie ist mittleren Alters, dünn, ungepflegtes
Haar, geht etwas gebeugt und ist in jeder
Hinsicht unauffällig (so normal wie es geht)
gekleidet. Es ist irgendeine Passantin, die
man niemals wieder erkennen würde. Unscheinbar
und langweilig kommt sie daher.
Aber ein wichtiges Anliegen treibt sie an. Sie
bettelt beinahe um Aufmerksamkeit, was hat
die denn, denke ich noch.
„Darf ich Sie fragen – warum haben Sie der
Frau Geld gegeben?“
Ich bin perplex, sage nichts. Offenbar ein
Fehler, Geld zu geben, dass ich aufgeklärt
werden muss? Ich kann auf ihre Frage gar
nicht antworten, sie redet schnell weiter,
denn es ist wirklich eine Belehrung nach der
Art: Man gibt „so einer“ kein Geld. Während
ich sie ungläubig (bereits zornig werdend)
anschaue, fährt sie fort:
„Und außerdem lügt die auch noch, sie habe
kleine Kinder!“
Die Frau schaut mich dringlich an. Ich lese
auch Zeitungen und schaue die Nachrichten,
denke ich – und schweige weiter, bin schließlich
mit dem Rad fertig, gehe in Richtung
Café – ja, ich habe schon Dokumentationen
gesehen, über organisiertes Betteln. Das sage
ich nicht. Sie folgt mir, holt Luft für weitere
Anwürfe – doch ich drehe mich abrupt um
und herrsche sie an:
„Geht es Ihnen gut?“, platze ich los.
„Nein“, kommt es schnell (wohl als Rechtfertigung)
zurück, „mir geht es nicht gut, aber – “,
sie möchte sich und alles weiter nun noch
genauer erklären? Ich fahre ihr kurz über’s
Maul: „Stimmt“, schnauze ich sie an, „Ihnen
geht’s wohl nicht gut“, mutmaße ich – wende
mich ab, setze nach: „Sie haben ja einen
Schaden.“ (Gehen Sie zum Arzt, denke ich,
sage aber nichts mehr und gehe zügig, ohne
an die blöde Maske zu denken, in das Geschäft,
wo die Leute bereits am Kaffee-Tresen
eine Schlange bilden).
Die Ziege (so denke ich über die Alte) – kann
mir nicht folgen, das Fahrrad behindert. Ich
krame nach der Maske, hole tief Luft und kaufe
einen Becher zum hier-trinken, und als ich
draußen einen Corona freien Tisch finde, ist
sie fort – und ich beruhige mich schnell. Blöde
Kuh denke ich, ich hätte ihr sagen sollen
– was denn?
Ich bin lang verheiratet. Meine Frau gibt
grundsätzlich nie, in irgendeinem Fall, wo sie
angebettelt wird, und ich gebe oft. Ich mache
das gern, ich ignoriere die Dokumentationen,
die mir erklären, dass die rumänischen Bettler
Teil einer Firma sind, bei der der einzelne
verarscht würde. Das interessiert mich in
diesem Fall überhaupt nicht. Firma, na und:
Betteln ist auch ein Beruf.
Wer will den Mindestlohn für die bestimmen,
die mit einem Becher am Straßenrand sitzen?
Ich kann den Wunsch der Menschen, absolut
gerechte Gesetze für alle zu erzwingen
und juristische Rache in Vollständigkeit für
alles und jedes zu verlangen nicht begreifen.
Schlimm ist doch diese breite „normale“ Masse,
die sich für gute Menschen hält (das ist
meine Meinung, mehr nicht) und alles durch
Gesetze perfekt geregelt haben möchte. Das
wird es nie geben. Und wenn es in einer Utopie
erreicht wird, können nur andere Menschen,
als wir es sind, so leben.
Kaum noch einer lebt frei und autark in der
Wildnis. Wir sind ein verzahntes, spezialisiertes
System. Grob unterteilt bedeutet es: Einige
Menschen produzieren, andere verkaufen
es, und die dritten reglementieren alle in ihrem
Tun. Einer schreibt den Roman, und der
andere kann, weil das Buch existiert, darüber
berichten. Morgen schreibt der Journalist
über einen Autounfall oder darüber, was in
China passiert ist. Der Schriftsteller ist der
kreative Künstler. Er schafft wie jemand, der
einen Stuhl aus Hölzern zusammenleimt, und
ein Maler erarbeitet sein Bild genauso.
Einige wollen regeln und sich einmischen.
Sie werden angetrieben von dem Verlangen,
Macht über andere auszuüben, die es hinnehmen
müssen, weil sie Regeln übertreten,
krank sind oder noch unmündiges Kind in einer
Lehranstalt, und bestenfalls treibt diese
Menschen der Anspruch, unserer Gesellschaft
den belastbaren Rahmen zu geben? Freunde
und Helfer von Berufs wegen, das ist das Leitbild
der Guten (und eine Bürde). In der Schule
beginnen Lebensläufe: Die späteren Polizisten
sind mutmaßlich diejenigen, die andere
Kinder verpetzen, die etwas verbotenes gemacht
haben?
Jedem das seine.
Moderne Menschen klagen an, fotografieren,
filmen, stellen andere an den Pranger: Angezeigt!
Festgehalten wird alles – aber nicht alles
ist gut. Das Fotografieren unter den Rock
und das Filmen von Autounfällen der Gaffer
wird in Zukunft unter Strafe gestellt. Da
kommt dann die Polizei. (Als nächstes werden
wir lesen, dass ein Polizist selbst bestraft
wird, weil er verbotene Aufnahmen gemacht
hat.) Das Böse ist überall, und wir können es
immer neu verordnen und zur Straftat hin anders
definieren als bisher. Bis alles gut ist und
die Welt gerecht? Die Freiheit ist dann aber
grundsätzlich als solche zu bestrafen.
Es gibt bekanntlich gelangweilte Rentner, die
täglich Falschparker zur Anzeige bringen, die
sie vom Balkon aus fest im Blick haben, eine
nur zweifelhaft gute Beschäftigung. Manchmal
freut sich die „richtige“ Polizei über ein
Amateurvideo oder die Aufnahme einer
Überwachungskamera. Die Wirklichkeit ist
eine Annahme aufgrund von Informationen,
wir kennen sie gar nicht. Wieviel wir wissen,
hängt ab von der Zuverlässigkeit der uns zur
Verfügung stehenden Daten. Ein Bild oder
Film sagt mehr als tausend Worte in der Akte.
Was ist das, die Wahrheit, vom Leben in Szene
gesetzt – oder ein guter Regisseur arrangierte
ein Fake?
Jul 3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum 54 [Seite 54 bis 55]
Kunst, großes Theater! Das Bild, die Wahrheit?
Mit extra guten Fernrohrkameras kann
belegt werden, dass die Amerikaner wirklich
auf dem Mond waren (aber manche wollen
das trotzdem nicht glauben). Im Internet finden
sich die beeindruckenden Bilder für eine
präzise Mondkarte: Am 18. Juni 2009 ist die
NASA-Sonde Lunar Reconnaissance Orbiter
LRO gestartet. Bis heute umkreist sie unseren
Mond und macht äußert detailreiche Bilder
seiner Oberfläche. Bilder seien manipulierbar
und vor Gericht nur in Ausnahmefällen zugelassen,
heißt es.
„Nehmen Sie Deckfarben“, mahnte seinerzeit
mein Professor, als wir bei ihm unsere Hausaufgabe
präsentierten, eine Kommilitonin,
die mit lapprigen Aquarelltönen das Thema
illustriert hatte und ihre zeichnerische
Schwächen kaum weiter korrigieren konnte.
Transparenz – das ist ein Modewort. Alle
plappern davon, als wäre es ein Allheilmittel,
das Böse zu durchleuchten und die Welt würde
davon besser. Aber wer möchte (heimlich,
ohne davon zu wissen) bei der Selbstbefriedigung
gefilmt werden? Schon die Annahme
von Gut und Böse an sich, ist zunächst nur
eine Hypothese, die sich nicht selten umkehrt.
Im Fernsehen gewinnt der Kommissar, in der
Realität bestenfalls die Wahrheit vor Gericht.
Ein Verdacht bedeutet nicht die ganze Wahrheit
verstanden zu haben, und eine einzelne
Tat schnell mal zu bestrafen, kann bedeuten,
unwissentlich eine größere zu decken.
Es gibt die Hoffnung, das Gute setze sich
schlussendlich durch? Wenn wir die Zeit dafür
haben und Geduld, stehen die Chancen
nicht schlecht, es zu erleben. Der Grund ist
einfach: Alle machen Fehler. Wir malen ein
Kunstwerk und machen Fehler. Wir verbessern
die Fehler darin oder beginnen ein neues
Bild. Wir produzieren ein Werkstück, und
es ist fehlerhaft? Wir werden das verbessern,
in Ordnung bringen. Wir verhalten uns falsch,
werden eines Bessren belehrt: Wir werden
uns ändern. Wenn das System falsches Verhalten
unmäßig ausgrenzt und vernichtend
bestraft, ist der Rufmörder eines jeden im
Vorteil. In diesem Fall siegt das Böse, und das
System selbst ist menschenverachtend. Auch
dann wird schließlich die Besserung kommen.
Aufruhr wird zum Umsturz der fiesen
Struktur führen.
In jedem von Böswilligkeit getriebenen Projekt
steckt genauso das Problem, dass nichts
fehlerfrei durchzuführen ist, was Lebewesen
anpacken. Das bevorteilt denjenigen, der
redlich produziert oder verkauft vor dem,
der seine Existenz auf krimineller Aktivität
aufbaut. Zu existieren bedeutet, sich grundsätzlich
mit Fehlern herumschlagen zu müssen.
Im Affekt jemanden zu verletzen, wird
typischerweise milder bewertet, als eine geplante
Tat. Aus dieser Überlegung heraus ist
Machtmissbrauch stärkerem Widerstand der
Umgebung ausgesetzt, das ist der minimale
Vorteil des Lebens zum Guten hin. Darauf
sollten wir vertrauen (und uns und einigen
anderen verzeihen). „Gut“ ist damit mehr als
eine Hypothese, aber ein Wort, eine Uniform
oder ein sozialer Berufsanspruch sind dafür
kein Beleg.
Alle Unregelmäßigkeiten abschaffen zu wollen,
eine Welt die vollkommen ist, ohne Penner
im Hauseingang und bettelnde Menschen
überhaupt, sauber – ist gegen jede Natur. Mit
Otto Ruths, dem älteren Freund vom oben
erwähnten Professor der Illustration, fuhr ich
nicht selten mit der Bahn zusammen nach
Hause, wenn unser Zeichenkurs beendet war.
Otto wurde ein Freund, und noch lang nach
seiner Pensionierung war er Wegbegleiter, bis
er vor einigen Jahren hochbetagt gestorben
ist.
Einmal warteten wir auf die Einfahrt der
Hochbahn und bemerkten eine kleine Maus
im Gleisbett. Noch bevor der Zug ganz heran
sauste, gelang es ihr blitzschnell in einem
kleinen Loch im Beton Zuflucht zu finden.
Mein Professor machte mich darauf aufmerksam,
ich kannte bereits einige Geschichten
aus dem Krieg. Er war Soldat gewesen und
gab Anekdoten und schmerzliche Erfahrungen
detailliert zum Besten. Ruths zeigte auf
die Maus: „Da“, sagte er, „das wird es immer
geben – wenn die Welt noch so groß ist, kalter
Beton und voller Absurdität. Es gibt immer
ein kleines Loch, durch das du abhauen
kannst.“
Er glaubte fest an mögliche Existenzen am
Rande. Vielleicht ein Grund, warum ich mich
den Bettlern immer verbunden fühle. Wer
kennt die Zukunft und kann sie als wohlhabend
planen, festlegen, wenn es doch immer
möglich ist, gnadenlos abzustürzen in Armut
und Bedeutungslosigkeit? Dann nicht aufzugeben
und bescheiden am Rand sich den
Raum für Fröhlichkeit bewahren, das kann
die Bettlerin am Kantstein, und das macht
mir Mut, allen Ängsten zu begegnen.
# Wird die Welt uns fremd?
Wir erinnern uns: Die Aufgabe vom Protagonisten
Winston in Orwells „1984“ bestand
darin, die Vergangenheit in den für alle verfügbaren
Dokumenten so zu ändern, wie es
dem Staat aktuell besser gepasst hat. Eine
bedenkliche Entwicklung, die wir in der Gegenwart
in Echtzeit voran schreiten sehen,
alle selbst dran mitarbeiten indem wir Daten
liefern, unsere Existenz selbst verglasen und
kurioserweise von Kreativen wie Orwell vorgezeichnet,
fast als ein Plan, wie es zu machen
sei.
Die Vergangenheit wird immer von der aktuellen
Generation neu bewertet. Denkmäler
werden entfernt, Straßennamen geändert im
Glauben, dass wir heute klüger sind. Wir sollten
das kritisch sehen. Der Wunsch sich auf
Kosten der Alten zu profilieren verzerrt die
Rückschau und kann auch blind machen für
die Gegenwart. Je nach Freiheit der einzelnen
Bürger gestaltet sich die Bewertung der Umgebung
individuell, und je nach dem staatlichen
System ist der Spielraum bemessen, der
uns bleibt, selbst zu prüfen woran wir sind.
Die moderne Technik verändert die Möglichkeiten
für den Einzelnen, für den Staat. Damit
Information nicht gezielte Desinformation
ist, muss der Einzelne seinen Staat von außen
betrachten können.
Vorausgesehen vom kreativen Schriftsteller
auch dies: Die James-Bond-Romane von Ian
Fleming. Einen Super-Kriminellen wie den
Gegenspieler des Agenten in mehreren Geschichten,
Ernst Blofeld, der mit verschiedenen
Organisationen ganze Staaten erpresst,
haben wir im realen Osama Bin Laden erst
Jahre später auf der Weltbühne erlebt.
Die Zukunft hat begonnen, jedes Bild vergrößert
die vorhandene Datenmenge, und das
zwingt uns in ein Korsett des Allgemeinen.
Ich habe einen China-Film gesehen, es ging
um Künstliche-Intelligenz, die Macht der Daten.
Man wird blitzschnell als kreditwürdig
oder eben nicht eingestuft, wenn man per
Handy bei der Bank anfragt. Und die Software
verwendet unzählige Daten, bevor jemand
Geld bekommt. Da ist kein Bankmitarbeiter,
der vielleicht zehn der Bank bekannte Fakten
über den Kunden in einer Liste abgleicht, da
ist ein System dahinter, das tausende Informationen
hat. Es weiß, ob der Betreffende
typischerweise Ampeln bei rot überschreitet,
weil er gelegentlich häufiger per Gesichtserkennung
einer öffentlichen Webcam erfasst
wurde (von der man gar nichts mitbekommt),
prüft registrierte Vorstrafen, polizeiliche Delikte
aller Art in der Vergangenheit.
Das frühere Kreditverhalten durchleuchtet
die künstliche Intelligenz sowieso. Sie kann
aber noch viel mehr. Die App checkt zum
Beispiel, ob der Akku deines Handys gerade
voll ist, wenn du eine Anfrage um Geld etwa
für einen Autokauf tippst! Wenn jemand mit
einem beinahe leeren Akku um Geld bittet,
nimmt die künstliche Intelligenz an, dass er
kriminell sein könnte. Warum? Die Mehrheit
der Kriminellen telefoniert mit eher leerem
Akku.
Die Software spürt, wie beherzt der Kunde
der Bank die Eingabe auf die Tastatur setzt.
Der moderne Computer kann messen, ob
die Anfrage zögerlich oder kraftvoll (und
deswegen glaubwürdig, überzeugt von dem
berechtigten Wunsch, es stehe jemandem zu,
das Geld zu bekommen) getippt wird. Das
fließt ebenfalls in die Entscheidung mit ein,
ob man als kreditwürdig beurteilt wird. Wenn
du bei „den Guten“ bist, bekommst du deine
4.000,- in Sekunden – wenn nicht, nie.
Und du begreifst nicht einmal, warum.
:)
Jul 3, 2020 - Und du begreifst nicht einmal, warum 55 [Seite 54 bis 55]
Europa reitet den Zeus
Jul 10, 2020
Das Interview auf Seite zwei; eine besondere
Frage treibt die Doktorandin aus der Slowakei
bei European XFEL um. Schenefelder Tageblatt:
Auf welche wissenschaftliche Frage
hätten Sie gern eine Antwort?
„Menschen sind Wesen, die zum Aufbau ihrer
Gesellschaften Ordnungen und Hierarchien
geschaffen haben, die befolgt werden müssen,
um die Gesellschaft zusammenzuhalten.
Es gibt verschiedene Arten von Hierarchien,
die auf politischen oder religiösen Lehren
beruhen, aber es gibt eine, die vor allem für
jede Ecke dieses Planeten gilt: das Patriarchat.
Daher die Frage, auf die ich die Antwort
wissen möchte: Was ist die Ursache für das
universelle patriarchalische System, das sich
weltweit unabhängig entwickelt hat? Aktuelle
wissenschaftliche Erkenntnisse bieten
keine zufriedenstellende Antwort.“ Ivana
Klackova, Wissenschaftlerin.
Patriarchat ist zunächst ein Begriff. Er bezeichnet
eine Gesellschaftsform, die maßgeblich
von Männern dominiert ist. Auf den
ersten Blick ist das eine Frage, die sich für
den Laien gar nicht stellt. Etwa, wie in Frage
stellen zu wollen, warum es Herren- und Damentennis
gibt.
Die Fragestellung zeigt aber
das eigentliche Problem, es
geht um die Suche nach einer
wissenschaftlichen Antwort.
Für den Händler oder
Fischer hat sich seit Newton
durch die Beschäftigung der
Physik mit der Gravitation
nicht soviel geändert. Die
Äpfel fielen vom Baum, und
sie tun es immer noch. Die
Gesellschaften sind patriarchalisch
und werden es vermutlich
bleiben – jedenfalls
geht es der Doktorandin offenbar
weniger darum, dass
es, wie’s aktuell debattiert
wird, bald eine Frauenquote
in der CDU geben soll.
Eine Wissenschaftlerin fragt
anders. Es ist eine Frage der
Art: Warum läuft der Mensch
auf den Füßen und nicht auf
seinen Händen? Nachdem
das beantwortet ist, gehen
die zukünftigen Menschen
weiter wie gewohnt, aber
sie haben nun eine Theorie
(und können ein Lehrbuch
schreiben). Wenn Frau
Klackova irgendwann damit
aufhört, kleine Teilchen
im XFEL herumsausen zu
lassen und sich mit dieser
ungewöhnlichen Frage beschäftigt:
Wer weiß, was da
noch kommt?
Wie wäre denn eine Gesellschaft,
in deren Struktur das
weibliche dominiert, und
wie wäre eine Welt, in der
die Gesellschaften mal so,
mal so aufgebaut wären?
Was heißt denn überhaupt
männliche Dominanz: Kaiser, Bürgermeister,
Kapitäne, Handwerker auf der einen Seite, sie
dominieren das Geschehen – und die Frauen
kochen, kriegen Kinder?
Die Frage selbst verliert an Belastbarkeit,
wenn wir uns zwei benachbarte Gesellschaften
mit der jeweils anderen gesellschaftlichen
Struktur im Konflikt vorstellen. Gehen
wir in eine Zeit mit klarer Rollenverteilung
und lassen Franzosen und Deutsche Krieg
führen: Deutsche Landser und deutsche Panzer,
Fregatten mit den preußischen Kapitänen,
Offizieren und den Männern, wie wir das
kennen, marschieren auf – gegen die flotten
Französinnen? Eine Auseinandersetzung mit
Absurdistan scheint einfacher vorstellbar.
Eventuell wäre eine nicht patriachalische
Gesellschaft auch pazifistisch und würde nie
kriegerisch agieren? Eine feine Sache, die Gespielinnen
spielen einfach nicht mit: Kloppt
euch doch mit den Polen – und wir gehen in
die Kita und an den Herd und kochen uns einen
veganen Brei? Gut sind diese Frauen und
besser sowieso.
Als Maler und als Mann kann ich die wissenschaftliche
Suche nach der Antwort auf diese
Frage nicht ernsthaft beginnen. Mein männliches
Gehirn bringt allenfalls eine farbliche
Annäherung des Problems zu Stande, und
die ist primitiv und sexistisch. Ich habe mit
dem Bild „Grüneres Gras“ begonnen, ohne
überhaupt zu wissen, dass es ein altes Thema
ist. Jetzt, wo ich drauf gestoßen bin, kann das
Bild auch noch „Europa ist von den Socken“
heißen (und außerdem ist es ja noch nicht
fertig).
Es eignet sich durchaus dafür zu zeigen, dass
allein die Annahme, wir und alle anderen
wären eine patriachalische Gesellschaft, diskutiert
werden kann. Es ist wohl so, dass in
unseren Gesellschaften die Beziehung zwischen
Mann und Frau die Basis ist. Ohne Frau
ist ein Mann gar nichts.
So wie ein Mensch auf seinen Füßen läuft
und die Hände für anderes frei hat, so ergänzt
sich alles im System aus Kopf, Rumpf
und Gliedmaßen; genauso ist eine Gesellschaft.
Beziehungen machen die Gesellschaft
aus, und kein damaliger Herrscher
ist ohne die Frauen um ihn herum denkbar.
Das Drumherum, mehr nicht ist die Frau? Die
Dominanz der Männer besteht in der Rolle,
der jeweilige Anführer zu sein und im allgemeinen
Begriff. Wir würden uns wundern zu
lesen: Die (schöne) Frauscherin regierte das
Land? Unsere Sprache ist durch männliche
Formen geprägt. Wir lesen auch: Die Herrin
(hielt sich einen Sklaven). Die Suche nach der
Antwort kommt um eine Suche nach den Bewertungen,
Benennungen nicht herum und
die Definition der harten Gegenständlichkeit,
Fleischlichkeit auf der anderen Seite. Wir
betrachten die Geschichte, aber wir waren
damals nicht dabei, und von den einfachen
Menschen früher lesen wir kaum authentische
Berichte. Wir kennen die Geschichte der
Anführer, aber ist das alles?
Im Wort Patriarchat reduzieren wir die Gesellschaft
auf ein Wort, das ist ein wackliger
Anfang für eine gute Forschungsarbeit. Wenn
wir dieser Frage ernsthaft nachgehen, müssen
wir zunächst die Wirklichkeit definieren
und von den kommunizierten Überlieferungen
trennen, um die Frage neu zu stellen:
Die Anatomie der Geschlechter oder das
Verhalten der Menschen, wie wir darüber
Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 56 [Seite 56 bis 59]
denken, was eine Rollenverteilung überhaupt
ist und mit welchen Schwerpunkten wir unsere
Gesellschaft intellektuell definieren?
Auch heute ist der Antrieb, in der Gesellschaft
eine verbesserte Stellung zu erreichen,
damit verknüpft, wie eine Partnerschaft
gestaltet werden kann. Kaum vorstellbar: Die
patriarchalischen Männer leben untereinander
allein und die Frauen wären in ihrem
System nur digitale Bilder im Chat? Es gibt
sie wirklich. Und die Gesellschaften werden
nur von Männern dominiert, wenn wir das so
betrachten wollen. Die Freiheit des Mannes,
ein Manager oder Kapitän zu sein, ergibt in
der gesellschaftlichen Ordnung nur Sinn an
der Seite einer Frau. Dass das Rollenbild umgekehrt
funktioniert, kann bewiesen werden
– dass die Machtverteilung immer zugunsten
des Stärkeren ausfällt, bedeutet Stärke,
Macht und Aggressivität grundsätzlich zu
diskutieren.
Da fängt die Wissenschaft an.
Der Mensch auf seinen Füßen unterwegs, hat
die Hände frei, kann Gewalt ausüben, wird
zum König der Tiere, und die Männer sind
wiederum den Frauen gegenüber im Vorteil.
Männer können kräftiger werden, sie können
sexuelle Gewalt gegen Frauen ausüben. „Entdecke
die Möglichkeiten“, das ist mehr als ein
Werbespruch, das ist der Mensch. Wir verändern
unsere Umgebung, kaufen schönere Möbel
als der Nachbar. Besitz und Technik sind
menschliche Errungenschaften, und wir kennen
die Möglichkeit, uns anderes mit Gewalt
anzueignen. Gesetze helfen den Mitgliedern
eines Systems, das Zusammenleben zu ordnen,
weil wir unseren individuellen Machtanspruch
als unumgängliches Problem verstehen.
In einer menschlichen Struktur, die
frei wäre von Gewalt, in einer Welt die keine
Grenze insgesamt kennen würde,
könnte eine Gesellschaft gleichberechtigter
Männer und Frauen existieren?
Möglicherweise ändern sich Gesellschaften:
Die Frage ging in die Vergangenheit,
wie hat es angefangen
und warum der Mann? Ich möchte
bezweifeln, dass eine differenzierte
wissenschaftliche Antwort überhaupt
gefunden werden kann, in
einer Sache, die so derbe natürlich
vorstrukturiert ist: Mann mit Penis,
hart wie ein Stab – und gegenüber
der Eingang in das andere Geschlecht,
offen von Natur her, kaum
zu verteidigen, wenn der Mann angreifen
will und stark ist.
Böse!
Das ist doch offensichtlich. Dann
noch das Baby anschließend im Leib,
wonach will Frau da wissenschaftlich
fragen – wie anders könnte es
denn überhaupt laufen? Die Männer
kloppen sich, die Männer jagen das
Wild; und die Frauen sind ständig
schwanger, das ist doch, was die
Wissenschaft wie auch der normale
ungebildete Zeitgenosse über uns
Menschen seit je her wissen.
Wie sollte eine/unsere Welt anders
sein?
In einem Film wurde bewiesen, dass
bestimmte Affen (und der Mensch)
rot von grün unterscheiden können. Diese
nützliche Mutation früherer Tiere änderte
uns zu dem, was wir sind. Eine reife Frucht
von einer grünen unterscheiden zu können,
war ein entscheidender Wegpunkt bei
der Entwicklung zum modernen Menschen.
Wahrscheinlich kann die wissenschaftliche
Antwort auf die Frage nach der alternativen,
nicht patriarchalische Gesellschaftsform nur
gefunden werden, wenn in den Überlegungen
ein anderer Typ Mensch, ein diverses
Wesen etwa, in großer Zahl mutiert die Basis
bildet – und weil das nicht geschah, kam es,
wie es gekommen ist?
Männer müssten anders sein, Männer müssten
andere Regeln akzeptieren, eine Frauenquote
im Gesetz, warum stand diese Regelung
nicht am Anfang der Bildung von
Gesellschaften, ist das die Eingangsfrage der
Doktorandin? Es gab keine effiziente Verhütung
von Schwangerschaften, das ist zu unwissenschaftlich
beantwortet?
Viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
ist unsere Gesellschaft darin geübt,
den Luxus des Friedens in Worte zu gießen,
als würden durch neue Bezeichnungen reale
Dinge geschaffen. Echte Verbesserungen, die
zum Wohlbefinden benachteiligter Gruppen
geführt haben, stehen Seite an Seite neben
Worthülsen und buchstäblichem Schwachsinn.
Wir gendern alles, wir ändern die Namen
von Straßen und Schoko-Küssen. Dass
wir noch herrlich (vom Herrn) und dämlich
(angeblich von Dame) sagen dürfen – erstaunlich.
Es gibt lange Abhandlungen darüber,
woraus sich diese Worte eigentlich
entwickelten (dämeln: nicht bei Sinne sein),
und wir könnten gelassen weiter machen, einiges
zu ändern. Wir sind aber nicht gelassen.
Waren Menschen früher behindert, verlangen
Eifrige heute nur noch zu sagen, diese seien
mit Handicap unterwegs. Andere regen sich
über Anglizismen jeder Art auf, und darauf
hinzuweisen, ist eine weitere Eitelkeit, die
nur dem nützt, der auf diese Weise genügend
Wind um seine Person machen kann, dass
schließlich ein Beruf daraus wird.
Neue Bezeichnungen bedeuten oft auch
wirkliche Änderungen. Die Gesellschaft begreift
allgemeine Verbesserungen, wenn sich
eine Lobby bildet. Wenn die Mehrheit den
Sinn neuer Formen des Zusammenlebens
oder moderne Begriffe nicht nachvollziehen
kann, werden sie sich nicht durchsetzen. Eine
Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 57 [Seite 56 bis 59]
Wissenschaft muss letztlich allen Mitgliedern
des Systems nützlich sein, andernfalls
wird die Masse nicht dazu bereit sein, eine
Forschung mitzutragen.
Warum bezeichnen die
Menschen (weiterhin)
den Moment, wo Wasser
gefriert als Null
Grad – warum setzt sich
nicht die Bezeichnung
273 Kelvin (ausgehend
vom berechneten, absoluten
Nullpunkt der
Temperatur, als Beginn
der Zählweise) an dieser
Stelle der Skala
dafür durch – wie mein
Physiklehrer das 1980
forderte (und falsch
voraus gesehen hat)?
Bis heute kann sich
eine unpraktische theoretische
Denkweise
nicht gegen gebräuchliche
Verhaltensweisen
durchsetzen.
Anekdoten aus meiner
Jugend dazu: „So ein
Quatsch“, meinte mein
Vater hinsichtlich der
Erklärung von Hurling,
es müsse der Nullpunkt
der Temperatur den aktuellen
Erkenntnissen
angepasst werden. Schon damals gab es verbalen
Umbruch und zeitgemäß angepasste
Erneuerung an vielen kommunikativen Baustellen.
Das Wetter war auch betroffen. Der
Luftdruck bekam einen neuen Namen. Wir
erlebten, wie aus den vertrauten Millibar moderne
Hektopascal wurden, und das ärgerte
meine maritim gebildeten Eltern schon. Meine
Tante aus Kalifornien
misst die Temperatur in
Fahrenheit und ihr Auto
fährt miles per hour. Es
ist üblich, dass sich mal
was ändert oder andere
Länder ihre eigenen
Skalen verwenden. Meine
Eltern waren nicht zu
ändern, und wenigstens
mit den Kelvin-Graden,
dass die sich nicht durchsetzen
würden, behielten
sie recht. Für den Physiklehrer
mag es faszinierend
sein, dass es nicht
kälter als minus 273
Grad werden kann, und
seine Einschätzung, die
Bezeichnung nach Celsius
würde ersetzt werden,
logisch. Er erklärte uns,
Kelvin hätte errechnet,
bei dieser Kälte gäbe
es keine Bewegung der
Teilchen mehr und damit
keine Materie, wie wir sie
kennen.
Mein Vater: „Bei Null
Grad gefriert Wasser. Ich habe ein Ladengeschäft.
Wenn es friert, muss ich den Gehweg
vor meinem Schaufenster mit Sand abstreuen.
Das ist für uns eine wichtige Temperaturgrenze
und interessiert alle, das andere
ist nur deinem Lehrer wichtig und einigen
Spezialisten.“ Er ärgerte sich über die aufgezwungenen
100-Gramm-Preise, es war das
Pfund gebräuchlich gewesen. Warum? Weil
es, so argumentierte er, dem Essverhalten
entsprach. Was man einkaufte, in Relation
zu dem, was frisch gehalten werden konnte,
bis es in der Familie gegessen war, das ließe
sich bestens in Pfund beschreiben. In diesem
Fall hatte sich gezeigt, dass mit einer alten
Gewohnheit gebrochen werden konnte, und
der Ärger meines Vaters entsprang dem Gefühl,
als Händler benachteiligt zu sein: „Die
Leute früher kauften ein Viertelpfund Matjessalat
entsprechend dem Preis auf dem
Schild, dem Becher dafür. Eine gute Menge
zum Frühstück! Heute kaufen sie nur noch
100 g davon (im gleichen Becher) weil das
Preisschild, das ich verwenden muss, einen
Hundert-Gramm-Preis ausweist.“
Mein Vater scheiterte ein weiteres Mal, als
er mir riet, die Lehrerin zu belehren. Es hieße
Schraubendreher, meinte er, als ich einen
Aufsatz vorlegte, anstelle des von mir verwendeten
und seinerzeit üblichen Ausdrucks:
Schraubenzieher. Damit
hatte er durchaus
recht. Heute ist das
eine typische Bezeichnung
in jeder Montageanleitung.
Erich war,
bevor er Kaufmann
wurde und Fische und
Delikatessen anbot,
Maschinenschlosser
gewesen, und dieses
Mal fand er es leicht,
den ungewöhnlichen
neuen Begriff dafür zu
verwenden, weil man
mit diesem unentbehrlichen
Handwerkszeug
schließlich fest- und
lose schrauben konnte.
Er scheiterte aber hinsichtlich
der Einschätzung,
wie das bei meiner
Deutschlehrerin
ankommen würde. „So
ein Quatsch“, schnauzte
sie mich geradezu
empört, aufbrausend
an – sie wollte keinen
Besserwisser dulden:
„Ein Schraubenzieher
ist ein Schraubenzieher
– setzten, John!“ Weibliche Dominanz in
der Schule, real erlebt. Und das 1973, oben
in der Altstadt von Wedel. Meine Grundschule
war eine Folterkammer für kleine, unreife
Jungs.
Im Film „Die Götter müssen verrückt sein“, der
früher oft im Fernsehen gezeigt wurde und
den ich im Kino gesehen
habe (als er neu
war), wird eine friedliche
Stammeswelt in
der Kalahari-Wüste
dargestellt. Probleme
beginnen, als ein einzigartiges
Objekt in
ihre Welt eintritt, dass
nur jeweils einer der
Buschleute besitzen
kann. Eine Cola-Flasche
liegt herum, ein
Buschmann bringt sie
mit. Was ist das, was
können wir damit machen?
Und es gibt nur
eine einzige Flasche
im ganzen Dorf; Abfall
eines Sportpiloten, der
die Wüste überflogen
hat.
Zwei Welten zeigt der
Film, die ursprüngliche
Natur der Kalahari und
brausendes Großstadtleben
mit Menschen,
die wenige Meter mit
dem Auto zum Briefkasten
fahren. Dekadenz unserer modernen
Gesellschaft: Der Pilot einer kleinen Cessna
findet nichts dabei, seine Coke zu trinken und
die leere Flasche aus dem Cockpit zu werfen.
Ein faszinierender Gegenstand aus Glas. Die
Moderne trifft auf die Urzeit in Form von Abfall?
Als dieser Film gedreht wurde, war Re-
Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 58 [Seite 56 bis 59]
cycling nicht attraktiv. Für
die Menschen im Busch,
die alles außerhalb ihrer
Umgebung als die Welt
der Götter definieren, ist
die leere Flasche, die ein
Musikinstrument sein
kann und im nächsten
Moment eine Waffe, wenn
einer sie dem anderen auf
den Kopf schlägt, heiliges
und gefährlich verzaubertes
Gerät! Unfrieden ist in
dieser Gemeinschaft bisher
unbekannt, weil alle
von allem haben können:
Die Pflanzen, die Steine,
das Fleisch der Tiere –
ohne Besitz gibt es kein
Neid. Ob nie einer der
Männer eine Frau begehrte,
die sein Jagdbruder als
Freundin hat; oder wie
war das bei denen mit den
Mädels? (Das ist ein Film).
Klar, eine Welt in der die
Äpfel nicht zu Boden fallen,
das können wir uns kaum vorstellen,
und es war möglich, die Schwerkraft wissenschaftlich
zu beschreiben. Viel konnte
anschließend erforscht werden, nur weil Herr
Newton sich über eine Normalität wunderte.
Wir sind fertig mit der Welt? Die Wissenschaft
sucht noch – das ist gut! Da können wir ja
mal gespannt sein, auf die Antwort: warum es
ist, wie es ist und so wurde überall …
:)
Jul 10, 2020 - Europa reitet den Zeus 59 [Seite 56 bis 59]
Nicht weglaufen!
Aug 2, 2020
Im Herbst, die Pandemie hatte noch nicht begonnen,
war ich im Clubhaus eines Segelvereins
am Hafen zu Gast. Wir haben den großen
Raum mit Bar und Tanzfläche für eine private
Feier nutzen können. Dort hing ein Gemälde
von Johannes Holst, ein Viermaster in unruhiger
See. Ein Freund meinte: „Du könntest das.“
Das hieß vermutlich: Warum malst du nicht
einfach Rahsegler (statt diesen Quatsch)? Ich
kann die Frage beantworten, aber ich glaube
kaum, dass es interessiert. Jedenfalls auf einer
Geburtstagsfeier will niemand ernsthaft
diskutieren, warum Segelfreund John so malt,
wie er’s tut.
Die Einladung zur eigenen Ausstellung kann
mit der Erwartung verknüpft sein, unter Interessierten
Inhalte zu teilen und Anerkennung
zu erlangen. Das kann funktionieren.
Freundschaften dürfen nicht überstrapaziert
werden. Das war eine der Erfahrungen, als
ich selbst noch zu Vernissagen eingeladen
habe. Ich habe gern ausgestellt und mich
sehr über die Anerkennung gefreut. Freunde
kamen zur Eröffnung, mein alter Professor
lobte meine Malerei. Es war nicht schwierig,
voran zu kommen, Leute kennen zu lernen.
Anfangs fand ich es ganz einfach. Ein Café
oder ein Galerist ist interessiert, selbst kennt
man viele, und der Ausrichter der Ausstellung
hat einen Mailverteiler. Leicht kommen zahlreiche
Besucher vorbei, es gibt zu knabbern,
Prosecco, eine Ansprache und Musik. Manchmal
wird ein Bild verkauft, im Bereich von
wenigen hundert Euro ist es schaffbar. Die
Themen müssen dekorativ und inhaltlich unaufgeregt,
belanglos sein.
Gerade haben es zwei Schülerinnen auf die
Titelseite vom Schenefelder-Tageblatt geschafft.
„Himmel“ werden im Rahmen einer
Ausstellung vom Kunstkreis gezeigt. Da kommen
vermutlich Eltern, Lehrer, Mitschüler und
einige verkorkste Menschen, wie sie regelmäßig
in kulturelle Veranstaltungen gehen. Die
Zeitungs-Frauke wird knipsen, und dann gibt
es einen weiteren Beitrag. Morgen sind dann
wieder die Karnickelzüchter oder die Sportler
von Blau-Weiß dran.
Das ist Deko, fest in Frauenhand. So ist die
Kunst in der Provinz, aber mit Kunst hat es
nichts zu tun. Ein Ettikettenschwindel. Natürlich,
fein ist, dass talentierte Schülerinnen
bei Marianne im Kunsthaus eine Ausbildung
bekommen und eventuell ist es die
Basis für eine gute Ausbildung im kreativen
Bereich. Schön ist auch, wenn einige Muttis
noch spätberufen zum Pinsel greifen oder
angeleitet vom Feierabend-Dozenten mit
der Kamera herum dackeln, um ein „Thema“
zu bebildern. Das kann alles eine Startrampe
in die Welt der Kunst sein. Das geschieht im
Ausnahmefall tatsächlich.
Die Marine-Maler wie Joh. Holst, Schnars-
Alquist und andere haben um Anerkennung
kämpfen müssen. Sie wurden von den
Kennern der großen, richtigen Kunst nur
am Rande respektiert. Immerhin haben sie
Wertschätzung unter allen, die das Meer
kennen, erlangt. Wesentliche Malerei der bis
heute verehrten alten und neueren Meister
hat die Gesellschaft geprägt, Einfluss genommen,
unterhalten. Wie die bekannten
Zirkusfamilien Althoff, Krone, Sarrasani, die
beliebten Stars aus Theater, Film und Musik,
waren zeitgenössische Maler den Menschen
allgemein bekannt. Heute ist die Situation
für Künstler anders. Nur Liebhaber von Malerei
kennen sich aus. Es gibt so viel, wofür
wir uns interessieren können. Wenn ich die
Generation meiner Eltern frage: alle Segler
kennen Maler, die Schiffe gemalt haben.
Man ereiferte sich damals noch immer über
die Kunst von Picasso. Die Zeit des Nationalsozialismus
war in guter Erinnerung, und die
Kunst dieser Jahre war so politisch gewesen,
dass Hitler sie als „entartet“ verbieten
konnte. Nicht wenige in der Gesellschaft
hatten dem zugestimmt. Malerei polarisierte
bis in die Zeit, wo sie immer weniger
gegenständlich wurde. Menschen störten
sich noch daran, als die Kunst neue Wege
ging und das Malen anderen Formen des
Ausdrucks Platz machte. So wie die breite
Masse den Zugang zum Jazz verlor, der mehr
und mehr jede Form, Tradition und eingängige
Melodie aufgegeben hatte, verstanden
die Menschen nicht mehr, was Kunst genannt
wurde. Die einfachen melodischen Jazzelemente
konnten Amateure der fünfziger Jahre
scheinbar imitieren und die frischen Farben
und auf den ersten Blick primitiven Formen
der modernen Kunst wollten sie gern selbst
abmalen.
Mein Vater kopierte den expressiven, kubistischen
Stil von Picasso, der immer noch in der
Presse diskutiert wurde, für die Bühnen- und
Hintergrundbilder der Feste des Segelvereins,
und jeder wusste, worum es ging. Picasso
lebte ja noch, war aktiv bis in die Siebzigerjahre,
und seine Kunst blieb frisch und
aktuell. Er war ein die breite Masse faszinierender
Mensch, bekannt wie Louis Armstrong
oder die Beatles. Heute wird mehr gemalt
und mehr ausgestellt als damals – aber das
ist gesellschaftlich nicht relevant.
Es gibt keinen Star der Malerei, den jeder
kennt.
Meine Eltern bewunderten gute Schiffsmalerei,
gelungene Darstellung von Wasser und
Himmel. Meine beiden Großväter fuhren zur
See. Opa Heinz schenkte mir einen Bildband
mit Gemälden von Anton Otto Fischer. Bei
Uwe Jarchow, während meiner Ausbildung
zum Grafiker und Illustrator, lernte ich die
Aug 2, 2020 - Nicht weglaufen! 60 [Seite 60 bis 61]
Bilder von Jochen Sachse kennen und im Familienbesitz
sind einige Gemälde von Holst.
In Bremerhaven sah ich „Nordkap“ von Alquist
im Original, und Walter Schulz, der mit Holst
segelte und selbst viele Bilder malte, ist der
verstorbene Großvater eines guten Freundes.
Meine Mutter fotografierte gekonnt, und wir
waren ja immer auf dem Wasser.
Vor vielen Jahren war ich Illustrator in freier
Mitarbeit. Ich arbeitete, wie es mir gesagt
wurde. Am für uns noch ungewohnten, neuen
Computer, kreierte ich zeitgemäße Info-Grafik.
Ich kam nicht drauf, zu malen. Aber das
Interesse daran rumorte bereits im Unterbewusstsein.
Um mit Kunst zu beginnen, benötigen
wir den inneren Drang, es wirklich zu
tun. Es braucht mehr als ein einziges Erlebnis
das uns formt, bevor wir ein erstes, eigenes
Bild malen, ohne dass ein Lehrer es anregt.
Was kann das persönliche Thema sein? Das
fragen wir erst, wenn uns klar wird, dass wir
grundsätzlich beginnen müssen – weil wir
sonst unser Leben und uns selbst verpassen.
Wir laufen nicht mehr weg vor unserem Problem:
wer bin ich, will ich sein?
Wasser zu malen, ist nicht einfach. Im NRV-
Clubhaus hängt ein großes Bild von Schnars-
Alquist. Ein Schoner gleitet eine gewaltige
See hinab, das kann man auch als Kunstdruck
kaufen. Bei einer opulenten Weihnachtsfeier,
mit allerlei Buffet und reichlich wichtigem
Publikum eines bekannten maritimen Verlags,
durfte ich dabei sein und habe mir das
riesige Gemälde genau angesehen: unglaublich!
Ich war bestimmt der aller-einzige von
allen Gästen an diesem Abend, der dieses
großartige und unvergleichlich gelungene
Bild überhaupt bemerkt hat. Es nimmt die
ganze Wand ein, wie ein großes Fenster, mit
Blick auf einen tosenden Atlantik.
Keine hoch gelobte Schülerarbeit zum Thema
„Meer“ – echte Ölfarbe, alt, gut und vom
anerkannten Maler geschaffen. Das reichte
nicht aus, um sich’s anzuschauen? Da waren
fast ausschließlich Segler und Gäste, die einen
ästhetischen Print produzieren, zur Feier
geladen …
Habe ich deswegen mit dem Malen angefangen?
Das möchte ich auch können, dachte ich.
Leicht konnte man beobachten, dass niemand
hinschaut, wenn es nicht eine Vernissage ist
und andere sehen, dass man dort ist. Aber ich
habe das damals gar nicht begriffen.
Vielleicht der beste Grund, immer weiter zu
malen!
Von Edward Hopper heißt es, er liebte das
Sonnenlicht in einem Raum (oder auf einer
Mauer) zu malen, und viele lesen solche
Sätze in einem Buch, aber nur wenige Menschen
malen, was sie lieben. Sie malen, wenn
überhaupt, was ihnen als Thema gesagt wird.
Wenn keiner sie anleitet, hören sie wieder
damit auf. Ein eigenes Thema finden und fertig
malen? Das ist, was ich mag. Ein langer
Weg, es herauszufinden. Das ist ja nicht: Lebe
deinen Traum; denn dann hätte ich gewusst,
wovon ich träume – und ein Ziel verfolgt.
Ich bin aber ziemlich sicher, dass es dieses
Mal ein gutes Wasser wird, in meinem Bild
mit dem Floß. Schon allein deswegen werde
ich auch fertig mit dieser Fläche von mehr
als einem Quadratmeter Leinwand, das ist
ein Ziel. Und es kann gelingen. Dafür benötige
ich weder einen Lehrer, eine Kunstschule
und einen Kunstkreis der das Bild ausstellt
oder jemanden, der es kauft. Ich brauche den
inneren Antrieb, regelmäßig ein wenig weiter
daran zu malen.
Ich male es für mich selbst.
Das andere auf dem Bild? Das zu erklären,
dann müsste man ja nicht malen. Inhalte,
Themen – Schülerinnen zeigen schon wieder
„Himmel“ – na klar. Alexandra findet ein
Motiv, textet eine Phrase und bekommt eine
gute Note. „Never underestimate your power“
– die talentiert fotografierende Kunst-Studentin
titelt auf flickr. Nachdenklich macht
dieses Foto: Eine blasse, schlappe Wolke
treibt windlos am Horizont …
Das motiviert mich bis heute!
:)
Ein guter Freund in der Redaktion hatte bereits
vor dem Empfang reichlich Knoblauch
gegessen; und das sind die bleibenden Erinnerungen
an diese Feier: unmöglich mit
Martin zu quatschen, weil er so stinkt – und
unglaublich ist dieses Bild.
Niemand sieht sich das an.
Aug 2, 2020 - Nicht weglaufen! 61 [Seite 60 bis 61]
Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus
Aug 8, 2020
Die Welt von Vorgestern ist die Welt, in der
noch nicht gesprochen wurde. Erst kam der
Mensch – und gleich mit ihm kam das Wort:
Mensch. Damit beginnt unsere künstliche,
moderne Gegenwart.
Mit der Begrifflichkeit schaffen wir eine zweite
Welt mit eigener Realität. Auch die Tiere
kommunizieren. Wir aber dokumentieren
über Generationen hinweg. Die Veränderungen
der Umgebung, die wir heute vornehmen,
gründen auf älteren, die andere machten.
Schon früh begann der Mensch Aufzeichnungen
anzufertigen. Mit der weltweiten Vernetzung
und dem allgegenwärtigen Smartphone
tritt die Gesellschaft in eine fortschrittliche
Stufe ihrer Beziehungen und damit in eine
grundsätzlich neue Ebene des Verhaltens ein.
Alles wird festgehalten. Schon immer war es
möglich „über“ jemanden und etwas zu reden,
also zu berichten, ohne dass die Person oder
Situation gegenwärtig sind. Aber nun reden
wir nicht nur über andere, wir schreiben über
sie. Unser Wort wird digital fixiert, als könnten
wir gleich eine Akte der Wahrheit anlegen.
Die anderen: Wir filmen sie ab. Heimlich und
anonym jagen wir unsere Mitmenschen. Wir
stellen eine Falle und feixen noch vor Freude
mit unsresgleichen über ihre Peinlichkeiten.
Und wenn wir es nicht selbst machen, wir teilen
gern, sind dabei.
Wir wissen Bescheid!
Die Höhlenmalerei, ein Comic der Frühzeit,
macht deutlich, dass dieser Wunsch das Erlebte
festzuhalten, eine Konserve davon
weiterzugeben, früh entstanden ist und umgesetzt
werden konnte. Der Mensch hatte,
nachdem er zu gehen lernte, die Hände frei
und nutzt das seitdem gekonnt aus: Der König
der Tiere ist nicht der Löwe, es ist der
Mensch. Er formt und ändert die Umgebung
nachhaltig und verdrängt das Tier. Er fängt
es ein, züchtet es massenhaft zum Gebrauch,
verspeist und verbraucht es, wie ein Produkt.
Die Bauernhof-Romantik ist ein Fake, das wir
gern glauben.
Heute kann jeder smart fotografieren.
Nie war es einfacher.
„Als die Bilder laufen
lernten“, so sagten wir früher
über die Zeit der ersten Filme.
Die gemalten Bilder haben
ihr Alleinstellungsmerkmal
aussagekräftiger Information
an das Foto abgegeben. Das
Foto hat dem Film anfangs
Widerstand leisten können.
Heute steht der kurze Film an
erster Stelle typischer Unterhaltung
und Information. Mit
dem Video für jedermann aus
der Hosentasche, bleibt dem
gemalten Bild und der ironischen
Skizze nach der Fotografie
noch ein schlechter
dritter Platz, wenn es darum
geht, treffend festzuhalten,
was uns angehen sollte.
Die guten Zeichnungen aus
weltbewegenden Prozessen, die einige der
hervorragenden Zeichner in den USA dort
auch heute immer noch bringen, geben uns
eine Ahnung davon, wozu kreative Menschen
fähig sind. Dass diese Zeichnungen, auf denen
wir wirklich etwas mitbekommen, immer
in Amerika entstehen und unsere heimischen
Künstler nicht annähernd an diese Qualität
heran kommen, ist bedenklich.
Eine kleine Geschichte: Ich bin am Bahnhof
in Altona unterwegs. Überall sind fest installierte
Kameras. Die S-Bahn fährt durch einem
großzügigen Tunnelkomplex mit einigen
Bahnsteigen. Es gibt Rolltreppen, feste Treppen
und einen Fahrstuhl um hinabzugelangen.
An diesen Stellen bleibt dem Fahrgast
nur ein schmaler Laufweg bis zur Kante am
Gleis. Plakate sind an der gekachelten Wand,
und eine weiße Linie zeigt, wo unmittelbar
der Bahnsteig endet. Aufpassen sollen
wir; besonders wenn der Zug einfährt. Es
ist ganz sonntäglich einsam. Ich schlendere
den Bahnsteig entlang, muss einige Minuten
warten, bis meine S-Bahn kommt. Im Hintergrund
sind zwei mit Warnwesten kenntlich
gemachte Mitarbeiter der Bahn. Sie achten
auf die Sicherheit: „Security“ steht auf ihrer
Uniform.
Vor mir, im Bereich der Verengung durch
eine mittlere Treppe, radelt ein alter Mann
ganz langsam auf einem Klapprad direkt an
der Kante, kommt mir entgegen. Er sieht gebrechlich
aus, trägt einfache Kleidung und
wirkt ein wenig verwahrlost. Ein Fuß berührt
schleifend den Boden. Weil er so langsam
fährt, verwendet er die Pedale nicht. Er
schiebt sich so entlang der Kante und sitzt
tief zusammengesunken auf dem kleinen
Rad, stiert deprimiert ins Leere. Die Bahnpolizisten
schließen auf, und direkt in meiner
Gegenwart stoppen Sie den Radfahrer, er
möge bitte absteigen, schieben. Es benötigt
einige beschwörende Sätze, warum es nötig
sei, und schließlich schiebt der Alte sein
Klapprad mürrisch an mir vorbei. Er hat noch
probiert, ein orthopädisches Leiden wortreich
zu beschreiben, damit die beiden eine
Ausnahme machen und ihm das (langsame)
Fahren erlauben. Er habe Schmerzen beim
Gehen, sagte er.
Es nützt nichts, er muss schieben.
Nun soll hier nicht diskutiert werden, wie
es richtig ist. Ich finde den anschließenden
Dialog der Wachleute bemerkenswert. Als
der Mann sein Rad weiter bewegt hat (ohne
aufzusitzen) und es einige Meter Abstand
zwischen ihm und uns sind, hörte ich, wie
sich der Wachmann dem anderen Kollegen
erklärt: „Müssen wir machen.“ Er zeigt nach
oben, unter die schwarze, durch allerlei
Technik verbaute Decke des Tunnelsystems:
„Überall Kameras“, meint er, „wenn wir ihn
nicht ermahnen, sind wir selbst dran.“ Es
ist ganz deutlich, dass er sich mehr davor
ängstigt, Ärger mit seinem Vorgesetzten zu
bekommen, als einfach die übernommene
Arbeit selbstbewusst durchzuziehen.
Radfahren auf dem Bahnsteig ist verboten,
und er ist ein Polizist, um genau das zu unterbinden.
Dafür ist dieser Job eingerichtet
worden. Die Kamera ist nur ein Kollege von
ihm selbst. Sie passt auf, filmt, wenn der
Wachmann gerade wo anders ist.
Verlieren wir unsere Fähigkeit menschlich
selbst zu handeln und eigene Entscheidungen
zu treffen, weil alles messerscharf exakt
festgehalten wird?
Dass die Kamera auch dazu nützt, dem Security-Personal
eigene Versäumnisse nachzuweisen,
hat in den Gedanken des Bahnmitarbeiters
einen festen Platz eingenommen. Er
nimmt das wichtig, pflegt eine kultivierte Berufsneurose.
Ich muss an die Beschreibungen
meines Großvaters denken, wie man früher
an Bord bei der Marine handelte. Er erzählte:
Wenn es darum ging, dem Kapitän etwas
zu verschweigen, was genauso gut unter den
einfachen Dienstgraden unspektakulär erledigt
werden konnte, sagte man: „Da hättest
du den Kieker auch einfach an das blinde
Auge setzen können.“
Was hatte das zu bedeuten?
Was du nicht siehst, musst du nicht sagen.
Wegschauen als bequeme Methode, das geht
nicht, wenn das digitale Auge überall genau
hinsieht. Ursprünglich kommt das Ausschau
halten noch aus der Segelschiffszeit: Der
Mann im Topp schaut in Richtung der Kimm?
Ein möglicherweise feindliches Schiff sollte
nicht unbemerkt nah heran kommen.
Dieser gut gemeinte Hinweis fand aber Verwendung
bei Unregelmässigkeiten und Ungehorsam.
Die Seeleute, also die Offiziere,
die mit der Navigation betraut waren, hatten
zumeist ein schlechteres Auge, wenn sie ein
Leben lang die Sonne mit dem Sextant für
die Mittagsbreite beobachtet hatten. Trotz
der verschiedenen Schutzgläser, wurde das
Auge welches sie typischerweise am Instrument
nutzten, schlechter.
Und der Kieker? Da dachte man wohl an das
einglasige Fernrohr vergangener Seefahrer,
die noch nach Piraten schauten, wenn mit
dem bekannten Spruch im übertragenen
Sinn gemeint war, nicht alles superkorrekt
bis zum „Alten“ weiterzutragen.
Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 62 [Seite 62 bis 64]
Schon damals wurde intern gerufmordet, vor
Kameraden gewarnt: „Er ist HWG“, sagte vielleicht
der Erste über jemanden zum Zweiten
Offizier, und das hieß (peinlich) und deswegen
heimlich verklausuliert: „Häufig wechselnder
Geschlechtsverkehr“, auch als Warnung vor
eventuell ansteckenden Krankheiten des anderen,
mit dem man womöglich die Kabine
oder gar eine Hängematte auf engem Raum
unter Deck zu teilen hatte.
Die moderne Polizei verwendet diese Kürzel
„GKR“ (Geisteskrank) und einige mehr noch
heute weiterhin, einfach weil es sie gibt. Das
ist gelegentlich ein Thema für eine Boulevardzeitung
gewesen. Gekritzel auf der Akte?
Alte Kniffe haben Bestand: Das ist praktisch,
kann Kollegen helfen – und ist die kleine,
verbotene Freiheit der Beamten, die nicht
vom Recht im Gesetzbuch erfasst wird. Die
Grauzone ist ein notwendiger Bereich in den
menschlichen Regeln, die unerlässlich ist,
wenn wir unserer Natur gemäß leben wollen.
„Ich bin kein Roboter“, lässt uns das Gegenüber
im Internet gern bestätigen, macht vor
der Datenfreigabe einen „Idiotentest“ mit
uns.
Eine zweite Sprache ist in vielen Systemen
nützlich. Die kann man leicht notieren und
Insider kennen Hinweise, wie z.B. die Obdachlosen
eigene Zeichen haben oder ihre
Kennzinken. Ein gestischer Hinweis kann
die Sprache (heimlich) ergänzen. Es gibt
ein Handzeichen das empfohlen wird, wenn
wir eine verdeckte Nachricht in die Webcam
schicken wollen, wir (Frauen) würden bedroht
und derjenige befindet sich im Raum:
Die Finger der Hand werden um den Daumen
geschlossen. Und der böse (Mann) hinter mir
bekommt es nicht mit – soweit die Theorie.
(Es sind immer die Männer gewalttätig).
Im besten Fall ist petzen Zivilcourage. Gruppen
schließen sich im Netz zusammen, vor
einigen wird gewarnt, und sie sollen es nicht
mitbekommen. Was tun, wenn Rufmord seine
Eigendynamik bekommt und die Basis ein
Fake ist? In der neuen Welt müssen wir neu
denken. Alles wird festgehalten. Was früher
nebenbei, wie achtlos hingeworfen, getuschelt
wurde: „Weißt du nicht, was das für einer
ist?“, kann heute eine Textnachricht sein,
die viele teilen. Wenn dann ein Film das böse
Bild unterstützt, können wir mit diesem Wissen,
was das für einer sei, richtig glänzen.
Noch einige Beispiele für unsere moderne
Welt der gegenseitigen Kontrolle und fixierte
Beweise von Unregelmäßigkeiten: Eben
kaufe ich bei Staples ein, werde ermahnt die
Corona-Maske zu tragen, weil ich tatsächlich
nicht gleich vollaufgerüstet in das Geschäft
komme. Oha! Ich bessere schnell nach: „Entschuldigung!“
(Das ist ein schmuddeliges Alibi,
ich kümmerte mich drum, mich und andere
zu schützen, nie gewaschen und achtlos weggeknüddelt
in meiner Hosentasche untergebracht).
Wenig später wird ein weiterer Kunde
deswegen ermahnt, und mein Verkäufer
erklärt: „Ab heute kostet es 150,- Euro, auch
für uns, wenn wir die Maskenpflicht nicht anmahnen.“
Kameras überwachen das Geschäft.
Ich denke wieder an die S-Bahn-Geschichte
von damals.
Schaun wir mal, was noch kommt?
Selbst wenn wir’s nicht filmisch fixieren, immer
finden sich welche, die falsches Verhalten
anprangern, sich selbst aufwerten wollen.
Sie ändern die Welt nicht und machen bald
genauso ihre eigenen Fehler. Ein weiteres
Beispiel: Menschen gehen über die Straße im
Bereich einer Ampel, die gerade auf grün für
die Fußgänger umgesprungen ist, und drei,
vier Radfahrer begegnen sich auch dabei. Ein
älteres Ehepaar empört sich, man müsse das
Rad schieben! Einige Szenen fallen uns ein,
wenn es um Alltagsregeln geht, bei denen
wir nicht gleich nach der Polizei rufen.
Wir regeln das selbst, und sei es durch
Schimpfen.
Der Rechtsstaat hat sich aus gutem Grund
zu einem komplexen System entwickelt.
Wir schützen die Opfer der Taten, und: Wir
schützen die Täter vor der Rache der Angehörigen
der Opfer. Das haben noch nicht alle
begriffen. Fleißiges Krimi schauen lässt den
einfachen Menschen glauben, das Ermitteln
und Richten der anderen sei leicht. Das wird
empfohlen: ein kleiner Film, schnell gemacht:
„Die“ haben in der Rettungsgasse gewendet,
und nun kann die Polizei die restliche Arbeit
machen, dann kommen sie dran! Das war
auch Titel einer Boulevardzeitung.
Das finden alle toll.
Jeder ist ein Polizist? Die echten Kollegen
sind es auch, die immer alles machen, was
geht. Wir beschriften kleine Zettel im Restaurant,
damit eine Corona-Kette nachvollzogen
werden kann? Die Kripo wertet die Notizen
aus, um ein Alibi im Falle eigener Ermittlungen
zu kontrollieren. Das gefällt vielen, dass
hier mal eben ein Grundrecht verbogen wird.
Wer nichts Böses tut, hat nichts zu befürchten,
so einfach ist es? Das ist nur dann nicht
naiv gedacht, wenn wir den Rechtsstaat aktiv
pflegen, wie wir im Garten Unkraut jäten.
Kaum glauben wir normalen Bürger, dass
Whatsapp und verschlüsselte E-Mail sicher
sind, wird bekannt, dass der Staatsschutz
alles dransetzt, diese Systeme endlich zügig
zu hacken, und sei es, indem die amerikanischen
oder britischen
Kollegen Daten liefern
müssen, die den BND-
Mitarbeitern rechtlich
nicht zur Verfügung stehen.
Findige Ermittler
sind skrupellos genug,
anderen zu folgen, die
keine Skrupel kennen
und bemängeln, dass es
einen Umweg bedeutet
(unsere eigenen Gesetze
zu brechen), um effektiv
Straftaten zu bekämpfen?
Aktuelle Bilder von
brutal und eigenmächtig
agierenden Sicherheitskräften in den
verschiedenen Regionen der Welt sind eine
Mahnung. Im demokratischen System müssen
die Ausübenden des staatlichen Gewaltmonopols
(gegen Verdächtige) dem Recht
unterworfen sein wie alle Bürger im Staat.
Ist die digitale Sprache ein fixer Beweis? Wir
sollten uns nicht täuschen: offensichtlich
festgehalten ist die Tat, aber das Tückische
liegt genau darin. Was früher ein gesprochenes
Wort war, blieb solange ein schwebendes
Beschreiben, bis daraus eine fixierte Aussage
in einer Anzeige wurde. Wer schreibt, der
bleibt, haben wir gewusst, und es ist ja bekannt,
dass es meistens besser ist, „die Klappe“
zu halten.
Alles auf Video – Regieanweisung, Klappe:
„Straftat beobachtet, die Erste“, könnte ein
Film der Gegenwart heißen – aber der gute
(und zu eifrige) Jäger kann schlussendlich vor
Gericht scheitern, weil das Gesetz dem wachsamen
Nachbarn und Polizisten selbst enge
Grenzen setzt. Eine Straftat ist juristisch exakt
definiert. Der Laie empfindet das Unrecht
eher nach seinem Gefühl, aber beweiskräftige
Fakten werden nicht wie im Sonntags-
Krimi mal eben großartig, schnodderig dahin
ermittelt.
Das ist großes Kino: Chaotisch rumbrüllen
und rauchende, trinkende Kommissare, Schimanski
oder ein saufender Maigret? Sean-
Connery-Bond mit der Lizenz zum Trinken:
geschüttelt, nicht gerührt? Die alten Helden
haben heute keine Zukunft. Es laufen auch
keine Western mit John Wayne mehr im Fernsehen.
Die gute alte Zeit ist vorbei.
Smart, kalt und immer festgehalten müssen
wir uns bewegen, geht’s noch?
Das denke ich: Wie eingefroren seien Bilder
von Edward Hopper, schreiben manche. Da
denkt man an ein kleines Boot, wie er es malte.
Es segelt vor einem Strand in blauem Wasser.
Der Künstler hat die Bugwelle weggelassen!
Hopper, der mehr als nur amerikanische
Szene malte, er malte sie amerikanisch. Eine
neue Kunst: Noch heute bewundern wir seine
melancholischen Szenen, die er für uns
fixierte. Das ist ein Wunsch: Alles möge bleiben,
und wir kontrollieren das Bild der Gegenwart.
Es bleibt der Kunst vorbehalten, gekonnt
festzuhalten, und die Affen rasen weiter.
Das Leben kann einsam und lang daher
kommen. Im Gefängnis zieht sich die Zeit
in die Länge wie Kaugummi, sagt man. Ist
es erstrebenswert, die Zeit anhalten zu wollen?
Den eigenen, festen Standpunkt haben
oder von anderen gebrandmarkt, festgelegt
werden: „The long leg“ heißt das
erwähnte Bild von Hopper. Segler
wissen, was ein langes Bein ist.
Das bedeutet, beinahe anliegen
zu können, nicht kreuzen müssen.
Ein langes Bein ist ein Geschenk.
Statt den Wind genau von vorn
zu haben und Schlag um Schlag
aufkreuzen zu müssen, haben wir
einen langen Schlag, mit dem wir
beinahe das Ziel erreichen können
und gelegentlich kurze
Holeschläge, wenn wir nach Luv
nachbessern müssen. Eine feine
Sache, aber: Das kann sich auch
hinziehen.
Kalter Wind von vorn, dabei nur langsame
Bootsgeschwindigkeit mit einem alten Kahn?
Ein langes Bein bedeutet also, dass sich recht
lang kaum etwas ändert. Da passt es doch,
dass dieses Boot auf dem Gemälde so festgenagelt
wirkt. Nehmen wir an, das kleine
Segelschiffchen mit der kantigen Kajüte ist
nicht besonders schnell dabei – vielleicht
steht noch Strom gegenan – dann zieht sich
dieses lange, lange Bein wohl hin. Schräg ist
das Deck, und der Wind drückt ja kräftig in
das Rigg – warum nur dauert es eine Ewig-
Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 63 [Seite 62 bis 64]
keit voranzukommen? Die Sonne steht schon
tief. Sehnsüchtig peilen wir immer wieder
neu den Leuchtturm, bis das Schiff allmählich
etwas Luv gutgemacht hat und das Ende der
Landzunge querab ist.
Sich dessen bewusst zu sein, dass ein Bild
und auch ein kurzer Film nur eine Szene festhalten,
bedeutet auch begreifen zu können,
dass unser Leben eine „Neverending Story“
ist. Es ist dynamisch. Das Leben festhalten
zu wollen, kommt einem Ende der Bewegung
und einem Versuch, die Zukunft verhindern
zu wollen gleich. Genauso, wie ein kurzer
Film eine Tat belegt, beweist sie die Absicht
des Filmenden, sich als beteiligter Polizist
und besserer Mensch darstellen zu wollen.
Festgehalten ist auch die Aussage derer, die
eine Schuld beweisen wollen, und nicht selten
festgenagelt ist der Ankläger auf seine
Beschuldigungen. Ein böses, aber absichtlich
aufgebauschtes Wort über andere, kann
schließlich zum Bumerang werden.
„Klappe halten“, woher kommt dieser Rat –
aus Hollywood? Dann ist es eine Anweisung
an den Lehrling, erst einmal zu lernen, statt
selbst zu filmen – und geradezu eine Aufforderung
an den Schauspieler, den aktiven Täter,
alles zu geben: „Gib’ dem Affen Zucker!“ ist
ein Film mit Adriano Celentano. Das Internet
bietet auch die bessere, ältere Erklärung:
die Regeln eines solchen Gottesdienstes ein
mehrmaliges Aufstehen und Wiederhinsitzen
vorsahen und diese Klappmechanismen von
eher einfacher Art waren, wären die Holzsitze,
hätte man sie denn nicht festgehalten, mit
einem laut durch Kirche und Andacht hallenden
Laut in die Sitzposition gefallen.“
Nicht stören. Grundsätzlich, immer: Geht
das?
Anonym wollen viele sein, besonders, wenn’s
um die Privatsphäre geht. Da müssten wir
ziemlich grundsätzlich die „Klappe halten“,
damit es klappt. Eine Illusion, wir könnten
insgesamt darüber bestimmen, was die anderen
über uns verwenden. Und den Affen
Zucker geben? Das bedeutet denen, die wie
Affen gaffen, das Futter zu geben das ihnen
schmeckt!
Malen, leben, spielen – solange noch was
geht …
:)
„Die Redewendung ,dem Affen Zucker‘ geben
stammt noch aus Zeiten, in denen ein Leierkastenmann
durch die Stadt zog, um die Menschen
mit seiner Musik zu unterhalten. Oft
hatte er auch ein kleines Äffchen bei sich, das
Kunststücke zu seiner Musik machte. Um das
Äffchen jedoch bei Laune zu halten, musste
er ihm hin und wieder ein Stückchen Zucker
geben. Genau so tut man es im übertragenen
Sinne mit seinen Schwächen oder komischen
Angewohnheiten, indem man sie nicht unterdrückt,
sondern einfach auslebt.“
Das ist ein guter Rat: „Lass’ die Leute reden“,
und ihnen etwas zu geben. Cäsar, das alte
Rom, Brot und Spiele, Theater des Lebens,
Cabaret – „Gib den Leuten vier Takte, in die
sie ihre Zähne beißen können, und du hast einen
Hit“, wusste schon Fats Waller. Es braucht
nicht viel, um Leben in ein Dorf zu bringen.
Macht doch nix!
Morgen gibt es wieder neue Geschichten.
Das finde ich noch: „Die Herkunft der Redewendung
„die Klappe halten“ geht auf die
liturgischen Rituale katholischer Klostergottesdienste
zurück, wo im Chorgestühl ein jeder
Mönch sein eigenes Plätzchen hatte. Und
weil diese Plätzchen sowohl zum Stehen als
auch zum Sitzen auf relativ engem Raum geeignet
sein mussten, waren die Sitzflächen
mit einer Klappvorrichtung versehen. Da
Aug 8, 2020 - Wir lachen Affen, die gaffen, einfach aus 64 [Seite 62 bis 64]
Nie wieder.
Aug 10, 2020
„Schönen Tag auch!“, oder einfach gar nicht
reagieren. Meine Grenze: Nie wieder Nähe
zulassen. Wortlos, grußlos mit leichtem Lächeln
passieren, ist das Beste.
Da kommt sie: sommerlich gekleidet, verschämter
Blick, ihre Brust zeichnet sich
deutlich ab, unter einem hellen Stoff. Sie ist
schlank, wie immer. Sie ist schön. Wir kannten
uns mal. Sie zieht einen Reiserolli hinter sich
her, und ich atme tief durch, gehe einfach
weiter. Wieder reden wir nicht. Schiffe, die
sich in finsterer Nacht begegnen, am hellen
Sommertag. Das war nun unsere fünfte Begegnung
kurz hintereinander in den wenigen
Wochen, die sie mutmaßlich hier ist. Ich zähle
das mit. Andere Straßenseite, ein kurzer Blick
– weiter gehen – nicht denken ist besser. Ich
hoffe, sie hat dieses Mal nicht noch angefangen
zu laufen.
Ich sehe mich nicht um.
Frust ist die Basis. Es ist Montag,
und ich bin damit aufgewacht:
„Nie wieder“, denke ich.
Damit gehe ich durch diesen
Tag. Damit ertrage ich jeden
Tag. Ich gehe damit zu Bett.
Wenn ich nachts aufwache,
denke ich: Nie wieder. Ich atme
ein, atme aus – und nach einer
Stunde spätestens, fühlt es sich
sehr gut an. Ich habe das gelernt:
Feldenkrais. Nie wieder,
denke ich, und dann schlafe
ich bis etwa um fünf. Ich stehe
früh auf, finde was zu tun, das
mir gefällt – und das mache
ich dann.
Nie wieder irgendeine Politik unterstützen,
nie wieder wählen gehen und vor allem niemals
eine soziale Partei unterstützen. „Mit
Stegner Kaffee trinken?“ Das fragt mich heute
niemand mehr. Gut so. Natürlich habe ich
beim Bürgerentscheid gegen das jahrelang
ausgearbeitete Konzept gestimmt. Fein, dass
wir es zu Fall bringen konnten. Hauptsache
gegenan. Zeit meines Lebens war ich begeisterter
Demokrat! Vorbei. Nur noch Spott
kommt über meine Lippen, wenn ich die
Nachrichten schaue.
Das erste Bier trinke ich so um halb zwölf,
manchmal früher. Ich esse fett, ich habe
schlechte Zuckerwerte. Ich bin bei über achtzig
Kilo. Ich esse zweimal die Woche Eis mit
Schlagsahne bei Olli. Ich wasche mich ohne
Seife, weil es besser für die Haut ist, und ich
gehe nicht zum Friseur. Tanja ist schwanger,
und bald ist sie im Mutterschutz; zu einer anderen
gehe ich nicht. Die mag ich! Wir haben
es immer nett gehabt; aber jetzt in der Corona-Zeit
begreife ich, dass es mir vollkommen
egal ist, wie ich aussehe. Ich stinke: Ich esse
hemmungslos und reichlich Knoblauch, weil
mir das schmeckt, und in der Summe dieser
hier notierten Sätze und ihrem totalen Frust
wird mir klar: Ich bin einfach nur noch eklig.
Gut so.
Nie wieder, Leute.
Die Gesellschaft pauschal? „SCHönen guten
Tag!“ – ich betone es schon gern mal extra,
wie unser alter SPD-Grüßonkel hier im Dorf.
Und etwa so viele Leute wie er, kenne ich
auch. Da gibt es immer mal einen Plausch.
Das kann ich, und ich bin
gern nett.
Bis bald, hier an der Straße
im Ort laufe ich ja täglich.
:)
Es ist Montag, und ich war einkaufen. An der
Hauptstraße: Stau. Ich schaue in die Gesichter
der am Steuer. Es ist gegen elf, und in
erster Linie sehe ich, denke ich: dumme, verkrampfte,
hässliche Frauen mittleren Alters
in dummen, dicken Autos; sie müssen warten,
und das können solche nicht, und deswegen
sehen sie so bekannt scheiße aus.
Ich habe fertig.
Ich habe ein Atelier, einen Rückzugsort. Ich
quatsche gern, aber ich gehe anderen grundsätzlich
aus dem Weg. Nie wieder bringe ich
mich uneigennützig in die Gesellschaft ein.
An (…) gehe ich ebenfalls stumpf vorbei, probiere
ihr einstudiertes Plakatgesicht grußlos
nachzumachen. Das gelingt meistens. Es
funktioniert bei einigen (…) sehr gut. Nie wieder
Nähe zulassen, noch zehn, zwanzig Jahre,
dann Krankheiten aushalten, sich pflegen
lassen – meine Zukunft. Ist doch egal.
Eine stabile, belastbare psychische Gesundheit,
mein Ziel; ich bin angekommen.
Aug 10, 2020 - Nie wieder. 65 [Seite 65 bis 65]
Die Gipfel der Freiheit
Aug 13, 2020
Wir dürfen dumm bleiben: uns selbst treu
sein! Die Freiheit klüger zu werden und besser
haben wir nicht: Es ist eine Gnade der
Umgebung, wenn sich wieder eine Tür öffnet
und wir dorthin gehen können, wo es besser
ist. Die Umgebung muss mitspielen, damit
sich unser Ego erfüllen kann. Wir möchten
uns dem Besseren zuwenden? Dafür müssen
wir es erkennen können. Ansonsten werden
wir uns nur wiederholen, wir machen weiter
wie gewohnt. Deswegen sind wir frei darin,
zu bleiben wie wir sind, frei so dumm zu sein,
wie wir es gerade sind und frei dorthin zu
gehen, wo es uns noch schlechter geht. Der
Weg nach unten steht immer offen. Wir müssen
nur unserem Zorn nachgeben oder einem
Laster: zu viel essen, saufen oder sonst was.
Die Freiheit haben, jemand zu sein, ein
Künstler oder ein Kaufmann – derselbe
Nachbar sagte zu mir über sich: „Ich glaube
John, ich bin so geworden wie ich nun bin.
Eine Entwicklung.“ Mir kommt es auch wie
eine Rechtfertigung vor, aber es stimmt. Die
Kirchengemeinde erkennt eine selbstgefällige
Trutsche, daneben ein eitles Plakat, hofft
auf die erlösende Predigt oder darauf endlich
zum Buffet überzuwechseln? Beschränktheit
befriedigt, auf beiden Seiten. Es kommt darauf
an, wie es sich anfühlt, nicht wie die Bewertung
ist.
Sich auf die Suche zu machen.
Das ist die alternative Richtung zum Bleiben
in den eigenen Grenzen, dem blasierten und
einfältigen Renommieren oder dem selbstzerstörerischen
Weg nach ganz unten. Der ist
immer frei. Wir existieren an einem Abhang,
und es ist an uns, was wir daraus machen.
Warum befindet sich jeder an seinem eigenen
Berg, und warum scheint das so ungerecht zu
sein und oft ohne jeden Sinn, Hoffnung oder
Ausweg, und warum reicht unser Blick bis in
eine verlockende, bessere Ferne: die Gipfel
der anderen?
:)
Es ist schon einige Jahre her, wir waren mit
der Bahn unterwegs. Im Regionalzug, einige
wenige Sitzplätze entfernt, waren Studenten
unterwegs. Es wurde lebhaft diskutiert, und
ein junger Mann stach mit seinen Thesen
hervor: „Warum ernähren sich die Leute nicht
gesund? Es gibt überall gesunde Lebensmittel
zu kaufen, es gibt Ratgeber, Literatur,
Fernsehen, Internet. Wir wissen, was gut für
uns ist, was schlecht. Und die Produkte
sind leicht verfügbar.“
Ich kann einen Brief schreiben und bin
unglücklich, wenn ich keine Antwort
bekomme. Ich kann mich grämen, wenn
ich fett bin und gehe nun in das gesunde
Geschäft gleich neben dem Imbiss,
wo ich für gewöhnlich meine öligen
Pommes verspeise? Wenn es so einfach
wäre, das Glück und die Verbesserung
meiner Existenz zu finden, könnte ich
eine Dating-App wie den Gang zu einer Prostituierten
verstehen, und dann kaufe ich mir
eine Frau?
Einfach die zehn Gebote einhalten, sagt der
junge Pastor mit forschem Ton, dann klappt
das schon mit dem Leben. Der wird sich noch
umgucken, denke ich. Die Bürgervorsteherin
gefällt sich in einer längeren Ansprache.
„Hör endlich auf, Oma“, raunen die genervten
Freunde der Konfirmanden in der Reihe vor
mir. Dann spricht noch die Bürgermeisterin,
und die Kommentare sind die gleichen.
Wir ertragen solche Reden; aber es dauert,
bis gute Formulierungen gefunden werden.
Warum tut sich jemand an, am Festtag eine
Ansprache zum Besten zu geben, in einer Kirche?
Zur Bürgermeisterin wird man gewählt,
und dann gehört es dazu. Zur Wahl anzutreten,
darin sind wir frei.
„Das hat er sich doch selbst ausgesucht“, hat
mein früherer Nachbar einmal gesagt, als ich
Kümmernisse von jemandem aufzählte; zu
jedem Beruf und Existenz gehören auch unangenehme
Sachen.
Aug 13, 2020 - Die Gipfel der Freiheit 66 [Seite 66 bis 66]
Mein Russland
Aug 24, 2020
Wir sehen es in den Nachrichten, jemand
hat alles verloren. Ein Brand in Kalifornien,
Buschfeuer haben das Wohngebiet erreicht.
Eine Frau steht fassungslos vor den verkohlten
Resten. Nur Metall hat dem Feuer standgehalten.
Das runde Guckloch in der Front
einer schwarzen Form scheint zu beweisen,
dass das wirklich einmal ihre Waschmaschine
war. So können wir uns vorstellen, was es für
uns selbst bedeuten würde. In den verbrannten
Resten rundherum ist keine Struktur erkennbar.
„Hier war die Küche“, sagt die Frau
und bricht ab – dann kommt anderes, zum
Schluss der Wetterbericht; uns geht es gut!
Wir sind gerade im Urlaub, in der Ferienwohnung.
Die kleine Welt. Unsere gewohnte Umgebung,
in der wir uns zurechtfinden. Leicht
nehmen wir ein Urlaubsdomizil in Besitz und
kehren dann zurück, selbstbestimmte Wechsel
sind einfach. Existenzverlust, wie es sich
anfühlt? Das zieht uns den Boden unter den
Füßen weg. Ich erinnere mich: Ich war noch
klein, etwa elf Jahre alt oder zwölf, da wurde
ich nach Marktschellenberg in eine Kur verschickt
(das hieß wirklich so). Ich sei zu leicht,
zu dünn und auch für mein Alter zu schwach,
hatten Hausarzt und Barmer-Ersatzkasse
festgestellt.
War das wirklich der Grund?
Die großen Ferien fanden erzwungenermaßen
bei Berchtesgaden statt, Kinderheim
für einen Sommer. Die Leitung durften wir
„Charlotte“ nennen, eine ältere Dame. Sie war
schon einmal an der Elbe zu Besuch gewesen,
kannte unser Fährhaus und Schiffsbegrüßungsanlage,
tatsächlich!
Wedel – meine Heimatstadt mit unserem
verwinkelten Altbau mitten in der belebten
Einkaufsstraße, die vom Bahnhof bis beinahe
an die Elbe führt. Als ich zurück kam, war das
vertraute Haus mit unserem Fischladen an
der Straße, der Wohnung darüber und der von
Oma Lina ganz oben unter dem Spitzgiebel
(wo jedes Jahr die Schwalben ihre Nester in
die Winkel kleisterten), weg.
Eine Baugrube gähnte mich an.
Zwei große Berge dahinter zerstörten das gewohnte
Bild aus Obstbäumen, Erdbeer- und
Gemüsebeeten, den Spargelreihen auf der
anderen Seite vom schmalen Weg im Gras.
Der vordere, ein reichlich fünf Meter hoch
geschütteter Kegel aus gelbem Sand, Lehm.
Der andere ein schwarzer Dreckhügel, aufgetürmt
aus klebrigen Mutterboden. Sie besetzten
den Platz, wo Garten und Schuppen
für das Boot gewesen waren. Rechts hatte
der große Birnbaum gestanden. Der war auch
weg. Immerhin, mein Lieblingskletterbaum,
unsere Kastanie ganz hinten im Garten, hatte
das von den eigenen Eltern angezettelte Verbrechen
gegen meine vertraute Heimatumgebung
überlebt. Sie stellten alles anders dar,
betonten bis zu ihrem seligen Ende die Sinnhaftigkeit
des Neubaus, alternativlos wäre es
gewesen. Die Eltern waren
ja nicht meine Feinde oder
so: „Dafür bist du noch zu
klein“, sagten sie vielleicht
auf verstörende Fragen, so
sind Eltern. Später waren
sie dann Oma und Opa für
ihre Enkel und machten
sich ganz gut.
Einmal war während unseres
Urlaubs an der Ostsee
zuhause in Schenefeld ein
schweres Gewitter niedergegangen,
und sie riefen
uns im Ferienort an, würden sich kümmern,
helfen, ordnen und alles aufwischen, damit
wir bleiben konnten, wo wir waren. Sie (und
einige ebenfalls betroffene Nachbarn) mussten
den Keller trocknen. Wenige Zentimeter
hoch (nur) hatte dort Wasser gestanden und
doch reichlich Schaden angerichtet. Das vertraute
Zuhause ist ein wesentlicher Teil unserer
Existenz.
Meine Eltern sind seit einigen Jahren verstorben,
und ich denke viel nach über Familie
und gesellschaftliche Struktur. Wir helfen
einander in der Not, aber
die Nachrichten sind voll
von Gewalt und Betrug.
Menschen, was sind wir:
Ist die Gesellschaft (an
sich) böse? Das wollte ich
herausfinden. Für mich
eine wichtige Frage: Warum
werden Menschen
psychisch krank? Eine
verworfene These aus
den vierziger Jahren. Die
modernen Psychologen
tappen weiter herum, im
Dschungel der Diagnosen
und Lösungsansätze.
Ich habe schon viele auf unterschiedliche
Weise psychisch Kranke kennengelernt: „Hier
in der Klinik bekomme ich täglich Therapie,
mache die Aufgaben, aber irgendwann ist es
ja fertig. Dann bin ich wieder zuhause, und
dann ist Mama ja wieder immer da“, sagt eine
junge Frau und fährt fort: „Dann beginnt sowieso
alles von vorn.“ Sie zeigt mir verheilte
Narben auf dem Unterarm.
„Ritzen“ ist ihre Diagnose.
Wenn das Buschfeuer unser Haus niederbrennt,
das Gewitter den
Keller flutet oder Terroristen
– der Feind von draußen
– wer auch immer
unsere Existenz vernichtet:
Das wird uns stärker
machen. Wir werden Hilfe
bekommen und sie nutzen
können. Entscheidend
ist die Grenze, was wir als
unser Leben definieren
und ob die Bedrohung
fremd ist oder der Gegner
auf untrennbare Weise mit
uns zusammen wohnt?
Mama ist wieder „immer“ da – wie hilflos und
frustrierend – es ist nur jeweils eine Mutter
die eigene. Eine bessere ist nicht zu bekommen.
Liebe ist eine Pflicht? Dann wird ein
abhängiger Mensch krank. Kinder benötigen
Jahre, bis sie erwachsen sind und selbst für
sich sorgen können. Wenn das nach der in unserer
Gesellschaft als angemessen empfundenen
Zeit nicht
gelingt, wird es
schwierig für
die jungen Erwachsenen
und
genauso für die
Eltern.
Eine Möglichkeit
Ansätze zu
finden, um Probleme
in den Griff
zu bekommen,
ist zunächst
eine Theorie zu
formulieren, die erklärt wie die Schwierigkeiten
entstehen. Das zeigt schon deswegen
Lösungen auf. Wir können Beispiele aus
verschiedenen Bereichen beschreiben und
deutlich machen, wo innerhalb von Grenzen
einerseits und Beziehungen zu fremden Mitgliedern
andererseits das Netzwerk des Lebens
erkennbar ist. Das skizziert fremde, aber
verwandte Bilder, um ähnliche Systeme wie
Modelle nutzen zu können. Wir schauen auf
Staaten, ihre Regierungen und Gesellschaft,
um ein vergleichbares Bild der Familie, dem
einzelnen Organismus und den individuellen
Problemen zeichnen
zu können.
Ein System ist
eine Verbindung
von strukturierten
Abteilungen
mit einem gemeinsamen
Ziel.
Ein Schiff mit
der Fähigkeit
dem Meer und
Wetterbedingungen
zu trotzen,
auf einer Fahrt
zu einem fernen
Hafen? Es hat eine Mannschaft an Bord,
transportiert Fracht oder Passagiere und wird
letztlich in seiner Bewegung durch den Kapitän
verantwortet; das ist ein System. Eine Firma
ist eins, ein Staat oder eine Familie ist ein
System. Ein Mensch, begrenzt durch die Haut,
mit seinen Armen und Beinen, den Muskeln,
Knochen und den inneren Organen, der leitenden,
Sinn gebenden Zentrale im Kopf, ist
ein System. Um eine psychische Erkrankung
zu verstehen und in den Griff zu bekommen,
müssen Muskulatur und Bewegung genauso
wie familiäres Umfeld und Jobsituation in
das Denken miteinbezogen werden.
Beispiele aus anderen
Strukturen
können eine gute
Illustration der
Problematik sein.
Was sind nicht
änderbare Widerstände,
und
wo sind flexible
Grenzen? Wenn
es beispielsweise
in Europa
Schwierigkeiten
Aug 24, 2020 - Mein Russland 67 [Seite 67 bis 70]
gibt, Verantwortung zwischen einzelnen
Staaten anderen gegenüber geltend zu machen,
werden schnell Unterschiede deutlich.
Ein Mensch wird sich schwerlich von einem
schmerzenden Fuß trennen. Aber ein Staat
wie Großbritannien kann die Europäische
Union verlassen. Dasselbe geschieht in Firmen
mit finanzieller Schieflage. Die funktionierenden
Abteilungen können von einem
Käufer in die eigene Struktur integriert werden,
aber einige Filialen etwa einer Bäckereikette,
die aufgrund ihrer Lage keinen Umsatz
machen, werden geschlossen. Innerhalb der
Familie werden einzelne Mitglieder nicht so
einfach die Struktur aus Eltern, Großeltern,
weiteren Verwandten verlassen können, und
ein Mensch als ebenso systemisch erklärbare
Einheit, trennt keine Körperteile ab, die nicht
gefallen. Selbstverletzungen und Schönheitsoperationen
gehen in diese Richtung,
wo aber ist ein Bein zu finden das von sich
aus das Weite sucht, wie etwa die Katalanen
Spanien verlassen wollen oder die Briten Europa?
„Ich, dein Fuß – halte es nicht mehr aus bei
dir, mag nicht länger deinen (fetten) Leib
zum Döner-Laden schleppen. Ich gehe fort“,
das ist eine Sprache, die wenige verstehen.
Theoretisch reizvoll sind diese Gedanken
trotzdem, weil das Denken in Bildern überraschende,
neue Gedanken hervorbringt. Ob
jemand bewegliche Hüften hat und ansprechend
herumspaziert, kümmert den Psychiater
nicht. Er gibt eine gute Erhaltungsdosis
seiner Medizin und versteift den Geisteskranken
damit extra. Dann solle der sich mal wo
bewerben und bitte verschweigen, er sei grad
in Behandlung. Das wird geraten. Tunnelblick
vom Fachmann, und beim Behandelten ist es
genauso. Es einmal mit intelligenten Ansätzen
probieren?
Fehlanzeige.
Wenn sie an einer Regatta teilnehmen und
es auf Details ankommt, das Boot optimal
zu trimmen, gehen manche Bootsbesitzer
vorher eine Liste durch. Kein Flugzeug hebt
ab, bevor nicht die Piloten ihre Checkliste abgehakt
haben, was unbedingt funktionieren
muss, vernünftigerweise in Ordnung ist und
worauf man eventuell verzichten kann, wenn
es nicht störungsfrei arbeitet. Ein System ist
bestrebt, Fehler zu vermeiden. Die Triebwerke
müssen fehlerfrei Schub bringen. Der Höhenmesser
muss das Team im Cockpit korrekt
informieren, und die Treibstoffanzeige muss
ihren Dienst tun. Es werden aber auch Geräte
überprüft, die für das sichere Fliegen nicht
unbedingt nötig sind. „Noch nie bin ich abgehoben
und wirklich alles an Bord hat vollständig
funktioniert“, sagte mir einmal ein
erfahrener Pilot. Fehler im System gehören
dazu, und es ist an der Leitung zu entscheiden,
wie damit umgegangen wird.
Der schlimmste Fall kann eintreten. Als eine
Maschine mit Regierungsmitgliedern gegen
die Warnungen vom Flughafenpersonal trotz
schlechtem Wetters landet, haben der Pilot,
die kleine Besatzung und die wenigen Passagiere
das mit dem Leben bezahlt: Landebahn
verfehlt oder darüber hinaus geschossen.
Man hat bereits einen vergeblichen Anflug
auf die Piste im Nebel erfolglos abgebrochen?
Dann ist, möglicherweise auf Anweisung
der hochrangigen Passagiere an Bord
aus der Politik, die den wichtigen Termin in
der Stadt unbedingt wahrnehmen wollen, ein
weiteres Mal der im Unwetter nicht sichtbare
Flughafen angesteuert worden – und die
Landung in einer Katastrophe geendet.
Das Unglück liegt bereits einige Jahre zurück,
wie auch der Absturz der Concorde oder die
Challenger-Katastrophe. Trotzdem habe ich
eine Erinnerung daran, die ich nicht vergessen
kann. Wir kennen dramatische Filmszenen,
das ist nicht real. Wie die Maschine in
„Cast Away“ abstürzt, die Propellerschaufeln
des riesigen Triebwerks vor Hanks in Notschwimmweste
bei aufgewühlter See letzte
Umdrehungen machen, ist Kino. Das hier war
ganz normales Fernsehen im Zweiten Programm,
mit Klaus Kleber oder so.
Ich erinnere mich.
Im heute-journal werden die Originalgeräusche
des später aus dem Wrack geborgenen
Voice-Recorders abgespielt. Es kracht und
knallt. Das Flugzeug schlägt Bäume um,
als die Tragflächen brechen, wir hören die
Schreie der Flugreisenden und Piloten an
Bord. Die Insassen begreifen, dass die Sache
schließlich schief geht! Die unüberhörbare
Angst der Menschen – die verstehen, dass
sie sterben und zwar jetzt sofort, ihre Panik
– eine schrille Frauenstimme war auch dabei,
ist mir unvergesslich.
Abhängig sterben, das denke ich.
Mitgerissen in den Tod, das ist die extremste
Form von Gewalt gegen uns, weil wir ein Teil
des Apparates sind und unfähig, seinen Kurs
zum Besten abzuändern und zudem wissend
oder zumindest ausgestattet mit der Annahme,
dass da ein besserer Weg ist. Wir lernen
in der Schule, was es bedeutet die Stimme
kritisch zu erheben und werden dazu ermuntert.
Die moderne demokratische Politik
erkennt die Opposition als unerlässlich und
notwendig an. Manche glauben, dass bei uns
gute Menschen verantwortungsvolle
Staatsführung betreiben
und einige
andere Länder von
bösen Machthabern
geführt sind? Ich
glaube nicht, dass
wir bessere Anführer
haben, sondern
an unser stabiles
System, das einzelne
zwingt, zum
Nutzen aller zu
handeln.
Ist die Welt ein von
Gott zusammengehaltenes
Ganzes?
Menschen die annehmen, dass ohnehin geschieht
was passieren muss, können nicht
definieren, wo das eigene ich beginnt und
aufhört. Das wäre eine Welt, die vollkommen
vom Zwang das jeweilige zu tun beherrscht
ist. Ist das bei uns so? Ausgeliefert dem
Schicksal, gingen wir willig sogar bis in den
Tod wenn die „Macht“ das fordert. Geführt wie
auf einer Eisenbahnschiene und ohne Möglichkeit
durch Eigeninitiative abzubiegen?
Das Leben zu meistern bedeutet, gerade diese
Lücke für die eigene Wahl zu bemerken in
der Umgebung, die zugegebenermaßen nicht
selten wenig Platz für gerade unsere Interessen
frei macht. „Du stellst meine Füße auf
weiten Raum“ – zu glauben, bedeutet nicht
zwanghaft und blind vorwärts zu traben. Den
Körper, die Gefühle wahrzunehmen und mit
dem lenkenden Gehirn entscheiden zu können,
ist unsere gesunde Aktion, die dem Kranken
nicht gelingt. Dazu gehört die eigene
Handlungsfähigkeit in Relation der Umstände
einzuschätzen. Politische Strukturen, Management
und verlässliche Freundschaften
können als Beispiele genutzt werden, dem
Leben einen individuellen Weg abzuschauen.
Die Tendenz Macht auszuüben, Eitelkeiten
auszuleben und fachlich schwach aufgestellt
zu sein, ist bei unserer Politik genauso
erkennbar. Wer es je am eigenen Leib erfahren
hat, beiseite gedrückt zu werden, kann
bestätigen, dass auch unsere Gesellschaft
(in einzelnen Gruppen) böse ist. Der Mensch
wird immer der Versuchung erliegen, seine
schlechte Seite zum persönlichen Vorteil einzusetzen
und Macht missbrauchen. Die Frage
ist weniger, ob es gute und böse Menschen
gibt, Strafen verschärft werden müssen. Der
theoretische Ansatz zur Erklärung von Missbrauch
und die daraus resultierenden Traumata
derer die sich dem nicht entziehen
können, findet sich dort, wo die Möglichkeiten
gegeben sind. Die Motive von einigen,
für die gezielte Unterdrückung anderer eine
gute Methode ist, Befriedigung zu erlangen,
sollten wir begreifen.
Wenn wir einen stabilen Rechtsstaat pflegen,
ist Machtmissbrauch durch die Verwaltung
und Politik des Systems nur begrenzt möglich.
Genauso wenig, wie wir sexuellen Missbrauch
in Sportvereinen, Kinder- und Jugendbetreuung
oder kirchlichen Organisationen
grundsätzlich abschaffen können, müssen
wir begreifen, dass es keine bösen Menschen
gibt und wir selbst nicht gut sind, sondern
eine komplizierte Struktur der Beziehungen
im System die Grundlage ist, wenn Einzelne
fertig gemacht werden, die sich nicht wehren
können.
Systeme haben unterschiedliche
Ansätze, mit Kritik umzugehen. Zur
Zeit beherrscht die mögliche Vergiftung
eines russischen Regimekritikers
unsere Nachrichten. Eine gute
Möglichkeit, unterschiedliche Individuen
systemisch zu betrachten,
sehen einige darin, Personen wie
Staaten einzuschätzen, Nationalitäten
auf die Schippe zu nehmen.
Jüdische Witze oder englischer Humor
sind die milde Form, spezielles
Verhalten auf Absonderlichkeiten
hin abzuklopfen. Familien können
als kleine Einheit durchaus mit
Gesellschaften verglichen werden:
„Oma und Opa klagen Urlaub mit
Enkelin ein, Eltern verlieren Prozess
um Umgangsrecht“, titelt die
BamS. Präsidentenwahl, Aufruhr in Weißrussland
und die Mahnung aus Moskau, Europa
möge sich bitte mit Einmischung in innere
Angelegenheiten beim Nachbarn zurückhalten,
ist auch ein Thema.
„Der umstrittene Staatschef hatte am Samstag
eine Militärbasis in Grodno im Westen
des Landes nahe der Grenze zu Polen besucht.
Dabei erneuerte er seinen Vorwurf,
dass die Proteste ,von außen‘ gesteuert seien.
Nato-Truppen in Polen und Litauen seien
entlang der Grenze zu Belarus ,ernsthaft
in Bewegung‘, sagte Lukaschenko weiter. Er
habe deshalb die gesamte Armee seines Lan-
Aug 24, 2020 - Mein Russland 68 [Seite 67 bis 70]
des in Alarmzustand versetzt. Diese Angaben
wurden von der Nato als ,haltlos‘ zurückgewiesen.“
(Fehmarnsches Tageblatt, Montag,
24. August 2020).
Es sind unbestritten Politiker in europäischen
Ländern, zahlreiche Aktivisten und Journalisten
angetreten, die sich außerhalb des Landes
in Stellung bringen, den Regierungschef
ihres Nachbarlandes zum Rücktritt auffordern.
Ob uns es etwas angeht oder nicht,
verhindert kaum, dass Menschen solidarisch
mit anderen empfinden. Die Bilder der vielen
Oppositionellen auf den Straßen von Minsk
bewegen uns. Natürlich befinden sich (wie
auch sonst) Soldaten der Nato in der Region,
und es liegt nahe, das für die amtierende
Regierung als gefährlich für die Stabilität zu
begreifen. Tatsächlich bedeutet es auch eine
Gefahr für die Stabilität von Belarus insgesamt,
und insofern hat Lukaschenko zunächst
recht. Ob er will oder nicht, er befindet sich
mit seinem Land inmitten anderer, die ein
Interesse daran haben, dass er geht. Ob seine
politischen Nachbarn in Moskau (die ihn
stützen) entscheiden können was passiert,
bleibt unsicher.
Das Beispiel kann durchaus dazu herangezogen
werden, die Empfindungen eines
psychisch Kranken nachzuvollziehen. Ein gesunder
Mensch kann oft ohne Einmischung
von anderen seine Aktivitäten umsetzen.
Je sicherer jemand auftritt, desto weniger
Kritik gibt es von außen, aber auch was das
„Bauchgefühl“ betrifft; klare Motivation fühlt
sich gut an. Hier sehen wir, was wirkliches
Selbstbewusstsein ausmacht: Es benötigt
keine Willensstärke. Gute Aktivität wird bewundert,
hartes Durchgreifen fordert Kritik
heraus, und verrücktes Tun wird Helfer auf
den Plan rufen, die schließlich die Kontrolle
übernehmen. Der Kranke wird sich definitiv
als fremdbestimmt und bevormundet fühlen
und gegebenenfalls wehren. Natürlich
kann die Umgebung den Anfang machen, so
wie die Auflösung der Sowjetunion und die
inzwischen vermehrt auftretenden Demokratien
rund um Belarus Druck auf den alten
Diktator ausüben. Er hat recht, die fortdauernden
Angriffe, er solle sein Land den modernen,
freien Systemen anpassen, dringen
wie ein Virus in seine Bevölkerung ein. Die
gute Grippe, möchte man meinen. Im besten
Fall wandelt sich Weißrussland in einen freien,
gesunden Staat – im ungünstigen stürzt
das Land ins Chaos.
Der zunehmende Druck auf sein System,
welchen der Diktator fürchtet und grimmig
zurückweisen möchte, um stark und frei
von Schuld zu wirken, ist durch das lockende
Beispiel der auf sympathisch freie Weise
lebenden Menschen tatsächlich im Ausland
begründet. Auch ein verklemmter, unattraktiver
Jugendlicher, der den Besuch im Nachtklub
mit Freunden meidet, weil er dort sowieso
kein Mädchen trifft, das ihn attraktiv
findet, spürt unterbewusst, dass er prinzipiell
die Fehler selbst verschuldet. Das kränkt: Er
sieht den geilen Böcken zu, die ihre Mädels
klar machen, möchte auch, kann nicht – und
niemand scheint ihn darin unterrichten zu
können, wie die anderen zu sein? Lukaschenko
persönlich ist in Gefahr, nicht wirklich das
Land. Belarus kann nur gewinnen, und das
begreifen immer mehr im Land. Sie überwinden
die Furcht vor den Ordnungskräften. Das
Land entgleitet dem Diktator. Es entwickelt
eine neue, moderne, freie Identität. Wie närrisch
glauben seine Bewohner an die Freiheit
– und riskieren ihr Leben dafür, zuhause alles
gerade zu rücken. Eine verrückte Idee? Die
außer Rand und Band geratenen Dopaminströme
im Gehirn des psychotisch kranken
Menschen, finden ihre Entsprechung in diesem
Bild. Auch dann probieren alle Beteiligten,
Stabilität herzustellen: durch gutes Zureden,
Medikamente und fixierende Fesseln
– wenn sonst nichts hilft. Das Ergebnis sollte
besser sein und kein Rückschlag in traumatisierendes
Chaos, das Existenzen vernichtet.
Im großen wie im Kleinen, das ist das Leben.
Es sucht die befriedigende Ordnung, nicht
die erzwungene Stabilität, notfalls über den
Umweg Krieg. Der Druck entsteht zum Teil
von innen, die eigene, innere Bewegung der
zusammenhängenden Struktur selbst. Das
Bild von draußen als Vision, wie es auch bei
uns sein könnte, ist ein Eindruck; die Beule
in die Außengrenze des Systems bringt die
Kraft hervor, die schließlich innere Kräfte in
Bewegung setzt.
„Russen und Amerikaner“, die Kapitelüberschrift
im Klassiker der psychologischen
Literatur für jedermann, zitiert: „Von der
Anthropologin Margaret Mead stammt die
Scherzfrage, was der Unterschied zwischen
einem Russen und einem Amerikaner sei. Der
Amerikaner, sagte sie, neigt dazu, Kopfweh
vorzuschützen, um sich glaubwürdig einer
unerwünschten gesellschaftlichen Verpflichtung
zu entziehen; der Russe dagegen muss
das Kopfweh tatsächlich haben. Ex Oriente
lux, kann man da nur wieder einmal sagen,
denn Sie werden zugeben, dass die russische
Lösung ungleich besser und eleganter ist. Der
Amerikaner erreicht zwar seinen Zweck, weiß
aber, dass er schwindelt. Der Russe dagegen
bleibt in Harmonie mit seinem Gewissen. Er
hat die Fähigkeit, ganz nach Bedarf einen
Entschuldigungsgrund herbeizuführen, der
ihm nützlich ist, ohne aber zu wissen (und
ohne daher dafür verantwortlich zu sein), wie
er es schafft. Seine rechte Hand weiß sozusagen
nicht, was seine Linke tut. (Paul Watzlawick,
Anleitung zum Unglücklichsein, 1983).
Über das Verhalten von Musikern untereinander
ist schon viel geschrieben worden. Eine
Band ist ein Beispiel für ein funktionierendes
System mit einem gemeinsamen Ziel.
Besonders im Jazz, wo es neben arrangierter
Musik auch freie Improvisation gibt, müssen
die Musiker
exakt aufeinander
achten,
damit das
Ganze stimmt.
1962 gab es
unter strengen
Auflagen eine
Tournee mit
dem „King of
Swing“ in die
Sowjetunion.
Zitiert aus einer
Musikerbiografie
lesen
wir: „Ein seltsamer
Mensch,
dieser Benny
Goodman. Die Wunderkind-Karriere war ihm
offenbar früh zu Kopf gestiegen, und seine
Arroganz wurde sprichwörtlich. Das Gros der
Musiker, die für ihn arbeiteten, kam daher nur
schwer mit ihm aus: Bandleader Goodman
galt als launisch, jähzornig und geizig. Er kritisierte
gern und lobte nie, verlangte eiserne
Disziplin und gute Manieren, schnorrte bei
seinen Angestellten die Zigaretten und die
Klarinettenblättchen, verstand keinen Spaß
und verbreitete schlechte Laune. Er konnte
sich viele Namen und Gesichter in der Band
nie merken, setzte Stücke vom Programm,
wenn ein Solist ihm die Schau zu stehlen
drohte, und schickte beim Konzert am liebsten
strafende Blicke in die Runde. Ein Job
bei Goodman versprach viel Geld und wenig
Freude an der Arbeit. Als Zoot Sims einmal
nach seinen Erlebnissen mit Goodman in
Rußland gefragt wurde, sagte er nur: Jeder
Auftritt mit Benny ist wie Russland.“ (Hans-
Jürgen Schaal, 1999).
Sind alle Russen krank? Wohl kaum. Nach den
Sanktionen, die in Folge der Annexion der
Krim gegen das Land verhängt wurden, sagt
mir eine liebe Bekannte, Natascha, selbstbewusst:
„Was wollen die? Das war doch immer
unser.“ Wir dürfen gern annehmen, dass
Amerikaner nicht wie Russen sind. Die USA
sind das Einwanderungsland schlechthin, da
ist vieles anders. Ein nationales Bewusstsein,
eine individuelle Persönlichkeit, da gibt es
Parallelen – und wie mit Kritik und Fehlern
umgehen? In jedem Unrechtsstaat besteht
die Gefahr von Machtmissbrauch, der Verfolgung
von Kritikern. Das heißt aber nicht,
dass unser System von selbst läuft und hier
ausschließlich „die Guten“ leben (und selbstverständlich
so nachgeboren werden). Jeder
Staat muss sich nicht nur nach innen strukturieren,
sondern auch nach außen konkurrenzfähig
sein. Die Wirtschaftlichkeit eines staatlichen
Systems kann mit der Selbstständigkeit
eines Erwachsenen, seinen Lebensunterhalt
zu verdienen, verglichen werden. Und genau
hier ist es an uns – der Gesellschaft – die Parallele
zum großen Modell des Ganzen, relativ
zum Einzelnen in der Familie zu begreifen
und das gesunde Miteinander vom krank
machenden Verhalten zu unterscheiden. „Der
Fisch stinkt vom Kopf her“, sagen wir. Missbrauch
von Macht im Staat bedeutet eine
kranke Struktur. Sie handelt böse, aggressiv
nach außen, infiziert das System nach innen.
Mitglieder denunzieren sich dem Apparat der
Unterdrückung – wie sich auch der einzelne
selbst verrät, der psychisch krank ist.
Stärke kann nur gelingen, wenn sie nach außen
und innen gelebt wird. Urlaubszeit, ein
abschließendes Beispiel: In der Schlange
der Wartenden beim Bäcker sehe ich, hier
kaufen Menschen aus ganz
Deutschland ihre Sonntagsbrötchen
ein. Etwa zwanzig
locker aufgestellte, sommerlich
kurzhosige Zeitgenossen
unterschiedlichen
Geschlechts und Alter, haben
sich vor dem Geschäft
entlang des Kantsteins zur
angrenzenden Straße aufgereiht.
Immer, wenn jemand
zu uns heraus kommt,
takelt der nächste auf den
Treppenstufen vor der offen
stehenden Ladentür seine
Corona-Maske an und tritt
in den Verkaufsraum. Die
aktuellen Fallzahlen haben
leicht angezogen. Landesweit sind aktuell
etwa fünfzehntausend Menschen positiv auf
das Virus getestet. Die Gefahr, einem von ihnen
beim Bäcker zu begegnen, ist nicht allzu
groß – dementsprechend entspannt sind die
Urlauber hier an der heimatlichen Ostsee.
Aug 24, 2020 - Mein Russland 69 [Seite 67 bis 70]
Während ich als zweitnächster Kunde schon
eine der oberen Stufen der Treppe erreicht
habe, kommt es zum Wortwechsel hinter
mir. Ein intellektuell gebildet und äußerlich
modern und gepflegt erscheinender Mann
(er ist wohl um die Vierzig, trägt eine schön
geformte, etwas modische Brille, ein bunt
kariertes Oberhemd und eine feine, helle
Tuchhose, elegante Sommerschuhe) dreht
sich heftig um! Es fallen scharfe Worte gegen
den nächsten in der Reihe nach ihm: Ein kleinerer
Mann, älter, blaue Strickjacke. Er steht
schlicht, gelassen und friedlich da. Was ist
jetzt verkehrt, fragt er sich offenbar – und ich
versuche es genauso zu begreifen.
Wir schauen alle hin. Die laute Zurechtweisung
erheischt Aufmerksamkeit, schon durch
den fordernden Ansatz: „Von einsfünfzig haben
Sie noch nichts gehört?“ So fährt der Empörte
den Alten an – aber der (immerhin) einen
erkennbaren Meter hinter ihm stehende
Senior reagiert kaum. Eher leicht belustigt,
zeigt sein Gesicht den Anflug freundlicher
Anteilnahme am Zorn des Jüngeren. Als etwas
kleinerer, älterer Herr ist er ganz der liebe
Großvater – mit festem Stand und langer Lebenserfahrung.
Der wütende Mann redet sich
in Rage, ob der Senior nicht Bescheid wisse,
keine Nachrichten schaue, wo er herkomme
– und der Alte nennt nun schlicht seinen
Heimatort, mit dem unschuldigstem Gesicht,
das es nur geben kann. Ein wenig Abstand zu
nehmen, etwa einen Schritt nach rückwärts
zu machen, kommt ihm nicht in den Sinn?
Das wäre auch schwierig: Die ganze Schlange
der Wartenden steht eng zusammen.
„So siehst du aus! Wo du wohnst, ist man wohl
noch blöde“, geht der selbsterklärte Eiferer
für Abstandsregeln zum „Du!“ über und dreht
sich aber, weil kein Erfolg seiner Eruption der
Korrektheit sichtbar wird, resigniert weg. Er
schaut mucksch nach vorn, wohin er selbst
den Abstand vergrößern könnte, um die geforderte
Entfernung wiederherzustellen. Die
drei Meter zu mir auf der Treppe könnte er
leicht kleiner machen. Ein Musterbeispiel für
Schwäche: aufgeplustertes Tun, das niemand
interessiert, allenfalls belustigt. Angesichts
dramatischer Zustände in einigen Kliniken,
hatte er sich bestimmt mehr Unterstützung
erhofft – aber falls dieser Mann Kinder hat,
werden sie (und die Ehefrau) typischerweise
unter ihm leiden. Es ist anzunehmen, dass
er empfindlich ist und neurotisch den Weg
sucht, wo das funktioniert. Angestellt am Arbeitsplatz;
in seiner Firma wird er kaum eine
wesentliche Stellung inne haben. So jedenfalls
hat das Ganze auf mich gewirkt. Der heftige
Zorn am vollkommen falschen Ort.
Abgeblitzt.
Wo ist dieser Mann stark? Nach außen jedenfalls
nicht, seine gar nicht mal unbegründeten
Anwürfe prallen am fremden Senior einfach
ab – die anderen bleiben desinteressiert. Die
Leute sind erheitert, ein schimpfender Rohrspatz
spielt Männlein. Er kann mit seiner unbestritten
korrekten Kritik nicht überzeugen.
Dazu alternativ wäre gewesen, selbst einen
beherzten Schritt vorwärts und leise klar zu
machen, dass hier bitte nicht zu drängeln sei.
Schließlich hätte er bei weiterem Schieben
darauf hinweisen können, dass es so nicht
schneller geht und aktuell aus gutem Grund
verkehrt ist. Möglicherweise wäre der Senior
als unbelehrbar senil eingestuft worden, und
es hätten sich noch Unterstützer gefunden,
ihn kollektiv zurecht zu weisen.
Vielleicht einfach pubertär verspätetes Üben,
mal auf den Putz zu hauen?
Das wäre doch prima! Interessant ist an der
Szene, dass man weiter denken kann: die Beiden
sind sich fremd, werden es, weil es eine
Urlaubsbegegnung ist, auch bleiben. Das ist
kaum der Nachbar, den man jeden Morgen
trifft und gewohnheitsmäßig durch Drohgebärden
dominieren kann. Darum bleibt es interessant,
was ich zu erwarten hätte, wäre ich
sein kleines Kind, und dieser Mann hätte die
Macht über mich als Erzieher und Vater. Das
habe ich gedacht! Wenn Menschen sich ausprobieren,
können sie besser werden. Wenn
wir uns nur wiederholen, sind wir normal wie
alle. Sich selbst verrücken können, bedeutet
innere Kräfte gewähren lassen und ihnen
schließlich eine neue Richtung zu geben.
Wer hat die Macht, den schmerzenden Rücken
als Teil der eigenen Struktur wirkungsvoll
anzuschnauzen, dass dieser endlich normal
funktioniere, seinen deprimierten Geist
durch Alkohol auf Linie zu bringen oder den
Marathon zu gewinnen, weil er sich ein lahmes
Bein im vollen Lauf wegschneidet?
Wer kann seine Kinder stark machen, indem
er die Größe seines Erwachsenseins missbraucht
und doch vor jedem, fremden, älteren
Zeitgenossen einknickt, der einfach gelassen
standhalten kann, wenn er vom unreifen
Windbeutel angequakt wird?
Die Fähigkeit ein lautes Wort zu
erheben, ist notwendig, aber das
bei wenig Erfolg versprechenden
Gelegenheiten zu tun, sinnlos.
Die Gewohnheit andere regelmäßig
anzuzeigen, wegen allerlei
Regelverstoß, Ziele auf Kosten
der eigenen Gesundheit oder zu
Lasten der Familie zu erreichen,
wird als eitles Wichtignehmen
schließlich zum Scheitern führen.
Es sei denn, das umgebende
System hofiert und stützt dieses
Verhalten: Dann wäre die Gesellschaft
insgesamt krank und
böse, und meine Erfahrungen
haben das nicht bestätigt. Nur
in einem grundsätzlich bösen
Staat können armselige Mitläufer
selbst zu Bestien werden wie
der irre Anführer.
Die unterschiedlichen psychischen
Krankheiten sind gleichbedeutend
mit sozialen Problemen.
Es ist die Furcht vor anderen
Menschen, Unfähigkeit sich gegen
Kritik abzugrenzen und ein
Mangel an Geduld, sich mit der
jeweiligen Existenz abzufinden,
bis eine Verbesserung durch Lernen
und Aufstieg in der Gesellschaft
erreichbar sind.
Selbstbewusstsein fehlt.
Der Gang zum Arzt ist oft kontraproduktiv,
weil ein selbstbewusster
Mensch vergleichsweise
unabhängig ist und Therapie dieses Ziel in
der Regel nicht erreicht. Behandelt zu werden,
bedeutet abhängig zu sein. Dazu kommt
das Stigma. Die Erkrankung ist (darum das
Beispiel der undemokratischen Staaten und
die Furcht vor dem Existenz vernichtenden
Chaos) im Grunde nur der Versuch, das eigene
System auf eine gesunde Basis zu stellen.
Wenn die verschiedenen Wünsche, Träume
und realistische Ziele des Menschen im Einklang
sind (vergleichbar mit den verschiedenen
Individuen im gesunden Staat), ist das
Ziel selbstbewusster gesunder Existenz insgesamt
erreicht. So viele Menschen quälen
sich darin, normal sein zu müssen wie andere
und verfehlen ihre individuelle Freiheit. Sie
sind es gewohnt, sich selbst fertig zu machen,
unterdrücken Schwächere (oder ihre Kinder),
die von ihnen abhängig sind. Manche wollen
irgendwann sein wie ihre Vorbilder, die zeigen:
Es geht auch anders!
Schließlich zu erkranken, ist so gesehen eine
Chance.
Es hat sich gezeigt, dass es schwierig ist,
effektiv Hilfe zu bekommen, wenn wir psychisch
nicht auf der Höhe sind. Wir müssen
selbst gesunde Intelligenz entwickeln, und es
hat sich bestätigt, dass ein kranker Kopf das
Ergebnis einer undurchsichtigen und missbräuchlichen,
verschworenen Umgebung ist
– und dennoch ist es möglich für den Organismus,
Wege zu finden, die auf intelligente
Weise in eine gesunde Umgebung der Solidarität
führen. Bei uns zuhause im Rechtsstaat
mit guten Argumenten funktioniert es.
Es dauert aber viel zu lang.
:)
Aug 24, 2020 - Mein Russland 70 [Seite 67 bis 70]
Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel
Aug 27, 2020
Jetzt tauchte er wieder auf, der Begriff: „Alternative
Fakten“, als die Trump Vertraute und
Sprecherin des Weißen Hauses überraschend
von ihrem Amt zurückgetreten ist.
„Washington – Kellyanne Conway tritt nur
einen Tag vor dem Beginn des Parteitags
der US-Republikaner zurück. Conway ist eine
hochrangige Beraterin von Präsident Donald
Trump. Die Juristin aus New Jersey erlangte
Anfang 2017 auch international große
Bekanntheit, als sie versuchte, Trumps Unwahrheiten
einfach zu „alternativen Fakten“
erklären. „Alternative Fakten“ wurde 2017 in
Deutschland und Österreich zum Unwort des
Jahres gekürt.“ (Merkur, 25.08.2020).
Die nachvollziehbare Empörung über die
skurrile Formulierung ist das eine. Zu begreifen,
dass es mehrere Wahrheiten schon deswegen
gibt, weil niemand im Besitz der einen
allumfassenden Realität ist und nur korrigieren
kann, was zu beweisen ist, das andere. Es
ist nicht leicht einzusehen, sich getäuscht zu
haben, in Zukunft täuschen wird und keine
Chance hat, Antwort auf brennende Fragen
der eigenen Geschichte zu bekommen.
Ein Geschenk, der Person zu begegnen, die
uns (das) verrät …
Eine Erfahrung ist wie ein Schatz. Wenn ich
tauche, erlebe ich in jedem Fall was, na klar.
Wenn ich dabei aber einen Eimer mit Goldmünzen
fische, nehme ich nicht nur die Erinnerung
an das faszinierende Unterwassererlebnis
mit, sondern einige echte Dublonen.
Das ist ein Fakt, alternativlos und unbestritten
harte Realität. Ich kann auf die Goldmünzen
beißen, wie der Cowboy im Film und sie
klimpernd durch die Hände gleiten lassen.
Wenn ich frage, ob ich geliebt werde (sogar
bei Fragen, ob ich selbst liebe), wie intelligent
oder faul ich oder jemand anderes sei,
kann es keine vergleichbar harte Antwort
geben. Aber eine Erfahrung bedeutet, auch
wenn das genauso ein intellektueller Begriff
ist, viel mehr als ein
Erlebnis. Erfahrung ist allgemein.
Aus Erlebnissen erwächst
eine Formel, bereit
in anderen Fällen Lösungen
anzubieten, die sonst
unkalkulierbar blieben. Was
ich selbst weiß und eigenhändig
prüfe, ist mein Teil
Wahrheit.
Zitat: „Nach der Amtseinführung
im Januar hatte
Trump-Pressesprecher Sean
Spicer auf Geheiß des Präsidenten
verkündet, bei
der Amtseinführung seien
mehr Menschen anwesend gewesen als bei
jener von Barack Obama. Aber weder Luftaufnahmen
noch die Zählungen im Personennahverkehr
in Washington bestätigten die
Aussage. Doch Trump-Beraterin Conway hielt
dagegen: „Sean Spicer hat alternative Fakten
dargestellt.“ Es gebe kein Verfahren, um
Menschenmengen sicher zu quantifizieren.
Seitdem ist der Begriff alternative Fakten zu
einem Synonym für gefühlte Wahrheiten und
falsche Behauptungen geworden.“ (Frankfurter
Allgemeine, Anna Friedrich, 09.08.2017).
Klar, dass bei der Amtseinführung von Donald
Trump nicht so viele Menschen waren
wie bei seinem Vorgänger Barack Obama.
Das ist durch Videos der Nachrichtensendungen
belegt. Oder sagen wir mal so: auf
den Aufnahmen, die wir zu sehen bekommen,
ist es so. Das Interessante ist, dass Trump so
oft einfach zu widerlegen ist und trotzdem
kein Gegenkandidat für das Präsidentenamt
bereitsteht, der ganz eindeutig die Wahl gewinnen
wird. Nicht nur in den Vereinigten
Staaten, die Unwahrheit öffentlich zu machen,
bedeutet zunächst nicht mehr als das.
Auch im Fall des mutmaßlich vergifteten Regimekritikers
in Russland: Trotz fortdauernder
Anschuldigungen gegen den russischen
Präsidenten ist zweifelhaft, ob Nawalny ein
guter Präsident für Russland wäre und ob er
gewählt würde.
Im typischen Krimi scheint der Hergang der
Ereignisse am Ende klar. In der Realität gehen
die Geschichten aber weiter. Nicht nur,
dass findige Verteidiger den Angeklagten vor
langen Strafen schützen können, zur Empörung
der Boulevardpresse kommt es vor, dass
Menschen mangels Beweis freigesprochen
werden.
Alternative Fakten sind nichts Neues.
Es ist viel mehr so, dass wir uns über diesen
treffenden Ausdruck freuen sollten, führt er
uns doch auf zupackende Weise vor Augen,
wie unsicher unsere Wirklichkeit ist. Die
Wahrheit ist abhängig von sozialer Stärke
und der Fähigkeit, gute Argumente
zu liefern. Wie einfach es ist, sich zu empören,
aber wie schwierig, an eine verantwortungsvolle
Position zu gelangen
und diesen Job anschließend gut zu machen,
zeigt der Begriff. Menschen erfassen
nur einen Ausschnitt ihrer Realität.
Auch wenn es eindeutig scheint, dass
Trump im Fall der Größe der Menschenmasse
gelogen hat, bleibt das faszinierende
Phänomen der Fake-News ein
Teil unserer modernen Realität. Obwohl
überall Kameras Begebenheiten festhalten
und wir deswegen annehmen
könnten, Sicherheit zu bekommen, wie
etwas gewesen ist, schafft das Medium
Video auch zweifelhaftes Material heran
und Unklarheit, wo es keine geben
sollte. Wer war bei der Amtseinführung
des Präsidenten vor Ort und kann sagen,
er wüsste wie es war, habe das selbst
gezählt?
Der aktuelle Wetterbericht für Schleswig-Holstein:
„Heute Vormittag wechselnd
bewölkt mit einzelnen Schauern.
Nachmittags zunehmend trocken mit
längeren Aufheiterungen bei kühlen
18 bis 19 Grad. Anfangs mäßiger, an der
See frischer bis starker und in Böen teils
stürmischer Nordwestwind, abflauend.“
(DWD, 27.08.2020)
Was sind kühle 18 Grad?
Mir tut weh, wenn mir jemand persönlich
Schaden zufügt, ich belogen werde,
und das ist schon vorgekommen. Ich
kann mich zur Wehr setzen, wenn mich
kein schlechtes Gewissen plagt, es mir
gelingt, mich abzugrenzen, Gegner ins Leere
laufen zu lassen. Am meisten wehgetan hat
immer, Kränkungen hinnehmen zu müssen,
weil Mittel gefehlt haben, die Fehler eindeutig
bei den anderen zu sehen und die
Kraft, Anschuldigungen zurückzuweisen. Ich
kann damit leben, auf einiges was gut wär’
zu verzichten – Empörung? Die breite Brust
Aug 27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel 71 [Seite 71 bis 72]
zu haben, von „Alternativen Fakten“ zu reden,
ändert nicht, dass etwa die Hälfte der Amerikaner
darin Stärke sieht und keine Lüge. Sie
haben Donald Trump gewählt und werden es
wieder tun.
Gelesen, als es neu war: „Hendrie Weisinger,
Kreative Kritik: mit negativen Werturteilen
positiv umgehen“, Heyne 1991). Das
war auf einer Segelyacht Teil der Bordbibliothek.
Ich war für zwei Monate
in der Karibik segeln und nicht wenig
überrascht, um nicht zu sagen persönlich
angegriffen, als die Tante meines
langjährigen Freundes, die Ehefrau
meines Skippers auf der „Capella“, mir
dieses Buch mit dem Hinweis „natürlich
gebe es mehrere Wahrheiten“,
empfahl.
Getäuscht zu werden ist das eine, und
es zu bemerken tut weh. Andererseits:
Das hat den Vorteil, in den Besitz einer
neuen, erweiterten Wirklichkeit zu gelangen
…
Ich finde: Ein Stück der Wahrheit zu kennen
ist (besser als ein Stück vom Mond zu kaufen
und) fast so schön, wie ein Stück Himmel zu
besitzen.
:)
Aug 27, 2020 - Mehr als nur wahr ist der eigene Himmel 72 [Seite 71 bis 72]
Ocean Cancel Culture
Sep 13, 2020
Ein nicht verzeihlicher Fehler wurde bekannt,
das geht gar nicht. Schlussmachen,
sogar bevor eine Beziehung überhaupt erst
beginnt? Auftritt abgesagt, die Veranstaltung
findet ohne dich statt. Ausstellung
gestrichen, Absender geblockt: „Du bist
hier nicht erwünscht.“ Sich zu trennen, ist
das Ziehen einer Grenze; normalerweise
beenden wir eine Beziehung auf irgendeine
Art, und das ist nicht grundsätzlich
verkehrt. Wenn wir nicht länger mitgehen
wollen, machen wir Schluss. Das ist unser
gutes Recht. Spätestens, wenn wir dermaßen
bedrängt werden, dass es unsere Gesundheit
angreift, müssen wir gehen und
einen Schlussstrich ziehen. Einen Vertrag
kann man kündigen.
# Als Cancel Culture wird ein systematischer
Boykott von Personen oder Organisationen
bezeichnet, denen beleidigende
oder diskriminierende Aussagen bzw.
Handlungen vorgeworfen werden. Wegen
der ihr unterstellten gravierenden Auswirkungen
ist sie durchaus ambivalent
und heftig umstritten. (Wikipedia).
Zunächst fanden wir dich toll, aber nun wissen
wir, wie du wirklich bist – so etwa.
Wirklich? Schlussmachen; wenn die Begründung
der anderen Seite gegenüber ausbleibt,
die Kündigung nicht gemäß verabredeter
Regeln erfolgt oder nicht nachvollziehbar
für den Partner ist, wird ein Bruch der Beziehungen
zuverlässig Unverständnis, Zorn
oder rechtliche Schritte heraufbeschwören.
Aggression ist die Regel, wenn Erwartungen
enttäuscht werden. Je nebulöser das Ende,
desto heftiger das Unverständnis. Es kann
passieren, dass eine Absage dem Gekränkten
zu kreativsten Verbalisierungen, Produktion
ästhetischer Druckmittel anregt. Diese Lautmeldungen
werden solidarische Mitstreiter
auf den Plan rufen und eine neue, bessere
Verbindung oder die Rücknahme einer Kündigung
kann gelingen: Die neue Wirklichkeit
ist größer.
Ein Bumerang ist Cancel Culture immer dann,
wenn nicht nur der Geschasste den Bruch
nicht nachvollziehen kann, sondern sich
leicht andere finden, denen es genauso geht.
Es kommt darauf an, ob die Umbebung Mobbing
aus reiner Bosheit darin erkennt und
die Schuld umgekehrt eher beim kündigenden
Partner, Veranstalter sieht. Wenn etwa
vorausschauende Feigheit offensichtlich der
Grund gewesen ist: ein kantiger Mitmensch
könnte Probleme machen? Nur wenn schließlich
klar wird: Nein – mit demjenigen geht’s
auch wirklich gar nicht – ist sein Schicksal
besiegelt.
Wenn Kinder erwachsen werden, ist der Bruch
mit dem Elternhaus insofern erwünscht, als
dass der Nachwuchs nun bitte eigene Wege
gehe. Ein befristeter Vertrag. Das setzt voraus,
dass Erwachsensein in der üblichen Zeit
stattgefunden hat und das Kind in der Lage
ist, seine Existenz eigenverantwortlich zu
gestalten und finanzieren. Sich trennen zu
können, ist eine Fähigkeit. Wenn wir einander
gegenüberstehen, können wir uns sagen,
dass es zu Ende ist. Es geht am Telefon, per
Brief, auch digital. Probleme entstehen, wenn
Menschen wie eingeschlossen in ihrem Auto
dem anderen Fahrer zeigen wollen, dass etwas
nicht stimmt. Damit Kommunikation
funktioniert, sollte sie nachvollziehbar sein,
und je weniger zwischen uns steht, desto
klarer kommt die Botschaft an. Nun wissen
wir alle, dass das in der Regel Schwierigkeiten
macht. Wenn ich meine Ansicht „es ginge
nicht (länger) zusammen mit uns“ kommunizieren
möchte, ist der Wunsch nach einer Art
Scheibe dazwischen, die nur einseitige Kommunikation
möglich macht, und zwar von mir
weg, nachvollziehbar. Irgendwann beruhigt
sich die Sache, schmerzhaft ist es; schließlich
kehrt Ruhe ein.
Unter Umständen ist die Schuldfrage,
woran es liegt, sich zu trennen, auch im
Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
begründet. Dann ist eine Trennung noch
belastender, weil Schuldgefühle das an
sich klare Empfinden „ich muss da raus“
trüben. Was ist, wenn sich zu trennen beinahe
unmöglich ist? Falls ich mit einem
Schiff unterwegs bin und mitten auf dem
Meer, ist es kaum möglich aus dem Projekt
auszusteigen.
Zur Zeit kommt Seefahrerromantik auf.
Die „Peking“, eine alte Viermastbark der
Reederei Laisz, kommt als Museumsschiff
in ihren ursprünglichen Heimathafen
Hamburg zurück. Ein großes Spektakel in
allen Nachrichten, und schön restauriert
und sauber angemalt ist das Schiff wunderbar
anzuschauen, nachdem es in Wewelsfleth
monatelang auf Vordermann
gebracht wurde.
Schiffe fliegen ja nicht (außer dem
„fliegenden Holländer“ vielleicht), sie
schwimmen. Zu schwimmen bedeutet
aber weniger fest mit der „Mutter Erde“
verbunden zu sein – und dadurch dem
„Vater“ im Himmel ein wenig näher? Erst
im Sturm bemerken Menschen in einem
Haus die Bewegung, die der Wind ausübt.
Auf dem Wasser treibt oder segelt man
schon bei einem leichten Hauch davon.
Damit ein Schiff gut am Ende einer Reise
ankommt, gehört es dazu, im Hafen
sicher festzumachen oder auf Reede zu
ankern. So eine feste Verbindung zum
Land bedeutet, dass das Schiff immer noch
schwimmt und sich ein klein wenig bewegt.
Nur im Dock zur Reparatur (wenn es kein
Schwimmdock ist) oder über eine Slip auf das
Werftgelände hochgezogen, wird das Schiff so
unverrückbar mit dem Land verbunden wie
ein Haus. Aktuell: Das Forschungsschiff „Polarstern“
treibt fest eingefroren in der Arktis,
die Mannschaft spaziert auf eigener Scholle
drumherum, und auch damals schon haben
wagemutige Abenteurer mit dem Segelschiff
sich am Pol eine feste Bleibe geschaffen für
ihre Erkundungen. Erst wenn die Natur das
Schiff wieder freigibt, können die Mutigen
diese Verbindung lösen. Ein Vertrag mit der
Kälte, der nur einseitig gekündigt werden
kann, immerhin vorausschauend befristet,
durch Jahreszeit und bekannte Drift.
Ein Mensch, der eine Straße entlang geht,
löst sich mit jedem Schritt vom Boden und
verankert den Fuß im nächsten Moment am
erreichbaren Platz. Je nach Alter und Geschick
ist das eine mehr oder weniger sichere
und elegante Sache, die wir gelernt haben.
Den Fuß zu heben, bedeutet sich vom Boden
zu trennen, es kostet ein wenig Anstrengung
gegen die Schwerkraft loszukommen, und
wir canceln die Verbindung mit Mutter Erde
wieder, ohne groß darüber nachzudenken.
Wir kommen ja sofort zurück und wieder
an, mit dem nächsten Schritt. Zu begreifen,
dass wir hier nicht wegkönnen wie ein Vogel
(und selbst die Vögel können die Atmosphäre
nicht verlassen), ist ein Teil unseres realen
Selbstverständnisses. Dass wir uns schwerfällig
herumschleppen, weil wir zu viel essen,
schwanken, weil wir immer betrunken
sind oder schlicht gewohnheitsmäßig eine
schlechte Haltung haben, die uns schließlich
zwingt so „deppert“ zu latschen, muss ja nicht
sein.
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 73 [Seite 73 bis 81]
Zu begreifen, dass zu leben bedeutet, an die
Erde gebunden zu sein, eröffnet die Möglichkeiten
zu erforschen, wie fest das sein soll.
„Cancel Culture“ bedeutet anders interpretiert:
Der Kulturmensch fand zahlreiche Methoden
zivilisiert und technisiert diese unvermeidliche
Bindung durch die Schwerkraft
zu nutzen, die Bremsen zu lösen und nun zu
gleiten. Mit einem elektrischen Fahrrad noch
ein wenig zügiger und ohne sich anzustrengen
unterwegs zu sein, ist ein Boom. Es hat
vornehmlich Senioren gepackt, die nun mit
einem tollen Helm auf dem Kopf abdüsen.
Sie radeln im festen Glauben, damit sei das
eine sichere Sache. Mit fixiertem Blick und
starr gehaltenem Kopf, ausgestattet wie für
ein ganz besonderes, modernes Abenteuer,
tragen sie vorsichtshalber eine gelbe Weste.
Ein Rückblickspiegel ist am Lenker montiert.
Eine bunte, bombige Rakete im fortgeschrittenen
Rentenalter donnert elektrisch vorbei.
Ständig müssen sie klingeln, das heißt:
„Platz!“ Die sind nicht leicht zu stoppen und
haben recht. Sie werden die Erfahrung machen,
dass am Ende der Reise noch ein Bein
sicher an den Grund gesetzt werden muss. So
viel Sportlichkeit müssen wir selbst mitbringen,
ankern quasi – oder einen Ampelmast
ergreifen, wenn das rote Licht zum Halten
zwingt.
Dass die „Peking“ jetzt für immer fest als Museumsschiff
im Hamburger Hafen „vor Anker“
ginge, schreibt eine Zeitung. Die haben es
immer noch nicht gelernt, diese Journalisten.
Sie fahren Auto und landen es in der Garage?
Das Flugzeug landet, das Auto parkt, das
Schiff macht fest. Es ankert nicht, wenn es
am Kai festgemacht hat. Nur im schlimmsten
Sturm wird der Kapitän einen Anker zusätzlich
nach Luv ausbringen, damit der Abstand
zur Pier reguliert werden kann, falls der Wind
den Rumpf dagegen drückt.
Ich bin von klein auf mit Schiffen vertraut und
segelnd auf der Elbe unterwegs. Zu Pfingsten
lag der Großsegler noch am Kai der Peters-
Werft in der Stör, und wir sind mit unserer Jolle
hingesegelt, um das Schiff aus der Nähe in
Augenschein zu nehmen. Anschließend ging
unser langes Segelwochenende noch weiter,
und wie es beim Segeln so ist: Nicht alles gelingt.
Wir waren mit einer ganzen Reihe von
Elb-H-Jollen unterwegs. Es war recht windig,
und auf dem Weg nach Haseldorf blieben wir
im kleinen Priel, in den flott die erste Flut hineinströmte,
stecken.
Die Schwierigkeit war der nördliche Wind,
der uns zwang im gewundenen, schmalen
Priel zu kreuzen, auf einer Fahrwasserbreite,
die kaum mehr als die Länge des Bootes hatte.
Unsere durch das Reff verkleinerte Segelfläche,
die der Jolle eine im Vergleich größere
Vorsegelfläche als gewöhnlich bescherte,
ließ das Schiff in der Wende nicht so freudig
drehen wie sonst. Und natürlich: die geringe
Wassertiefe. Bernd machte es vor. Blieb man
hängen, hatte die Mannschaft mit aller Kraft
zu paddeln, damit die Fahrt nicht verloren
ging. Der Steuermann musste das Schwert
hochreißen, mit dem die Jolle steckengeblieben
war. Und dann sollte der Vorschoter auch
noch geistesgegenwärtig die Fock back halten,
damit das Boot wieder in den Kanal zurück
drehte. „Siehst du!“ sagte ich zu meiner
Mitseglerin: „So machen wir es auch, wenn
es uns passiert“, als den anderen voraus das
kaum zu vermeidende Malheur geschah. Wenige
Augenblicke später machte ich tatsächlich
den Fehler, fuhr zu weit an die Kante an
Backbord, und wir stoppten abrupt, als unser
Schwert im Schlick schrammte. „Halte
die Fock back!“ rief ich, während ich am
Schwertfall riss, die Pinne nach Backbord
stieß, um in das tiefe Wasser steuerbords
zurückzugelangen. Aber das Ganze nahm
eine fatale Wendung, buchstäblich – wir
drehten schwungvoll noch weiter nach
Lee, und als ich begriff wieso, schrie ich
verzweifelt: „Nicht auf dieser Seite!“ aber
es war zu spät. Die guten Willens an Steuerbord
backgehaltene Fock besiegelte
unser Schicksal. Wir schoben backbordseiteitig
schwungvoll in den Schlickberg,
direkt neben einer Pricke, die noch hoch
im Modder stand. So wenig war es erst
aufgelaufen. Dann blieb, obwohl wir einiges
versuchten, freizukommen, das ganze
Manöver verkorkster Mist.
Wir steckten vorn fest. Das reichlich aufgefierte
Großsegel stand trotzdem gut
voll, die Fock knatterte im frischen Nordost,
und die nach Haseldorf einströmende
Flut drehte die Jolle achtern nach Luv, bis
wir wirklich quer mit satt stehenden Segeln
und dem Steven vorn festgesteckt,
hilflos und hoffnungslos barrikadiert dalagen.
Das Ruder gab dem Wasser achtern
einen hervorragenden Angriffspunkt. Unser
Großsegel konnten wir nicht weiter auffieren,
der achtern zupackende Strom hatte uns
nun so weit gedreht, dass wir raumschots mit
der Spitze des Bootes in den Schlick bohrten.
Nahm ich’s Schwert höher, glitten wir
einige Zentimeter voraus und noch weiter in
den Matsch. Ich nahm das Ruder hoch und
legte die Pinne ganz nach Backbord. Es änderte
gar nichts. Inzwischen sah es fast aus,
als hätte das Schiff in diese Richtung gedreht
beschlossen, eigenmächtig zurückzufahren.
Dafür, und um gar zu Halsen, damit
eine komplette Drehung gelänge, reichte die
verflixte Zwickmühle, in die wir geraten waren,
nicht. Das Boot saß fest! Wir paddelten
blöde rum. Nahm ich das Großsegel dicht, um
etwa eine Drehung in die richtige Richtung
zu unterstützen, begann die Jolle stattdessen
mit neuem Druck den Schlickwall vor uns
zu erklimmen und machte sich auf den Weg,
quer weg vom Priel auf das hohe, matschige
Land zu gleiten. Wir probierten von der Backbordseite
aus nun mit aller Kraft das Schiff in
den Wind zu drehen. Ich nahm das Schwert
abermals höher, und das brachte uns wieder
nur weiter rauf, auf den dämlichen, grauen
Schlickwall. Es half nichts, wir nahmen alle
Segel weg, und fanden es dann im Abendlicht
gar nicht mehr so windig, als das Knattern
der Fock aufgehört hatte. Es war einfach, die
Riemen unter dem Vordeck herauszuklauben
und unser Boot nur kleine hundert Meter bis
in das flache Becken des verwunschenen
Elbhafens zu pullen. Wir wurden von denen,
die bereits nach einem Liegeplatz stakten,
mit ihren Paddeln den schlickigen Hafen umgruben,
amüsiert empfangen und durften die
Geschichte auch noch den anderen erzählen,
die draußen eine Weile gewartet hatten, bis
das Wasser gestiegen war und man komfortabel
hineinkreuzen konnte.
Was tun, wenn der Kapitän den Fehler macht;
fremdschämen? Typischerweise sehen Steuerleute
nicht gern ein, dass immer sie es sind,
die die Fehler machen. Schon der legendäre
Manfred Curry, der Regatta-Profi, wusste:
„Schimpfe nicht auf deine Mannschaft,
hättest du sie halt besser trainiert!“
Es gibt fatale Schilderungen, was es
bedeutet sein Schiff und den Kapitän,
der den Kahn ins Unglück navigiert,
nicht verlassen zu können. „Titanic“ ist
so eine Geschichte. Diese Reise konnte
niemand mehr „canceln“. „Rette sich
wer kann“, hieß es, als das Schiff mit
hochaufragendem Heck im Eiswasser
trieb, bis zum unvermeidlichen Ende.
Misslungene Manöver des Schiffsführers,
die dann alle mittragen; es gibt
Schilderungen, die illustrieren, wie das
Leben an Bord zur Zeit frachtfahrender
Segelschiffe war.
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 74 [Seite 73 bis 81]
Ein (amüsantes) Zitat dazu, aus einem authentischen
Buch, das von einer Reise erzählt, die
mit der unscheinbaren, kleinen zweimastigen
Brigg „Pilgrim“ 1834 deutlich vor der Zeit der
bei uns aktuell so bekannten „Peking“ stattfand.
Es ist der Versuch unter Segeln, wie es
üblich war, einen Ankerplatz zwischen zahlreichen
anderen Schiffen, die dort bereits auf
einer Reede liegen, anzusteuern.
# „Fallen Anker“, rief der Kapitän. Ob wir nun
nicht genügend Kette
überholt hatten, ob der
Anker nicht fasste, oder
ob wir zuviel Fahrt voraus
machten, das Schiff kam
nicht zum Stehen. „Steck
Kette!“ schrie der Kapitän.
Wir steckten willig weg,
aber es half nichts. Bevor
wir den zweiten Anker fallen
lassen konnten, trieben
wir breitseits auf die „Lagoda“.
Ihre Besatzung war
gerade beim Frühstück,
nur der Koch sah uns herankommen. Er stürzte
aus der Kombüse heraus und rief Steuerleute
und Matrosen an Deck. Glücklicherweise
wurde nicht viel Schaden angerichtet. Ihr
Klüverbaum ging zwischen unserem Vor- und
Großmast durch, riss uns einen Teil des Wants
weg und drückte unsere Reling ein. Sie selbst
verlor ihren Stampfstock. Der Anprall brachte
uns zum Stehen. Da sie auf der „Lagoda“ Kette
steckten, kamen wir klar von ihr und ließen
den zweiten Anker fallen. Wir hatten aber
nun einmal Pech. Bevor es irgend jemand
gewahr wurde, trieben wir auf die „Loriotte“.
Der Kapitän gab nun rasch und aufgeregt
seine Befehle. Die Marssegel wurden vorgeschotet.
Er ließ die Segel abwechselnd bald
back kommen, bald wieder vollstehen, in
der Hoffnung, die Anker klar zu bekommen.
Aber alles war umsonst. In seiner Ratlosigkeit
setzte er sich auf die Reling und wartete
erst mal in Ruhe ab, was nun kommen sollte.
Dem Kapitän Nye rief er zu, dass er ihm jetzt
einen Besuch abstatten würde. Der Bug der
„Loriotte“ traf uns Steuerbord achtern und
brach uns einen Teil der Heckreling weg. Sie
selbst wurde nur wenig beschädigt. Durch
Stecken der Ketten kamen die Schiffe voneinander
frei. Ihre Anker waren aber zweifellos
unklar. Wir besetzten das Gangspill und
hievten und hievten – ohne Erfolg. Wir trieben
jetzt auf die „Ayacucho“ zu. Da legte von
dort ein Boot ab, das den Kapitän Wilson zu
uns herüber brachte. Wilson war ein kleiner,
lebhafter Mann von etwa fünfzig Jahren. Da
er ein tüchtiger Seemann und etwa zwanzig
Jahre älter war als unser Kapitän, so zögerte
er keinen Augenblick, Ratschläge zu erteilen.
Bald hatte er Thompson das Kommando aus
der Hand genommen. Er fing an, mit dem
Schiff zu manövrieren, wie er es für richtig
hielt. Einige Male versuchte Thompson sich
einzumischen. In freundlicher, väterlicher
Weise gab Wilson Gegenbefehle. „Oh nein,
Kapitän Thompson, Sie dürfen jetzt nicht den
Klüver setzen“, oder „Noch nicht hieven.“ Nun
gab es unser Kapitän auf. Wir waren mit dem
Kommandowechsel sehr zufrieden. Wilson
war ein freundlicher Mann und hatte eine
aufmunternde Art zu sprechen. Alles ging
soviel leichter. Nach zwei oder drei Stunden
beständigen Hievens bekamen wir einen
Anker hoch, an dem der kleine Buganker der
„Loriotte“ hing. Wir klärten unsern Anker, ließen
ihn dann wieder fallen und hievten den
anderen auf. „Nun werde ich Ihnen einen
guten Liegeplatz suchen“, sagte Kapitän Wilson.
Er setzte beide Marssegel und brachte
das Schiff in tadelloser Weise zu Anker, dem
Schuppen gegenüber, der für uns bestimmt
war. Dann erst verabschiedete er sich. Wir
machten die Segel fest und gingen zum
Frühstück. Bis zum Abend hatten wir damit
zu tun, die Boote auszusetzen und das Schiff
zu vermuren.
Abends fuhr der Kapitän auf die „Lagoda“. Als
er längsseits kam, nannte er seinen Namen.
Der Obersteuermann
rief zum Kapitän Bradshaw
hinunter: „Kapitän
Thompson kommt an
Bord.“ Die rauhe Stimme
Bradshaws war von
vorn bis achtern zu hören:
„Hat er seine Brigg
mit herübergebracht?“
Das ärgerte Thompson
nicht wenig. Bradshaws
Ausspruch war bald an
der ganzen Küste bekannt,
und Thompson
bekam ihn immer wieder zu hören, solange
er an der Küste war. (Richard H. Dana, Zwei
Jahre vor dem Mast – aus dem Kapitel „Ein
unmenschlicher Kapitän“, 1840).
Mit einigen wollen wir nichts zu tun haben
und trennen uns oder beginnen gar nicht
erst, etwas mit ihnen zu machen. Mit „solchen“
gehen wir auf keine Reise. Manchmal
ist gar nicht klar, was nicht stimmt, aber einige
erscheinen schon vom optischen Eindruck
aus der Ferne wie „daneben“. Wir nehmen hin,
dass viele Menschen sich auf eine eigentümliche
Weise verhalten und bewegen, solange
sie nicht wirklich stören. Als ich klein war, gab
es meiner Heimatstadt Wedel eine „komische“
Frau: „Das ist die Zilla“, sagte meine Oma als
Erklärung, wenn wir Kinder fragten, was mit
ihr sei. „Da kommt die Zilla-Tante“, sagten wir
schließlich genauso – ohne sie wirklich zu
kennen. Die war stets im langen Mantel (ihr
Haar hatte sie mit einem auffällig üppigen,
bunten Kopftuch bedeckt) unterwegs, schon
älter und ziemlich beleibt. Typischerweise
irgendwie abwesend, mit sich selbst redend,
seltsam aussehend und mit müdem Schritt
latschend, eventuell mit einem Fahrrad schiebend,
kam sie daher. Auf dem Bürgersteig war
sie schon von weitem erkennbar. Sie fütterte
die Tauben auf dem Gehweg, und das macht
man nicht: So habe ich es gelernt.
Später fiel mir ein Mann auf, der schon im Erwachsenenalter
zu sein schien. Er war stets in
Begleitung mit einer älteren Frau unterwegs,
ich vermute, dass es seine Mutter gewesen
ist. Über die Jahre, mit dem Älterwerden des
komischen Paares, änderte sich wenig am
infantil-folgsamen Erscheinungsbild des inzwischen
nicht mehr jungen Mannes. Er trug
nun Bart. Das konnte sein fliehendes Kinn
und den braven Ausdruck nicht erreichter
Männlichkeit kaum verbergen.
Gelegentlich begegne ich heute einem Mann,
dem es (möglicherweise) ähnlich geht. Er
scheint sich gar nicht daran zu stören, immer
noch der Mama zu folgen. Es gibt diese Paare
häufiger? Groß, beleibt und in forstfreudiger
Kleidung unterwegs, ist dieser Typ immer ein
wenig reichlich angezogen, auch wenn es
warm ist. Er sieht zunächst gemütlich und
zufrieden aus. Der tut bestimmt keiner Fliege
was zuleide: Ein gemütlicher Bär. Seine
Füße dreht er gut fünfundfierzig Grad aus
der Richtung, in die er gerade betont bedacht
stapft. Der fällt nicht um. Ein eitler Beau geht
anders. Der Mann trägt ebenfalls Bart, aber
es sieht nicht wirklich gut aus. Der Eindruck
des verzottelten Kumpels hält sich nicht bei
näherer Betrachtung. Lieber Abstand halten?
Eine alte Frau ist an seiner Seite, oft.
Das wird die Mutter sein? Man sieht
die beiden beim Einkaufen, und auch
allein fällt die seltsame Gestalt auf,
weil er irgendwie kein „richtiger“
Mann ist.
Ohne noch mehr ins Detail gehen zu
wollen, kann man sagen, dass beide,
der von damals und dieser hier, in
ihrer gesamten Erscheinung, obwohl
vollkommen verschieden im Typ,
doch auf die gleiche Art unreif und
eigenartig vom Bewegungsmuster
auftreten. Selbst wenn Mama einmal
nicht dabei ist, da stimmt was nicht,
das sieht man gleich. Eine unerlaubte
Einschätzung, die mir nicht zusteht,
natürlich. Es ist möglich, dass
hier keine Krankheit von wem auch
immer erkannt wird.
Wenn sich niemand dran stört, bleibt
es jedem selbst überlassen, was er
aus seinem Leben macht – denken
wir das?
Von meinem Kapitän und Schiff kann
ich mich trennen, wenn die Reise beendet
ist: Abgemustert. Aus einem
Vertrag oder einer Firma komme ich
raus, und eine Ehe kann geschieden
werden. Was, wenn ich nicht von
Mama loskomme? Für meinen Großvater
war es schwierig, einen eigenen Weg
zu gehen. Die Mama war in dieser Hinsicht
unproblematisch. Opa „Bur“, wie wir meinen
Urgroßvater nannten, den ich noch kennengelernt
habe, war das Problem. Der Vater von
Heinz war einfacher Volksschullehrer, und
sein Sohn sollte „was Besseres“ werden. Nach
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 75 [Seite 73 bis 81]
dem Abitur hatte der Vater eine Position als
Oberstudienrat an einem Hamburger Gymnasium
im Visier, dahin sollte es gehen. Heinz
aber wollte „nach See zu“, und das passte dem
Vater nicht. Mein Opa hat sich durchgesetzt,
und als er schließlich Kapitänspatent hatte
war dann auch der Vater zufrieden. Heinz fuhr
als Dritter, Zweiter und auch als Erster Offizier
mit seinem A6-Patent, aber nicht als Kapitän.
Der Vater von meinem Vater hatte auch
Patent, aber nicht für „Große Fahrt“; er hat
Schlepper gefahren. Er sei ein hervorragender
Kapitän im Hafen gewesen, hieß es (wenn
mein lieber Erich da nicht übertrieben hat).
„Mit denn Sleper kann’s reknen un sriven“,
hätte „der Alte“ gesagt, und das sollte wohl
heißen, wie kunstvoll er bugsieren konnte.
In einem alten Klassiker aus dem reichhaltigen
Bücherschrank von meinem Großvater
(ich möge doch bitte nicht „Opa“ sagen)
Heinz ist vorn (mit der mir noch gut vertrauten
Handschrift) die Wohnadresse in Wedel
notiert; SVAOe steht drunter, und das ist ein
bekannter Segelverein. Es ist das Buch „Spiegel
der See“ von Conrad, und natürlich habe
ich es gelesen. Es enthält eine Geschichte,
die der von Dana ganz ähnlich ist. Seemann
Joseph Conrad sagt
dort auch etwas
über Kunst. Verbindende
Pinselstriche,
die meine
Vergangenheit, Segeln
und Bilder die
ich liebe, lebendig
werden lassen!
Der Steuermann
erzählt; er ist (wie
oft mein Großvater)
als Offizier verantwortungsvoll
angemustert, aber
sein Kapitän ist vom Reeder als Schiffsführer
eingesetzt und gibt die Anweisungen, wie alles
zu machen sei.
# Und ein Künstler ist ein Mann der Tat, ob
er nun schöpferisch tätig ist, Entdeckungen
macht oder den Ausweg aus einer schwierigen
Lage findet.
Die ganze Kunst anderer Meister, die
ich auch kannte, bestand im Vermeiden
jeder erdenklichen Schwierigkeit. Es
versteht sich von selbst, dass sie es in
ihrem Fach niemals zu großen Leistungen
brachten, aber verachten konnte
man sie deshalb nicht. Sie waren bescheiden,
sie kannten ihre Grenzen. Ihre
Lehrmeister hatten das heilige Feuer
nicht der Hut ihrer kalten, geschickten
Hände anvertraut. An einen dieser
Männer erinnere ich mich besonders
gut. Er ruht sich nun schon von der See
aus, die sein Temperament zur Kulisse
recht friedlicher Bilder gemacht hatte.
Nur ein einziges Mal versuchte er eine
verwegene Pinselführung, das war an
einem frühen Morgen bei stetiger Brise,
als wir in eine Reede einliefen, die
voller Schiffe lag. Aber er war bei der
Ausführung, die durchaus zur Kunst
hätte werden können, nicht ganz echt.
Er dachte an sich selbst, es verlangte
ihn nach dem billigen Ruhm einer auffälligen
theatralischen Leistung.
Als wir eine dunkle, bewaldete Landspitze
umsegelten, die sich in frischer Luft und
Sonnenschein badete, bekamen wir den Blick
auf eine Menge
Schiffe frei, die
vielleicht eine
halbe Meile voraus
vor Anker lagen.
Er rief mich
von meiner Station
vorn auf der
Back nach achtern,
drehte das
Doppelglas in
seinen braunen
Händen hin und
her und sagte:
„Sehen Sie dieses
große, schwere
Schiff mit den
weißen Untermasten? Ich will zwischen ihm
und dem Land ankern. Lassen Sie die Leute
klarstehen, dass sie auf den ersten Befehl
springen.“
Ich antwortete: „Ay, ay, Sir“, und glaubte wirklich,
das würde eine nette Vorstellung werden.
Wir rannten quer durch die Flotte in
glänzendem Stil darauflos.
Es muss allerlei
offene Mäuler
und hinter uns herstarrende
Augen an
Bord dieser Schiffe
gegeben haben –
es waren holländische,
englische,
dazwischen ein
paar amerikanische
und ein oder zwei
deutsche –, und sie
alle heißten um
acht Uhr ihre Flaggen,
als geschähe
es zu Ehren unserer Ankunft. Es würde auch
eine nette Vorstellung geworden sein, wenn
sie zustande gekommen wäre, aber leider
kam es nicht ganz dazu. Dieser bescheidene
Künstler mit seinen unbestrittenen Verdiensten
wurde durch eine selbstsüchtige Regung
seinem inneren Wesen untreu. Er tat seine
Kunst nicht um der Kunst, sondern um seiner
selbst willen, und ein elender Misserfolg war
die Strafe, die ihn für die größte aller Sünden
traf. Die Strafe hätte sogar noch schwerer
ausfallen können, aber zufälligerweise setzten
wir weder unser Schiff auf Strand, noch
rannten wir dem großen Schiff mit den weißgestrichenen
Untermasten ein großes Loch
in die Seite. Aber ein Wunder ist es, dass wir
nicht beide Anker samt den Ketten verloren,
denn man kann sich denken, dass ich nicht
lange fackelte, als er mir mit bebenden Lippen
und einer zitternden, ganz fremden Stimme
den Befehl „Fallen Anker!“ zurief. Ich ließ
sie beide mit einer Geschwindigkeit fallen,
über die ich heute noch staune. Niemals sind
die Anker eines gewöhnlichen Handelsschiffes
mit einer so wunderbaren Schneidigkeit
nach unten gegangen. Und die beiden hielten.
Ich hätte ihre rauhen, kalten Eisenflunken
vor Dankbarkeit küssen mögen, wenn sie
nicht unter zehn Faden Wasser in Schlick und
Mudd vergraben gelegen hätten. Im letzten
Augenblick ließen sie das Schiff aufdrehen;
zwar hatte der Klüverbaum einer holländischen
Brigg unser Besansegel durchspießt,
aber vor Schlimmerem blieben wir bewahrt.
Immerhin, verfehlt ist so gut wie verspielt.
Aber nicht in der Kunst. Der Meister murmelte
nachher kleinlaut: „Es wollte nicht rechtzeitig
anluven. Was kann mit dem Schiff nur
los gewesen sein?“ Ich antwortete nicht.
Doch die Antwort
war klar. Das Schiff
hatte die zeitweilige
Schwäche seines
Herrn gespürt.
Von allen lebenden
Geschöpfen
zu Wasser und zu
Lande lassen nur
die Schiffe sich
nicht von falschen
Vorspiegelungen
betören, lassen sie
allein sich von ihren
Meistern keine
schlechte Kunst
gefallen. (Joseph Conrad, Spiegel der See –
aus dem Kapitel „Die hohe Kunst“, 1906).
Conrad sieht im Schiff beinahe ein Lebewesen,
und das kann jeder, der schon ein wenig
mit Booten vertraut ist, sofort nachvollziehen.
Der Körper des Menschen sollte wie der
Rumpf eines Schiffes begriffen werden, und
unser Gehirn ist das Achterdeck oder die Brücke,
auf der Schiffsleitung und Kapitän die
Anweisungen geben, der Steuermann steht.
Manche glauben, dass eine psychische Erkrankung
therapiert werden kann, weil das
üblich ist.
Dabei wird gern ausgeblendet, dass nicht
etwa das Gehirn eines Patienten krank ist,
sondern ein ganzer Mensch. Wenn man einem
Kranken Dinge sagt, die ganz logisch
sind, finden sie
nicht den Widerhall
in seinem
Verstand, den wir
uns wünschen. Wir
sollten begreifen,
dass ein Mensch
mit Problemen nur
dann verbal trainiert
werden kann,
wenn sein Organismus
gesund
ist, wie etwa beim
Fußball, oder ein
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 76 [Seite 73 bis 81]
Team in der Wirtschaft wird von einem
Unternehmensberater gecoacht. Das
kann gut funktionieren.
Wenn wir die Firma als ein System betrachten
oder das Team auf dem Spielfeld
in der Bundesliga, können wir einen
Bogen spannen, über die Besatzung auf
einer Rennyacht, die optimiert werden
kann, schneller mit dem Schiff zu sein,
und wir können den Körper eines Menschen
als System begreifen, der gesteuert
vom Gehirn auch eine Art Apparat ist,
unterwegs in Zeit und Raum. Die unfassbare
Größe unserer Welt können nur die
ausblenden, die das Ganze spüren und
diejenigen, die nichts merken. Der Rest
ist krank dazwischen.
Systeme im System, um das zu beschreiben
sollten wir die gut fassbaren Strukturen
nutzen und die schwer erklärbaren
Bereiche der Realität hinnehmen. Angefangen
beim großen Ganzen, bis zum
kleinen Menschengehirn und den Zellen,
finden sich beschreibbare Netze. Wenn
wir größer denken, heißt das nicht auf die
Erkenntnisse spezialisierter Forschung
zu verzichten. Es ist nötig zu verstehen,
dass Schubladen ohne Schrank keinen
Sinn machen und ein Schrank im Urwald
fehl am Platz ist. Warum wir leben, können
wir kaum wissenschaftlich erklären.
Im Interview mit Mario Adorf zu seinem
neunzigsten Geburtstag (aus dem Internet
kopiert) antwortet der Schauspieler
auf die Feststellung:
# „Der Gegenpol dazu wäre Gott. Aber an
den glauben Sie nicht, wie Sie mal gesagt
haben.“
Adorf: „Ich habe eigentlich gesagt, dass ich
nicht an den von den Religionen erfundenen
Gott glauben kann. Das heißt, den lieben
Gott, von dem viele Menschen glauben, dass
er auf irgendeine Art an ihrer Existenz teilhat,
auf sie Einfluss nimmt und die trostreiche
Aussicht auf eine Existenz nach dem Tod
bietet. Eben dieser Trost wird mir durch mein
Nichtglaubenkönnen nicht zuteil. Das heißt
aber nicht, dass ich ungläubig bin.“
„Sondern?“
Adorf: „Ich meinte vielmehr, dass ich an eine
unbegreifliche, unvorstellbare Kraft glaube,
die das Universum geschaffen hat, die so viel
größer ist, als dass sie sich um unsere winzige
Existenz kümmern könnte. Daher darf ich
die noch umfassender als Gott nennen.“
(Berliner Morgenpost, 07.09.2020, Rüdiger
Sturm).
Um einen Menschen zu optimieren, können
wir einen Spezialisten beauftragen, und da
wäre es doch sinnvoll, dem ganzen Menschen
gutes zu tun und nicht nur verbal Rat
zu erteilen. Es kann doch gar nicht sein, das
nur das Gehirn krank ist, bei einer der vielen
Störungen, die nicht unter die physischen
Krankheiten fallen. Das Gehirn steuert genauso
die organischen Funktionen als auch
die bewegende Muskulatur in den Beinen
und Armen.
Obwohl alle wissen, dass ein kaputtes Knie
nicht nur ein Schaden am Bein ist, sondern
den Betroffenen unglücklich macht (über
den Verlust einer Fähigkeit) und damit auch
seine Gefühle betroffen sind, blenden wir
das gern aus. Ein Geisteskranker fällt durch
eigentümliches Verhalten auf? Dann ist nicht
nur sein Verstand getrübt, sein Bewegungsmuster
wird ebenfalls gestört sein. Das ist
ausnahmslos der Fall (auch wenn es immer
heißt „er war vorher unauffällig“, nachdem es
zu einer psychischen Ausnahmetat gekommen
ist). Das sind Fehlurteile, wir sollten genauer
hinsehen:
# Bemühen Sie sich nicht, das Vergangene
zu vergessen; man kann, was war, nicht vergessen,
ohne zugleich auch sich selbst auszulöschen.
Man mag meinen, diese oder jene
unerwünschte Einzelheit vergessen zu haben,
aber irgendwo ist sie unserem Körper eingeprägt.
Und doch kann diese Erfahrung aus der
Vergangenheit, so schrecklich sie auch gewesen
sein mag, jetzt verwendet werden, um
Ihre Gegenwart zur Grundlage einer erfüllenderen
Zukunft zu machen. Was war, lässt sich
nicht ändern, wohl aber unsere Einstellung
dazu: unsere Art, es zu sehen, es zu
bewerten, damit umzugehen. Wenn
Sie gelernt haben, die Vergangenheit
zu akzeptieren, und Ihren Frieden gemacht
haben mit ihr, dann wird sie Sie
in Frieden lassen. (Moshe Feldenkrais
„Das starke Selbst“ – Vorwort, posthum
erschienen 1985 / Ein anderes,
lesenswertes Buch von Joachim Bauer,
in dem es darum geht, dass Beziehungen
und Lebensstile unsere Gene
steuern, diese mitnichten festgelegt
immer auf die selbe Art agieren, sagt
diese Weisheit im Titel: „Das Gedächtnis
des Körpers“ Piper, 2004).
Wenn wir andere Systeme, etwa Schulen, Firmen
oder Staaten betrachten, können wir die
Bewegungen der Menschen und ihre Motivationen
wie Ströme verstehen, die das Ganze
formen. Mobbing im Bereich der modernen
Cancel Culture führt uns vor Augen, wie einer
dem anderen weitersagt, was zu tun sei. Wie
etwa ein Veranstalter beschließt, eine Künstlerin
aus dem Programm zu werfen, nachdem
negative Beurteilungen bekannt wurden und
das ein Risiko für das Team bedeutet. Das
können wir auch innerhalb einer undemokratischen
Struktur feststellen, wenn etwa
eine Opposition die autoritäre Regierung so
massiv in Schwierigkeiten bringt, dass die
staatliche Ordnung in Gefahr ist; es werden
Gegenbewegungen mobil machen. Dann ist
es zunächst reine Bewertung, welche Seite
im Recht ist, bis eine neue Stabilität deutlich
macht, welches die stärksten Kräfte im Land
sind. Das ist dann das Rechtsverständnis dort.
Es wird sich immer von anderen unterscheiden.
Einige sind immer unfrei in jedem System.
Das Recht in Deutschland heute ist nicht
gleich dem Rechtsverständnis früher bei uns.
Selbst die Katholische Kirche ändert sich,
und ob Gott sich ändert?
„Ich bin stehengeblieben“, sagte mein Vater
gern (mit resigniertem Achselzucken),
wenn wir seine gelegentlich eigenwilligen
Ansichten hinterfragten, als könne er durch
seine Sicht eine Insel finden, in der es noch
wie früher ist. Es gibt bessere Methoden, die
Vergangenheit spürbar werden zu lassen und
trotzdem in der Gegenwart zu leben. Durch
intellektuellen Selbstbeschiss hat noch nie
jemand die Zeit angehalten. Aktive Bewegung,
Selbsterfahrung ist der handfeste Weg,
rauf und runter durch die Empfindungen von
damals bis in die Gegenwart zu navigieren
und die Ströme der Emotionen wie Gewässer
zu kartografieren, auszuloten und nicht hängenzubleiben
mit dem kleinen Schiffchen
unserer Bewusstheit, sondern alle Riffe im
Selbst nach und nach zu besuchen.
Immer entstehen Ströme aus kleinen Elementen
im System, die verschworen Druck in ihre
Richtung ausüben. Die Muskulatur im Körper
eines Menschen ist vergleichsweise ähnlich
unterwegs. Mit Spannung wird bewegt, was
bei weitem nicht nur zweckmäßiger Tätigkeit
genügt. Emotionen motivieren die Kraft
ebenfalls. Einzelteile im systemischen Verbund
schaffen Wellen, die verstanden werden
können wie die Meuterei auf einem Schiff
einerseits und die Bestrebungen der Leitung
andererseits. Sie finden ihre Entsprechung im
menschlichen Organismus. Wenn wir uns vorstellen,
dass Aktive im Körper unterwegs sind,
die Weisungen der Zentrale im Gehirn aus-
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 77 [Seite 73 bis 81]
zuführen, können wir mental trainieren,
unseren Bewegungsapparat zu optimieren,
entspannen und rückwirkend wieder
Einfluss auf das Gehirn nehmen.
Das ist eine gute Möglichkeit, psychische
Probleme zu entzerren.
Ein bewusstes hin und her zwischen Körper
und Geist lehrt uns, dass keine Dämme
zwischen dem Gefühl und der Gegenwart
gemauert wurden, die Emotionen
aufstauen, die schließlich losbrechen. Da
ist kein dickes Fell, das der Verdrängung
gute Dienste leistet. Vielmehr sind Spannungen
der Muskulatur zu finden, wenn
wir lernen darauf zu achten. Ein Versuch
wie Vogel Strauß, als hielten wir uns die
Hände vor die Augen, wie ein Kind wenn
es ruft: „Ihr seht mich wohl nicht!“ sollte
dem Erwachsenen nicht genügen. Wenn
wir Scheuklappen und Staudämme im
Gehirn hätten, könnten wir uns blind
und taub gegen Gefahren einstellen. Das
hätte die Evolution wohl kaum erlaubt.
Bedingungen zu schaffen, mit denen wir
merken wovor wir Angst haben, ist klüger.
Wenn ich rücklings auf einem Behandlungstuhl
beim Zahnarzt an die Decke starre
und der Doktor sich mit sirrendem Bohrer
meinem aufgerissenem Mund nähert, hilft
es kaum, nach der attraktiven Helferin Ausschau
zu halten damit man(n) sich entspanne.
Während dicke Schaum- und Watterollen
den Mund verkeilen, der silber glänzende
Folterstift herangeführt wird, zieht sich mein
ganzer Körper spürbar zusammen. So steif
wie möglich machen; bis ich begreife: So
schlimm ist es (diesmal) nicht. Das sind die
einzigen realen Staudämme, hinter denen
wir Emotionen zurückhalten können. Wir
können die Muskulatur hart und fest machen.
Es ist etablierte Gewohnheit, vom Losbrechen
aufgestauter Aggressionen zu sprechen:
Nur Psychopharmaka können die Rezeptoren
im Gehirn mit einer Hülle ummanteln. Das ist
etwa so, wie den Briefkasten zuzukleben, anstelle
„Bitte keine Werbung“ auf den Deckel
zu schreiben.
Die Alltags-Maske gegen das Corona-Virus ist
auch eine Erfindung des Menschen in aktueller
Not. Wir können die Augen zum Schlafen
schließen, aber nicht zusätzlich die Ohren
wegklappen. Menschen, die eine dunkle Maske
zum Einschlafen benötigen oder Pfropfen
in die Ohren machen, sind krank. Wir können
unsere Hände dafür nehmen, die Ohren zuzuhalten,
wenn der Krankenwagen mit lautem
Martinshorn kommt, aber probieren Sie das
eine Nacht lang? Elefanten (ohne Schweißdrüsen)
wedeln mit ihren großen Ohren, um
sich den Kopf angenehm kühl zu machen:
Wer bei uns noch mit den Ohren wackeln
kann, darf im Fernsehen auftreten? Die Natur
ist flexibel, und ein gesunder Mensch kann
dem Zusteller, der es partout nicht begreift,
verbal noch nachhelfen bis bestimmte Sendungen
nicht mehr eingeworfen werden. Das
ist „Cancel Culture“.
Wenn es ein Problem mit dem Partner gibt,
sollte es gelingen sich zu trennen. Wenn das
Problem die Vergangenheit ist, kann das bedeuten,
sich von jemand trennen zu müssen,
den es früher in unserem Leben gab und der
Einfluss hatte. So eine Art Kapitän auf früherer
Reise hält unser Denken noch immer fest.
Wenn „Mama“ das Problem ist, kann jeder
Neuanfang mit einer Partnerin davon belastet
sein. Eine schöne Beschreibung, wie wir
festgehalten sind und nur mit Mut und Kreativität
die unvermeidlichen Probleme lösen
können, passend zu den bisherigen maritimen
Geschichten, findet sich bei „Hornblower“. (Es
ist eine Frau an Bord). Forester schreibt:
# Gleichmäßig kam die Kette ein. Die Schiffsjungen
mit den Stoppern folgten ihr bis zum
Luksüll und rannten eilig zurück, um die Kette
und das Kabelar abermals zu packen. Doch
das gleichmäßige Klank-klank des Spills
wurde immer langsamer und hörte schließlich
auf.
„Zu-gleich, ihr Bastarde! Zu-gleich!“ brüllte
Harrison. „Die Leute von der Back hierher!
Angefasst! … Zu-gleich!“
Jetzt drückten zwanzig Männer mehr gegen
die Spaken. Ihre vereinten Kräfte entlockten
dem Gangspill ein einziges feierliches: klank
…
„Zu-gleich! Gott verdamme euch … Zugleich!“
Häufiger klatschte Harrisons Rohrstock.
„Zu-gleich!!“
Ein Zittern durchlief das Schiff; das Spill
drehte sich plötzlich so schnell, dass alles
in einem Knäuel durcheinanderfiel. „Kabelar
gebrochen, Sir“, rief Gerard von der Back her.
„Anker ist unklar, glaube ich.“
„Himmeldonnerwetter!“ murmelte Hornblower.
Er wusste, dass die Frau, die da hinter
ihm in dem Liegestuhl ruhte, sich über die
Verlegenheit lustig machte, in die ihn ein
unklar gekommener Anker angesichts ganz
Lateinamerikas brachte. Er dachte aber nicht
daran, den Spaniern einen guten Anker nebst
Kette zu hinterlassen.
„Setzt die kleine Bugankerkette als Kabelar
auf“, schrie er. Der Befehl bedeutete für eine
ganze Anzahl Seeleute eine unerträglich heiße
und peinvolle Arbeit. Drunten im Kabelgatt
musste die Kette des kleinen Bugankers
hervorgezerrt und dann durch Menschenkraft
zum Gangspill hinaufgeschafft werden. Die
Flüche der Bootsmannsmaate hallten bis zur
Hütte herauf; die Deckoffiziere waren sich
der unwürdigen Lage ihres Schiffes ebenso
bewusst wie der Kommandant. Aus Furcht,
dem Blick der Lady Barbara zu begegnen,
konnte Hornblower nicht hastig auf und nieder
gehen, wie er eigentlich zu tun wünschte.
Er stand nur da und kochte vor Erbitterung.
Mit dem Taschentuch wischte er sich den
Schweiß vom Gesicht und vom Nacken.
„Kabelar ist klar, Sir!“ grölte Gerard.
„So viel Leute an die Spillspaken, wie Platz
dran haben, Mr. Harrison, sorgen Sie dafür,
dass sie sich ins Zeug legen!“
„Aye, aye, Sir!“
Terrum-tum, terrum-tum, rasselten die Trommeln.
„Zu-gleich, ihr Hundesöhne!“ rief Harrison
und: Klatsch, klatsch, klatsch, traf sein Rohrstock
die angespannten Rückenmuskeln.
Klank, machte das Spill; klank-klank-klank.
Hornblower fühlte, wie sich das Deck unter
seinen Füßen ein wenig neigte. Die Anstrengung
der Mannschaft drückte das Vorschiff
nieder, vermochte aber nicht den Anker aus
dem Grund zu reißen.
„Gottver …“, begann Hornblower halblaut,
doch ließ er den Satz unvollendet. Von den
fünfundfünfzig Flüchen, über die er verfügte,
wurde nicht ein einziger der gegenwärtigen
Lage gerecht.
„Stop!“ brüllte er, worauf die schwitzenden
Seeleute ihre schmerzenden Rücken entspannten.
Hornblower zupfte an seinem Kinn, als wolle
er es abreißen. Es blieb ihm nichts anderes
übrig, als über den Anker zu segeln, und das
war ein schwieriges Manöver, bei dem Masten
und Takelage zum Teufel gehen konnten,
ohne dass man vorher wusste, ob das Ganze
nicht in einer lächerlichen Blamage enden
würde. Bis jetzt konnten drüben in Panama
höchstens ein paar Fachleute über die peinliche
Lage der Fregatte im klaren sein, aber sowie
die Segel losgemacht wurden, richteten
sich von den Mauern der Stadt aus natürlich
unzählige Fernrohre auf die „Lydia“. (...).
Er sah zum Verklicker, der kleinen, ganz droben
am Mast wehenden Windfahne, hinauf,
und dann blickte er über die Seite ins Wasser.
Der Wind wehte quer zum Strom. Dieser
Umstand wenigstens war günstig. Ruhig erteilte
er seine Befehle, wobei er sehr darauf
bedacht war, seine Unruhe zu verbergen und
der Lady Barbara nach wie vor den Rücken
zuzukehren. (...).
Mit dem hart zu Bord liegenden Ruder kam
das Schiff ein wenig herum; das Vormarssegel
gleichfalls. Blitzschnell wurden Klüver
und Stagsegel gesetzt. Ein Zittern lief durchs
Schiff, die Fahrt wurde abgebremst, einen
Augenblick zögerte die Fregatte, dann aber
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 78 [Seite 73 bis 81]
begann sie dicht am Winde langsam zwar,
doch wie erfreut, wieder Fahrt aufzunehmen;
diesmal vorwärts. Droben kam indessen auf
Hornblowers laute Befehle jedes Stück Leinwand
zum Tragen, das den Zug zu verstärken
vermochte. Das Gangspill klankte begeistert,
indessen Harrisons Leute im Kreise herumrannten
und die Kette wieder eingehievt
wurde.
Dem Kommandanten verblieben ein paar
Augenblicke zum Nachdenken. Schneller
glitt die „Lydia“ vorwärts. Gab er ihr nur die
geringste Gelegenheit dazu, so würde der
Zug der Ankerkette die Segel back schlagen
lassen und das Schiff stehenbleiben. Er fühlte
sein Herz klopfen, als er das Vormarssegel
beobachtete, um das erste Zeichen des Killens
abzufangen. Ein solches Flattern würde
bedeutet haben, dass der Wind von vorn einfiel.
Mit aller Gewalt musste sich Hornblower
zur Ruhe zwingen, damit seinen dem Rudergänger
erteilten Befehlen nichts anzumerken
war. Die Kette kam sehr schnell ein. Die
nächste Krise stand dicht bevor; entweder
wurde jetzt der Anker aus dem Grund gebrochen
oder die „Lydia“ entmastet. Hornblower
wartete noch einige Sekunden, dann schrie
er den Befehl zum Bergen sämtlicher Segel
hinaus.
Nun trug das eifrige, wenn auch peinvolle
Segelexerzieren seine Früchte, mit dem Bush
die Besatzung eingedrillt hatte. Die Untersegel,
Marssegel und Bramsegel verschwanden
während der wenigen, noch zur Verfügung
stehenden Augenblicke, und als das letzte
Stück Leinwand festgemacht war, drehte
Hornblower das Schiff in den Wind, um geradeswegs
auf den widerspenstigen Anker
zuzuhalten, wobei die „Lydia“ von der noch
vorhandenen Fahrt langsam vorwärts getrieben
wurde. Mit höchster Spannung lauschte
Hornblower dem Geräusch des Spills.
Klank – klank – klank – klank …
Harrison hetzte die Leute wie die Irrsinnigen
um das Gangspill herum.
Klank – klank – klank – klank …
Merklich verlangsamte das Schiff seine Fahrt.
Noch immer vermochte Hornblower nicht zu
sagen, ob alle diese Anstrengungen nicht
schimpflich mit einem Fehlschlag enden
würden.
Klank – klank – klank …
Und dann ein wilder Schrei von Harrisons
Lippen:
„Anker ist aus dem Grund, Sir!“
„Mr. Bush, lassen Sie alle Segel setzen“,
befahl der Kommandant. Bush gab sich
keine Mühe, die Bewunderung für ein so
glänzendes Beispiel seemännischen Könnens
zu verbergen. Hornblower aber fiel es
nicht leicht, jenen harten Kommandoton
beizubehalten, unter dem er das Gefühl
seelischer Erleichterung verbarg. Die Untergebenen
sollten keine Sekunde daran
zweifeln, dass er von Anfang an mit Sicherheit
das Gelingen des Manövers vorausgesehen
hatte.
Er bestimmte einen Kompasskurs, und als
der anlag, warf er noch einmal einen prüfenden
Blick umher.
„Ha … hm“, machte er und verschwand unter
Deck, wo er sich entspannen konnte und wo
ihn niemand sehen konnte; weder Mr. Bush
noch … Lady Barbara. (C.S. Forester „Der Kapitän“
– Drittes Kapitel, 1937).
Hornblower ist ein verheirateter Mann, und
das ist der Grund, warum dieses Buch, dass im
englischen Original „The Happy Return“ heißt,
nicht ganz so endet wie der Titel suggeriert –
jedenfalls, was die Lady betrifft …
Der Anker der „Lydia“ hält die Fregatte unfreiwillig
fest, aber der mutige Kapitän führt die
Sache geschickt zum Erfolg. Er löst sich aus
der verhakten Geschichte, indem er den Anker
mit Gewalt ausbricht. Er riskiert das Rigg,
nimmt den beschämenden Ausgang einer
ungewissen Aktion in Kauf und geht das Problem
direkt an. Schlussmachen mit Geschick,
statt blinder Suche am falschen Ort? Das
schreibt Watzlawick:
# Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener
und sucht und sucht und sucht. Ein
Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren
habe, und der Mann antwortet: „Meinen
Schlüssel.“ Nun suchen beide. Schließlich will
der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist,
den Schlüssel gerade
hier verloren
zu haben, und jener
antwortet: „Nein,
nicht hier, sondern
dort hinten – aber
dort ist es viel zu
finster.“
Wer aber – fragten
Sie sich vielleicht
– würde sich schon
so absurd verhalten
wie der Mann
im Beispiel vom
verlorenen Schlüssel?
Er weiß doch
ganz genau und
sagt es dem Polizisten
auch, dass
das Gesuchte nicht
dort liegt, wo er es
sucht. Zugegeben,
es ist schwieriger,
etwas im Dunkeln
(der Vergangenheit)
statt unter
dem Lichtkegel (der Gegenwart) zu finden,
aber darüber hinaus beweist der Witz doch
gar nichts. (Paul Watzlawick „Anleitung zum
Unglücklichsein“ – Der verlorene Schlüssel
oder „mehr desselben“, 1983).
Gerade nun ist die „Peking“ frisch renoviert
auf ihren Liegeplatz in den Museumsbereich
des Hamburger Hafens verholt worden. Ein
Schwesterschiff, die „Pamir“, ist 1957 auf tragische
Weise verloren gegangen. In Kenntnis
einiger Details, nicht nur aus der Seeamtsverhandlung,
sondern auch durch Tatsachenberichte
von Fahrensleuten im Freundeskreis
und in meiner Familie, kann ich zusammengefasst
verschiedene Faktoren als Ursache
angeben, nicht zuletzt die Tatsache, dass
Getreide zum Ende der Segelschiffszeit ausschließlich
in der Form von Schüttgut die
Fracht an Bord war und nicht mehr in Säcken
an Bord kam, wie ursprünglich. Ein Dampfschiff,
das typischerweise auf ebenem Kiel
unterwegs fuhr, kam mit der losen Gerste zurecht,
das Segelschiff, welches durch den seitlichen
Wind die meiste Zeit gekrängt segelte,
kam mit der hineingeschütteten Ladung in
die Gefahr, dass diese nach Lee verrutschte.
Das war auf der „Pamir“ passiert, und nun fällt
es schwer, einen Schuldigen für die Katastrophe
zu benennen. Geschüttete Gerste kannst
du nicht bestrafen. Die Zeit der frachtfahrenden
Segelschiffe war 1957 definitiv vorbei.
Einen Schiffsuntergang kann man durchaus
mit jedem anderen Unglück in Vergleich
bringen, auch eine Erkrankung ist ein Unglücksfall.
Die Menschen lernten damals,
dass Seefahrerromantik nicht ausreicht, ein
großes Segelschiff in Betrieb zu halten. Die
Reederei Laisz hatte ihren großartigen Segler
längst ausgemustert, und es waren Enthusiasten,
die in den fünfziger Jahren einen
Neuanfang mit den Schwestern „Pamir“ und
„Passat“ aus ideologischen Motiven begannen,
mit dem fatalen Ende. Der „Passat“, die
heute in Travemünde als Museumsschiff erhalten
ist, erging es mit verrutschter Ladung
beinahe zur selben Zeit auf einer Reise mit
Getreide an Bord ganz ähnlich. Der Sturm war
weniger heftig, das Fluten eines Ballasttanks
in Luv mit Wasser stabilisierte das Windschiff,
und nach der Katastrophe mit dem Schwesterschiff
probierte niemand mehr, diese Art
der Seefahrt noch fortzuführen.
Wir können das
Beispiel nutzen,
darüber nachzudenken,
wie generell
Schwierigkeiten
entstehen und
wie die Situation
zum Besseren geändert
werden
kann, gerade weil
es oft der Fall ist,
dass aus einer Notlage
Schlimmeres
die Folge ist. Wie
kommt das?
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 79 [Seite 73 bis 81]
Scheitern gilt verächtlich als nicht korrekt.
Cancel Culture, der nicht zu verzeihende
Fehler bedeutet das Ende? Härter als uns
die Natur mit ihrem Wetter und allerlei Gefahren
straft, urteilt und verurteilt manch’
Mensch den anderen: „Lass mich in Ruh!“
Die Post wird geblockt – Schluss! Beziehung
gescheitert. Texte aus dem Gebirge und vom
Menschen, der den eigenen Berg bezwingen
muss, wenn er überleben will: Reinhold Messner
im Interview, er hat ein Buch mit Briefen
aus dem Himalaja veröffentlicht.
# Manche Ihrer Briefe sind ja auch durchaus
Dokumente des Scheiterns, niemals aber der
Frustration.
„Ich habe früh gelernt, das Scheitern zu akzeptieren,
sonst wäre ich nicht am Leben geblieben.
Das Scheitern gehört ganz wesentlich
dazu und zum Teil schenkt es uns sogar
stärkere Erfahrungen als der Erfolg. Wenn
etwas so locker vom Hocker geht, vielleicht
sogar leichter als man es sich vorgestellt hat,
dann bleibt nicht viel an Erfahrung, Emotion
und Selbsterkenntnis. Wenn ich mich bemühe,
aber scheitere und das Scheitern auch
noch einen dramatischen Verlauf nimmt,
dann bleibt mir sehr viel. Im Grunde kommen
auch wir Bergsteiger nur mit Versuch und Irrtum
weiter. Und wenn ich den Irrtum und das
Scheitern nicht zulasse, sondern mich zwinge,
den Tod in Kauf zu nehmen, um Erfolg zu
haben, dann lebe ich bei diesem Tun nicht
lange. (Schleswig-Holstein am Wochenende,
Interview mit Reinhold Messner; Joachim
Schmitz, 12./13. September 2020).
Die „Pamir-Katastrophe“ – es gab nach dem
Untergang eine Seeamtsverhandlung, mein
Großvater war als Zeuge geladen. Er war
viele Jahre zuvor als Jungmann (das ist so
etwa wie Matrose) auf dem Schiff gefahren.
Damals war die „Pamir“ nur eines von vielen
Schiffen, die mit Salpeterladung aus Südamerika
unterwegs waren. Die „Pamir“ war zu der
Zeit mit nur etwa knapp dreißig Mann Besatzung
unterwegs wie üblich. Bei einer schnellen
Verschlechterung des Wetters benötigte
man die gesamte Besatzung, um eines der
großen Untersegel zu bergen. Das bedeutete
stets vorausschauend zu handeln. Auf der anderen
Seite galt es schon damals, schnell zu
reisen. „Zeit ist Geld“ ist keine neue Erfindung.
Und vor 1930 war es ein Geschäft, mit einer
Viermastbark Ladung zu segeln. Schnell zu
segeln, heißt die maximale Anzahl an Segeln
zu setzten. Segeln bedeutet aber auch heil
ankommen, wenn das Wetter schlecht wird.
Bevor mein Großvater in die Verhandlung
gebeten wurde, stand man mit einigen alten
Laisz-Fahrensleuten auf dem Gang des
Gerichts vor dem dafür bestimmten Saal,
der sich bereits mit vielen Beteiligten füllte.
„Wenn se di frogt, dann segg man, wi hebt dor
nix mehr mit to dohn“, gaben sie Heinz mit
auf den Weg. Das war mehr als ein guter Rat,
beinahe eine Anweisung. Das gibt die Möglichkeit
einen Bogen in die Neuzeit zu schlagen
und die Themen zu verbinden: „Bewährungsstrafe
nach Schock-Unfall“ titelt das
Schenefelder Tageblatt am Dienstag anfangs
der Woche. „Fahrer war in den Gegenverkehr
geraten / Richter sieht keinen Suizid-Versuch“
(Cornelia Sprenger, 08.09.2020). Der schwere
Unfall sollte nach Ansicht der Staatsanwältin
zu einer Haftstrafe von sechs Jahren führen,
da der Angeklagte bewusst den Tod eines
entgegenkommenden Fahrzeugs in Kauf
genommen habe, weil er durch den Unfall
Suizid begehen wollte. Der Richter beurteilte
den Fall anders und fand im Schuldspruch zu
einer Bewährungsstrafe aufgrund übermüdeten
Fahrens unter Alkoholeinfluss.
Wenn jemand Selbstmord begehen will und
scheitert, nimmt die Gesellschaft an, er sei
krank. Das allein ist bereits eine Bewertung,
denn wenn jemand Fieber hat und ein Test
das Ergebnis bringt, dass es sich um ein
bekanntes Virus handelt, ist es keine Frage
der Einschätzung des Arztes, sondern ein zu
belegendes Krankheitsmerkmal mit klar umrissenen
Faktoren. Es gibt kein Suizid-Virus
oder eine Krankheit, die Rahsegler versinken
lässt. Interessant für eine Verbesserung
der aktuellen Situation, wie mit psychisch
erkrankten Mitgliedern unserer Gesellschaft
umgegangen wird, ist die Erkenntnis, dass die
Vergangenheit zu einem Instrument wird, die
Zukunft zu gestalten. In einer Gerichtsverhandlung
wird das deutlich. Die Bewertung
der Katastrophe führt zur Weichenstellung,
nicht die Katastrophe selbst. Da sind also
zwei Faktoren, wer war aktiv beteiligt und
hat möglicherweise schlimmer gemacht,
was noch gut hätte ausgehen können, und
wer siegt schlussendlich im Bewerten des
Vergangenen? Das Bewerten soll der Findung
einer inzwischen vergangenen Wahrheit
dienen, die niemand kennt. Damit kann
ein Schuldspruch allenfalls die Fassung der
stärksten Argumente einer insgesamt unbekannten
Wahrheit sein. Es siegt also der
selbstbewussteste Bewerter und nicht die
Gerechtigkeit, was soll das auch sein?
Hier genau liegt die unglaubliche Chance,
unser Leben zum Besseren zu wenden. Nach
einem Schock anders weiterzumachen kann
nur dann gelingen,
wenn wir
die Möglichkeit
dazu bekommen.
Es liegt nicht in
unserer Macht,
die Vergangenheit
zu ändern.
Wir können sie
aber zu unseren
Gunsten bewerten,
und wir
können Unterstützer
finden.
Die Vergangenheit ist der Stoff, mit dem viele
Berufe arbeiten. Menschen sind das Material,
ihr früheres Verhalten ist, wie das Holz des
Tischlers für einen Stuhl oder Schrank, der
Stoff, aus dem der Staatsanwalt eine Bewertung
formt und womit er seinen Lebensunterhalt
verdient.
Kein Polizist könnte aktiv werden, wenn nicht
gegen das Gesetz verstoßen würde, kein
Brandmeister löschen ohne Feuer. Warum
wird ein junger Mensch den Beruf des Psychiaters
für sich aussuchen? Das wissen wir ja
nicht, aber es kann nicht bestritten werden,
dass einige Berufe bedeuten, Macht und Einfluss
über andere zu haben, in einer Art und
Weise, die nicht mit dem Verhältnis von Chef
und Angestellten verglichen werden kann,
wo ein Vertrag die Parteien direkt bindet. Der
Gang zum Arzt ist ein Schritt dahin, grundsätzlich
zu vertrauen. Das kann bitter enden.
Die Konfrontation mit der Polizei bedingt das
Vertrauen in den Rechtsstaat, und sich für
eine Politik zu entscheiden, indem wir wählen
gehen, ist mit einem Vertrauensvorschuss
begründet. Wer dem Arzt nicht vertraut, muss
sich selbst kurieren. Wer der Polizei misstraut,
muss zu schweigen lernen und nach den eigene
Gesetzen handeln, mit den möglichen
Konsequenzen. Und nicht mehr wählen gehen?
Je größer der Anteil derjenigen in der
Gesellschaft ist, die für sich diese Entscheidung
treffen, desto kranker ist das System
insgesamt. Es geht also immer um Vertrauen.
Abhängigkeit auszunutzen, ist ein Vertrauensmissbrauch.
Ein Reeder, der ein Schiff
unter Bedingungen in See gehen lässt, deren
Gefahren ihm klar sind, muss alles tun, die
Risiken in Relation zur Mannschaft an Bord
einzugrenzen. Das gilt im nächsten Schritt
für den Kapitän, denn die Matrosen an Bord
sind an seine Weisung gebunden. Eine Mutter,
die ihren Sohn nicht aus der Abhängigkeit
frei gibt, ist sich ihrer Fehler weit weniger
bewusst als ein verantwortungsloser Chef.
Und ein Kind das unter solchen Bedingungen
erwachsen werden soll, wird nur äußerlich
altern aber emotional unreif sein. Hier können
wir wieder die Frage nach der Normalität
und der Krankheit auf der anderen Seite
stellen. Es gibt erwachsene Muttersöhnchen,
die finden sich selbst normal. Bleibt die Frage,
wie lange es mit der jeweiligen Partnerin
funktioniert, und ab welchem Punkt die Abhängigkeit
zur Mama krank ist? Das Problem
ist vor allem dann eines, wenn das Abhängigsein
eines an die früher gewohnte Situation
ist. Dann ist die Vergangenheit der Klotz unter
Wasser.
Eine so gar nicht mehr aktive Abhängigkeit
bekommt gerade dadurch ihre fatale Dynamik,
dass sie nicht real im Raum steht. Die
Fantasie bindet, zieht uns unvermutet wie in
die Tiefe unter Wasser, wo der unterbewusste
Haken im Grund festgebissen
an die gar
nicht mehr existente
Bindung liegt. Das
lässt uns spontan den
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 80 [Seite 73 bis 81]
Pfad des Normalen verlassen. Etwa, als wären
wir abgesegelt, ohne ankerauf zu gehen,
und nach einiger Zeit rucken wir in die Kette.
Wenn wir den Anker nicht mit der Fahrt des
Schiffes ausbrechen, werden wir unser Rigg
einbüßen. Nach der Entmastung können wir
mit dem Nachdenken beginnen und von vorn
zu leben beginnen. Was ist der ganz persönliche
Anker, an dem wir bösartigerweise und
unbekannterweise hängen?
Je unklarer das Problem ist, desto mehr Licht
benötigen wir, das Dunkel der Vergangenheit
zu beleuchten, um den Schlüssel zu finden,
der uns begreiflich macht woran wir krank
sind. „Der Seewolf“ von Jack London und
„Moby Dick“ von Hermann Melville sind maritime
Weltliteratur, und diese Bücher können
größer verstanden werden, als reine Abenteuerromane
von der See. Ich habe etwas
gefunden über einen alten Griechen:
# Sisyphos ist eine Figur der griechischen
Mythologie. Er soll um das Jahr 1400 v. Chr.
gelebt haben, König zu Korinth und Sohn des
Aiolos gewesen sein sowie sich durch große
Weisheit ausgezeichnet und stark zur Vergrößerung
Korinths beigetragen haben. Heute
bekannt ist er vor allem in seiner Funktion im
Volksglauben als Schalk, gerissenes Schlitzohr
und Urbild des Menschen und Götter
verachtenden „Frevlers“,
dem es durch
skrupellose Schlauheit
mehrfach gelingt,
trickreich den
Tod zu überlisten
und den Zustrom
zum Hades zu sperren,
indem er den
Todesgott Thanatos
fesselt. Nach dessen
Befreiung wird Sisyphos
festgesetzt,
aber es gelingt dem
Toten mit einer List
erneut ins Leben
zurückzukehren: Er
befiehlt seiner Frau,
der Plejade Merope,
ihn nicht zu bestatten
und keine Totenopfer für ihn darzubringen.
Um dieses Ärgernis zu regeln, entlässt
Thanatos ihn noch einmal ins Leben, woraufhin
Sisyphos dem Tod ein weiteres Mal
entgeht. Sprichwörtlich ist die Sisyphos ereilende
Strafe geworden. Homer nennt keinen
Grund für die Strafe, weshalb schon in der Antike
verschiedene Autoren unterschiedliche
Gründe dafür angeben: Einmal wird Sisyphos
für seine Renitenz dem Gott Thanatos gegenüber
bestraft, einmal für seine Verschlagenheit,
einmal weil er den Göttervater Zeus an
den Flussgott Asopos verrät, weil jener dessen
Tochter Aigina geraubt hat. Schließlich
wird er von Hermes für seinen Frevel in die
Unterwelt gezwungen, wo er zur Strafe einen
Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen
muss, der, fast am Gipfel, jedes Mal wieder ins
Tal rollt. Dieses Motiv ist schon in der Antike
prägend für die Sisyphosrezeption gewesen,
heute ist Sisyphusarbeit bzw. Sisyphusaufgabe
ein geflügeltes Wort für eine ertraglose
und dabei schwere Tätigkeit ohne absehbares
Ende. In der Neuzeit wurde Sisyphos
durch Albert Camus’ Essay „Der Mythos des
Sisyphos“ zu einer Leitfigur des Absurdismus.
Diese radikale Neuinterpretation belebte die
Sisyphos-Rezeption und regte viele weitere
neue Deutungen der Sisyphosfigur an. (Wikipedia).
Da sind nicht wenige, die das Wochenende
herbeisehnen, an dem sie nicht arbeiten müssen.
Vielen kommt ihr Beruf vor, als müssten
sie sinnloses tun? Während der Corona-Krise
hat sich für manche eine neue Situation ergeben:
Diese Menschen wären froh, wenn
sie Arbeit hätten. Stellen wir uns einmal vor,
Sisyphos fand’s nicht schlimm aufzuräumen,
was gestern schon perfekt war? Im Film „Täglich
grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray
aus dem Jahr 1993, findet der Protagonist
eine sportliche Einstellung zum Problem. Er
ist in der Gegenwart gefangen.
Die Beschäftigung mit dem Selbst führt zur
Entdeckung des persönlichen Musters, das
uns behindert spontaner, angstfreier und beweglicher
zu sein.
Wir können die Vergangenheit nicht vergessen,
haben sie in Fleisch und Blut gespeichert.
Wir haben uns Bewegungsmuster angeeignet,
die bei jedem anders organisiert sind.
Niemand geht auf die gleiche Art. Einer zieht
das rechte Bein ein klein wenig nach, hat
einen Fuß bei jedem Schritt ein ganz klein
wenig mehr nach
außen oder innen
gedreht, und eine
Schulter wird etwas
vorgeschoben,
die andere hängt?
Es wäre ein Idealzustand,
sich
vollkommen fließend
und leicht
zu bewegen, ohne
unsere gewohnheitsmäßig
eingenommenen
Bremsen,
die schon
deswegen unnötig
sind, weil wir leicht
bemerken könnten,
dass welche
sich anders bremsen.
Wenn wir unsere Macken kombinierten,
kämen wir wohl gar nicht mehr vom Fleck?
Und wenn wir nur die guten, fließenden Bewegungen
jeweils nutzten, so wie wir uns ein
Menü zusammenstellen, dann ist das ein Bild,
wie wir durch Beobachtung und Selbstbeobachtung
lernen können.
Schließlich kommen wir dem Ideal, dass unsere
immer bekannteren Spannungen sehr
gering werden können, immer näher. Ein
wunderbarer Zustand, aber nicht immer. Am
nächsten Tag sind wir scheinbar wieder der
Alte, mit den bekannten Bewegungsmustern.
Was ist Feldenkrais-Training? Nachdem uns
die Methode vertraut geworden ist, begreifen
wir schließlich den Vorteil darin, dass wir
(bildlich) immer dieselbe Halle vom bereits
bekannten Müll entrümpeln. Das faszinierende
Erlebnis steigert sich von Mal zu Mal.
Nach einiger Zeit finden wir stets neue Reste,
an immer denselben Klemm-Stellen, die
noch ein wenig weiter entrümpelt werden
können. Da geht es nicht um Gymnastik. Alles
im Menschen hängt aneinander. Gefühle sind
in die Muskulatur eingefleischte Geschichten,
die mit Erfahrungen verwoben sind. Es ist
beinahe in die Vergangenheit zu reisen und
dort anpacken. Wir entdecken verspannte Angewohnheiten
und können sie heute lösen!
Das ist viel mehr, als Ratgeber zu lesen oder
einen Therapeuten aufzusuchen, der Trost
spendet in seiner Reflexion. Das ist aufräumen,
wegbaggern, den Anker ausbrechen und
alte, schlechte Zähne ziehen.
Es tut sich was im Körper, und wir verhalten
uns anders. Als wären wir im Raum der
Vergangenheit unterwegs und können ihr
auf der Straße begegnen. Als hätten wir ein
Modell unserer eigenen Geschichte. Wir können
in eine neue Welt gehen, als wäre wieder
„Damals“ – und entfernen Macken, die uns
behinderten. Wir kennen uns. Die Gerümpel
sind kleiner geworden. Sie liegen immer
in denselben, vertrauten Ecken. So wie die
Hausfrau weiß, wo der Staub zuerst wiederkommt,
nach dem wöchentlichen Putzen.
Morgen fangen wir von vorne an, die bekannten
Brocken von früher aus unsren Zimmern
wegzuräumen. Die Berge sind wieder kleiner
geworden. Wer freut sich da nicht, Ordnung
zu schaffen? Es ist leicht, wenn die Räume
vertraut sind und die Aufgaben schrumpfen.
Heute Hügel, und morgen schwache Bodenwellen,
die wir locker überfahren? Auf See
hieße das: Aus Sturm wird Gutwetter und
bald eine angenehme Brise!
Ahab fuhr los, den weißen Wal zu töten, und
sein Schiff versank, riss die Mannschaft in
den Tod – bis auf Ismael. Der schwamm noch
Tage im Meer, bis ein Schoner ihn aufgefischt
hat. Ahab, die harte Nummer. Rache an der
Vergangenheit, und da war kein friedlicher
Ankerplatz im Ozean zu finden. Moby Dick;
nicht jeder kennt seinen eigenen Walfisch –
das ist die innerste Motivation, die uns immer
wieder treibt, morgens das Bett zu verlassen,
aufzustehen und in den neuen Tag hinauszusegeln.
# „Und ich bin allein entronnen, dass ich dir’s
ansagte.“ Hiob (Hermann Melville „Moby Dick“
– Nachrede, 1851).
:)
Sep 13, 2020 - Ocean Cancel Culture 81 [Seite 73 bis 81]
Mehr gute Sachen machen
Sep 25, 2020
Kinder werden Jugendliche, schließlich Erwachsene,
sind nun eigenverantwortlich unterwegs.
Andere ziehen uns zur Rechenschaft,
wenn wir Fehler machen. Wir leiden darunter,
wenn wir etwas schlecht tun. Daraus
erwächst der Wunsch, keine Fehler machen
zu wollen. Träume wachsen begleitet von
der Vorstellung, noch Jahre lang Zeit für ihre
Umsetzung zu haben. Wir sind auf der Suche,
Ziele zu erreichen und Dinge umzusetzen, die
gerade uns glücklich
machen. Der
persönliche Erfolg
erwächst aus
der Erfahrung,
Erfüllung durch
eigene Entscheidungen
herbeizuführen.
Dass keine Fehler
mehr passieren,
wir weniger Fehler
machen oder
dass üble Momente
ausbleiben,
weil die Umgebung
vergisst
uns zu ärgern,
ist unrealistisch.
Mehr befriedigende
Dinge tun zu
können, ist möglich. Wünsche zu entwickeln
und Schritte in Richtung ihrer Erfüllung zu
machen ist besser, als sich auf das Vermeiden
der Fehler zu fokussieren. Mehr gute Sachen
zu machen geht; weniger Fehler oder keine
zu machen ist kaum möglich. Nach Überschreiten
der magische Grenze gesetzlicher
Volljährigkeit, wird verantwortungsbewusstes
Handeln erwartet. Ein Erwachsener muss
herausfinden wohin der individuelle Weg
führt, der sich vom allgemeinen durch eigene
Ziele unterscheidet und deswegen definiert
werden muss.
# Ein guter Weg fühlt sich gut an
Das bedeutet sich wahrnehmen und fühlen
zu können, damit die Unterschiede zum
normalen Rat und dem Gesetz spürbar
werden, für eine präzise Ausrichtung:
Die grobe Richtung wird durch die Erziehung
gegeben: „brotlose“ Kunst oder
besser die sichere Info-Grafik erlernen,
was gibt das Talent her? Was willst du:
alternativ den Fischladen der Eltern
übernehmen oder etwa den Segelsport
zum Beruf machen? Wir haben die Wahl
zu wählen nur dann, wenn wir uns die
Möglichkeiten wohin es gehen könnte
– relativ zu unseren Fähigkeiten und
der Kapazität dessen, was wir an Belastungen
vertragen können – richtig
einschätzen. Sonst werden wir tun, was
andere uns raten. Und damit sind sie es,
die eine Wahl für uns treffen. Es ist nötig
zwischen Risiken, die eine Entscheidung mit
sich bringt, und dem zu erwartenden emotionalen,
finanziellen oder anderweitig die
Stellung aufwertenden Gewinn abzuwägen.
Keiner geht von zuhause weg, um woanders
zu scheitern. Wir möchten unser Dasein gut
und besser machen.
Junge Menschen, die
ihre Gefühle wahrnehmen
können, sind
klar im Vorteil. Sie
haben, während sie
groß geworden sind,
eine Umgebung erleben
dürfen, die ihnen
genügend Raum gegeben
hat, ihr Selbst
kennenzulernen.
Es ist müßig, Eltern
zu belehren. Paartherapie
stößt schon
zu Beginn an Grenzen,
weil die Begriffe
„Paar“ oder „Eltern“
einen Rahmen beschreiben,
obwohl
Mann und Frau für
sich zunächst allein empfinden. Kinder sind
abhängig vom Ort ihrer Geburt. Schließlich
bleiben sie abhängig, bis sie erwachsen sind.
Wie unabhängig und gefühlt frei jemand
wird, hängt immer von der Vergangenheit ab.
So ist klar, dass mit dem Tag der Volljährigkeit
die Möglichkeiten der jungen Menschen
schon deswegen verschieden sind, weil manche
sich ihre gar nicht vorstellen können.
Sie haben bisher nicht lernen können, eigene
Ideen zu entwickeln und entsprechende
Risiken einzugehen (obwohl sie die Schule
möglicherweise mit einer guten Note verlassen
haben).
Ein wenig Glück gehört dazu, und was ist
eine glückliche Kindheit? Das hier gemeinte
Glück ist eine Kombination unterschiedlichster
Faktoren: Es gibt das Beispiel von gelungenen
Lebenswegen, die in bitterster Armut
und emotionaler Not ihren Anfang genommen
haben. Mit ein paar griffigen Erklärungen
wird der psychologische Ratgeber der
Realität selten gerecht.
Diejenigen, die nur unter den Bedingungen
ihrer Erziehung angepasst klargekommen
sind, werden es schwierig finden, nach Schule,
Studium oder in einer Ausbildung den
Weg in die Zukunft allein zu finden. Denn
nun müssen wir uns selbst erziehen: zu dem,
was wir individuell als „gut“ empfinden. Wer
möchte scheitern oder schlecht sein? Niemand
sucht den Weg in die Katastrophe, das
passiert nur dann, wenn der gute Weg nicht
mehr zu sehen ist. Ins Verderben läuft man in
der Absicht, hier noch gerade eine Verbesserung
zu finden! Was uns gut tut und wie es zu
erreichen ist (dort zu sein wo’s gefällt), müssen
wir lernen. Zunächst schaffen die Eltern
Orte, an denen es der Familie gut geht. Das
ist aber vom Ideal dessen, was sie dafür halten,
bestimmt. Gut zu sein, ist zunächst eine
Forderung der Erwachsenen an ihre Kinder.
Wie es gemeint ist, wird individuell unterschiedlich
aufgefasst. (Wenn ich in einem
speziellen Clan heranwachse, kann „gut zu
sein“ bedeuten, grundsätzlich mit dem Gesetz
im Konflikt zu leben).
Gut im Sinne von anständig, was immer damit
gemeint ist, gut im Sinne von Leistung:
In jedem Fall werden Eltern und Lehrer eine
Vorstellung zu vermitteln suchen, die ihren
eigenen Idealen oder Absichten entspricht.
Es kommt vor, dass Eltern die Zukunft ihrer
Kinder fest an das eigene Alter binden, sie die
weiterzuführende Firma im Blick haben oder
die Erwartung an einen bestimmten Karriereabschluss.
Auf diesem guten Weg mögen
sie das Kind sehen, etwa wie die staatliche
Ordnung den guten Bürger dort erkennt, wo
er Gesetze befolgt. Religion sieht den Gläubigen
dort, wo entsprechende Regeln eingehalten
werden. Das Mitglied einer Partei ist
gut im Sinne des speziellen Verbunds: Grüne
grün, Rote rot, usw. – sonst droht ein Konflikt.
„Gut“ ist zunächst eine Definition, ein Trend?
Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 82 [Seite 82 bis 84]
Trendnamen 2020: Olivia, Amalia, Levin und
Adam besonders beliebt – Greta stark gesunken.
(Presseportal; news aktuell Hamburg/
fabulabs Berlin, 19.09.2020). Chantal, Mandy
oder Kevin sind grundsätzlich out. (Adolf geht
gar nicht). Das ist eine aktuelle Nachricht.
Meine Mutter hieß Greta, und
mir kommen einige Dinge in den Sinn,
wenn ich das höre. „Greta Thunberg
werfe einen zu großen Schatten“, sagen
die Forscher. Deswegen „schreckten
Eltern davor zurück“, ihr Kind so
zu nennen, meinte der Sprecher im
Beitrag einer Nachrichtensendung. Ein
Foto von einer Mutter mit Zwillingen
wurde eingeblendet: Corona und Covid
heißen ihre Kinder.
Bevor die Corona-Pandemie die Medien
beherrscht hat, war „Fridaysfor-Future“
ein wesentliches Thema,
und gelegentlich werden wir daran
erinnert, dass es immer noch höchste
Zeit ist, die Umweltprobleme wichtig
zu nehmen. Wichtig für wen? Die Sender
ordnen die Nachrichten im Sinne
von gut oder schlecht (für alle) ein. Gewalt
ist böse. Toleranz wird eingefordert. Der biologische
Fußabdruck muss nachhaltig sein.
Der böse Trump oder Putin, Erdogan – und
mehr von diesen Dingen. Frauen erfahren
Wertschätzung dafür, dass sie Frauen sind:
Sprache wird gern gut gegendert. Wir finden
es gut, dass die Kirche Missbrauchsopfer
entschädigt. Alle Paare werden
akzeptiert und böse ist, Menschen auszubeuten,
zum Beispiel in der Fleischindustrie.
Das sind die immer gleichen
Themen. Ach ja: Wir stehen zusammen,
wenn wieder ein Attentäter oder ein böses
Netzwerk „uns“ angegriffen hat. Das
wiederholt regelmäßig (mit Nachdruck)
der Frank-Walter-Präsident, dafür ist er
da (und gut genug).
Manche nervt es, aber man stelle sich
vor in einem dieser Länder zu leben, in
denen die jeweilige Regierung noch Öl
ins Feuer der Unruhen gießt. Bei uns
sind die Anführer schwach. Die einstmals
staatstragende Volkspartei SPD ist
zu einem unprofilierten Haufen verkommen.
Mit Schrecken bemerken einige
das Machtvakuum, wenn unser Außenminister
neben dem amerikanischen,
russischen oder chinesischen Kollegen
bemühte Moral zum Besten gibt.
Ich kann nicht gut sein wie Greta Thunberg
und auf Fleisch verzichten oder
das Auto. Ich kann nicht alle Werte verinnerlichen
und im Alltag umsetzen wie der
sauberste Frank-Walter, den du dir denken
kannst. Ich habe einige Sachen herausgefunden,
die ich mag und denen folge ich. Ich
male, was ich mag und probiere nicht auszustellen,
weil das nur Ärger gibt. Ich bewundere
Greta Thunberg unendlich, aber nicht weil
ich die Umwelt retten möchte und sie deswegen
mein Leitbild ist. Ich bewundere sie, weil
sie über den Atlantik gesegelt ist. Ich beneide
sie, weil sie die Chance hatte, Donald Trump
zu sagen, was sie von ihm hält, und man hört
ihr zu. Eitel, eingebildet und dumm sind Politik
und ihre MacherInnen (die ich persönlich
kennengelernt habe).
Greta! (Du bist gut).
Sie ist da hingesegelt – auf einer Art Rakete
ist sie durch die Wellen geschossen (ich
kann dieses Boot von meiner Jolle unterscheiden).
Ich bin schon sehr viel gesegelt
und weiß, wie man es macht. Ich weiß auch
genau, wovor ich Angst habe; vor schlechtem
Wetter zum Beispiel.
# Europa ist von den Socken
Was ist der richtige Name für das persönliche
Motiv? Ich bin lieber im sicheren Atelier
unterwegs. Während nun endlich die
Arbeit an meinem großen (100 x 120 cm)
Bild „Grüneres Gras“ weitergeht, nachdem
es einige Wochen unfertig herumgestanden
hat, weil wir im Urlaub waren und ich anderes
zu tun hatte, schaue ich jede Menge
Video, um Wasser und Wellen zu studieren.
Es bedeutet immer, sich einen Ruck zu geben
und die besondere Motivation für einen
neuen Anfang zu finden, wenn es gilt,
die Beschäftigung mit dem Gemälde wieder
aufzunehmen.
Die Schwierigkeit das Wasser „gut“ zu malen,
ist so ein Anreiz für mich.
Eine Geschichte erinnere ich, wenn ich diese
Filme sehe. Mein Großvater hat eine Reise
als Passagier gemacht, und zwar auf einem
Frachtschiff. Das muss so Ende der Fünfziger
gewesen sein. Reederei Hamburg-Süd
oder Hansa, das kann ich nicht sagen. Er war
mit dem Kapitän befreundet und hatte Patent
wie dieser, aber die erwähnte Reise fuhr
er nur so mit. Er war bereits am Hydrographischen
Institut angestellt. Die Überfahrt
mit dem seinerzeit modernen Stück- oder
Schwergutschiff ging von Hamburg aus über
den Nordatlantik. Das Ziel lag irgendwo an
der amerikanischen Ostküste, möglicherweise:
New York.
Nach einigen Tagen auf See wurde Abends
das Wetter rapide schlechter. Heinz konnte
nicht schlafen, weil das große Schiff merklich
unruhig war und kam nachts auf die Brücke.
Rose, so mag der Freund und Kapitän geheißen
haben (ich bin mir unsicher), stand breitbeinig
neben den nautischen Geräten und
schaute in die Finsternis voraus. Man machte
Bemerkungen über den Sturm. „Wir haben
schon einige Risse“, sagte der Kapitän und
erklärte meinem Großvater, dass im übelsten
Bereich überkommender Seen einige Männer
an Deck waren.
Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 83 [Seite 82 bis 84]
Am Steuerstand war es ungemütlich, aber
dann bugsierte der Kapitän seinen Passagier
ins Freie. Der Sturm brüllte! Mein Großvater
klemmte die Hände an die gewölbte Kante
der Brüstung auf der Brückennock. Auf dieser
Seite gab das Steuerhaus ihnen ein wenig
Lee. Rose zeigte mit ausgestrecktem Arm in
das Dunkel. Er legte die andere Hand zum
Windschutz und wie einen Schalltrichter an
den Mund: „Da!“, grölte er derb – normal zu
sprechen war gar nicht möglich – während
kalter Regen in ihre Gesichter peitschte und
die feindselige Nacht schrie und fauchte wie
ein wütendes Tier. Sie mussten sich anstrengen,
etwas zu sehen. Hier im Freien konnten
sie das Licht vorn in wehender Gischt so
gerade erkennen. Ein kleiner Trupp schien
da geduckt hinter der Schanz beschäftigt.
Die Männer huschten jeweils einige Meter
vorwärts, wenn gerade kein Brecher hindonnerte
und wieder alles überschwemmte.
Sie hatten die unerfreuliche Aufgabe, nachts
nach frischen Sturmschäden Ausschau zu
halten. Wenn sie einen neuen Riss im Deck
bemerkten, sollten sie zügig am Ende davon
ein Loch in den Stahl bohren. Im traditionellen
Ölzeug der damaligen Zeit unterwegs, mit
primitivem Werkzeug ausgerüstet, waren sie
um den Job bei kümmerlicher Beleuchtung
sicher nicht zu beneiden.
Ich habe die Reise von Greta Thunberg im
letzten Jahr im Tracking angeschaut, wo sie
täglich jeweils war, welcher Wind herrschte,
wie schnell sie in die günstigste Richtung
vorankamen – erst mit Boris Herrmann und
dann mit La Vagabonde – und die wenigen
Sequenzen aus dem Cockpit und einige Fotos
gern angeschaut. Unglaublich! Ich selbst hätte
eine solche Scheißangst vor einer derartigen
Überfahrt und parallel aber jede
Menge Ahnung, wie alles an Bord zu
tun sei – ich glaube, das Beste, was
der jungen Aktivistin passiert ist, war
beherzt diese Rolle anzunehmen und
alles wirklich durchzuziehen. Das ist
so dermaßen großartig, es gibt keine
Worte dafür, die genügen. Nicht weil
sie die Welt rettet; sie hat sich selbst
gerettet. Sie hat erkannt, was sie tun
kann und macht es tatsächlich. Sie
hat ihr Leben, ihr ganz persönliches
Schicksal, angenommen.
:)
Das Loch sollte verhindern, dass der Riss
noch länger würde.
Das Schiff mag ähnlich dem Hamburger Museumsschiff
„Cap San Diego“ gewesen sein,
und ich bin schon darauf herumspaziert. Es
liegt friedlich an den Landungsbrücken. Ich
habe mir einen Eindruck verschaffen können
(als gewöhnlicher Besucher wie jede andere
Landratte). Natürlich, ich bin schon auf See
gewesen, einige Monate in der Karibik und
dann nach Bermuda. Unzählige Tage habe ich
auf Nord- und Ostsee und auf der Elbe gesegelt.
Wenn ich entsprechende Schlecht-Wetter-Filme
auf Youtube schaue, weiß ich, dass
ich niemals wirklich zur See fahren möchte
(auch nicht auf einem idiotischen Kreuzfahrtschiff).
Das schon gar nicht. Nicht wegen der
Umwelt. Sondern, weil man dort mit lauter
idiotischen Menschen wie in einem Hotel
herumfährt und dazu noch auf einem Ozean,
der schlimmstenfalls einen Orkan bereithält.
Und dann ist nix mit Party; es gibt entsprechende
Bilder im Netz.
Sep 25, 2020 - Mehr gute Sachen machen 84 [Seite 82 bis 84]
Wie diese Texte entstehen
Okt 1, 2020
„Wir basteln uns einen Kriminellen“ – (oder
einen Geisteskranken)? Im Duktus altmodischer
Anleitungen kann ich am Besten ausdrücken,
was mir gerade im Kopf rumgeht.
Was steht hier im Blog, worauf muss man
sich einlassen weiterzulesen? Text ist eine
Kunstform, und zu Malen bedeutet ebenfalls,
farbige Geschichten zu erzählen. Jedenfalls
ist das meine Auffassung von dieser Sache.
Geschichten sind nur zum Teil Tatsachenberichte.
Erzählungen, die mit Erfahrungen
verknüpft sind, entwickeln im Wortbild ihre
eigene Realität. Oft geschieht das sogar erst
im Prozess, beim Versuch wirklich genau zu
sein und diese Texte perfekt und individuell
zu formen. Eine Bereicherung, die zum gelungenen
Ergebnis führt, ist aber zunächst ein
Lustgewinn für den Schreibenden selbst, weil
man lernt – und ein guter Grund, es immer
wieder neu zu probieren.
Wenn ich ein fertiges Bild nach vielen Wochen
oder Monaten an die Wand hänge, beginnt
anschließend eine mehrtägige Phase,
morgens beim Wiedersehen aufzumerken,
ob es mir noch gefällt. In der Regel kommt
das Gemälde noch einige Male auf die Staffelei,
um kleinere Korrekturen vorzunehmen.
Manchmal arbeite ich daran direkt vor Ort an
der Wand, wo es hängt. Wenn ich einen Text
in den Blog stelle, ändere ich das Veröffentlichte
noch oft. Tagelang gehe ich in die Sätze
und formuliere sie um, kürze Absätze oder
füge Überleitungen ein. Das mache ich, weil
ich es liebe, exakt zu arbeiten.
Meine Malerei und die Arbeiten der anderen,
großen und weniger großen Kollegen; dem
normalen Zeitgenossen ist schon klar, dass
die Kunst bei vermögenden Sammlern, in
Staatsgalerie, Kunsthalle oder im Museum
hängt und bestenfalls dort gehandelt wird,
wo entsprechend gezahlt wird. Kunstkreise,
Galerien, die aus Liebhaberei betrieben
werden, zeigen in erster Linie Dekobildchen,
Landschaft (vom Foto abgemalt) oder
Quatsch. Um zu verkaufen, ist eine Strategie
unumgänglich.
Ich hatte nie eine.
Ich habe Zeit benötigt zu begreifen, dass ich
nicht ins Geschäft komme. Schließlich ist mir
klar geworden, was besser zu mir passt, wichtig
ist, und ich will nicht länger meine Zeit
damit verschwenden, mich um’s Ausstellen
zu bewerben. Es fällt mir nun leicht; habe
ich aufgegeben? Wie man’s nimmt, aber: Man
kann immer malen – auch für sich zuhause
allein. Mir gefällt das Malen. Darauf kann ich
nicht verzichten. Das Leben und die Umgebung
zu studieren, daraus etwas Eigenes zu
schaffen, ist eine individuelle Wissenschaft.
Verkaufen ist ein Geschäft. Das Prinzip ist
dem Verkäufer bei Fleisch, Fisch oder Autos
immer gleich: Günstig einkaufen, mit Gewinn
veräußern, und die Ware muss seinen
guten Ruf stützen. Wem am Verkauf gelegen
ist, sollte zügig und kostensparend malen.
Er sollte, da er sich als Person untrennbar
mitverkauft, alles tun, einen Eindruck zu
hinterlassen, der dem Œuvre zuträglich ist.
Der Gangsta-Rapper hat bestenfalls Knasterfahrung,
der Blümchenmaler muss
lieb sein usw. – konsequent am Ruf arbeiten
soll, wer’s braucht.
Das macht bei uns die
Bürgermeisterin, der gute
Geschäftsmann und jeder
erfolgreiche Galerist. Politiker
wissen sich effektiv
zu paaren und umgeben
sich mit Menschen, die
ihnen nützen. Die Königin
hält sich einen Hofnarren.
Wenn’s ihr nach einem
neuen Lover verlangt,
enthauptet sie den bisherigen.
(Wenn sie’s denn
schafft). Und der Wissenschaftler
arbeitet einfach
nur. Der Unterschied ist dieses
Detail: Die einen laufen ihrem
Krieg hinterher, die anderen suchen den Frieden
des Schaffens und jagen dem nach. Dazu
muss man die Schlachtfelder zunächst genau
kennenlernen, um sie schließlich (vom Rande
aus) zu verspotten, und das ist die Zeit in der
wir noch Kundschafter sind. Danach können
wir uns entspannt zurücklehnen und an die
Arbeit machen. Beobachten und Erkenntnisse
zu erlangen befriedigt.
# Und: Ich kann mich individuell ausdrücken
Vorkommnisse zu beschreiben, als hätten wir
selbst etwas begriffen (und andere verursachten
die Fehler) ist typisch. Das machen
einige. Viele sagen oft lieber gar nichts oder
„so etwas gelingt mir nie“, wenn sie in Gesellschaft
sind. Geschickt lanciert, um Aufmerksamkeit
zu bekommen, ist es nur umgekehrte
Eitelkeit. Auf diese Weise entstehen Gewohnheiten.
Daraus resultieren Reflexionen, alles
sei wie immer – das stimmige Bild. Es fühlt
sich richtig an, weil es sich nicht ändert: So
bin ich eben; Stabilität beruhigt. Das hat parallel
den Nachteil jeder Angewohnheit, dass
wir uns nicht entwickeln können und die eigenen
Fake-News glauben. Es kollidiert mit
der Realität, wenn Zivilcourage gefordert ist.
In der Regel nehmen wir uns nicht so wahr,
wie es der größeren Realität entspricht und
wie andere uns sehen. Wer sich traut, die gewohnte
Rolle zu verlassen und eine Blöße
gibt, hat die Chance zur Veränderung selbst
in der Hand.
Einige könnten es ausnutzen, „bist du blöd!“,
sagen sie, „wisst ihr, der spinnt.“ Wir stellen
uns vor, wie unangenehm es ist, angreifbar
zu sein und Bekanntgewordenes uns zum
Nachteil geraten kann. Manche schönen den
Lebenslauf, vermeiden zurückzusehen. Ich
finde es wichtiger herauszufinden, wovor
genau man sich ängstigt. Wer oder
was holt mich ein? Die Vergangenheit
jedenfalls nicht. Das ist nur ein abstrakter
Begriff; obschon eine bekannte
Redensart. Es kommt darauf an, wie
wir heute handeln und wo. Zukünftige
Erfahrungen mit alten Ängsten
bieten eine Chance. Unablässig zu
fürchten, versehentlich Unangenehmes
von früher irgendwo anzutreffen,
verewigt die Probleme. Einen Fehler zugeben
können, macht menschlich. Bei unauffälligen
Gelegenheiten fällt es leicht. „Mein Kuchen
plumpst auch immer zusammen“; über Anteilnahme
kommt man ins Gespräch.
Als ich Schwierigkeiten
hatte, Kritik an meinen
Illustrationen zu akzeptieren
und es nicht durch
besseres Arbeiten in den
Griff bekam, glaubte ich
mit freier Malerei ein Ventil
gefunden zu haben. Die
überraschende Antwort
ist, dass nicht etwa guter
Verkauf (das ist mir nie
gelungen) meine Probleme
gelöst hat, sondern
spezielle Ausdrucksfähigkeit,
die ich wie nebenbei
erlangt habe, und die Einsicht
in einige Befindlichkeiten
bei mir und anderen.
Ich muss vollkommen blind gegen alles
gerannt sein; von der Trivialität einer Umgebung
schockiert, der es nichts ausmacht,
zur einen Seite hin dies zu meinen, zur an-
Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 85 [Seite 85 bis 94]
deren das Gegenteil zu tun.
Ich habe es gar nicht nötig,
beim jeweiligen Gutsein
verschiedener Renommisten
mitzulaufen – und so geht es
viel besser und macht sogar
Spaß. Ich bin grundsätzlich
zufrieden, wenn auch nicht
immer glücklich und manches
bedauerlich ist.
Durch einen Zufall begriff ich, wie verletzlich
man im Krankenhaus ist, wenn nicht die Patientengesundheit
obenan steht. Angreifbar zu
sein, ist auch nützlich. Auf diese Weise kommt
der Mensch in die Position, Detektiv und Kern
seines Falls in einem zu werden. Im Zentrum
der Reuse, wo die Ungereimtheiten zusammenkommen,
kann man prima Unwahrheiten
fischen. Das trennt die Einbildung, es würde
über uns geredet, von der Realität – weniger
die Wahrheit an sich, als wie wir sie fühlen.
Das ist dann unsere eigene Wirklichkeit, die
schließlich, klar herausgeschält, sogar gemalt
werden kann. Der Unterschied liegt
darin, dass wir einen Rahmen aktiv gestalten
und nicht Opfer zwanghafter Gewohnheiten
sind. Besser als zu verkaufen,
ist die Entdeckung individueller
Bedürfnisse.
# Das Prinzip der Kunst
Zum Beispiel dieses Bild, das
nicht gezeigt wird, mit den
Nacktwanderern im Gebirge.
Es ist ein weiteres Mal
der Versuch, den Katalysator
Kreativität anzuwerfen. Man
bekommt eine Erfahrung
aus der Vergangenheit, die
so noch nutzbar ist, anstelle
der gewöhnlichen Abgase,
dem faden Nachgeschmack
den eine üble Geschichte
hinterlässt, wenn alles unwiederbringlich
verloren ist. Eine gute Bekannte
sagt zu diesem Thema: „Ich war auch
auf Ihrer Webseite, Herr Bassiner. Ich bin in
einem Dorf aufgewachsen (Holm) und in ein
anderes gezogen (Hetlingen).“ Über die Idioten
sagt sie: „Haben diese Leute kein eigenes
Leben?“ Ich finde: Menschen beobachten, sie
beutegeil (und voyeuristisch) zu tracken und
womöglich anzuzeigen, sollte den Fachleuten
vorbehalten bleiben, die Ergebnisse müssen
dem Recht standhalten.
„Gurken und Rosen“ ist ein Bild, das thematisiert,
wie findige Ankläger den Täter selbst
dort erschaffen können, wo (noch) keiner ist.
Sie inszenieren sich und das Umfeld, bis die
Sache passt. Eine Fernsehsendung vor einigen
Jahren hat mich dazu angeregt, meine
eigene Version vom flachgeistigen Dorf hoch
in ein oberbayrisches Gestein zu transponieren.
Splitternackt klettern diese Gestalten,
ihre Gurke jeweils als Waffe in der Hand am
nach vorn gestreckten Arm oder locker vorrätig
im Bandolier, mit einer fixen Hypothese
im Hirn am fiktiven Guttenberg rum. Sie
spießen ihren süßen Lockvogel ans verbogene
Gipfelkreuzchen wie der Fischer seinen
Wurm und hoffen auf den bösen Mann. Eine
Mannschaft (mit Frauen) unterwegs, als wär’s
ein Schiff, gleiten sie mit
wehender Flagge abwärts,
im steinernen Meer. Wespen
piesacken die Nackten, wir
müssen da durch, denken sie,
aua – au. Ein Stich ins Genital
– was soll’s. Die Sonne verbrennt
ihre Haut, die sie ihr
großflächig anbieten. Für ihre
Vision, bei den Guten zu sein,
leiden sie gern. Diese skurrilen
Nackten (mir ist noch detailreich
allerhand Blödsinn
eingefallen, um sie lächerlich
zu machen), tragen wie zum
Willkommen freundlich rote
Rosen in ihren Händen und
ein schleimiges Lächeln im Gesicht, aber den
Hintergedanken, eine Falle zuschnappen zu
lassen, im Herzen. Verbissen und blind für
die Wirklichkeit, missbrauchen sie
das Gute selbst, warten gleich dem
Kommisär Matthäi auf den letzten
Tag, der dann nie kommt. (Das
Versprechen, Friedrich Dürrenmatt,
1958).
# Während der Fokus im Film auf
dem Verbrechen lag, liegt er in der
Erzählung nun auf dem Ermittler.
Aus einem bestimmten Fall wurde
der Fall des Detektivs, eine Kritik
an einer der typischsten Gestalten
des neunzehnten
Jahrhunderts. „Kommissär
Matthäi
übernimmt eine
Tankstelle an der
Straße von Chur nach Zürich,
bei ihm als Haushälterin sei
die ,stadtbekannte Dame‘
Heller.“ (zitiert Wikipedia).
Und weiter: Erfolglos hatte
Matthäi versucht, ein Mädchen
aus einem Waisenhaus
zu adoptieren; Matthäi sagt,
er fische – kriminalistische
Arbeit.
Schließlich: (…) realisiert,
dass die Tochter der Heller,
Annemarie, Matthäi als Köder dient, und dass
die Tankstelle der richtige Ort ist: Damals
gab es nur eine Straße, die von Graubünden
nach Zürich führte – würde der Täter irgendwann
wieder einmal nach Zürich fahren,
dann musste er (…) vorbeifahren. (Wikipedia,
F. Dürrenmatt; gekürzt).
Der verbindende Aspekt meiner persönlichsten
Erfahrung (mit einer Studentin hier im
Dorf und ihren „Freunden“, die nur so getan
haben, als wären sie auch meine, was
schließlich zum Gemälde führte) und dem
Roman von Dürrenmatt, findet sich in der
Beschreibung des Polizisten und seiner fixen
Idee. Anfangs war es ein brillanter Einfall, der
die ganze Abteilung mitgerissen hat, um einen
schier unlösbaren Fall voranzubringen.
Das unausweichliche Fiasko ist einem Zufall
geschuldet, der lange unentdeckt bleibt. Dem
Detektiv und Spürhund entgeht nichts, aber
er kann nicht wissen, dass sein Mörder im
entscheidenden Moment verhindert ist – und
nie zurückkommen wird, in die perfekte Falle
zu gehen. Daran zerbricht der Kommissär,
er bleibt psychisch stehen; eine beschädigte
Uhr, die ihre Funktion für immer eingebüßt
hat und optisch noch eine ist, funktionell
nicht mehr. An dem Tag, wo sein arrangiertes
Date nicht zustande kommt, verlässt er unsere
Welt. Während das
Leben aller weitergeht,
bleibt von ihm
nur die menschliche
Hülle. Er handelt nun
Tag für Tag, als wär’s
immer noch Matthäi
am Letzten.
Er betreibt die Tankstelle,
und ohne das
Buch jetzt noch zur
Hand zu nehmen; ich
meine mich zu erinnern,
dass „die Heller“
und ihre inzwischen
erwachsene Tochter,
ein Teenager oder
schon über zwanzig Jahre alt, weiterhin mit
ihm zusammen an diesem schäbigen Ort
wohnen. Das Mädchen betankt die Autos an
der öden Straße. Lang dahingezogen, beinahe
schnurgerade, mit gelegentlich eingestreuten
Fahrzeugen, teilen die Spuren zwischen
Graubünden und Zürich eine ausgedehnte
Ebene. Eine baumlose Platte. Die typische
Berglandschaft der kleinen Demokratie ist
in dieser Szene nur Kulisse, stellt die nötige
Kante gegen den Himmel im Hintergrund, erinnert
uns gerade noch daran, wo wir sind.
Nicht weit entfernt, haben sich einige Bäume
zum Wäldchen versammelt. Der dunkle
Fleck in der Wiese, und ein finsterer Ort für
den Krimi. Der Kantonspolizist ist zum verbitterten
Pächter der windschiefen Anlage mutiert.
Ein Schweizer Original. Der Mann „wirkt
verblödet und rieche nach Schnaps“, zitiert
Wikipedia das Buch. Er schlurft in schietigen
Sachen rum, und die Heller – zapft und
serviert Bier, mit verhärmten Gesicht huscht
sie ins Interieur, im Halbdunkel vom Flur
und Küche am zugehörigen Schankraum –
sie runden das absurde Bild von Einsamkeit,
Abhängigkeit und gewohnter Verzweiflung
ab. Eine schlappe Wäscheleine mit einigen
Kleidungsstücken an schiefen Stecken, eine
schlecht verputzte Hütte oder Baracke
hinter den Gerätschaften für das Tanken;
so ungefähr könnte der Erzähler
es notiert haben.
Ich erinnere eine vom Wahn des geistig
abwesenden Alten geprägte Atmosphäre.
Alkohol und Frust bestimmen
das fixe Arrangement. Der frühere
Polizist ist unfähig, die Gegenwart zu
realisieren. Es hatte einen dramatischen
Wendepunkt in seinem Leben
gegeben. Von Gefühlen überrannt, war
er aus der für ihn typischen Rolle als
Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 86 [Seite 85 bis 94]
rationaler Taktiker gefallen und hatte einen
an die Kollegen abgegebenen Fall erneut an
sich gezogen. Der Kommissär quittierte daraufhin
den Dienst, um das den Eltern spontan
gegebene Versprechen einzulösen, den Mörder
ihres kleinen Kindes zu fassen.
Das Buch beginnt mit dem Ende: Der vollkommen
verwandelte Mann, bei dem schneidiges
Auftreten als gnadenlos korrekter
Jäger und steile Karrierepläne bei der Kripo
inzwischen unmöglich vorstellbar sind, lebt
ausschließlich für seine Idee. „Er wird kommen“,
nuschelt dieser Tankwart, während er
stumpf Öl kontrolliert oder die Windschutzscheibe
eines Fahrzeugs putzt. Leicht kann
man es überlesen; nur für eine Momentaufnahme
blitzt das andere Verbrechen durch:
Annemarie ist im Roman gleichermaßen
aufreizend wie verwahrlost vom Schriftsteller
gezeichnet. Kaum ein paar hingeworfene
Worte skizzieren ihr armseliges Dasein.
Für mich der berührendste Aspekt am ganzen
Buch.
Das Mädchen ist (meine) Hauptfigur in dieser
Geschichte, und wesentlich ist eine Szene
die, glaube ich, wie nebenbei eingestreut
wird, wo die Mitbewohnerin vom Kommissär
das Spiel begreift – und im hilflosen Zorn die
ganze Schäbigkeit der Konstruktion realisiert.
Die Mutter erkennt, als es nicht klappt
den Täter zu schnappen, wie ihre kleine Tochter
von der Polizei als Lockvogel missbraucht
wird – nicht etwa vom bösen Mann (von Gert
Fröbe im Film dargestellt). Davon weiß sie
gar nicht. Matthäi sagt ihr nur ungefähr, was
er tut, und vielleicht hat sie sich Hoffnung
auf eine bürgerliche Existenz mit dem Kommissär
an ihrer Seite gemacht. Möglicherweise
entwickelte sie Zuneigung zu dem Mann.
Frau Heller konnte ja nicht wissen, dass Polizisten
immer lügen (wenn sie eine verdeckte
Rolle übernehmen).
Sie bemerkt die Kripoleute im Wald, die ohne
Wissen der Mutter den Ort beobachten, wo
unbedarft die kleine Anne spielt. Trickreich
wird sie vom findigen Team auf eine von
Bäumen (die Deckung bieten) gerahmte Lichtung
gelockt, wo nun ununterbrochen ihr unschuldiges
Lied „Maria saß auf einem Stein“
erklingt. Dort im Gebüsch versteckt, hoffen
die verborgenen Fahnder, dass die kindliche
Weise noch nützen wird, den Täter zu ködern,
gerade an diese Stelle zu gehen. Nach dem
Eklat nehmen sie anschließend eine Strohpuppe
und machen noch eine Zeitlang weiter.
Die schockierte Mutter bleibt wie erstarrt an
der Seite des unbelehrbaren Kriminalpolizisten
Matthäi und betankt die Fahrzeuge,
brät Mahlzeiten zusammen, putzt. Der
kantonale Kunstgriff wird zur absurden
Farce. Die drei sind in den Grenzen von
Wald, Tankstelle und der schnurgeraden
Landstraße wie isoliert im eigenen Kosmos
gefangen. Eisig und irrational ist
ihre Beziehung, vollkommen kalt und
manisch unauflöslich. Schließlich bleibt
der Kommissär allein dabei, die Puppe
zu drapieren, weil die Kollegen realisieren,
dass es nichts mehr wird.
Dass die drei nun weiter jahrelang
zusammen an diesem gruseligen Ort
wohnen, bringt mir mein wichtigstes
Motiv in allen Bildern, Texten in den
Vordergrund, weil es genauso mein Leben
geprägt hat: Abhängigkeit. Der subtile Missbrauch
von Macht und meine (und oft unser
aller Unfähigkeit), den Zwängen zu entkommen,
beschäftigt mich immer wieder neu.
Meine Kunst ist eine verzwickte Angelegenheit,
auf dem Misthaufen persönlicher
Erfahrung gewachsen. Gutmenschen sind
Gurken, finde ich. So kommt es mir vor: Auf
dem Niveau des Boulevards sind sie unterwegs,
immer auf derselben Straße. Einfallslos
provozieren die ehrenamtlichen Dorftrottel
arrangierte Szenen. Da ist das immer gleiche
abgehalfterte Stammpersonal einer müden
Amateurbühne, verstärkt durch wechselnde
Statisten, die bestens informiert nach dem
Motto „wir schauen hin, passen auf“ den Bühnenrand
garnieren.
Pappkameraden dekorieren eine Welt für
ihren Truman vom Dorf und das Mädchen.
Mal ist sie chaotisch als rote Diva unterwegs,
dann wieder huschig auf der Flucht. Mir fällt
der Himmel auf den Kopf und eine Drohne
vor die Füße. Sie setzt die Karaoke-Mütze auf
und spricht das soufflierte Wort fließend. Unglaublich:
Diese Menschenretter konstruieren
Person(en)-Schutz in paranoiden Begegnungen
(eine Schmierenkomödie, die durch neu
angeheuerte Helfer kaum abwechslungsreicher
wird) für ihr vermeintliches Opfer, nachdem
sie’s extra (wie eine Marionette, gehirngewaschen)
platziert hatten. Als Rufmörder
wollen sie nicht gesehen werden. Sie haben
den üblichen Tratsch erst kultiviert, schließlich
überhöht, bis in die finstere Einbildung,
sie seien eigentlich Weltretter.
Ich musste es malen: Das Bild zeigt den kleinen
Trupp dummer Dörfler, vertraute Tröpfe,
wie in jedem Kaff bekannt, am abschüssigen
Hang. Die verbohrte Königin einer Provinzverwaltung
führt die Armseligen über den
Schotter schlitternd abwärts. Ich sehe sie
nackt wie in „des Kaisers neue Kleider“ – unterwegs
nach Absurdistan.
Gurken scheitern vor Gericht, und das ist
auch gut so. Im Glauben zu handeln, unser
Leben verliefe konstruiert wie im Krimi, ist
mehr als naiv. Polizist sein (oder Politiker)
kann man nur im Amt. Wer abgewählt
wird, kann allenfalls noch
am Stammtisch polemisieren.
Wenn Polizisten im Ruhestand
„den Kaufhausdetektiv geben“,
bleibt der Eindruck hängen, solche
Menschen wissen mit sich selbst
nichts anzufangen.
Texte: „Die Leute lesen die Bücher
gar nicht“, meinte kaum resigniert
ein lieber Autor zu mir, als ich
noch fleißig Info-Grafik machte.
„Sie kaufen ein Buch, weil es (deine)
schöne(n) Illustrationen hat
und verschenken es (ungelesen)
zu Weihnachten. Danach steht es dort nur im
Regal.“ Er hätte sich darüber mal mit M. (dem
Bergsteiger) unterhalten. Ein Rat, sich den
Leser zwar vorzustellen, aber nicht auf sein
vollumfängliches Verständnis zu hoffen und
weiter zu tun, was man liebt.
Danke!
Der wirkliche Schatz, den wir durch
Beobachtung, Schreiben und das Malen
von Bildern erlangen – es bedeutet
nicht zuletzt, eine eigene Ansicht zu
entwickeln, sich eine Meinung bilden
können, die polarisiert und überrascht;
ist Erfahrung. Man lernt eine Grenze
zu ziehen. Nicht nur was Nachbarn, das
Dorf und die Politik betrifft – auch: Geschwister,
Verwandte – nie wieder! Nie
wieder abhängig mitgerissen werden,
wenn es möglich ist, eine eigene, harte
Entscheidung zu treffen. Über unliebsame
Familienstreitigkeiten sagte derselbe
Verfasser (zahlreicher Fachliteratur
und Segler), pensionierter Jurist: „Das BGB.
Es kommt immer zur Zwangsversteigerung,
John, immer.“ (Noch einmal danke). Du bist
weise Bobby (und ein Freund).
# Wer vorher weiß, was man gar nicht glauben
kann, hat noch Zeit klug zu werden
Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 87 [Seite 85 bis 94]
Früher habe ich viel gelesen. Heute konsumiere
ich noch die Zeitung, ich lese keinen
Roman mehr. Ich kaufe mir keine Ratgeber.
Damals habe ich sie geradezu verschlungen:
„Anleitung zum Unglücklichsein“ hat Paul
Watzlawick sein schmales Büchlein genannt.
Das wörtlich zu nehmen, ist bislang kaum jemandem
eingefallen, mir schon. Ich habe diese
intelligente Erörterung gelesen, nachdem
ich studierte, Anfang der Neunziger.
Nur durch Fehler lerne man, heißt
es. Watzlawick mag von der Hoffnung
angetrieben worden sein, es
genüge, seine kluge Zusammenstellung
menschlicher Blödheiten
einfach zu lesen. Dachte er, es reiche
aus, Dummheiten bei sich wiederzufinden
und einfach wegzulassen?
Schon beim Niederlegen des Textes
befreit durchzuatmen, ohne das
Glück noch studieren zu müssen; mir
ist das nicht gelungen. Ich erkannte:
Da stehen ein paar gute Sachen –
aber das Glück habe ich seinerzeit
nicht gefunden. Ich begriff schon,
dass der Mensch seine Übel selbst
erschafft.
Ja, es kommt vor. Schönes Wetter hebt meine
Stimmung. Ich kann den Sommer nicht
ziehen lassen, bin weiter in Flip-Flops unterwegs.
Vor kurzem verweile ich als einziger
Gast bei „Nur Hier“ auf der Terrasse, bade
noch in herbstlicher Abendsonne und trinke
einen Tee (im Glas). Da sitzt man direkt am
Geländer (wie an einer Schiffsreling), und auf
der anderen Seite ist ein Weg ohne Stufen
für Radfahrer (eine sanfte Rampe), die hier
das Plateau vor dem Einkaufszentrum verlassen
können. Es gehen dort auch viele zu
Fuß, ohne ein Rad dabeizuhaben. Da kommt
Anastasia vorbei! Ich freue mich. Und sie
nimmt ihre (regenbogenfarben schillernde)
Sonnenbrille ab: „Ist das Whisky, genießt du
dein Leben?“, fragt sie – wir lachen. Zufriedenstellend
sehe ich wohl mindestens! aus …
offenbar bin ich gerade glücklich – und man
sieht es mir an.
Das gefällt mir.
Hey!
:)
Mich interessiert die Themen, passend zu
meinen Empfindungen und in Relation zu
den bisherigen Fähigkeiten, als Entwicklung
zu begreifen, mit der ich mich reflektorisch
formen kann. Diese Texte dienen nun wieder
dazu, mir selbst klar zu machen, inwieweit
das auch passiert, und die Webseite ist das
entsprechende Schaufenster. Ohne sich einen
Leser vorzustellen, kann man nicht schreiben.
Das passiert beim Malen auch. Es bedeutet
aber nicht, dass es nötig ist, einen Betrachter
wirklich zu erreichen; es genügt, die Möglichkeit
dafür zu schaffen.
Also die Bilder, gleich nachdem sie gemalt
wurden, wieder wegzuwerfen oder diese
Blogtexte nach dem Schreiben zu löschen,
wäre wohl extrem. Der Buchladen als eine
verwunschene Holzkiste am Feldrand ist mein
Ideal. Auf Fehmarn habe ich so einen Schrank
schon gesehen, und auch in Backnang gibt es
ein offenes Regal mit Büchern. Einigermaßen
gegen die Feuchtigkeit geschützt, tauscht
man dort ausgemusterte Werke.
„Goethe war hier …“ steht auf einer grauen
Kiste.
Das macht neugierig! Man tritt näher heran …
dann steht noch ganz winzig klein darunter:
„Nie!“
# Was kann man nun von einem
Menschen … erwarten? Überschütten
Sie ihn mit allen Erdengütern,
versenken Sie ihn in Glück bis über
beide Ohren, bis über den Kopf, so
dass an die Oberfläche des Glücks
wie zum Wasserspiegel nur noch
Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm
ein pekuniäres Auskommen, dass
ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt,
als zu schlafen, Lebkuchen zu
vertilgen und für den Fortbestand
der Menschheit zu sorgen – so wird er doch,
dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus
purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht
einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen
aufs Spiel setzen und sich vielleicht
den verderblichsten Unsinn wünschen, den
allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um
in diese ganze positive Vernünftigkeit sein
eigenes unheilbringendes phantastisches
Element beizumischen.
Gerade seine phantastischen
Einfälle, seine banale Dummheit
wird er behalten wollen. (Fjodor
Michailowitsch Dostojewski, 1821-
1881 – so finde ich es im Internet,
und bei Paul Watzlawick steht das
als einleitendes Zitat im erwähnten
Buch).
Tatsächlich male ich weiter, habe
die dumme Angewohnheit, andere
zu-zu-texten – obwohl ich damit
keinen Erfolg habe.
Wenn Bekannte zusammenkommen und „wie
geht’s“ fragen, gehört es sich: „Gut, Danke!“ zu
antworten. In dem Moment, wo unser Gegenüber
ausweicht, haken wir nach: „Stimmt was
nicht?“ Mein Großvater hatte sich darauf trainiert,
die Frage ausnahmslos mit: „Zufriedenstellend!“
zu beantworten, um dieses Problem
wie ein guter Schauspieler grundsätzlich
zu vermeiden – daran denke ich manchmal.
„Bist du glücklich?“, werde ich selten gefragt.
Okt 1, 2020 - Wie diese Texte entstehen 88 [Seite 85 bis 94]
Die Entdeckung der Angst
Okt 27, 2020
Es nieselt Bindfäden, und ich stülpe diese
derbe Kappe auf meinen Kopf. Sie ist einigermaßen
wetterfest und fühlt sich grob an in
der Hand. Aus braunem Cord, eher noch im
dunklen Beige und entsprechend gerippt, ist
sie kräftiger als die leichte Baseball-Cap, die
man im Sommer trägt. Meine hat vorn ein
ausgefranstes Emblem: „New York Athletics,
The University of Freedom“ steht da in dunkelblau,
beinahe grau ist es, um genau zu sein
– rund um ein weißes Wappen in der Mitte. In
den Schirm ist dezent eine Macke geschnitten,
schon beim Kauf war sie so. Der kleine
Riss lässt die Mütze alt und holzfällermäßig
aussehen.
New York, ich war schon einmal in der Stadt,
aber nur auf dem Kennedy-Airport. Etwa eine
Stunde warteten wir, bis der Anschluss-Flieger
kam. Erinnerungen vagabundieren,
dann drängt ein Motiv nach vorn.
„Das ist alles nur in meinem Kopf“,
singt Andreas Bourani. Ohrwürmer
sind Bilder gemeinsamer Fantasie,
begleiten für immer: „New York, New
York … Ol’ Blue Eye, Frank Sinatra. Und
Schlagersänger Udo Jürgens war noch
niemals dort? Vermutlich nur bis in
das Jahr 1982. Dann hat er sich einen
Ruck gegeben. Im Herbst kam sein Hit
heraus – wie jemand sich entschließt,
der Spießigkeit ein für alle Mal zu entfliehen.
Alle können das singen. Zehn
Jahre später endete mein Ausflug
in die Karibik mit einem Zwischenstopp
in der Metropole. Damit kann
ich nicht überzeugend behaupten,
dort gewesen zu sein. Weil der kurze
Aufenthalt nur das Umsteigen in das
andere Flugzeug bedeutete.
Das ebenso faszinierende Chicago
und den seinerzeit berühmten Sears
Tower, bestaunten wir ein Jahr vorher
tatsächlich „in echt“. Mein Besuch einer
Freundin aus Blankenese, dort im
Au-pair-Jahr, ermöglichte viele aufregende
Momente in der windigen Stadt. Ich war auf
dem benachbarten John Hancock Building,
um die atemberaubende Höhe zu erleben
(weil die Aussicht noch etwas besser sei, sagte
man uns) mit Uli. Erinnerungen in meinem
Kopf, auch hier. Das sind heute Geschichten.
Höhepunkte der Vergangenheit – warum
werden Berge erklettert, warum bauen wir
Kirchtürme, Wolkenkratzer?
Die modernen Babel: Das Empire State Building
in NY und das WTC konnte ich damals
nicht live erleben. Ein neues Jahr, und eine
andere Geschichte mit anderen Menschen.
Heute ist alles bloße Erinnerung. Es hat mein
Leben nachhaltig geprägt: Segeln auf der
Yacht „Capella“ in der Karibik. Wir waren nach
ein paar Tagen auf See von den Virgin-Islands
nördlich segelnd in Bermuda angekommen,
hatten Hans-Jürgen mit der Aufgabe, die
Heimreise zu organisieren, schließlich allein
gelassen. Zwei Monate Karibik lagen hinter
mir. Der Flug nach New York war kurz, und
nun wollten wir zurück in die alte Welt. Der
Kennedy-Airport liegt ein klein wenig außerhalb
des Zentrums. Aber es ist eben nur ein
Flughafen. Von dort, wo wir waren, konnten
Lars (der mit an Bord gewesen war) und ich
gerade mal die Skyline sehen. Ich erinnere
sie als blasse Kontur in einem dunstigen,
gelben Himmel. Die Zacken schienen doch
zu weit weg, um individuelle Einzelheiten
auszumachen. Aber sie waren nah genug im
Fokus, ihre Mächtigkeit im Vergleich zu Bäumen,
Gestrüpp oder normalen Gebäuden in
der Entfernung zu begreifen. Einige Yellow-
Cabs standen müßig am Rand vom Rollfeld.
Das war alles.
# Fragmente unterschiedlichster Erinnerungen
werden zum Bild einer Erfahrung
Da ist zunächst meine Idee, die „eine“ Geschichte
zu erzählen; und dann merkt man so
nach und nach, was dazugehört. Es ist eine
Herausforderung, dieses Puzzle der verschiedensten
Einfälle zum lesbaren Bild zu formen.
Schon ein Grund, es zu versuchen, finde
ich. Zeitungen, Fernsehen und das Internet:
Die Nachrichten konzentrieren sich aktuell
auf die sich zuspitzende Lage in der Pandemie
und die anstehende Wahl zum Präsidenten
der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald
Trump gegen Joe Biden. Weltpolitik ist
zunächst die von „denen da oben“ oder was
hinter dem „großen Teich“ passiert. An persönlichen
Schnittstellen verschmelzen die
großen Ereignisse mit den kleinen Dingen
des eigenen Lebens. Eine Melodie erfasst uns,
beinahe zufällig schlagen wir dieselben Töne
an, wie alles um uns herum, geraten mitten
hinein in die neue Welt.
Der Alltag erscheint oft grau und unspektakulär.
Schenefeld ist überschaubar.
Hier, in der Gegenwart, kann diese
Erzählung wohl am besten ihren
Anfang nehmen. Vor Kurzem bin ich
damit fertig geworden zu schreiben.
Etwa eine Woche steht dieser Text
online im Blog auf der Seite. Seitdem,
nicht zufrieden damit, suche ich weiter
nach Überleitungen, alles noch ein wenig
besser miteinander zu verbinden. Ich probiere
Fotografien, gezeichnete Bilder und passende
Gemälde von mir zu integrieren, um
das Geschriebene authentisch zu illustrieren.
Vor einigen Tagen bin ich wieder unterwegs,
denke darüber nach und laufe wie so oft den
bekannten Weg.
Das ist eine Strecke entlang bebauter, kleiner
Straßen und überschaubarem Verkehr –
selbst die „Hauptstraße“ hier, ist ja so großartig
nicht – mit viel Grün zwischen Wohnblocks
und Einzelhäusern. Ich muss etwa einen Kilometer
weit, und die gewohnte Bahn führt
mich letztlich in das „Stadtzentrum“. So bezeichnet,
kennen wir unser Einkaufszentrum.
Es steht protzig in silbernen Lettern an der
Front. Ein Geschenk für die Armseligen, denen
kein Stadtkern natürlich hingewachsen
war? Diese Bauern, die vergaßen, sich den
umtriebigen Mittelpunkt in ihr Städtchen zu
bauen wie andere Dorfgemeinschaften, und
seinerzeit auf einen Investor angewiesen waren.
Es muss ein Schilda (bei Hamburg) sein.
Anderes spricht ebenfalls dafür, aber zu weit
würde es führen, in die Details zu gehen. Das
„Zentrum“ ist eine Shopping-Mall. Es liegt in
der Mitte zwischen der „Siedlung“ und dem
„Dorf“. Gewichtiger als die erwähnte Hauptstraße
trennt uns die LSE, die gleich nach der
Luninez-Brücke am „Staddi“ zur Rennbahn
wird. Ein gar nicht schönes Erbstück zweifelhafter
Visionäre von damals im „schönen
Feld“ Schenefeld. Außerhalb gibt mancher
gern Gas. Drinnen bei uns Verstopfung, Stau.
Leichter Regen schreckt mich nicht, die Strecke
wie immer zu gehen, vorbei am Lindos-
Grill, der kleinen Dorfkirche, bei Timmse,
Hotop und am Kräla entlang. Meine grobe
Holzfällerkappe genügt schon, das Geniesel
abzuhalten. Dünne Regenkleidung ersetzt
meinen Hoodie, den ich für gewöhnlich trage.
Es ist nicht kalt.
Es gibt gerade keinen Stadtkern, und unsere
Bürgermeisterin probiert, sich ein Denkmal
zu setzen, einen zu kreieren. Das geht Jahre
lang, beschäftigt Planungsbüro und Tageblatt,
brachte uns den „Bürgerkongress“ und
mehr. Leider stockt das Projekt aktuell, weil
ein OD-Stein übersehen wurde. Ich habe ihn
gerade gefunden. Er steht zugewachsen im
städtischen Randgras zwischen der den Ort
zerschneidenden Straße und dem Rathaus.
Der Stein, der bislang nicht berücksichtigt
wurde, könnte Schwierigkeiten machen.
Grenzstreitigkeiten mit Kreis und Land wer
zahlen muss, wie weit ab und hoch was werden
darf. Ich habe nur quergelesen, bin nicht
konstruktiv und gefalle mir im Spott. Keine
Worte mehr dafür, aber nicht wegen dem
Kern. (Geht mir am Arsch vorbei).
Ich kaufe im Supermarkt ein, und Arzu, an deren
Kasse ich am liebsten zahle, stutzt: „Ich
haben Sie nicht gekannt, wegen Sie haben
Mütze – und Haare ist abgeschnitten.“ Wir
lachen. Sie ist vor vielen Jahren aus Afghanistan
nach Deutschland gekommen, hat anfangs
beim Bäcker verkauft. Dort trinke ich
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 89 [Seite 89 bis 94 ]
Kaffee oder Tee, esse belegte Brötchen, sitze
oft draußen. Je nachdem, wie viele Becher
ich über den Tag auftanke, mag ich gegen
Ende des Nachmittags lieber Tee. Weil nun
Arzu nicht gerade groß ist, musste sie sich
nach dem Earl Grey, der weit oben im Fach
untergebracht ist und selten gewünscht wird,
extra strecken. Und die Kollegen neckten sie
ein ums andere Mal. So fing auch ich gern an,
Späße drüber zu machen.
Wir mögen uns. Ich habe sie schon im Wagen
mitgenommen, nachdem ich sie an der
Bushaltestelle bemerkte. Wir sind noch einen
Umweg ins Wohngebiet gefahren, weil sie extra
für einen Kunden etwas erledigen mochte
und nicht recht wusste, wo das Haus genau
ist. Wir treffen uns auch, wenn wir beide im
Bus unterwegs sind. Es gibt leicht etwas, worüber
wir uns gern unterhalten, und immer
lachen wir viel. Sie hat tiefschwarze Haare,
und ich finde, sie sieht ägyptisch aus. Sie ist
selbstbewusst und schön. Ich mag an ihr, dass
sie so lebensklug und fröhlich ist.
Sie hat mir erzählt, dass ihr Name „ein
Wunsch“ bedeute. Sie sei das letzte mehrerer
Kinder. Ihre zahlreichen Brüder, einer nach
dem anderen geboren – und dann geschah es
endlich: ein Mädchen! Da war ein ganz großer
Wunsch ihrer Mutter in Erfüllung gegangen,
beinahe ein Wunder. Ich wäre unsicher,
meinte ich, ob mein Hiersein gewünscht sei
oder es schlicht passierte, dass meine Mutter
mit mir schwanger wurde, und eigentlich
behält man so etwas für sich, das weiß ich
schon. Ich sagte ihr weiter noch, dass meine
Mutter selbst jedenfalls kein Wunschkind gewesen
wäre. Der „Führer“ hätte damals dem
Volk gegenüber deutlich gemacht, er benötige
Männer für den Krieg. Entsprechend ungelegen
kam die Geburt einer Tochter. Damit
sah man sich gezwungen, unter Bekannten
zuzugeben, dass man es nicht hinbekommen
hatte, Adolf Hitler einen Jungen zu schenken.
Ich bezahle, packe meine Lebensmittel ein,
gehe weiter. Ich schaue bei Erika in den Laden
und finde sie nicht gleich. Die Tür zum
Hinterraum ist angelehnt. Wir sind vertraut
miteinander, und ich nehme mir raus, einen
Fuß in den Bereich für das Personal zu setzen,
schiebe die Tür auf. Ich habe Arbeitsgeräusche
gehört, und das flotte, rhythmische
Klopfen ihrer hochhackigen Schuhe auf
dem Boden ist mir lieb geworden und unverkennbar.
Erika ist aus Frankreich, ich vermute,
dass ihre Familie im Elsass beheimatet
ist. Genau weiß ich es nicht. Wenn keine
Kunden im Laden sind, reden wir ein wenig.
Eine kurze Pause machen, dann erzählt sie
manchmal auch von Besuchen zu Hause. Ich
liebe ihren Akzent.
Sie ist klein, hübsch und immer beschäftigt
zu ordnen. Sie muss katalogisieren, für die
Inventur, neue Ware bestellen und Sachen
auspacken, die gerade geliefert wurden. Für
gewöhnlich ist sie vormittags allein im Geschäft.
Da kommt es vor, dass sie nicht überall
gleichzeitig sein kann, obschon Kunden
und Vorgesetzte es möglicherweise möchten.
Erika ist unersetzlich. Ihre Kollegin (aus
Polen glaube ich) sagt: „Erika ist ein Pferd.
Klein, zart wie Edith Piaf der Spatz von Paris,
aber stark wie ein kräftiger Gaul; sie arbeitet
uns an die Wand.“
Sie schaut kaum auf, während sie einen
mächtigen Pappkarton zerteilt. „Ich wollte
nur guten Morgen sagen.“ Sie antwortet
nicht, schaut mich finster an, reißt vernehmlich
eine Klappe vom Karton ab. Sie
umklammert die Pappkiste vor dem Bauch.
Der Gegner ist so groß, dass ihre gestreckten
Arme eben genügen, die Kanten mit den
Händen zu greifen. Erika nimmt eine Schere
zur Hand, umfasst das Ding wie eine Waffe
zum Dolch geschlossen und sticht heftig mit
aller Gewalt fünf, sechsmal in den Karton,
presst ihn fest an ihren schmalen Leib.
Ihm den restlichen Atem vollends abschneidend,
drückt sie zu, dass es nur
so knackt, und unübersehbar ist ihre
Absicht, solange zuzustechen bis der
Feind auch wirklich tot ist. Ich lache
(verdeckt durch die Mund-Nase-Maske),
sie grinst mich böse an. Töte ich
einen, bin ich fähig, noch mehr von
euch abzustechen, nimm dich in Acht!
heißt das. Immer noch schenkt sie mir
kein einziges Wort. Als läge die Lunte
am Dynamit, bereit angezündet zu
werden, für den Wumms, der hier aber
auch wirklich alles in winzig kleinsten
Staub zerpulvert, wenn ich nur eine
Sekunde bliebe? Diabolisch funkeln
ihre Augen; und ich liebe sie sehr für
diesen Moment. Ich gehe, ohne noch
etwas zu sagen, und rufe frech, als ich
sicher draußen bin: „Es sind zwei richtige
Kunden gekommen …“
Ich verlasse das „Staddi“, und es regnet mehr.
Ein Bus kommt gerade an. Spontan gehe ich
durch die offene Tür an Bord, weil es doch
recht nass ist, und bezahle für die kurze Strecke
nach Hause. Wir sausen einen Kilometer
über die Schnellstraße wie ein Reisebus auf
Überlandfahrt, weil am Kreisel Baustelle ist.
Eine Umleitung, der Busfahrer genießt es
sichtlich, so ungestört zu gleiten. „Kaffeefahrt“,
sage ich, „jetzt den ganzen Wagen voll
mit Senioren“, und er lacht. Wir nehmen die
Kurve der Abfahrt und klettern mit dem langen
Gelenkbus mühelos ein paar Meter auf
die Geest. (Mutmaßlich) Jörn hat hier Kühe
im Regen stehen? Verstreut bilden sie lockere
Grüppchen. Eine überzeugt nicht in ihrem
schwarzbunten Kleid, mehr grau verwaschen
sind diese Flecken. Ein schlappes Aquarell,
ungeschickt drauf gekleckert. Es sieht wie
nicht wasserfeste Farbe aus, die im nassen
Wetter allmählich runtergespült wird. Wenn
es weiter regnet, ist heute Abend alles abgewaschen?
Meine Gedanken treiben – bis
nach ganz weit weg, und es tut einmal mehr
weh zu träumen.
Und diese Kuh hier vorn, wird bald schlicht
weiß sein, glaube ich.
Jeder weiß, was Gefühle sind. Zumindest nehmen
viele an, das Normale zu verstehen, wie
es, so vermuten sie, wohl bei allen ähnlich
ist. Manches wird ausgeblendet. Gewalttaten,
psychische Absonderlichkeiten sind Fehler
von anderen: „Das muss ich nicht begreifen“,
sagen sie und nehmen an „das verstünde niemand“,
wenn „Schlimmes“ in den Nachrichten
kommt.
Im „Hamlet“ aber, so um das Jahr 1602 herum
veröffentlicht, von William Shakespeare, dem
großen englischen Dramatiker, erfahren wir
bereits: „Einen anderen kennen, hieße sich
selbst kennen.“ Sinngemäß angewendet bedeutet
es, dass die meisten von uns sich nicht
kennen. Psychopathen sind auch Menschen,
genau wie Mörder und einfache Betrüger. Mit
der verbreiteten Annahme, man selbst käme
nie auf die Idee, ein Verbrechen zu begehen
und deswegen im Gefängnis zu landen oder
so durchzudrehen, dass die Aktion in eine
forensische Psychiatrie führt, blenden Menschen
viel aus. Sie finden mit dem Begriff der
Schuld oder Schuldunfähigkeit das befreiende
Wort. Es schafft eine Schublade, und fertig
ist das Weltbild.
Was genau Melancholie, Zorn oder Angst
dem Einzelnen bedeuten, hängt von individueller
Erfahrung ab. Einige können Gefühle
nicht einordnen. Zwischen der Bezeichnung
der Emotion, wie sie im Sprachgebrauch typisch
ist und dem eigenen Erleben, stehen
Erinnerungen, die das Empfinden maskieren.
Manche werden krank, weil sie nicht wissen,
dass sie nicht merken, wie es ihnen geht. Das
kommt möglicherweise durch Erfahrungen
im Zusammenhang mit Gefühlen und gleichzeitiger
Belehrung von Bezugspersonen. Weil
Kinder abhängig sind, können sie auf eine
subtile Weise unter Druck gesetzt werden. Ein
Einfluss der so machtvoll ist, weil die liebenden
Eltern annehmen, nur Gutes zu tun. Hier
beginnt bereits die Bewertung, was gut sei.
Wenn sich etwas für jemanden gut anfühlt,
muss das noch lang nicht heißen, universell
gültig zu sein.
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 90 [Seite 89 bis 94 ]
# Du willst es doch auch
Ein alltägliches Beispiel, das unspektakulär
daher kommt, fällt mir ein. Es kann zeigen,
wie wir übergriffig Einfluss nehmen, wenn es
einfach ist. Erwachsene missbrauchen unabsichtlich
elterliche Macht: Ich bin am Zeichnen,
und eine junge Mutter mit einem Mädchen,
das gerade erst laufen kann, erscheint.
Im Schatten der Waschanlage einer Tankstelle
beschäftig sich die Tochter neugierig mit
irgendetwas. Die Kleine bleibt immer wieder
am Boden hocken. Das Kind greift Blätter,
Steine oder sonst was vom Boden, um alles
genau zu untersuchen. Das nervt die Mutter
offensichtlich. Sie nimmt es bei der Hand und
sagt: „Komm weiter!
Wir wollen nicht im
Schatten gehen, hier
ist es viel zu kalt.“ Die
Schnute, die sie formt,
um dem Satz Nachdruck
zu verleihen, die
an eine Trutsche aus
den Fünfzigern denken
lässt, aber nicht an eine
zwanzigjährige Mutter
heute, der Tonfall, mit
dem sie „wir“ (als gemeinsame
Festlegung
des Empfindens) sagt
– böse! Dann zieht sie die Kleine wie einen
Hund an der Leine weiter. Mal davon abgesehen,
dass Eltern fürsorglich handeln, wenn
sie ihren Kindern die Risiken von Kälte oder
Schmutz am Boden lehren, haben Emotionen,
die mit der Situation nicht im Zusammenhang
stehen, sondern den Befindlichkeiten
des Erwachsenen geschuldet sind, hier nichts
verloren.
Zuerst kommen wir auf die Welt, dann lernen
wir zu sprechen. Für alles gibt es ein Wort.
Das ist der Tisch, der Stuhl, und hier ist unser
Wohnzimmer. Wir haben ein Auto, und Papa
kann es fahren. Der Hund bellt so laut, und
du fürchtest dich? Die Eltern geben auch den
Sachen einen Namen, die gar keine Sachen
sind.
Für mich und genau meine Gesundheit
wurde wesentlich herauszufinden, wie die
verschiedenen Gefühle im Organismus individuell
wirken. Ich musste lernen, wovon die
Allgemeinheit annimmt, dass es ein natürliches
Ding ist; mit dem Wort „Charakter“ geht
jedermann um, als wüssten alle Bescheid,
aber so einfach ist es nicht. Jetzt gerade ist
erneut ein furchtbares Attentat geschehen.
In Frankreich wurde ein Mann enthauptet.
Da diese Bluttat im Zusammenhang mit
Zeichnungen, also Kreativität und Kunst
geschah, berührt es mich kollegial. Der getötete
Mann war Lehrer gewesen. Er wurde
mutmaßlich zum Ziel der Attacke, weil er Karikaturen
im Unterricht zeigte, die Anlass für
den Anschlag auf die Redaktion
einer Satire-Zeitschrift gewesen
sind. Heiligtümer in irgendeiner
Weise zu verunglimpfen, ist riskant.
Aus gutem Grund wird auch
Christen nahegelegt, sich kein
Bildnis vom Herrn zu machen.
Ich muss an etwas ganz anderes
denken, möchte schnell weg
vom aktuellen weltpolitischen
Thema – und ein persönliches
Erlebnis erzählen. Vielleicht eine
viel bessere Idee, sich der Sache
anzunähern.
Eines meiner Probleme schien mir vor mehreren
Jahren zu sein, dass ich nicht Trompete
spielen konnte. Nun gibt es einige, die es
nicht können, und für viele ist es nicht wichtig.
Da sind welche, die würden sagen: „So
lerne ich halt Klavier.“ Andere fänden: „Was
soll mir die Musik (ich kann genau so wenig
mit dem Fußball treffen), male ich halt ein
Bild.“ Mir kommt dieser Spruch in den Sinn
(ein alter Witz), sagt der Lehrer zum Schüler:
„Sie werden’s lang üben müssen, bis Sie
merken, dass Sie kein Talent haben.“ Für die
Musik, und besonders die Trompete, habe ich
tatsächlich überhaupt kein Talent. Und ich
übe schon lange.
Manche meinen Talent wäre nebensächlich,
weil es das nicht gäbe, und man könne alles
erreichen, wenn man nur wolle? Ich konnte
gleich als Kind zeichnen und wurde spielend
besser. Das musste ich nicht wollen. Ich
habe es einfach so gemacht. Musikalisch
bin ich kaum, obschon ich es liebe, Jazz zu
hören. Ich tröte lustvoll, was ich nie wirklich
konnte – ich habe damit gar kein Problem.
Das war nicht immer so.
Um singen zu können oder ein Blasinstrument
zu beherrschen, muss man frei atmen.
Schnell und unspektakulär füllt sich
die Lunge mit Luft, vernünftigerweise bis
unten runter in den Bereich vom Unterleib.
Je nachdem, ob man zu denen gehört, die
gern volltanken oder den anderen, die oft
tanken, muss da ein praller Ballon voller
Energie sein. Für leise Töne sparsam ein
wenig Luft dabeizuhaben reicht nicht. Es
braucht grundsätzlich Dampf auf dem Kessel,
dem man wenig entnimmt, damit es
leise bleibt, wenn’s gewünscht ist. Einige
können es nicht, und es ist wohl kein Zufall,
dass ich auf die Trompete versessen bin.
Schließlich habe ich Wesentliches gelernt:
Atmen, Haltung und Wohlbefinden hängen
miteinander zusammen.
Gefühle und Körperhaltung sind bei manchen
zwanghafter verwoben als bei anderen,
und sie könnten geschickter Einfluss
auf die Qualität ihrer Bewegungen nehmen.
Wie sich’s anfühlt, etwas zu tun und
von den begleitenden Emotionen getrennt
wahrzunehmen, bedeutet Selbstbewusstsein.
Wer’s kann, dem geht es gut oder angemessen
selbst dann, wenn es Grund zu Traurigkeit,
Sorgen und anderem gibt, was nicht gefällt.
Fehler werden erträglich, wenn sie sich nicht
in die Haltung einbrennen, als hätten wir nun
das Recht zu leben verwirkt und müssten uns
erkennbar schämen oder extra auftrumpfen,
herumstapfen. Heute bin ich besser mit der
Trompete, aber ich kümmere mich kaum darum.
Es ist eine Geschichte wert zu erzählen,
wie es mir mit der Musik ergangen ist, und
was ich eigentlich gelernt habe.
Natürlich habe ich immer viel Musik gehört.
Das heißt aber noch nicht, dass jemand frisch
nach Gehör spielen kann, weil er viel hört. Ich
fand es schwierig, als Erwachsener einfache
Kinderlieder auswendig zu probieren. Andere
bekommen es mit. Um leise Trompete spielen
zu können, ist man entweder von Beginn an
dieser Typ Bläser mit leichtem Luftfluss und
maßvollem Geschick oder lernt es nach und
nach. Ich war grundsätzlich laut. Aber auch
für erfahrene Musiker gibt es Dinge, die sich
als typisch erwiesen haben, dass man weniger
Mundstückdruck benötigt, wenn man
ausgeruht ist oder: „Laut geht immer“, meinte
einmal ein verdienter Posaunist zu mir, der
sich im traditionellen Jazz einen Namen gemacht
hat.
# Übe ausnahmslos jeden Tag …
Es war im Herbst, ein Jahr nach der Jahrtausendwende.
Um zu üben, nutzte ich einen
Kellerraum. Darüber befand sich ein Geschäftshaus,
der Keller lag zur Straße hin.
Eine Kasematte mit Gitter in Höhe des Fußwegs
befand sich an der Außenwand vom
Nachbarkeller. Ich schloss regelmäßig die
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 91 [Seite 89 bis 94 ]
verbindende Stahltür, damit ich oben nicht
zu hören sei. Schritte im Laden über mir
waren zu hören, es ist anzunehmen, dass
umgekehrt meine Trompete bemerkt wurde.
Genau weiß ich es nicht.
Das muss ich erzählen, denn es gehört zu
dieser Geschichte ganz unbedingt dazu:
Jeder erinnert, wo er war – an dem Tag, als
die Flugzeuge in das World-Trade-Center
stürzten. Ich bin gerade im Elbe-Einkaufszentrum
unterwegs gewesen, und bei Wiesenhavern
lief es auf mehreren Fernsehern,
die dort zum Verkauf standen. Die Leute
waren noch ratlos, und erst als ich zu Hause
ankam, verstand man allmählich, was gerade
passierte.
Wir schauten stundenlang Fernsehen, bis es
nicht mehr ging.
# Der Kapitän fuhr noch in der Nacht mit dem
Schiff Deutschland quer über einen stürmischen
Nordatlantik, und ohne auch nur einen
Moment zu zögern, legte der Kanzler damit
direkt im Hafen von New York an. Noch aufgewühlt
wie das kriegerische Meer vor seinem
inneren Auge, mit dem er für uns die Zukunft
fokussiert hatte, trat er an die Mikrofone. Mit
Blick auf die rauchenden Trümmer sprach
Gerhard Schröder den Satz von der uneingeschränkten
Solidarität zu den Vereinigten
Staaten von Amerika –
Natürlich waren wir geschockt, es war unfassbar.
Mohammed Atta hatte in Harburg
studiert, hieß es, und er wäre Ägypter gewesen.
Islam-Wissenschaftler sprachen in
Talkshows: Der Heilige Krieg, er habe begonnen.
Etwa zu der Zeit ging mir eine Melodie im
Kopf herum, und ich probierte sie zu pfeifen,
überlegte, was es sei. Ich hatte gelegentlich
eine Horowitz-CD gekauft, und
dort war es drauf? Zunächst konnte ich das
Ding, eine Art Gassenhauer fand ich, nicht
recht unterbringen. Während ich mit unserem
Auto zum Probe-Raum unterwegs war,
pfiff ich die Melodie immer treffender vor
mich hin, meinte ich. Ein richtiger Ohrwurm
in meinem Kopf.
Draußen stand New York im Schock. Der Planet
in Panik. Er suchte die vertraute Linie im
trüben Licht um eine vollverschleierte Sonne.
Die Zivilisation schien gefährdet. War ich
noch sicher auf meiner gewohnten Straße?
Gestern erst war die Welt aus den Fugen geraten
– meine eigene Welt aber schien doch
gerade ganz in Ordnung zu sein, und ich freute
mich auf die Trompete! Es ging so leidlich
und begann mir schon Spaß zu machen. Ich
hatte ein paar Stunden genommen. Mein
Tonumfang wurde größer, ich war routiniert
und bildete den Ansatz zuverlässig mit meinen
schon geübten Muskeln.
Im vertrauten Keller angekommen, machte
ich mich entspannt bereit zu spielen. Ich
wärmte ein wenig auf, beschloss, die Notenhefte
sein zu lassen und den vertrackten
Ohrwurm Musik werden zu lassen. Es war gar
nicht schwer. Ich fand eine passende Tonart
und schmetterte allmählich immer lustvoller
los. Hei, das war ja was zum Spielen! Es
kam mir irgendwie bekannt vor, was war es
nur? Das gefiel mir nun gerade – das konnten
die Leute da oben doch gern hören, denn ich
klang gut wie selten.
Dann war mal Schluss, und ich fuhr zurück
nach Bahrenfeld, wo wir unsere Wohnung zur
Miete hatten. Nun musste ich aber wissen,
was ich eigentlich geblasen hatte. Ich summte
es weiter vor mich hin, während ich die
Treppe nach oben nahm. Dann hatte ich eine
erste Idee, das Thema war doch mal in der
Werbung gewesen? Ich probierte zu singen.
Schnaps!
„Komm – doch – mit auf den …?“
„Underberg“ vielleicht? „Schmeckt zwar ganz
schön bitter, aber …“ So irgendwie hatte es
geklungen.
Die „Fünf-Minuten-Terrine“ von Maggi, keine
tolle Idee – e. Nee.
Ich grübelte ratlos, suchte ein dickes Buch
über den Klavier-Virtuosen, der mir als Urheber
verdächtig vorkam, fand es nicht, ärgerte
mich allmählich, wegen der penetranten Töne
im Hirn, die mehr und mehr zu einem billigen
Jahrmarktlied mutierten, das jede Kirmes
beträllern konnte und begann meine Musik
insgesamt durchzusehen. Es war noch ganz
üblich, einen CD-Player zu verwenden. Dann
bekam ich die Horowitz-Platte in die Finger,
ja – ich überlegte. Das könnte es sein.
Jetzt muss ich an anderer Stelle weitererzählen,
sonst geht die Pointe der Geschichte
nicht auf. Als Überschrift habe ich „Die
Entdeckung der Angst“ nicht ohne Grund
gewählt, möchte vorsorglich daran erinnern.
Damit ein roter Faden das Ganze
zusammenhalten kann.
Der schon erwähnte Laden über dem
Probe-Keller, wo ich mit der Trompete
übte, war ein nur schummrig ausgeleuchtetes,
etwas fremd für diese Straße
anmutendes Bekleidungsgeschäft,
das den Anschein erweckte, man kaufe
dort auf einem orientalischen Basar
ein. Bunte Klamotten, wehende Tücher
und der Inhaber – hier muss ich einen
(langen) Satz einschieben: Wenn ein
Däne in Deutschland lebt, ist es ein
Däne, ein Skandinavier meinetwegen.
Ein Schotte ist einer aus Schottland und
rothaarig wie einige hier bei uns auch.
Französinnen finden wir attraktiv, sie
sprechen charmant, und wir alle können
liebevoll imitieren, was sie typischerweise
aus unserer Sprache machen. Mit
den Niederländern, den Österreichern
geht es uns genauso. Ein Amerikaner
bleibt ein „Ami“ und kann blond sein, hat
einen Akzent, der uns angenehm nachzuahmen
ist, wenn er bei uns lebt. Aber
ein Türke, ein Perser oder ein Ägypter,
Araber, Afrikaner, sie sind: „Ausländer!“
Eine etablierte Unsitte; ich probiere taktvoll
etwas zu sagen, was nicht ganz einfach
ist, und möchte mich auch distanzieren, von
pauschalen Blödheiten dieser Art, Menschen
abzustempeln – der Laden über dem Keller
wurde also von jemandem geführt, der dem
Namen und Aussehen nach von vielen allgemein
als „Ausländer!“ eingeordnet würde. Ich
gebe gern zu, dass ich nicht mehr über ihn
weiß.
Ich habe kein Problem damit wie einige,
die Gegend rund um das Hansa-Theater am
Steindamm durchzuspazieren, war im Süden
von Chicago zu Fuß unterwegs, und dort gehört
es sich, im Auto zu fahren, um sicher zu
sein. Ich bin möglicherweise gefährlich naiv,
trotzdem: Seit der Flüchtlingskrise begreifen
wir, wie viele dieser sogenannten Ausländer
langjährige Leistungsträger unserer Gesellschaft
sind, hier arbeiten, gut integriert sind.
Der Klamottenladen, keine Ahnung, was für
ein Landsmann das genau gewesen ist: gut
möglich, dass der Betreiber dieses Geschäfts
gläubig dem Islam angehörte. Es
gab keine Berührungspunkte. Hat mich
überhaupt jemand gehört? Zugehört,
wie ich selbst alles immer empfunden
habe: Oh – peinlich, ein falscher Ton,
schon wieder! Möglich, dass gelegentliches
„guten Tag“ sagen dem Verkäufer,
oben im vermeintlichen Orient-Basar,
gedanklich anderweitig beschäftigt, gar
nicht für eine ohrenscheinliche Verbindung
genügte.
Mit dem Abspielen der CD, dem Begreifen
des Titels, kam mir die Erinnerung:
Ich hatte mal etwas über das bekannte Stück
gelesen, und zwar in einer Biografie des berühmten
Pianisten. Das war ursprünglich
nicht für Klavier-Solo notiert, und Vladimir
Horowitz hat daraus eine Glanznummer
entwickelt, ein Markenzeichen seiner Virtuosität.
Er konnte, beim in dieser Nummer
stets machtvoll aufbrandendem Applaus
des begeisterten Publikums, bravourös ein
ganzes Orchester imitieren. Und wirklich, ir-
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 92 [Seite 89 bis 94 ]
gendwelche Piccoloflöten wären scheinbar
so klar herausgekommen, wie wenn weitere
Musiker tatsächlich welche gepfiffen hätten,
schrieb der Biograf in seiner Hommage,
als habe nicht der tolle Alte ganz allein mit
seinem Flügel losgedonnert. Auch ich pfiff
noch fröhlich mit, und dann erinnerte ich allmählich
den Slogan aus der Werbung: Es war
nicht „Underberg, ganz schön bitter“, das ging
mehr in Richtung „… wäscht nicht nur sauber,
sondern rein!“
Ich spülte Gedanken wie eine Waschmaschine
und grübelte intensiv, dachte an „Ariel“
und alternativ an den konkurrierenden weißen
„Riese“. Eine lange Leine erschien vor
meinem inneren Auge. Wind wehte Wäsche
– und hat mir ein Lied erzählt? Ein blödes
Rauschen vom Meer etwa, hätte mir inzwischen
besser gefallen. Nicht nur sauber, sondern
rein und aufdringlich präsent erklang
die Melodie in meinem Kopf. Es wollte mir
nicht einfallen. Bitter!
Bitter, Magenbitter … „Fernet-Branca, man
sagt, er habe magische Kräfte“ – nein. Mir kam
nun jeder Spruch aus den Tiefen der Erinnerung
hoch: „Hast du keinen, leih dir einen!“
Eine Brandmauer am Fischmarkt war damit
bemalt. Ein Autofahrer sitzt im Nichts der
Fläche, ohne Auto, mit einem Lenkrad
in der Hand. Der Slogan wurde typografisch
vom Kopf des Mannes – der
einen Hut aufgesetzt hatte, wie man
ihn früher beim Fahren trug – unterbrochen.
Die Zeichnung war einfach
konzipiert und gut für den Maler einer
Fassade geeignet, in diese Größe
übertragen zu werden, im Stil des
bekannten HB-Männchens.
Es gab viele dieser leeren Fassaden
ohne Fenster und alte Brandmauern.
Heute sind sie nahezu vollständig
aus dem Stadtbild verschwunden.
Lücken des Krieges sind nicht mehr
auffindbar. Die Werbung, die viele
(bis es allgemein verpönt war) noch
als „Reklame“ bezeichneten, kommt
anders daher. Graffiti waren in Hamburg
selten und entwickelten sich
erst mit der Zeit. Sie sind nicht mehr
wegzudenken und werden nie mehr
verschwinden, solange wir wie gewohnt
leben. Dass sie als Straftaten
geahndet werden, ruft Freude bei
denen hervor, die Säuberungen der
Gesellschaft grundsätzlich begrüßen.
Graffiti ist authentisch, kein „Schmierkram“.
Fassadenwerbung war genauso
gekonnt. Wir vergessen
gern, dass echte Motivation
die Schaffenden bewegt, um
kreativ zu überleben.
Unsere Welt ist der Faszination
des Perfekten erlegen.
Wir steigern uns, indem wir
das Falsche bekämpfen. Da
scheint es erfreulich zu sein,
wenn nicht nur geschimpft
wird. Schülerinnen und
Schüler sprühen im Kurs –
ich sehe das kritisch: brav
und stets bemüht, meistens
eine Beleidigung für das
Auge. Initiiert von lieben
Lehrern und Lehrerinnen,
um das verpönte Straßenkunstwerk
schon im Ansatz unmöglich
zu machen? Graffiti ist nicht
lieb. Kommt immer wieder, wie das
Unkraut.
Die Unfähigkeit der Gesellschaft zur
Integration, der Ärger über Fehlverhalten
und daraus resultierende
Anstrengungen, Randfiguren zu eliminieren,
werden nicht verhindern,
dass ihre Zahl noch wächst. Feist
integrierte Reiniger verkennen, dass
unsere Gesellschaft beängstigende
Typen mit unerträglichen Lebenswegen
selbst erschafft. Niemand wird asozial
geboren, wählt den schlechten Weg gern.
Wir tun nur, was plausibel erscheint. Fantasie
infiziert, zeigt Anderen kreative Wege. Ich
habe nicht den Eindruck vom Vorhandensein
starker zeitgenössischer Kunst, die Nachahmer
bei der Jugend hervorbringt: Nerven
strapazierende Kulturförderung des Banalen.
Beschmierte Wände kann ich gut tolerieren.
Frust ist ein vertrauter Partner der Motivation.
Wo ich auf die alten Ansichten verzichten
muss, die meine Kindheit belebt haben, freue
ich mich an jeder Ursprünglichkeit. Ich bin
bestimmt nicht darauf versessen: korrekte
Kunst. Jonathan Meese ist da schon herzerfrischend.
„Miese Stimmung, saurer Wein – schwüles
Klima, ganz allein? Da fällt mir was Wunderbares
ein: Langnese Eiskrem!“ reimte Gerd
Vohwinkel für einige Hamburger Jazzer, die
„ihre Seele verkauft hätten“, sich sponsern
ließen, meinte dazu ein Saxophonist. Und
mir fällt der singende Rudi Carrell ein, dem
ich sogar einige Male begegnet bin. Er fragte
damals: „Wann wird’s mal wieder richtig
Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal
war.“ Ohrwürmer bohren Löcher ins Hirn.
Diese Leihwagensache und „Pack den Tiger
in den Tank“, von Schlotfeldt, den ich später
ebenfalls kennenlernte, als Kind verstand ich
das alles nicht und nahm etwa an, man solle
doch einen Hut leihen. „Hast du keinen Hut,
leih dir einen“, schien dort auf der Mauer
zu stehen.
Das las ich, wenn mein Vater das Auto beladen
hatte und der Heimweg nach Wedel
begann, wir die große Kurve am Berg vom
Altonaer Rathaus in Angriff nahmen. Der
VW-Transporter war das erste Fahrzeug,
das uns gehörte, nachdem „Bassiner-Wedel“
(so nannte man Erich am Fischmarkt)
seinen Führerschein gemacht hatte. Die
Großhändler mochten bei Bestellungen
wohl Klarheit haben, um wen es ging,
weil es noch den Cousin in Othmarschen
gab, bei dem Bassi seine Ausbildung gemacht
hatte. Bevor wir den eigenen Laden
schließlich eröffneten, kaufte mein Vater
sein „Fischauto“. Von da an fuhr er jeden
Morgen los nach Hamburg (Altona) „zum
Markt“. Wir verschlissen mehrere davon im
Betrieb über die Jahre, bis meine Eltern ihr
Geschäft später aufgaben, und der Klassiker
mauserte sich allmählich zum modernen
Fahrzeug. Anschnallgurte wurden Pflicht;
und heute wäre wohl undenkbar, mit einer
Horde Kinder auf der Ladefläche zu fahren,
die fröhlich winken? Während mein Vater
mit uns an der Wache der örtlichen Polizei
vorbei düste, hatten wir einen Mordsspaß.
Anfangs kennzeichnete das Modell noch
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 93 [Seite 89 bis 94 ]
eine getrennte Frontscheibe und war blau.
Der letzte einer langen Reihe dieser Bulli-
Pritschenwagen war schließlich auch das
erste Auto, das ich selbst fuhr, nachdem
ich die Prüfung bestanden hatte und den
grauen Lappen bekam. Einen Pkw hatten
wir zunächst gar nicht.
Das Fischauto. Jeden Morgen muss ein
guter Händler, der was auf sich hält, damit
zum Markt. Einige Male war ich dabei, ja.
Anfangs bin ich noch klein gewesen, und
das war immer so toll! Ein Abenteuer, allein
so früh aufzustehen, unglaublich.
Selten habe ich Erich in die morgendlich
immer sehr früh anberaumte Auktion begleitet,
wo das spannende Bieten faszinierte,
aber die Einkäufe bei Hanzi Krause, Willi Walter
oder Goedeken, Will’em Bassing und vielen
anderen Großhändlern, hauptsächlich in
der langen Ladenstraße, sind unvergesslich.
Sogar an den Betrieb in der alten Fischauktionshalle
mit dem regulären Verkauf dort, zum
Beispiel bei Aal-Ilse und dem Matjes-Händler,
bei dem mein Vater am liebsten einkaufte, erinnere
ich mich. Und das ist wirklich sehr lange
her. Heute ist das eine restaurierte Halle
für Veranstaltungen. Ein begehbares Museum
und ein Stück Hamburger Geschichte.
Nachdem wir alles erledigt hatten, aßen mein
Vater und ich manchmal noch eine Fischmarkt-Wurst
in der „Klappe“. Unzählige Erinnerungen
kommen mir, und dies ist nicht die
Geschichte, sie alle darin unterzubringen. Es
gab im Wagen keine extra integrierte Kühlung
für die Ware. Satt in reichlich Eis eingebettet,
lag der frische Fisch in flachen Kisten
aus billigem Holz, wie man es früher ganz
selbstverständlich normal fand und das von
allen Händlern üblicherweise so gemacht
wurde, die Ladefläche abgedeckt mit einer
blauen Plane. Ein Fischauto von heute
muss vorschriftsmäßig über eingebaute
Kühlgeräte verfügen. Der Transporter, wie
wir ihn verwendeten, hatte eine extrabreite
Pritsche mit hölzernen Ladeklappen. Wir
hämmerten ihre verzinkten, manchmal eisig
kalten Bügel an den Ecken mit der Hand
fest, nachdem alle Kisten aufgeladen waren.
Bevor wir starten konnten, mussten wir
die lange, etwas dehnbare Reihleine, deren
schmiegsamen grauen Gummiüberzug ich
noch gut erinnere, rundum in die Haken an
den Klappen zwängen. Das waren manchmal
böse „Aua-Haken“.
Wenn wir fuhren, erzählte mein Erich von früher.
Der Krieg? Für ihn nur ein Spiel, er wäre
zu jung zum Begreifen gewesen, meinte er.
Brandbomben
sammeln, die
nicht angefan-
gen hatten zu brennen. Im Fanfarenzug marschieren
und dabei tuten, kaum militärisch
unterwegs mit der verpflichtenden Hitlerjugend
und dann Kohlenklauen in der schlechten
Zeit. In der Schule wurde man verprügelt,
normal damals.
Ob mein Vater wusste, was Angst ist?
Später trabten alle nur aufwärts, als hätten
sie’s verdient erfunden: das Wirtschaftswunder.
Es ging uns gut in Wedel! Ich habe auch
davon profitiert. Kindheit bleibt gegenwärtig.
Das kannst du nie vergessen: Es ist frühmorgens,
und nun zurück nach Hause. Die
Sonne geht auf, der Transporter ist voll mit
Fisch, der Motor röhrt mächtig los am steilen
Hang, dass alles vibriert, wenn wir den Berg
zur Elbchaussee rauf nehmen – und ich darf
mitfahren!
Erinnerungen formen noch heute mein visuelles
Repertoire. Es ist wichtig für Kreative,
zurückgehen zu können, einen Brunnen voller
Einfälle finden, Imaginäres zu schöpfen und
wie ein Kind mit alten Bildern zu spielen.
# Da passiert es
Wir stoßen unversehens drauf, begreifen
zunächst gar nicht was geschieht
– und öffnen irgendwann die
Büchse der Pandora, begegnen der
eigenen Angst! Nur einen Spalt weit
mag unsere Fantasie die Wirklichkeit
beiseite drücken. Furcht betritt den
Raum. Dann ist es gut, eine eigene
Vision dem Bösen strategisch entgegenzustellen.
In Bildern zu denken,
sich eine noch größere Wirklichkeit
mit eigenen Chancen auszudenken,
ist nun wieder besser, als akribisch
die Wahrscheinlichkeit auszurechnen,
mit der man die Risiken besteht.
Die Schule ist aus, und was nun? Kinder
lesen noch Bilder: Hut = Wort wie
in (Sesamstraße oder) der Fibel „Fangt
fröhlich an“, die wir zum Lesenlernen in
der Grundschule bekamen. Jeder kannte:
„Ich bin zwei Öltanks“, ganze Schulklassen
und zahlreiche Lehrer hatten empört
Brandbriefe geschrieben.
„Falsches Deutsch!“
Diese gelbe Tonne stand auf vielen Feldern
am Straßenrand, aber niemand sang dazu.
Das war es also auch nicht.
Ah, jetzt … endlich. Da fiel es mir wieder ein
– ja!
Jaaa – Ha!
Daa, da da-da-da … dadada – !!
„Der Ge-ener-aal; (Rumms-Bumms) – !“
Das war’s.
„Denn nur was richtig sauber ist, kann
richtig glä-ä-ää-nzen!“
„The Stars and Stripes Forever“, composed
by John Philip Sousa in 1896.
It is the national march of the United
States of America and probably Sousa’s
greatest composition.
God bless America!
:)
Okt 27, 2020 - Die Entdeckung der Angst 94 [Seite 89 bis 94 ]
Die Wendlertreppe
Nov 4, 2020
„Eine Karriere kann nicht nur nach oben gehen.“
Die Schlagzeile ist mir ins Auge gefallen.
Ein Interview mit Howard Carpendale.
Ungefähr zur selben Zeit findet sich eine
Randnotiz im Schenefelder-Tageblatt: „Psychotherapie,
Notizen gehackt“, vertrauliche
Notizen aus Sitzungen beim Arzt gestohlen,
Patienten per E-Mail erpresst. Natürlich, das
eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Aber
diese Themen sind nicht so weit auseinander,
wie es scheint. Wir leben in Beziehungen.
Damit steht es nicht allein in unserer
Macht, eine Karriere gradlinig zu leben. Andere
können empfindlich stören. Manche von
uns lassen sich zudem leichter aus dem Tritt
bringen und segeln die Stufen abwärts, bis
sie sich und ihr Leben wieder im Griff haben.
Der Schlagersänger Michael Wendler macht
gerade vor, wie es gehen kann. Nachdem eine
atemberaubende Entwicklung ihn und seine
Laura an die Spitze des Entertainments
schiebt – was tut der Mann! Verschworen
postet er zur Corona- und Medienlage in
Deutschland, macht sich unmöglich. Nach einiger
Zeit kommen erste Versuche der Schadensbegrenzung,
eine Entschuldigung beim
Sender, der mit ihm viel geplant hatte. Die
Reaktionen seien eindeutig, und ohne den
Artikel zu lesen ist klar: Wer den Schaden hat,
braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Hochmut käme vor dem Fall, heißt es. Gestrauchelte
zu verspotten, scheint passend.
Es ist aber zu einfach und kurz gedacht,
das Drama zu begreifen. Die Grenzen zwischen
Erfolg, Dummheit und Krankheit sind
fließend. Wer seine Karriere mit unsinnigen
Behauptungen aufs Spiel setzt, gilt nicht als
krank. Wir verspotten Dummheiten und können
mit „Geisteskranken“ nicht umgehen. Wer
kurzfristig psychotisch wird, kommt gezwungenermaßen
in Behandlung. Da eine psychische
Erkrankung mehr als jede andere eine
Definition darstellt, gibt es eine erhebliche
Grauzone, in der jemand weiter eigenverantwortlich
bleibt. Der Übergang vom Spott in
vollständiges Unverständnis und die Angst
vor unkontrolliertem Verhalten,
möglicherweise Gewalt,
erzwingt schließlich die Diagnose.
Krankheit ist zunächst
ein Wort. Viele leben mit allerlei
Beeinträchtigungen, und
manche gehen nicht so gern
zum Arzt, andere ständig. Man
wird beim Psychiater nicht gesund.
Dort ist man vor allem,
weil die Gesellschaft einen
Berufszweig erfunden hat, ein
Problem wegzudelegieren. Die
Klinik oder der Arzt können ein
Schutz- und Genesungsplatz
sein. Dauerhaft bessere Wege
muss der Patient schließlich
selbst finden. Natürlich gibt es
gute Angebote. Die bessere Perspektive wird
sichtbar, wenn eine Therapie verstanden wird,
Anreize schaffen zu wollen. Das Duo aus Arzt
und Patient ist leider oft eine Dauerlösung.
Das Manko der „Psychos“, man spricht nicht
drüber. Ein Fehler, denn: Auf der anderen
Seite unserer Gesellschaft sind beispielhaft
Menschen, die sich lustvoll im Netz ausbreiten
und ein gutes Einkommen mit der Selbstdarstellung
erzielen, einige auch nackt vor
der Webcam. Die sind nicht krank. Das Problem
ist kaum, dass Daten gehackt werden, die
niemanden etwas angehen: Das Problem ist
eine falsch verstandene Realität, in der das
Gute die Bösen aufhält. Das gibt es nur im
Film.
Meine Oma verwendete noch den Ausdruck
der schiefen Bahn, auf die ein junger Mensch
abrutschen könne. Damit war kriminelle
Gesellschaft gemeint, Menschen, mit denen
man sich nicht abgeben solle. Das Virus der
Gauner stecke an, und dann ginge
das Leben abwärts. Ist das so, und
wo ist oben? Im Bereich der Kleinund
Drogenkriminalität und im extremen
Fanatismus berühren sich
Straftaten und krankes Handeln,
dass erst ein Gutachten die Bewertung
vereinfacht, ob der Betreffende
bewusst das Gesetz übertreten hat.
Einen Vertrag mit Partnern zu brechen,
begründet mit Inhalten aus
dem Bereich der Verschwörungstheorie,
wird beinharte finanzielle
Konsequenzen auf den Plan rufen.
Ganz offensichtlich ist kollektiver
Wahn etablierte Methode geworden,
das Internet ermöglicht einem
beachtlichen Teil der Gesellschaft
gemeinsam wegzudriften. Menschen,
die, wären sie für sich isoliert,
unzweifelhaft als krank bewertet
würden, stärken sich im verschworenen
Denken. Die Gruppe hält sie
soweit am Boden, um im Alltag integriert zu
existieren. Ein modernes Phänomen. Wem es
gelingt, das Leben finanziell auf irgendeine
Art zu sichern, dem liefert das digitale Netz
ein perfektes Modell dazu, kollektiv mit anderen,
abgefahrene Träume und sogar individuelle
Albträume zu leben wie beim Schlafwandeln.
Aber: Nicht aufwecken; sonst bricht
Aggression sich den Weg.
Wenn man ein wenig drüber nachdenkt, ist
es immer so gewesen, Enttäuschte flippen
aus, nachdem ihnen klar wurde, dass es anders
ist als sie’s empfunden haben. Im Falle
moderner Massen auf Abwegen liegt die Verantwortung
bei der Gesellschaft insgesamt
für Realität zu sorgen. Sie muss zu ihrer Logik
stehen, die Macht der Wirklichkeit und Wahrheit.
Faszinierend, wie im Fall der amerikanischen
Präsidentenwahl, zeigt sich erst zum
Schluss, wo die wahre Stärke liegt. Obwohl
zahlreiche Fakes des amtierenden Präsidenten
und seiner Regierung belegt werden können,
bleibt lange offen, wo sich die Mehrheit
findet. Wird bewertet, wer stärker lügen kann
als eine Qualität oder gewinnt der Glaube
an die Wahrheit, über Zweifel, dass ein alter
Mann sie umsetzen kann? Dass es keinen
eindeutig beliebteren Konkurrenten für Donald
Trump gibt, zeigt einmal mehr, wie die
Dynamik einer Gruppe einen verschworenen
Block formt. Eine Abwahl des Despoten, mit
jemandem, dem die nötige Energie fehlen
könnte, es besser zu machen – daran glaubt
keine deutliche Mehrheit.
Wer ist böse, wer krank, und wer darf ausrasten?
Der Enttäuschte in seiner Wut bekommt
nur dann recht, wenn andere ihn bewusst
täuschten. Wenn sich die Umgebung nachweislich
gegen Einzelne verschwört, wird aus
der Theorie schließlich die Praxis, und die
kollektiv Gemeinen bekommen ihre „Haue“
zu Recht. Greta Thunberg ist ein gutes Beispiel
dafür, die entstandene Bewegung der
Jugend, die vernünftigerweise um ihre Zukunft
fürchtet: Die Welt der Erwachsenen betrügt
die Jugend und beschwichtigt, beschönigt
das Versagen, sich um den Fortbestand
einer gesunden Umwelt zu kümmern. Thunberg
und ihre Freunde finden es leicht, die
Lippenbekenntnisse der Verantwortlichen
mit Argumenten empfindlich zu torpedieren.
Es wäre jetzt an den verschiedenen Wendlers,
dasselbe effektiv für ihre verschworenen
Ideen durchzukämpfen, und da sieht es nicht
danach aus, als könnten sie’s.
Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 95 [Seite 95 bis 97 ]
Der Computer stellt eine schräg verlaufende
Linie gezackt dar, Pixel sind eckig. Das mag
als Bild dienen. Eine psychische Erkrankung
ist eine Treppenstufe, ein Zacken in der Lebenslinie.
Erfolg sei keine Tür, durch die man
ginge, sondern eine Treppe, heißt es. Es gibt
einige, denen es nicht gelingt, aus ihrem Leben
einen Erfolg zu machen. Sie erreichen
keinen stabilen Platz in der Gesellschaft.
Obdachlose, Kriminelle, einfache Arbeiter, die
nie angemessen ihrer Fähigkeiten eine bessere
Position erreichen, bei allem übergangen
werden und sich’s gefallen lassen oder
latent psychisch erkrankte Menschen, die immer
wieder aus der Bahn geworfen werden.
Ein Sänger wie Carpendale oder Michel
Wendler, im Schlager beheimatet, sind sie
weniger selbstbestimmt als andere Künstler.
Sie müssen „liefern“, das ist die Herstellung
eines Produkts mit bestimmten Eigenschaften.
Als ich Kind war, lebte Louis Armstrong
noch, jeder kannte ihn. Ich habe einiges dazu
gelesen und liebe diese Musik – und ganz
besonders, wie Pops seinen Weg aus schwierigen
Verhältnissen fand, bewundere ich.
Puristen haben ihn dafür kritisiert, er spiele
populäre Musik anstelle Jazz. Viele liebten
es, ihn nicht nur zu hören, sie genossen seine
einmalige Bühnenpräsenz. Ein Entertainer,
und ich glaube wir könnten daraus lernen,
dass es möglich ist, ein dankbares Publikum
zu finden, sollten aber nicht den Fehler machen,
an Freundschaft, Liebe im selben Maß
zu glauben. So als würde uns eine Welt da
draußen gehören. Das kann niemand für sich
in Anspruch nehmen. Wir lieben in erster Li-
nie die Musik oder sehen jemandem gern zu.
Wenn wir Fußball mögen, ist es doch genauso.
Im nächsten Jahr kommen neue Akteure,
und dann schauen wir denen zu. Armstrong
bewundere den Kollegen Rex Stewart, heißt
es an einer Stelle, „es scheine immer, er drücke
das falsche Ventil und trotzdem käme der
richtige Ton raus“, meint Satchmo. „Vielleicht
hat er etwas, dass es für ihn macht“, sagt der
Weltstar in einer Biografie. Louis Armstrong
äußerte sich schon mal abfällig über Musiker,
die nach Europa gegangen waren, wo die
Verhältnisse für Schwarze in
mancher Hinsicht besser waren,
„sie würden nachlässig zu
üben“, meinte er. Schon Mark
Twain hat im „Bummel durch
Europa“ (1880) beschrieben,
wie vergleichsweise hart das
amerikanische Business ist.
Sich auf Musik oder Kunst
einzulassen, birgt die Gefahr
über den Wunsch nach Anerkennung
ins Straucheln zu
geraten – und beinhaltet die
unglaubliche Chance, darüber
hinauszuwachsen und die Tätigkeit
selbst zu lieben.
# Die Unabhängigkeit der
Kunst; im Wesentlichen eine
Freiheit des Denkens
Kranke sind auf Hilfe angewiesen,
sind angreifbar, können
ausgenutzt werden. Der Organismus
funktioniert als System,
das einen großen Teil des
Selbsterhalts autonom leistet.
Wir können nicht sagen, wie
wir atmen, schlucken oder was
genau mit uns auf der Toilette
passiert. Wir merken, wann wir
aufs Klo müssen. Wer zu ersticken
droht, wird alles tun, um weiter zu atmen.
Aber nur ein ausgebildeter Sänger oder
Interessierter ist in der Lage, die Atmung zu
beeinflussen. Wir atmen ununterbrochen,
ohne uns deswegen Gedanken zu machen.
Und erst bei funktionellen Schwierigkeiten
beginnen wir nachzudenken, was los ist. Für
gewöhnlich geht ein Betroffener zum Arzt.
Der beginnt den Patienten zu untersuchen
und diagnostiziert aufgrund der Befunde.
Etwa, als käme ein Auto in die Werkstatt. Vielleicht
der Grund, warum wir überhaupt von
psychischen Erkrankungen reden und sie von
körperlichen unterscheiden. Denn obwohl es
psychosomatische Störungen gibt und jeder
„Geisteskranke“ auch körperliche Auffälligkeiten
zeigt, wird deutlich, wenn es nicht
gerade um ein gebrochenes Gelenk oder
Grippe geht, dass unser Leben ein Prozess ist.
Wir entwickeln uns weiter, und zu altern bedeutet
mitnichten, dass es nun grundsätzlich
abwärts geht.
Unser Auto kennt nur eine Richtung: Unfall,
Verschleiß, Durchrostung. Menschen
entwickeln sich, und wir neigen dazu, es zu
vergessen, besonders beim Arzt: „Sie haben
die Soundso-Krankheit“, wird er sagen und
verschiedene Verläufe prognostizieren. Das
liegt daran, dass jeder Mensch ein wenig
anders ist, und insofern ist es bedenklich,
Krankheiten zu definieren wie eine Sache.
Aus praktischen Gründen gehen Ärzte über
Diagnosen zu Krankheiten, weiter zu Behandlungen.
Hätten wir vollkommen identische
Menschen, wären wir so wie Automodelle
eines bestimmten Typs, wo Fahrweise und
Lebensalter exakt dokumentiert sind und
keine intelligente Entwicklung zu erwarten
ist, könnte es eine kalkulierbare Methode
sein. Je mehr wir den Bereich gebrochener
Knochen, Schnittverletzungen oder Infektionen
verlassen und Verhaltensauffälligkeiten
oder psychosomatische Befindlichkeiten
das Problem sind, desto fragwürdiger ist
jede Diagnose. Psychiatrische Gutachten in
der Forensik erwecken nicht selten den Anschein
vom Kaffeesatz-Lesen. Voraussagen,
ob jemand zukünftig gewalttätig wird, erneut
Sexualstraftaten begehen könnte, sind selten
verlässlich.
Darin liegt in erster Linie eine Chance für den
Kranken selbst. Ich habe in der Schule „März“
von Heinar Kipphardt gelesen. Wir sollten
das Buch analysieren und Referate halten. Es
war zu erörtern: „Ist März ein Narr, der andere
zum Narren hält?“ Das Buch erzählt die Lebensgeschichte,
der behandelnde Arzt heißt
Kofler. Er versucht zu verstehen, will helfen;
das Buch endet tragisch. Dennoch bleibt die
Frage im Raum stehen, inwiefern März selbst
sein Leben als unglücklich empfindet, und
man kann sogar seinem Suizid etwas abgewinnen,
als überraschende und selbstbestimmte
Aktion, eine Inszenierung.
# Selbstverwirklichung egal?
Vor längerer Zeit konnte eine Staatsanwältin
im Fernsehen glänzen. Sie hat geschafft,
was vorher keiner Anklage gelungen ist. Ein
junger Mann hatte in Folge eines innerstädtischen
Autorennens mit anderen einen Unfall
gebaut. Ein Unbeteiligter war gestorben. Die
Staatsanwältin plädierte auf Mord, und das
Gericht war dieser Einschätzung gefolgt. Direkt
nach dem Urteil konnte das Fernsehen
mit ihr sprechen. Ich erinnere mich an ihr Gesicht
und was sie sagte. Sie war nicht mehr
ganz jung. Der Charme eines ältlichen Fräuleins
stand ihr ganz gut, rot stachen ihre Lippen
im hellen, beinahe weißen Oval der Haut
hervor, gerahmt vom mädchenhaften Haar.
Das Porträt der Anwältin füllte meinen Bildschirm
aus. Ihre Stimme bebte leicht, sie war
sich bewusst, im Fernsehen zu sein. „Der junge
Mann habe durch sein Verhalten deutlich
gemacht, dass ihm sein und das Leben anderer
vollkommen egal ist. Da sei das Merkmal
für Mord“, begründete sie ihre erfolgreich zur
Verurteilung geführte Anklage.
Unsere Gesellschaft ist gewöhnt, Ordnung
zu schaffen: „Das Merkmal für Mord“ – das
bedeutet, eine vergangene Tat zu bewerten.
Damit ist eine lebenslange Zukunft im Gefängnis
für den Autofahrer von derjenigen
erreichbar, die mit dem Gesetz umzugehen
weiß. „Und ich habe es geschafft“, mag sie
gedacht haben. Das heißt wohl, dass ihr das
eigene Leben nicht egal ist und ihre Karriere
gerade einen tüchtigen Sprung nach oben
machte. Der Mann galt nicht als krank. Eine
Einschätzung, für die möglicherweise ein Gutachten
vorliegen musste, damit die Anwältin
glänzen konnte. So ein Urteil wäre überfällig
gewesen, diese Art Rennen hätten zugenommen,
sind sich viele Beobachter sicher.
Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 96 [Seite 95 bis 97 ]
# Soziale Werte werden angemahnt
Es ist hier auf unserem blauen Planeten voll
geworden, mit Menschen. Wir sind nicht mehr
in der Savanne in kleinen Gruppen unterwegs.
Sich im Leben zurechtzufinden, bedeutet sich
eine individuelle Einstellung zur Umgebung
zu erarbeiten. Einigen mag Therapie
helfen, diese zu finden. Die
Werte ganz bewusst außen vor zu
lassen, kann nützen, um sich selbst
effektiv abzugrenzen. Solange
man im Rahmen der Gesetze sein
Wohl findet oder auch im Gefängnis
zufrieden ist, eventuell nach
der Logik „die Umgebung enge
ohnehin ein“, ist die Bandbreite
der Lebensentwürfe groß. Zufriedenheit
erlangen einige an Orten,
an denen andere niemals sein
möchten. Es sind Menschen, die
etwas dafür tun und wissen, wie
es geht, das Wohlbefinden selbst
im unvermeidlichen Schicksal einer
Erkrankung, Einweisung in die
Zelle vom Gefängnis oder Ähnlichem
aufrechtzuerhalten.
Wer sich beschäftigen kann, ist im
Vorteil. Ein Gefangener, im lichtlosen
Kerker vom mittelalterlichen
Kellerverlies weggeschlossen,
erfand sich offenbar eine kleine
Zahnbürste: Die faszinierende
Bastelarbeit aus einem dünnen
Knochen und zahlreichen Tierborsten mühsam
hingefriemelt, mutmaßlich von einem
Inhaftierten hergestellt, entdeckten die erstaunten
Archäologen in England! Das gute
Gefängnis und die sinnvolle Strafe dort,
haben dem wahrscheinlich mit einer unverwüstlichen
Frohnatur gesegneten Verurteilten
noch gestärkt. Der feuchte Knastkeller
hat dem Armen scheinbar so gut gefallen
und unverdrossen zur Einsicht gebracht, es
wäre ihm gerade nicht egal, ob er morgen
Zahnschmerzen bekäme. Ratten teilten sich
die Zelle mit dem Eingesperrten. Sicher
musste er zunächst einige kleine Nager finden,
totquetschen und roh verspeisen, um
den passenden Knochen für sein Bürstchen
aufzutreiben. Er hatte Hunger? Wie praktisch
sich’s ergänzt haben wird; erst einmal in Ruhe
essen. Eine Pause und ein Verdauungsschläfchen
machen. Das fällt leicht, wenn man satt
ist und mangelndes Licht ist willkommen.
Dann werkeln, das ist nun wieder ganz einfach,
wenn der erfahrene Knastling bereits
an die Dunkelheit gewöhnt ist. Gut gepflegt
halten sie ein Leben lang: Anschließend die
Zähne liebevoll putzen, vorbildlich. Die selbst
angefertigte Zahnbürste.
Er wird reichlich
Zeit gehabt haben,
das kleine Teil exakt
zu fabrizieren – und
sein Vergnügen daran.
Wie erfreulich sich
Menschen doch entwickeln
können.
Auch im Tageblatt:
Opernsänger René
Kollo (82) hat nach
eigenen Worten keine
Freunde. „Das mit den
Freunden ist ein bisschen
komisch. Ich war
ja nun 50 Jahre nur im
Flugzeug“, sagte er. Es
folgt eine Beschreibung,
dass er mit sich
allein zufrieden sei
und „überhaupt nicht
einsam“. Das gleicht
diesem Statement von
Niki Lauda, einige Jahre
vor seinem Tod, an
das ich mich noch gut
erinnere: „Er kenne zwar unglaublich viele
Menschen und nicht wenige nähmen vermutlich
an, mit ihm befreundet zu sein. Er rede
halt gern“, meinte Lauda. „Entscheidungen
träfe er aber allein, frage allenfalls mal seine
Frau um Rat oder schliefe eine Nacht drüber,
wenn Wichtiges anstehe. Er wüsste nicht, ob
er überhaupt einen Freund habe und gebe
nichts drauf“ – wer hätte das gedacht?
Wer erpressbar ist mit vertraulichen Aussagen,
die ihm in der Intimität der Situation
beim Psychiater anlässlich einer Therapie
über die Lippen kamen, möge sich vor Augen
halten, dass auch der Arzt selbst diese Details
kriminell verwenden kann, seine Macht missbrauchen.
Kein Freund oder Partnerin wird
immer zuverlässig treu zu uns halten. Genau
darin können alle psychischen Krankheiten,
wie kompliziert auch immer ihre möglichen
Verläufe sind, zusammengefasst werden: Betroffene
hoffen darauf, dass andere für sie
tun, was sie selbst für ihre Zufriedenheit leisten
müssten.
Hier bin ich, und da seid ihr.
:(
Nov 4, 2020 - Die Wendlertreppe 97 [Seite 95 bis 97 ]
Jimmy und andere Helden
Nov 26, 2020
„Sticks and stones may break my bones“,
immer neue Stolperfallen überraschen. Das
Leben ändert täglich sein Gesicht. Die alten
Vorbilder taugen nicht für jede Situation,
niemand kann immer alles richtig machen.
Versuchen wir „künstliche“ Intelligenz zu entwickeln,
weil die Natur zu klug ist, tückisch
geradezu, für ein Programm, das immer gilt?
Ich denke ans Zeichnen, das Malen und natürlich:
das Segeln. Die Regatten, was ich liebe
und verstehe, mein individuelles Bild der
Welt. Jeder hat seine Erfahrungen. Schnell
segeln … wahrscheinlich kann man ein Boot,
zum Beispiel unsere „Elb-H-Jolle“, auf drei
oder vier verschiedene Arten „schnell“ trimmen.
Man muss die Gaffel nicht unbedingt ganz
fest an den Masttopp klemmen, aber das ist
eine Methode, gut zu kreuzen. Das Unterliek
flach zu strecken, hilft ebenfalls an der Kreuz.
Es hat sich aber gezeigt, dass man „Am Wind“
auch mit beuteligem Unterliek und ein wenig
abgefierter Gaffel schnell sein kann. Da sind
einige Unterschiede, wie mit dem Traveller
umzugehen ist. Eine macht es so, und andere
machen es anders. Das ist nicht verkehrt.
Viele Wege führen nach Rom. Mehrere Wege
führen schnell zum Ziel.
Es kommt auch auf das Segel an, wie das Wetter
ist und wie schwer und versiert die Mannschaft.
Der Kurs den wir steuern, ob Welle ist
und einiges mehr entscheiden. Tatsächlich
gibt es individuelle Unterschiede, nicht nur
die eine, alleinige Methode mit der das Boot
wirklich „fährt“ und gut getrimmt ist. Sagen
wir, es gibt zehn Varianten, die etwas taugen.
Und das ist eine Einheitsklasse, kein Boot, in
dem es Freiheiten der Konstruktion gibt. Vieles
ist festgelegt.
Aber es gibt wahrscheinlich eine Million Methoden,
das Boot langsam zu machen. Vielleicht
noch ein paar Millionen mehr.
Kinder lernen laufen, aber Erwachsene müssen
weiter lernen. Neue Wege erfordern
neue Methoden. Nicht einmal diejenigen, die
scheinbar wie im Kreis laufen, gehen wirklich
einen. Es ist immer eine Spirale. Wie gut wir
planen: Unbekannte Stöcke ragen in die ungewisse,
zukünftige Bahn
unseres Lebens hinein. Es
liegen dort überraschend
viele Steine, die uns zum
Stolpern bringen. Ich erinnere
mich an die Ratgeber
früher, manchmal hilft das.
Aber nicht immer. Was wurde
uns alles gesagt, und
stimmt es noch, hat es je
gestimmt?
Damals.
Als ich klein war, hatten wir
schließlich einen Fernseher.
Andere Familien waren
durchaus schneller, moderner.
Einige besaßen vergleichsweise früh
schon großartige Farbfernseher. Es war nach
dem Krieg, und die Jungen orientierten sich
an Älteren, und gleichzeitig wurden alle von
der aufregenden Zeit des Wirtschaftswunders
mitgenommen. Die Zeiten haben sich geändert,
dass manches heute kaum vorstellbar
ist.
Mein Vater und seine Freunde hatten für
die Jollen einen gemeinsamen Bootswagen.
Etwa, wie mehrere Bauern zusammen nur einen
Mähdrescher kaufen und ihn dann wechselnd
verwenden und sich helfen. Früher
machte man solche Sachen. Das Wort „Trailer“
verwendete man noch gar nicht, aber keiner
der Segler konnte ein Auto fahren oder besaß
gar eines. Sie rollerten den Hänger mit der
Hand durch die Straßen von Wedel, halfen
sich gegenseitig, ihre Schiffe ins Winterlager
zu bringen.
Ich weiß noch:
# Die Männer schieben unsere Jolle den
Schloßkamp rauf. Er ist ziemlich steil. Eine
schmale Straße, alle lachen und sind fröhlich,
es ist noch warm, und ich sitze drinnen im
Boot. Der glänzende Lack; Mahagoni leuchtet
wunderbar ...
Ich war noch ganz klein und erinnere mich
doch genau.
Die Clique zerbrach, als „Reinhard“ (ich musste
die Geschichte oft anhören) als Handwerker
der erste mit einem kleinen Lieferwagen
war. Einige nahmen seine Unterstützung
gern an, einen Trailer dran anzukuppeln. Mein
Vater nannte seinen bis zu diesem Punkt
engsten Freund nur noch „Ignaz“, das war ein
Schimpfwort. Als Kind verstand ich’s nicht.
Uns wurde empfohlen „Zwölf Uhr Mittags“
anzuschauen, mit Gary Cooper, wenn es im
Fernsehen kam, und mein Vater hörte auch
gern (ergriffen) eine Kenneth-Spencer-Platte,
auf Deutsch gesungen: „Wenn dich die Freunde
verlassen.“
Ich vermute, dass es eigentlich um Frauen
ging und weniger um den Bootswagen. Aber
dass die Entwicklung nicht überall gleich
schnell in die neuen Zeiten führte, zeigte sich
in vielen Anekdoten. Mein Vater erzählte gelegentlich
eine Erinnerung, die sich bei ihm
eingebrannt hatte. Wir Kinder sollten lernen,
wie sich alles verändert hatte: „Hermann
Lauenstein“ begegnet „Kuddel Dutt“ am Steuer
vom neuen Auto am Hafen. (Das sind verdiente
Alte gewesen, noch einmal deutlich
ältere Segelkameraden, und man sagte natürlich
„Herr Rehder“ und nicht etwa Kuddel
Dutt, wenn man jung war). Sagt Lauenstein
zu Rehder, der den Motor abgestellt
hat, und die Seitenscheibe ist wohl
gerade herunter gedreht (er lässt locker
einen Arm heraushängen, raucht
eventuell eine Zigarre wie Winston
Churchill, der noch imponierte),
es ist eine Sensation: „Du hast ein
Auto!“ Und Rehder antwortet:
„Ja. Und ich kann es auch fahren.“
# Als ich bei Werner H. Praktikum
machte …
… kam oft Rudi Carrell in das Studio
und drehte Werbung. Ein ganzer
Supermarkt wurde aufgebaut, und
tatsächlich, ich durfte eine Requisite
entwerfen, einen Apfelbaum: „Da
kommt unser Künstler“, sagte der
bekannte Showmaster, wenn ich in
das Studio spazierte, um ihm dabei
zuzusehen, wie ein Spot aufgezeichnet
wurde.
Unvergessen ist sein holländischer
Akzent.
Der alte Profi H. simulierte Enttäuschung,
nachdem auch er einen
parallelen Entwurf für den Baum
machte, den ich als ein wenig zu routiniert,
kalt empfunden habe; tatsächlich, das wagte
ich zu sagen. Und er meinte, nachdem er
beim „Chef“ gewesen wäre, das behauptete
er jedenfalls, todernst: „Sie haben deinen genommen.“
Ich habe wirklich geglaubt, es besser
gemacht zu haben. So kam es, dass der
Berentzen-Apfel, den Rudi Carrell zu pflücken
hatte, an meine lebensgroß umgesetzte Kulisse
gehängt wurde.
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 98 [Seite 98 bis 103 ]
Ein verschrobenes Maling mit
Filzstiften vom Praktikanten. Ich
besitze noch das Original davon.
Die Mappe sei „das Wichtigste für
den Grafiker“, wenn er sich bewirbt.
„Niemand interessiert sich für dein
Zeugnis“, sagte der Grafik-Designer.
Dass es stimmte, hatte ich bewiesen.
Ich war schon in der neunten
Klasse der Realschule mit einer
ansprechenden Sammlung kreativer
Arbeiten unterwegs und hatte
diese „Mappe“ zum Vorstellungs-
Gespräch ganz selbstverständlich
dabei gehabt. Das hat Eindruck
gemacht.
Werbung ist kleines Kino. Eine
Show der Produkte und Darsteller,
die sie präsentieren. Wir bekamen
einmal eine wirkliche, lebende Kuh
zu sehen, die trabte am Strick des
Landwirts in diesen Studio-Supermarkt
herein, was für ein Theater!
Eine echte „Milka-Kuh“ sollte es
werden …
Die haben wir mittels einer Schablone
lila gefärbt. Eine flexibles
Material, extra für diesen Zweck, wurde in der
Grafik von H. mit dem darauf gepausten Logo
vorgezeichnet, und einer von uns hatte mit
dem Cutter sauber drumherum zu schneiden.
Dann musste jemand die charakteristischen
Flecken auf die Kuh sprühen, und in weiß
blieb „Milka“ stehen. Wir kopierten den Original-Schriftzug,
nachdem jemand ermittelt
hatte, wie groß das Tier würde, das wir bekommen
konnten. Es gab nur einen Bauern
in der Nähe mit ungefleckten, weißen Kühen.
Der kam gern, und war auch die ganze Zeit
für sein Rind zuständig. Es hatte einen Kälberstrick
ums Maul, etwa einen guten Meter
lang, und der Bauer sah aus, wie solche eben
aussehen. Mit einem olivbraunen, beuligen
Cord-Hut auf dem Kopf und gleichfarbener
Weste bekleidet, trug er derbe Hosen und
stapfte in Gummistiefeln rum.
Der durfte nicht mit ins Bild!
Ein muffelndes Duo. Seine Aufgabe: Er musste
die träge Mu-uh im Laden exakt platzieren.
Dann war es soweit: Der Showmaster
im schicken weißen Edeka-Kittel trat an
das Tier und hatte etwas verkaufsförderndes
zum Thema der beliebten Schokolade
im Skript. Das probierte er zu sagen, brauchte
aber einige Anläufe, bis alles „im Kasten
war“. Es lag nicht am professionellen Carrell.
Der war ganz entspannt auf dem Punkt und
amüsiert. Die anderen schnauften, die Kuh
schnaufte mehr, und alle schwitzten ziemlich.
Die Scheinwerfer knallten ein schneeweißes
Licht herunter. Das brutzelte.
Die Kuh war zeitweilig störrisch.
Klappe! Sie stieß ein mühsam drappiertes
Regal um. Sie drehte ihren Achtersteven
in die Kamera oder sie präsentierte uns
ihre leere, falsche weiße Seite, auf der wir
sie nicht bemalt hatten. Klappe! Der Bauer
schimpfte, zog am Strick. Die Muh-Kuh
bockte, stemmte die Vorderbeine und blieb
verkehrt herum wie angenagelt stehen. Zeit
verging, und das kostet. Klappe!! Die Regie
stöhnte, der Showmaster blieb souverän dezent
im Hintergrund, wartete. Dann schiss
das Tier in den Laden.
Aus, aus, aus!
Es dauerte und war mehr als ein wenig
Loriot.
Mein Mentor H. erklärte einiges, konnte nicht
nur hervorragend zeichnen, er verstand auch
die Menschen. Er war im Krieg geflogen, und
seine Geschichten entsprachen denen von
Hartmann. Das war mein alter Skilehrer, und
an den erinnere ich mich sehr gern. Diese Alten
sind von anderer Qualität. Gelegentlich
treffe ich „von“ M. beim Italiener. Das sind
Erinnerungen an eine Zeit, die es nicht mehr
gibt. Er war ebenfalls in der Luft unterwegs,
ist etwa 1926 geboren. Er fliegt heute nicht
mehr.
Er fährt seinen roten Rollstuhl elektrisch.
H. ging mit mir in der Mensa essen und erklärte
sich gleich zu Beginn, „ich solle mich
nicht wundern, er bekäme zu den Mahlzeiten
immer diesen roten Kopf und beginne unterm
Ohr zu schwitzen.“ Tatsächlich lief ihm während
er kaute ein dünnes Rinnsal die Wange
und am Hals hinab. Eine Schussverletzung
im Krieg. Man hatte es operiert, und ein Nerv
war beschädigt worden. Beim Essen, wenn er
den Kiefer auf diese Weise bewegen musste,
schwitzte er, ohne das kontrollieren zu können
auf einer Seite. Um jede Peinlichkeit zu
vermeiden, sprach er das Übel also gleich
an. Ich war es gewohnt, genau hinzuschauen
wie er selbst; Künstlerkollegen sind wir,
entsprechend verwandt mit allen Zeichnern
dieser Erde. Und wir mussten ja noch zehn
Tage lang zusammen essen, für die Dauer
meines Praktikums. Das war so ungefähr im
Jahr 1980 am Rand der Großstadt Hamburg:
„Markenfilm“.
Viel Wald an schmaler Fahrbahn, es wirkt
ein wenig abgelegen. Ich weiß noch: H. hat
seinerzeit die Aufgabe bekommen, ein neues
Schild zu gestalten, das von der Hauptstraße
den Weg weisen sollte. Es entsprach gar
nicht seinen normalen Tätigkeiten. Er skizzierte
Storybords für Reklame-Filme, machte
schließlich die Eckzeichnungen für den
Trickfilm, und eine outgesourced-e Fremdfirma
füllte die Abläufe. (Es gab das Wort noch
nicht). Er war der letzte verbliebene Grafiker.
Zusammen mit einer Kollegin, die ihn teilweise
unterstützte, hatten die beiden ihre Büros
unten im hintersten Flur des umfangreichen
Gebäudekomplexes. Da waren einmal zwanzig
Trickfilmzeichner angestellt gewesen, als
H. sich gleich nach dem Krieg bewarb.
„Wenn du zeichnen kannst, ist es leicht.“
H. probierte im Entwurf, die sechs oder sieben
Firmen des Gewerbegebietes, die ebenfalls
Schilder an der Abzweigung hatten,
zusammen mit dem neuen Logo in ein einziges
zu integrieren. Er stellte sich vor, das
unübersichtliche Sammelsurium an der Ecke
im genialen Wurf zu beseitigen und das neue
Signet zum Anlass zu nehmen, ästhetische
Vorlieben, wie Hinweise elegant aussehen
könnten, umzusetzen. Das klappte (natürlich)
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 99 [Seite 98 bis 103 ]
nicht. Er war enttäuscht: „Sieh nur, sie wollten
es nicht.“ Das neue Schild kam wieder zwischen
die verbogenen, schietigen und vielformigen
anderen.
Inzwischen hat sich einiges geändert. Gibt es
an dieser Stelle überhaupt noch eine Filmfirma?
Ich habe lang nicht mehr drauf geachtet,
aber einmal … mir ist dieser Richtungsweiser
aufgefallen:
„Woodland-Studios“.
Das klingt soo wichtig (ge)waldig, toll. Richtiges
Englisch macht gleich was her. „Hinterwäldler-Film“
passt ja wohl nicht. Die alten
Zeiten sind eben vorbei. (Karl Dall ist auch
gestorben. Wenn es mir weiter zu blöd wird,
gehe ich auch gern).
„Ich könne doch eine Zeichnung vom Carrell
machen?“, meinte H. und fand gleich eine
Vorlage. Er holte schnell eine Postkarte mit
dem Konterfei des Entertainers aus einer
Schublade. Die möge ich nicht wie die anderen
Leute nehmen, sondern für das Autogramm
eine Karikatur zeichnen! Carrell sei
nett, hieß es. Ich solle nur seinem Partner E.
aus dem Wege gehen. Der bliebe lieber für
sich und den Kollegen, arbeite: Fernsehen
ist ein Beruf. Ich kannte ihn vom „Laufenden
Band“, das war eine der beliebtesten Sendungen.
Sie konkurrierte mit der „Peter Alexander
Show“ oder „Dalli Dalli“. Rudi Carrell war
auf Augenhöhe mit den Kollegen Rosenthal,
Thoelke. Und „Wetten, dass ..?“ war noch gar
nicht erfunden. Frank Elstner musste jahrelang
„Montagsmalen“, bis ihm schließlich der
Durchbruch gelang, der Schmied von Attendorn
abhämmerte und die Fernsehlandschaft
grundsätzlich umdengelte, dass es nur so
glühte.
Von einem „Gottschalk“ hatten wir zu dieser
Zeit noch nichts gehört.
H. war stolz darauf, mich als Praktikanten zu
haben. Ich war der erste und vermutlich auch
in den folgenden Jahren einzige, der diese
„Stelle“ aufgrund seiner zeichnerischen Fähigkeiten
ergattert hatte. Ein Praktikum bei
„Markenfilm“ war eine gute Sache. Die anderen
seien alle auf Empfehlung des Chefs oder
anderer Vitamin-B-Arrangements gekommen,
meinten H. und Frau F. (nebenan) übereinstimmend.
Sie waren stolz und froh, dass es
ihnen gelungen war, für mich ein maßgebliches
Wort einzulegen.
# Mein Vater Erich und ich
Wir sind zunächst bei der selbstbewussten
Dame am Tresen des Empfangs gewesen.
Eine Persönlichkeit, ihre Telefonstimme war
unvergleichlich. Ich habe später oft die Nummer
angerufen: „Mm … arr-cckken-film; guten
Tag!“ Ich mochte sie. Schließlich durften wir
zum Grafiker, jemand würde uns hinführen.
Ein Gespräch. Das war ein erster Erfolg.
Ich hatte begriffen, dies ist nur der Eingang.
Es schien mir die erste Ebene einer großen
Anlage zu sein, die es zu schaffen galt, um
einen netten Spielplatz zu bekommen. Eine
Bühne für meinen Auftritt? Ein Trainer mit
Pinguin kommt. Eigentlich ist er der Bewerber
und wirft einen Fisch in die Luft.
Ich hüpfe herum, schnappe zu, zeige
ein Kunststück. So kommt man bis
zum Zirkusdirektor und wird engagiert.
Neben meinem Vater aufgebaut,
probierte ich naseweis damit
zu glänzen, ich könne nämlich zeichnen.
Da mussten wir doch einfach
zum Fachmann weiter, denn Sie hätten
tatsächlich einen …
Der Grafiker von „Markenfilm“.
Mein Vater hat ein erregtes Gespräch
mit H. geführt. Er wurde belehrt, das
sei ein Beruf wie jeder andere. Grafiker
würden normal arbeiten wie
alle und seien mitnichten brotlose
Künstler. Wir waren mit dem Fisch-
Transporter auf den großen Parkplatz
gefahren, nachdem mein Klassenlehrer
mir diesen Tipp gab, mich zu bewerben
und ich einen Termin bekam.
Dahin fuhr ich nicht etwa allein mit
dem Fahrrad oder bat meinen Vater
Erich, draußen vor der Tür zu warten.
Das hätte ich mich nie getraut.
# Ich war vollkommen unreif
Eine wunderbare Zeit. Ich erinnere Carrell
rauchend mit Tochter abseits, und
es stimmt, er respektierte mich, obwohl
ich ein fremdes Kind ohne irgendwelche
Gönner war. Man konnte sich gut mit ihm
unterhalten. Es schon sehr lange her, aber
es kam einige Male vor, dass er in Wedel
drehte, und wir haben dann immer ein
paar Sätze gewechselt. Ich war stolz darauf
und kann mich auch sonst an viele
Details erinnern. Einmal bin ich im Studio
herumgelaufen, und sie hatten eine komplette
Küche aufgebaut mit einem Fenster
nach draußen. Dort wäre aber gar kein
„Draußen“ gewesen, erzählte ich dem Grafiker.
Licht sei durch dieses Fenster auf die
Spüle und einigen Kram gefallen, dafür
hatte man spezielle Scheinwerfer montiert:
„Das sah aus wie echtes Sonnenlicht“,
meinte ich verblüfft. „Dann sag das mal.“ H.
nannte den Namen; ein „Beleuchter“ mit
dem er befreundet war, den jeder kannte.
„Man hört es doch so gern, wenn etwas
gelungen ist. Normalerweise bemerkt niemand,
was man leistet“, fand er.
Ich probierte, Carrell zu zeichnen, und es
war schwierig. Als es einige Male nicht
recht ähnlich wurde, begann ich allmählich
zu verzweifeln. Der erfahrene Zeichner riet:
„Wenn du die Augen schaffst, ist der Rest einfach.
Die Augen sind das Wichtigste. Der Rest
entwickelt sich dann schon.“ Als es weiter
nicht klappte, gab er mir dünnes Letraset-Papier.
Das schien ein wenig durch, war ansonsten
schneeweiß. Ich solle einfach mal eine
Zeichnung so ungefähr machen, das Blatt
vorn aus dem Block trennen und unter das
oberste Blatt wieder einschieben. Auf dieser
durchschimmernden Vorlage könne ich dann
eine weitere Zeichnung machen, Fehler korrigieren
als wäre es Bleistift, den ich gewohnt
war zu radieren. Das dürfe man auch zweioder
dreimal wiederholen, bis das Ergebnis
perfekt wäre. Er regte nun an, die nicht gelungene
Zeichnung ein wenig tiefer in den
Block zu legen. Unter mehreren Bögen Papier
sei die Vorgabe noch blasser. Ich wäre freier
für eine mutige, lebhafte Linie. Ich probierte
es aus und fand Gefallen daran, schließlich
klappte es, und dann bekam ich tatsächlich
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 100 [Seite 98 bis 103 ]
mein Autogramm. Wie so vieles ist auch
dieses Frühwerk von mir verschollen,
und heute nicht mehr zum Renommieren
geeignet. Nur die Erinnerungen sind
geblieben.
Ich zeigte H. auch selbstgemachte Comics.
Dort imitierte ich Szenen, wie ich
sie aus „Flash Gordon“ oder ähnlicher
Heldenliteratur kannte. Werner H. zeigte
auf einen der (in dramatischer Situation:
Raumschiff stürzt ab oder so) dargestellten
Männer: „Sieht dieser wie dein
Vater aus?“, wollte er wissen. Mich erstaunte
die Frage. „Nein“, meinte ich. Er
probierte eine andere Figur, stellte die
Frage erneut: „Der etwa?“ Ich begriff das
nicht. Wir ließen es auf sich beruhen.
H. inspirierte mit Einfällen. Er meinte:
„Setz die Schatten kräftig, nicht so ein
Gelapper.“ Er zeigte mir und wies mich
an, die Linien immer ein wenig länger
zu zeichnen, als notwendig, dass am
Ende jeder Verbindung eine winzige
Kreuzung mit minimal überstehenden
Stummeln der Linien entstand. Das
wäre besser, als berührten sich die Linien
nicht. Mit zögerlichen Strichen, die
nicht „ankämen“ und für manche Karikaturisten
typischen Unterbrechungen an verbindenden
Eckpunkten, falle alles auseinander.
Das sei das Merkmal unsicherer Zeichner, die
es nicht richtig gelernt hätten.
Ich war händeringend auf der Suche nach
Vorbildern, und H. bemerkte es. Deswegen
die Frage, ob meine Zeichnungen etwas dazu
taten, den Vater zu heroisieren. Da es offensichtlich
nicht der Fall war, erprobte der hintersinnige
Alte interessehalber nebenbei die
individuelle Psychologie.
Mir fällt noch einiges ein. Einmal saßen wir
privat im Auto, aus irgendeinem Anlass, und
H. hatte seine Tochter auf dem Beifahrersitz,
die wir mitgenommen hatten. Ich musste
hinten sitzen, natürlich – es ging auch gerade
nicht um mich; ich war etwa sechzehn Jahre
alt. Keine Ahnung, wohin wir unterwegs waren,
aber auch nach dem Praktikum wurde ich
zur Aushilfe in der Grafik beschäftigt. Vielleicht
war es einige Jahre später? Ich beobachtete
alles fasziniert. Schummriges Licht,
vielleicht der beginnende Abend, eine Veranstaltung
folgte? Bilder der Erinnerung
sind wie Träume, ein klein wenig unsicher
und auch unscharf.
Was jahrelang konserviert wird, geschieht
nicht ohne Grund? Auch wenn wir es damals
noch nicht verstanden haben. Es wird
erst später wichtig und neues Leben geben,
wenn wir begreifen. Sie sprachen, und ich
konnte nicht glauben, wie Menschen so
ganz anders sind. Meine Familie schien mir
zu vermittelten, das „Leben“ insgesamt verstanden
zu haben. Stimmte das eigentlich?
In diesem Auto da vorn, direkt zum Greifen
nah, aber wie mit einer Scheibe zum Chauffeur
abgetrennt (das kannte ich: im Film)
saß eine andere Welt. Wir hatten nur den
Transporter. Ein grauer Pritschenwagen mit
breiter Ladefläche. Nebeneinander fanden
meine Mutter, die keinen Führerschein hatte,
und ich Platz. Gurte gab es nicht. Um
den Gang einzulegen, gab es einen dünnen,
langen Stengel mit Knauf. Ich war erstaunt,
wie kurz der Ganghebel bei anderen ist. So
tief und nah der Straße fuhren sie und waren
es gewohnt.
(Später leistete sich meine Eltern einen
zweihunderter Mercedes. „Der Fischhändler
hat uns ausgebeutet“, einige haben es „Bassi“
übel genommen? Der Mercedes war cremeweiß,
mit beigen Sitzen, roch so fein nach
Leder. „Limousine vorwärts!“, sagten wir. Das
war der Name eines selbstgemachten Brettspiels
in der Art vom „Mensch ärgere Dich!“
Mein lieber Vater hatte das auf einen Kartonbogen
gemalt. Kreative Gene in der Familie).
Wir stoppten in der Nähe vom Bahnhof. Die
beiden hatten noch zu reden. Das Mädchen
bei uns im Auto: Eine schöne, schlanke Frau.
Sie hatte langes, dunkles Haar, rot geschminkte
Lippen und war wohl gar nicht einmal so
viel älter … ich war ein Kind dagegen. Das
spürte ich, kann es bis heute nachempfinden.
Und da war noch ein Konzert, auf dass sie am
Abend wollte.
Das weiß ich auch noch.
1982 war Elton John in Hamburg? Das
kann es gewesen sein. Ich erinnere mich,
dass ich nicht wusste, wer das ist. Unglaublich,
aber zeitgenössische Musik
fand im Haushalt Bassiner nicht statt.
Mein Vater Erich war über Kid Ory kaum
hinausgekommen, mochte die Beatles
mit ihrem Gesinge und „Gitarrenkram“
nicht wirklich, und ich passte mich an. Er
schimpfte: „Dischderbummber!“, das liefe
im Radio. Ich wohnte weiter zu Hause,
obschon ich einen Wohnsitz bei Tante
Helga aus Blankenese im Ausweis hatte,
ansonsten nicht in Hamburg Abitur machen
durfte. Andere fanden sich zu einer
WG wie es mir nie in den Sinn kam, zogen
früh aus.
„Jump Up Tour“, ich habe eine Fan-Seite
gefunden, die alle Konzert-Termine auflistet.
Dann wäre es im Mai gewesen und
ich bereits auf dem Weg zum Fachabitur.
Im August bin ich 18 Jahre alt geworden.
Susanne mochte David Bowie, und ich
kannte ihn nicht. Sandra hörte „The Police“,
ich wusste nicht, was die machen. Ich
hörte Sting erst mit „Englishman in New
York“. Das Saxofon von Marsalis am improvisierten
Ende, ein seltener gesangsfreier
Moment im Radio auf den ich wartete, blendete
der NDR regelmäßig aus. Eine wunderschöne
Coda, und immer sabbelt einer rein.
Mitten im jazzigen Schluss, wenn der S-tingstar
nicht mehr singt, wird abgebrochen, und
Tiedemann wäre dieser junge, aufstrebende
Moderator, der so beliebt sei. Das sagte man.
Heute macht er Senioren-Radio.
Dixieland war bald out, gegenständliche Malerei
verpönt. Zu lernen ist, dass eine Kunst
nicht schlecht wird, weil sie den Bezug zur
Gegenwart verliert. Politiker werden abgewählt,
Stile des Ausdrucks veralten. Die Jazzer
verlernten zu spielen, und die Maler konnten
nicht an das heranreichen, was gewesen war.
Kunst muss sich im Reflex der Umgebung
verstehen. Deswegen ist die gewonnene Fähigkeit,
in bestimmter Weise kreativ vorzugehen,
gerade eine Qualität. Eine zeitgenössische
Mona Lisa wird nicht schlecht, weil wir
heute die Fotografie haben.
# Zeitgeist
Im Café, einige Zeit vor der Pandemie,
hörte ich irritiert ein paar Wortfetzen
vom Nachbartisch mit. Ein Kind fragt:
„Was ist das, Mama?“ Es dauert einen
Moment, bis die Mutter begreift: „Ach
du meinst die Musik? Das ist Jazz.“ Till
Brönner lief im Hintergrund und gab
eine softe Trompetenstimme. „Das ist
Musik?“
„Ja.“
Ich war gern mit meinem alten Reklame-Grafiker
zusammen. Ein talentiertes
Kind gilt manchem als Sonderling. Da
tat es gut, ein Vorbild zu treffen, kennenzulernen.
Einige Jahre kam es immer
zu kleinen Aufträgen für mich, oder
ich wurde jemandem weiterempfohlen.
Das wird eine gegenseitige Bereicherung
gewesen sein, und es ist ein wenig
schade, dass alles so lang her ist und
allmählich keine Kontakte mehr zustande
gekommen sind. Eine Welt von Gestern
für mich und eine Quelle der Inspiration.
Ein fester Halt nach wie vor.
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 101 [Seite 98 bis 103 ]
Wir hielten also irgendwo, und bevor sie
schließlich ausstieg – der Vater gab ihr zur
Verabschiedung einen Kuss auf den Mund!
Das konnte ich nicht begreifen. Tatsächlich,
in einem Roman von John Irving (das Buch
mit den Cider-Haus-Regeln, meine ich) gibt
es diese „Vaterküsse“. Das habe ich dann Jahre
später gelesen. Mit der Wiederholung grub
sich eine Rune in meine Gehirnrinde, die
bleibt. Ein Film in der Bibliothek, den ich immer
abrufen kann. Vaterküsse, was sind das?
Im Buch als Besonderheit herausgestellt, ein
nicht-erotischer Liebesbeweis, dem eigenen
Kind zugedacht. Homer ist von Larch adoptiert,
vielleicht findet Irving es deswegen besonders,
und in anderen Familien ist es ganz
normal? Das gab es bei uns nicht. Deswegen
erinnere ich mich genau. Ich war fasziniert
und irritiert, das machte man doch nicht?
Mein Vater küsste uns nie; er schlug auch
nicht. Meine Mutter langte hin, verteilte Ohrfeigen.
Ist es so richtig, oder macht man es
anders? Auch sie küsste nie uns Kinder. Kann
es sein, dass mein alter Grafiker eine junge
Freundin hatte? Und ich habe den Fake nicht
mitbekommen.
Das bringt mich schließlich zu James Stewart,
dem berühmten Schauspieler. Jimmy, mein
Held. Der Große, der so langsam spricht. „Vertigo“,
er war der beste Mann vom alten Hitchcock,
der „zu viel wusste“, und in unzähligen
Western habe ich ihn gesehen. Normalerweise
ein vertrauter schwarzweiß Gesell bei uns
zu Hause und nicht in Technicolor. Ich begegnete
dem verehrten Idol meiner Kindheit auf
unserem kleinen Fernseher, mit seinen drei
einsamen Knöpfen die er nur hatte, für die
drei Programme, die er nur anbieten konnte.
Wie in der Politik. Das waren damals stabile
Verhältnisse, und Genscher war immer
Außenminister. Erstes, Zweites und Drittes
Programm, mehr konnte sich niemand vorstellen.
Helden im Alltag, unsere Vorbilder, was wurde
angeboten? Das Buch „Der Fünf-Minuten-
Manager“ erschien. Männer in der Politik, im
Fernsehen; bei genauerer Betrachtung hätte
ich bemerken können, dass es eine Entwicklung
gab: Auf den „Kommissar“ mit Erik Ode,
der in der Rolle noch Kette rauchen durfte,
folgte Tappert mit „Derrick“. Auf Tappert folgte
Lowitz. „Der Alte“ lief parallel, bekam Konkurrenz:
der „Tatort“ bereicherte die Fernsehlandschaft
mit wechselnden Kommissaren.
Aus Großbritannien eingekauft lief die „Task-
Force-Police“, aus den Vereinigten Staaten
„Kojak“, mit Telly Savalas. Hier sahen wir zum
ersten Mal jemanden mit Glatze, der noch
kein Opa war. Heute ist ein Drittel der Männer
ab dreißig oben blank. Zunächst glaubte ich,
das sei ein gewolltes Stilmittel. Coole Typen,
die eine breite Brust machen (wollen) und
ihre nackige Männlichkeit zur Schau stellen?
Aber es ist anders. „Nachbar“ Pavlos
dazu, beiläufig: „Wenn ich’s nicht abrasiere,
sehe ich aus wie mein Opa mit
seinem Resthaar. Ein Kranz schimmert
hintenrum wie beim alten Mönch oder
zottelt lang. Papa hat dicke schwarze
Haare und ist sechzig. Ich habe die
Glatze unfreiwillig, definitiv. Bei meinem
Bruder ist es genauso.“
Es schien nur, als wäre alles immer
gleich. Der bekannte Rahmen macht
blind. Klar auch, dass es einen Sendeschluss
gab. Die S-Bahn hörte nachts
zu fahren auf. Es gab keine Sommerzeit,
die Franzosen hatten sie, wozu
das denn? Alle Geschäfte schlossen zur gleichen
Zeit um sechs. Niemand sagte etwa
„achtzehn“ Uhr. Banken öffneten nachmittags
nur von drei bis vier für eine Stunde, vormittags
regulär wie heute. Mittags waren die Läden
geschlossen. Einiges hat sich geändert:
„Tschüssi“ oder gar „Tschü“ sagte niemand.
„Samstag“ oder „Das passt schon, alles gut!“
kannten wir nicht. „Sonnabend“ muss es heißen!
Man sagt „sii-eebzehn“, nicht „sibb“-zehn,
betont etwa „Spa-aß“ lang, niemand sagte es
so: „Spass“. Das klang verkehrt, wenn jemand
es machte, und seitdem es einen Fernseher
gab, hörten wir häufiger Laute aus fremden
Regionen. „Macht’s Spass Dicker?“ wurde Helmut
Kohl verarscht, die Spastiker, ohne dass
es jemanden störte, gleich mit verhöhnt. „Das
hat doch was mit Sex zu tun?“ Dumme, menschenfeindliche
Witze waren erlaubt.
Wir lebten nicht hinter dem Mond. Wir sprachen
wie Hamburger. Und lasen die Zeitung,
die hört man ja nicht. Keiner in diesen Jahren
„konnte Kunst“ oder ein „Stück weit“ Kanzler
sein, sagte: „Das ist nicht so meins“ und mehr
davon. Urlaub in Berwang? Die Österreicher
fuhren ihre Schi … mit „S-c-h“ geschrieben
(falsch!) typischerweise „para-lell“, dabei sagt
man es doch richtig: „paral-le-l.“ Und betont
das „e“ am Ende. Die beiden „ll“ sind in der
Mitte. Die können nicht sprechen. Wer sich
ärgerte schimpfte: „Schiet!“ Bis es modern
war: „Shit!“ zu rufen. Männer waren glatt rasiert,
bis diese Idioten überhand nahmen mit
Bart.
Die Erwachsenen amüsierte dies: In der langen
Nacht des Karpfenschlachtens vor Heiligabend
bekundete ich, „wir könnten gern
weitermachen.“ Nach einer Pause wäre ich
ausgeruht, könne noch lang mithelfen, obwohl
es spät in der Nacht sei, hätte wieder
„Lust“. Sie lachten sich kaputt, und ich verstand
gar nichts.
Das Wort „geil“ wurde noch nicht inflationär
verwendet wie einige Jahre später. Schimanski
mit dem andauernden „Scheiße!“ im
Fernsehen? Gab es noch nicht. Heute sagt
niemand mehr „stark!“ Immer gilt eine neue
Mode: „Geht gar nicht!“ – ich kenne einiges.
Menschen möchten „dabei“ sein. Der eingebildete
Tonfall mit dem sie alles blähen, ich
weiß noch wie „explizit“ aufkam, ist bis heute
gleich.
Was brauchte die Welt, etwas nun „stringent“
zu tun – wenn es bislang folgerichtig, logisch
und schlüssig, einleuchtend und überzeugend,
zwingend sowie authentisch … geradezu
direkt geradeaus und kurz und knapp
zupackend auf den Punkt genau, spezifisch
„exakt verbalisiert“ gesagt werden konnte?
Deswegen hat ein Spaßvogel das Wort „ephibriert“
erfunden? Irgendwo im Satz eingebaut,
taugt es platzhaltend verwendet für
alles, was ein wirklich Wichtiger braucht.
„In der Bahn siehst du lauter abgefahrene
Leute“, meinte mal einer … stimmt. Wasser ist
nasse Masse, krasse Sache eigentlich, oder?
Mich hat’s peripher tangiert, um nicht zu sagen
voll efibriert …
Ich habe mich jahrelang gefragt, was eigentlich
mein Problem sei, und damit meine ich
grundsätzliche Schwierigkeiten. Schön ist
eine Formel, etwa die von Einstein, mit der
ein ganzer Komplex von Problemen dargestellt
werden kann. Danach habe ich gesucht.
Ohne die hinzuschreiben, kann ich sagen, was
mich auf die Spur gebracht hat zu suchen. Ich
bewunderte Stewart oder Gregory Peck, Hornblower
– natürlich. Aber warum? Ich verehrte
Pops, das hat nie aufgehört. Aber erst heute
weiß ich, was es ist, mich fasziniert. Satchmo
ist ganz anders als Jimmy, da meine ich gar
nicht, dass sie einen Film zusammen gedreht
haben oder der dargestellte Posaunist Glenn
Miller weiß ist, Louis schwarz. Aber alle diese
Menschen, Männer, Helden im Film; sie haben
etwas gemeinsam, das mein Vater nicht
hatte. Das ist ganz offensichtlich, und etwa
so schwer zu beschreiben, wie die Quadratur
des Kreises oder was weiß ich dergleichen.
Fragmente einer langen Suche. Max Frisch
benötigt einen ganzen Roman, es aufzuschreiben,
kommt trotzdem nicht an: „… ein
Mann hat eine Erfahrung gemacht, was ist
die Geschichte dazu?“ (Die Geschichte wird
nie erzählt).
Irving war es nicht, aber ein Buch beginnt
damit, und er zitiert: „Alle unglücklichen Familien
sind auf eine eigene, ganz individuelle
Weise unglücklich. Aber alle glücklichen Familien
sind auf dieselbe Weise glücklich.“ Das
schrieb Leo Tolstoi in „Anna Karenina“. Die
neue Zeit ist so schlecht nicht: Du kannst es
googeln, wenn du es nur ungefähr weißt.
Junge Menschen verlassen die Familie, werden
selbst erwachsen. Das Rüstzeug klar
zu kommen, müsste ihnen nebenbei in der
Kindheit angeschneidert werden. Nicht immer
gelingt es. Eine Lösung für Jugendliche
kann darin bestehen, es „wie die anderen“ zu
machen. Viele junge Erwachsene gehen zunächst
einen rauhen Weg, werden bald immer
geschmeidiger darin, sich zu integrieren,
passen sich an. Wir haben schnell zu segeln
gelernt, weil wir schauten, wie es gemacht
wird und lernten. Wer anstelle „Zeitgeist“
kreative Sachen liebt, kommt unweigerlich
in den Konflikt, zwischen anderen ein Fremdkörper
und spürbares Individuum zu sein. Die
Kunst ist nicht ohne Grund als „brotlos“ bezeichnet
worden. Wem es leichthin genügt,
die Brote zu backen oder einfach Brötchen zu
verkaufen, die es schon gibt, hat vom Beginn
der Lehre an Geld in der Tasche und findet
sozialen Halt bei anderen: „So wird es bei uns
gemacht.“
Ein spürbarer Fremdling zu sein, bedeutet
nicht automatisch, es selbst wahrzunehmen.
Wer aneckt, sollte merken, dass er’s tut. Wer
extrovertiert daherstapft, wird schnell drauf
kommen, was es ihm bringt und schließlich
bewusst provozieren. Das ist eine gute Methode,
etwa „Kunst“ zu machen. Ein Nerd jedoch
eckt dadurch an, dass er den schicken
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 102 [Seite 98 bis 103 ]
Stil der anderen nicht bemerkt und sich
selbst nicht spürt. Ein junger Mensch, dem es
nicht gelingt, seine liebgewonnenen Künste
zu verteidigen und offensiv nach vorn zu
tragen, scheitert, weil er den Dünnsinn der
Masse nicht nachplappert und gleichzeitig
seine möglicherweise altmodischen Vorlieben
nicht integrieren kann.
Das ist kein „Männerproblem“, das ist die
Schwierigkeit, individuell erwachsen zu werden.
In einer freien Welt hat der Mensch die
Wahl, sich Helden, denen er nacheifert zu
suchen. Darin liegt sowohl die Möglichkeit
allerbester individueller Entwicklung wie
die Gefahr, an die Falschen zu geraten. Wenn
ich mir die Wege, wohin ich wachsen möchte
nicht länger suchen kann, weil sie mir aufgezwungen
sind, fahre ich sicher wie die Bahn
auf einer Schiene, aber gebunden an die Weichenstellung
meiner Lenker. Uniforme Wesen
werden es leichter finden, sich anzupassen,
und insofern ist der fortwährende Drang
der Integrierten, die nachrückenden jungen
Menschen zu manipulieren bedenklich. Wir
sehen, wie erfolgreich China gegen die Corona-Pandemie
ist. Der Preis, weniger Freiheit
zu haben, sich dem Gesamten unterzuordnen,
wird dort scheinbar gern gezahlt. Sicherheit
innerhalb der Staatsgrenze, weil die Führung
umsichtig gehandelt hat, während die anderen
Staaten es nicht in den Griff bekommen,
verstehen die Chinesen als die Freiheit eines
siegreichen Teams, in dem jeder so handelt,
wie es dem Ganzen nützt. Gleichzeitig wird
der (abgewählte) amerikanische Präsident
nicht müde, ihren systemischen Fehler anzuprangern,
es so weit kommen zu lassen.
„Das China-Virus!“
Die schlanke Spitze der kommunistischen
Führung in Peking bestimmt ihre Nachfolger
selbst, das breite amerikanische Volk wählt
den Präsidenten der USA. Trump ist das Vorbild
vieler, die für ihn gestimmt haben. Menschen
folgen der jeweiligen Wahrheit, die
ihnen imponiert. Jugendliche generell, aber
auch speziell junge Frauen, werden von Älteren
(auch von Frauen) gezielt für ihre Motive,
die nur scheinbar hochgelobte, die Welt rettende
Projekte sind, geködert und instrumentalisiert.
Moderne Frauen, die viel erreicht haben,
Karriere machen und den Durchhänger
erleben, der bei Männern als „Midlife-Crisis“
bezeichnet wird, ertragen ihre nachlassende
Attraktivität nicht. Sie spannen Mädchen vor
ihren Karren – unter dem Vorwand eine „Gute
Sache“ müsse vorangetrieben werden. Das
Gute an der modernen Welt ist nicht der gute
Mensch. Es ist das System, das gut ist. Unsere
in zwei Weltkriegen leidgeprüften Vorfahren
haben uns das hinterlassen. Diese Struktur
hat eine gewisse Festigkeit und führt dazu,
dass „das Gute“ in der Regel gewinnt.
Der Mensch heute? Ist schwach, böse und
schlecht wie immer. Er sehnt sich nach Frieden
und kann sich glücklich schätzen, wenn
er in einem festen Haus oder stabilen Rechtsstaat,
einer gesunden Familie leben darf. Sich
das alles selbst zu schaffen, heißt nicht nur,
es den Vorbildern abzuschauen, sondern
auch zu begreifen und gegebenenfalls hart
zu verteidigen, was uns lieb und teuer ist.
# Hollywood, es liefen ständig Western
Nicht nur mit James Stewart. Auch mit John
Wayne oder Cooper. Wer ist Clint Eastwood?
Heute gibt es neue Filme, und andere Menschen
spielen darin, gibt
es heute andere Männer?
Stewart, ein alter Rancher,
das ist so eine Stelle im
Film, das erinnere ich: Es ist
wohl Thanksgiving oder so.
Eine ziemlich große, typisch
amerikanische Familie feiert
im schon einigermaßen
zivilisierten, nur noch wenig
wilden Westen.
Eine große Farm. Der Schauspieler
Stewart ist hier der
Hausherr eines beträchtlichen
Anwesens. Auf dem
Feld hat er einen amerikanischen
Cowboy-Hut auf dem Kopf, aber das ist
ein gestandener Mann. Einer der Cow-Boys,
ein Junge von achtzehn Jahren, ist in die
Tochter des Ranchers verschossen.
Es ist wirklich lang her, und ich habe den Film
nicht noch einmal gesehen. Ich fabuliere es
dahin: Der Junge; er sei verliebt, bekundet
er seinem möglichen Schwiegervater. Um
womöglich vorzufühlen, wie die Sache ausgehen
könne, wenn er „Betsy“ um „ihre Hand“
fragt? Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.
Der alte James Stewart ist mit was beschäftigt.
Ich kenne ihn nur mit dieser gedehnten,
langsamen Sprechweise seiner deutschen
Synchronstimme. Er schaut zunächst
kaum auf. Er törnt was auf an einem Sattel,
schmeißt Holzkloben beiseite oder schüttet
einen Kübel mit Wasser aus. Daran erinnere
ich mich nicht. Er wird nachgedacht haben.
Aber statt lamentierte Sätze in den Raum
zu stellen, sieht er den Jungen scharf an und
sagt hart und betont deutlich: „Liebe! Dummes
Zeug.“
Der junge Mann beteuert sein Anliegen wortreich,
und natürlich, ich weiß ja nicht, es kann
auch der eigene Sohn gewesen sein, und das
Mädchen war auf der Farm vom Nachbarn.
Und sicher waren es verfeindete Familien,
keine Ahnung.
Lang ist es her.
„Ich liebe sie!“, fleht er beinahe, und mit Überzeugung.
Jetzt erklärt der Alte: „Als ich Elizabeth,
Lizzy – er nennt einen Namen (oder
sagt er: deine Mutter?) geheiratet habe“ – er
macht eine Pause.
Und der verdutze Junge begreift nicht recht,
wie dieser Satz wohl weitergeht. „Heute“, sagt
der Alte, nach so vielen Jahren, wüsste er es
schließlich … er stößt die Worte nun schroff
raus, oder nuschelt er das Folgende nur undeutlich
– eventuell mit einer verborgenen
Träne, die der andere nicht sehen darf?
Ich erinnere mich nicht.
„Dass ich sie liebe.“
Ich komme drauf, dies hier überhaupt zu
schreiben, weil ich gerade auf Youtube: „The
funniest Joke I ever heard“ gesehen habe, mit
diesem Stewart. In Farbe, 1984 lebte der ja
noch. Der Schauspieler erzählt seinen Lieblingswitz.
# Ein altes Ehepaar beim Frühstück
Prächtig aufgefahrene Leckereien, gebratener
Schinken, Eier und vieles mehr. Die Alte
neigt sich zum lieben Ehemann, schaut forschend,
ein wenig boshaft, hat womöglich einen
Hintergedanken, fragt: „Was machst du?
Es passiert, ich wäre plötzlich tot, sterbe bald
– würdest du wiederheiraten?“ Er reagiert
ungewöhnlich schroff. „Was soll das jetzt und
hier?“ Der Mann ist gereizt: „Ein blödes, finsteres
Thema. Es ist ein schöner Morgen, die
Sonne bescheint unseren reichlich gedeckten
Frühstückstisch, und ich freue mich auf
das Ei.“ Margret, so nennt der Schauspieler
die Ehefrau im Witz, lässt nicht locker: „John“,
sagt sie, „würdest du noch einmal heiraten?“
Der blockt ab, und sie frühstücken. Dieses
Thema, an diesem (wunderbaren) Morgen,
terrible – furchtbar: „Forget about!“ Darüber
will er nicht reden. Abends beginnt sie von
neuem. Er geht nicht darauf ein, sie liegen im
Bett nebeneinander, und er dreht sich weg:
„Nicht. Nicht hier, nicht jetzt und gute Nacht!“
Einige Tage lässt sie nicht locker und fängt
wieder damit an: „John, wenn ich vor dir sterbe,
heiratest du dann noch einmal eine andere?“
Da, tatsächlich, bekommt sie schließlich
eine Antwort, einsilbig: „Ja“, brummt der Ehemann.
Sie hat beharrlich noch weitere Fragen.
„Und das Haus. Würdest du es verkaufen?“ Er
ist erstaunt: „Das Haus? Nein – wieso denn.“
Sie kommt voran, er lässt sich ein …
Sie interessiert sich: „Das Bett. Mein Bett, unser.
Das, in dem wir beide schlafen, würdest
du es weggeben, verkau-fen?“
„Nein.“
Nein, warum auch – und im Hintergrund lachen
bereits einige, weil dieser Jimmy Stewart
es so unvergleichlich erzählt.
„Und …?“
Sie will es wissen.
„And my golfclubs, would you let her touch
my golfclubs?“
Das ist das Equipment zum Spielen, Tasche
mit einem Set, die Schläger, so nennt man es
im Sport, nicht etwa die Gebäude, Anlagen,
also einige Clubs die sie eventuell besitzt.
Unfug – ich habe es gegoogelt (peinlich, ich
gebe es zu … mein Englisch ist schlecht).
Translation: „Stick for hitting the ball.“
„Nein“, sagt er, überlegt …
„Nein –
… sie ist linkshändig.“
:)
Nov 26, 2020 - Jimmy und andere Helden 103 [Seite 98 bis 103 ]
Querdenken
Dez 12, 2020
Wo ist der Einzelne in der Menge, wie groß ist
der beanspruchte Raum und Einflussbereich
eines Menschen? Bedürfnisse und die Suche
nach Befriedigung, unvermeidbare Verpflichtungen,
dazwischen spielt sich unser
Leben ab. Einige intellektuelle Begriffe wie
Körper, Geist, Verstand und Gefühle bemüht
der Mensch für einen Rahmen, sich selbst zu
erklären. Der Organismus ist eine Einheit, ein
komplexes System, begrenzt von der Haut.
Mit ein wenig Abstand vom Körper können
zusätzlich gedachte Grenzlinien beschrieben
werden. Einige typische Elemente erweitern
das Individuum. Da sind die Kleidung und
etwa eine Brille oder Schmuck. Zubehör, das
sowohl dem Schutz dient wie der Selbstdarstellung.
Als nächstes können wir den
Lebensraum und nahe Personen im Umfeld
mit heranziehen, wenn wir die intellektuelle
Größe einer Person definieren möchten.
Im Laufe ihres Lebens probieren die meisten
ihre Kontrolle, den Einfluss und sogar die
Macht über andere zu erweitern. Menschen
gründen Familien. Sie machen Karriereschritte.
Sie erkennen in der Gesellschaft eine
Spielwiese individueller Gestaltung. Anderen
fällt es hingegen schwer, sich einen festen
Platz in der Umgebung auszugestalten, warum?
Gründe dafür lassen sich im Verhalten
derer finden, die kaum Gestaltungsspielraum
haben, aber auch in der Umgebung, die ihnen
quasi die Luft zum Atmen
nimmt, wenn sie nicht
geschmeidig und angepasst
auftreten. Menschen, die polarisieren,
müssen Druck ertragen
können. Das bedeutet,
querköpfig zu sein, funktioniert
nur bei klarem Verstand.
Die Umgebung ist eine harte
Realität. Der dümmste Pfosten
kann es schaffen, einen
harten Hund zu geben, wenn er die
Ordnungskräfte im Rücken weiß. Ein
Verrückter kann ein ganzes Dorf auf
Trab halten, wenn die anderen nicht
begreifen, dass verrückt zu sein nur
eine Definition ist. Die Grenzen der
Macht? Im funktionierenden Rechtsstaat
verhindern sie das Umfallen
der Mitläufer zum extremen Rechtsverständnis,
sind fehlende Dominosteine
in einer langen Reihe.
# Jeder schiebt seinen Nächsten
Alles außerhalb der Haut drückt
auf den Menschen, wirkt mit einer gewissen
Stärke. Nicht abzuschalten ist die Schwerkraft,
und wir lernen in der Schule, dass die
Erde uns an sich zieht, wie Newton ein Apfel
auf den Kopf fiel. Für den Apfel bedeutet die
Landung auf der Wiese, dass es ihm einen
Schlag tut. Aus der Sicht des Apfels kommt
der Boden näher, bis es kracht. Unser Fußweg
ist ein Gegner, den wir uns mit jedem
Schritt vom Leib halten. Je nach Jahreszeit
belastet uns die Kleidung, was wir anhaben.
Eine dicke Winterjacke behindert mehr als
ein leichtes Shirt. Die Luft um uns
herum hat das Bestreben, in jeden
Menschen hineinzudrücken. Wir geben
ihr gern nach, erzeugen Unterdruck,
schaffen eine Höhle – atmen
ein und benötigen Muskelkraft, die
verbrauchte Luft wieder auszuatmen.
Eine flexible Grenze ist nötig. Der
Apparat Mensch regelt den Eingang
und Ausgang seiner Pforten. Wenn
der Organismus unterversorgt ist,
uns mit Hunger daran erinnert, werden
wir Nahrung zuführen. Ist diese
nutzbringend verarbeitet, scheiden
wir nicht zu gebrauchende Reste aus
und benötigen Kraft dafür. Wir sind
bedrängt, gestützt und gehalten vom
Drumherum.
Viren und Bakterien können in uns
eindringen. Männer dringen in Frauen
ein. Worte dringen in unser Ohr,
jemand fordert: „Hauen Sie ab!“, und
eventuell hauen wir dann ab. Die
Umgebung ist gegen uns, mal mehr,
mal weniger. Eine Segelyacht: Der
Wind ist gegen das Boot gerichtet und kann
genutzt werden. Aber auch bei achterlichem
Wind benötigt das Schiff ein festverstagtes
Rigg und der Windstärke angemessene Segel.
Der Erdboden ist kein Feind, den wir treten,
aber kranke oder sehr alte Menschen liegen
sich wund im Bett. Die Umgebung auf Abstand
zu halten, bedeutet gesundes Verhalten
gelernt zu haben. Liebende schmiegen
sich an. Geborgenheit und Zuverlässigkeit,
sanfter Druck ist angenehm. Als soziale Wesen
kämen wir uns verloren vor, wenn nicht
mal jemand sagte: „Komm gern näher.“
Um den Menschen zu beschreiben und
wissenschaftlich einzuordnen, ist es unumgänglich
die anderen und die Umgebung
insgesamt miteinzubeziehen. Gemeinschaft
ist der Halt gebende Rahmen, der persönliche
Gegner oder Unterstützer des Einzelnen.
Die Gesellschaft fordert und gibt Rechte. Der
Mensch muss sich in einen sozialen Platz
finden. Das ist je nach Umgebung und Individuum
verschieden. Was ist eine gesunde
Gesellschaft, ein gesunder Mensch? Natürlich
erleben alle Phasen von Krankheit, eine
Erkältung ist eine Erkrankung. Nach einigen
Dez 12, 2020 - Querdenken 104 [Seite 104 bis 107 ]
Tagen ist sie vorüber. Das Wort „krank“ wird
aber auch für „gestörtes“ Verhalten beschrieben.
Die Umgebung stört? Insofern ist die
Frage nach der gesunden Gemeinschaft zu
stellen, die einzelne Mitglieder als krank
aussortiert. Das macht die Gesellschaft, weil
manche eine Gefahr für das System darstellen.
Störer auszusortieren ist die typische
Lösung, anschließend Resozialisierung. Eine
gesamtgesellschaftliche Änderung anzustreben,
damit weniger Menschen den Staat von
innen angreifen, wäre die Alternative.
# Irrationalen Druck der Struktur auf einzelne
zu minimieren, ist ein Prozess
Die Corona-Pandemie zeigt dem modernen
Menschen die Wichtigkeit erfolgreicher
Grenzziehung. Systeme sind zunächst der einzelne
Mensch, dann die Bezugspersonen als
Gruppierung, Familie, Kollegen. Größer sind
Städte, Kreise und Bundesländer, schließlich
der jeweilige Staat. Zielführende Abgrenzung
muss nötige Versorgungswege frei lassen
und die Ströme kontrollieren. Etwa wie gute
Finanzpolitik meint, Geld gezielt zu investieren
oder als Lebewesen nur die Nahrung zu
sich zu nehmen, die eine ist. Der Mundschutz
zu Corona Zeiten; wir können sprechen, aber
die Aerosole werden aufgehalten.
Kontrolle ist uns überlebenswichtig,
wie die Bewusstheit wo wir sind, und
was wir dort gerade auf welche Weise
tun.
Zunächst sind in der Masse der gesamten
Menschen alle gleich in ihrer
grundsätzlichen Struktur: Kopf, Gliedmaßen,
Muskulatur und Knochenbau,
die Organe – das ist identisch,
über die verschiedenen Formen
des Menschen hinweg: Mann, Frau
und Hautfarbe. Es sind keine Verbraucher,
Autofahrer, Arbeitnehmer,
und obwohl wir unterscheiden
– Pädophile und Gefährder usw.
– sondern Menschen. Die Verbraucher
sind auch Produzenten von
irgendwas. Die Autofahrer gehen
auch zu Fuß. Die Arbeitnehmer haben
Freizeit, und dann gehen sie
einem Hobby nach. Die Gefährder,
von denen seit einigen Jahren geredet
wird, gefährden nicht nur die
anderen Menschen, sie sind ein
Teil der Gesellschaft und gehören deswegen
dazu.
# Es sind Menschen
Wir können eine Liste machen mit Personen,
die dem System Schaden zufügen
oder das planen, aber wir können auch
begreifen, dass die Gesamtheit der jeweils
anderen auf den Einzelnen einwirkt. Dann
könnten wir besser verstehen, was wirklich
gefährlich ist und mit einem guten theoretischen
Ansatz ist einer Gesellschaft mehr gedient,
als primitiv dem Boulevard zu folgen.
Die Spezialisierung hat zum Machtmonopol
des Staates geführt. Auseinandersetzungen
müssen den zivilen Gepflogenheiten entsprechen.
Mit dem Begriff der kriminellen
Energie wird versucht, denjenigen zu beschreiben,
der angreift. Das Wort Notwehr
erlaubt dem Angegriffenen über das Maß
verbaler Abgrenzung straffrei zu bleiben
bei Gewaltanwendung. Mit den Begriffen
Opfer und Täter versucht man einen Rahmen
zu schaffen, bewertet Streit rechtlich,
kann entsprechend der Regeln strafen.
Der moderne Rechtsstaat ist das Ergebnis
langjähriger Entwicklung. Der Unmut über
falsche, zu kurze oder ungenügende Strafen,
wie er gern aufkommt, zeigt
wie nötig wir Gesetze, Anwälte
und Richter haben. Wäre unsere
Polizei nicht an die Regeln aller
gebunden, hätten wir übergriffige
Verhältnisse wie anderswo. Macht
kann missbraucht werden. Wenn
wir zivilisiert leben, unbewaffnet
in die Stadt gehen, dem Schutz
durch Ordnungshüter vertrauen,
dürfen wir nicht blind gegen den
dienstleistenden Staat herumspazieren
und müssen das in der Kindheit
lieb gewonnene Weltbild von
Gut und Böse aufgeben. Wir müssen
die Fähigkeit haben, uns verbal abzugrenzen.
Wir müssen unseren Zorn
beherrschen und Handgreiflichkeiten
vermeiden, könnten wissen, dass es
keine vollumfängliche Sicherheit
gibt. Wir dürfen eigene Fehler akzeptieren.
Wir sollten begreifen, dass wir
einige provozieren, wenn wir individuellen
Raum beanspruchen.
Der Feuerwehrmann, der den Brand selbst
legt, die Krankenpflegerin die tötet und der
Polizist, der illegal zum persönlichen Vorteil
arbeitet sind gleichwohl Realität wie die
„normalen“ Kriminellen, die etwa in Sportverein,
Kirche oder Schule missbräuchlich Macht
über Schutzbefohlene ausüben. Mit den digitalen
Techniken für jedermann ist abfilmen,
gruppenweises Mobben und zu hetzen Alltag.
Wo viel möglich ist, wird auch viel gemacht,
und eine unübersichtliche Situation entsteht,
trotz aller Regeln des Datenschutzes. Imaginäre,
mit Vorurteilen beladene Schubladen,
die wir zügig zum Schrank unserer Weltschau
tischlerten, helfen nicht gegen eine reale Gefahr.
Ordnung beruhigt schon mal: Ein Vorurteil
ist gut, aber nicht gut genug. Wir nehmen
ein Werkzeug aus diesem Schrank, und wundern
uns, wenn es nichts taugt.
Dez 12, 2020 - Querdenken 105 [Seite 104 bis 107 ]
Wer der lieben Ordnung halber andere als
Sorte beschreibt, riskiert eine Entwicklung
außer acht zu lassen, die diese Personen
verändern wird. Wenn wir Menschen aufgrund
einer Annahme einen falschen Stempel
aufdrücken, können unsere Aktivitäten
scheitern. Statt die Gefährlichkeit zu kontrollieren,
schaffen wir eine andere, die uns kalt
erwischt. Du beschließt, es augenscheinlich
mit einem Tiger zu tun zu haben und wirst
hinterrücks von einer Schlange gebissen, so
ungefähr.
Attentate sind zum Problem geworden, aber
es gab sie schon immer. Seit wir den Eindruck
gehäufter Anschläge haben, probieren Verantwortliche,
die ihnen anvertraute Gesellschaft
zu sichern. Polizei und Staatsschützer
sollen im Voraus der Anarchie einen Riegel
vorschieben. Mit der Idee der Rasterfahndung
probiert man Ordnung zu schaffen und
stellt eine Struktur der Gefährdung auf. Die
Fachleute erkennen den „Islamistischen Gefährder“,
unterscheiden ihn vom „Politischen
Terroristen“ und haben es mit „Einzeltätern“
zu tun? Skepsis ist angebracht. Wer eine
Hypothese aufstellt, kann zu praktischen
Handlungen übergehen und
Ergebnisse präsentieren.
Das ist der Grund, warum es
gemacht wird. Die Theorie
könnte fehlerhaft sein, die erzielten
Beobachtungen falsch
interpretiert werden, mit bei
diesem Thema gefährlichen
Erfahrungen der Betroffenen.
Es werden unnötig Personen
verdächtigt als auch gefährliche
Situationen nicht im Voraus
erkannt, wenn die Annahme
jemand sei ein „Soundso“
falsch ist.
Obwohl gruppenweise Zuordnung
von Menschen intellektuelle Begriffserklärung
ist, nehmen die Bewerter
an, es mit Äpfeln und Birnen zu tun zu
haben, sind damit kaum besser als die
Nationalsozialisten im Rassenwahn.
Seitdem bekannt ist, wie einfach die
Gesellschaft von einer einzelnen Person
gefährdet werden kann, ein Auto
genügt, man muss nicht einmal eine
Waffe besitzen, kann dieses Verbrechen leicht
nachgeahmt werden. Es ist die Bestrafung
einer an den Wohlstand gewöhnten breiten
Masse, die meint nichts dafür zu können,
wenn sie angegriffen wird.
Vor längerer Zeit habe ich während
eines Aufenthalts in Backnang
einen Artikel in der Stuttgarter
Zeitung gelesen. Eine ganze Seite
reichte gerade aus, heftigen Streit
unter Nachbarn darzustellen. Immer
wieder war es in der Vergangenheit
zu Auseinandersetzungen
vor Gericht gekommen. Ein in der
Gegend beheimatetes Ehepaar
strengt immer neue Ermittlungen
wegen Beleidigung an. Der Mann
nebenan wehrt sich allerdings erfolgreich.
Er habe gute Anwälte und
Geld sowie hinreichende Ausdauer.
Vielleicht hatte er das Grundstück
geerbt und war dazugezogen, ich
erinnere mich nicht. „Der Mann sei
psychisch krank, bedrohe das Ehepaar,
singe nächtelang im Regen
auf einem Baum sitzend in seinem
Garten und müsse eingewiesen
werden“, so etwa die Vorwürfe.
Ein ähnlicher Fall hier im Norden: Eine Bekannte,
die mit dem Amtsgericht zusammenarbeitet,
erzählt von einer jungen Frau.
Die terrorisiere ein Mietshaus mit einigen
Parteien. Bepöbelungen, Beschmutzungen
im Treppenhaus, sie beschädige abgestellte
Fahrräder, den Kinderwagen einer Mutter,
lasse laute Musik laufen, gelte den Mitbewohnern
als krank. Man probiere, sie in die
Klinik einzuweisen. Es sei schon gelungen,
schließlich ist die Frau polizeibekannt. Ab
dem Moment des richterlichen Beschlusses
und ihrer Unterbringung in einer geschlossenen
Station der Psychiatrie, „sei die Dame
vollkommen normal“, verhalte sich mustergültig,
sagt die Juristin. Die ihren Nachbarn
so gefährlich erscheinende, psychopathische
Mieterin, die alle ausnahmslos nervt, mutiert
sofort zum allerbesten Teamplayer innerhalb
der Mitpatienten! Sie räumt das Geschirr
in die gemeinsam genutzte Spülmaschine.
Sie ist pünktlich zu den Mahlzeiten, nimmt
Therapieangebote wahr, erscheint zur angegebenen
Zeit, um das ihr zugewiesene Medikament
einzunehmen; und muss deswegen
nach wenigen Tagen entlassen werden. Der
Amtsrichter kann keinen Beschluss aufrechterhalten,
wenn ein in der Psychiatrie befindlicher
Mensch erkennbar normalgesund ist.
Daheim im Mehrfamilienhaus beginnt der
Terror auf der Stelle neu. Sie beleidigt die
Dez 12, 2020 - Querdenken 106 [Seite 104 bis 107 ]
anderen usw. – gute Beispiele, erfolgreich der
Masse zu trotzen? Die „Gesunden“ können mit
wenig Streit zurechtkommen, Grenzgänger
nicht. Da sind unendlich viele, die, wenn sie
einmal die Bekanntschaft mit dem Psychiater
gemacht haben, von diesem Zeitpunkt an ein
Leben in einer Parallelwelt führen. Sie finden
nicht zu (erfolgreich) trotzendem Zorn, haben
kein Grundstück geerbt oder gute Anwälte,
traurig.
Das ist meine Einzelmeinung? Ich
kann mir leicht vorstellen, wie diese
Nachbarn zusammenhaltend als
Ehepaar gegen „den Verrückten“
mobil machen oder im mobbenden
Verbund der Mieter: „Die muss
weg!“ skandieren. Glücklicherweise
ist ihnen nur ein Teilerfolg möglich.
Der Versuch gütlicher Einigung,
Vertrauen aufzubauen, scheitert an
den bornierten Integrierten; das ist
meine Meinung, und nur wenige
werden diese Ansicht teilen. Auch
im Fall schlimmster Gewalt vom
Ehemann gegen die Frau, wie es
vorkommt, und ein Näherungsverbot
ausgesprochen wird, erleben wir
immer wieder den extremen, auch
tödlichen Ausgang dieser Dramen,
wenn ein Streit um das Sorgerecht
der Kinder eskaliert oder ein neuer
Partner auftaucht. Es zeigt sich, dass die Gesellschaft
machtlos ist, überall reibungsloses
und geschmeidiges Miteinander zu garantieren;
und das ist auch gut so.
Meine Einzelmeinung, ich weiß das.
Das Offene der demokratischen, freien Gesellschaft
ist ihre Schwäche und Stärke zugleich.
Die Schwächen des Föderalismus in
der Pandemie: uneinheitliche Maßnahmen.
Beschließt ein Bundesland den Lockdown,
gehen die Einwohner der Grenzorte in das
benachbarte Gebiet und kaufen dort ein.
Auf dem Weihnachtsmarkt ist Glühweinverkauf
erlaubt, trinken darf man das Getränk
erst in einhundert Meter Entfernung vom
Ausschank? Jemand sagt im Fernsehen: „Das
verstehen wir nicht“ und „die Politik habe
versagt“ – wie blöd muss man sein, angesichts
der zunehmend dramatischen Bilder
aus Krankenhäusern weltweit, um die eigene
Verantwortung derart auszublenden? Wer alles
geregelt haben möchte, ist in jeder Welt
verloren.
:)
Dez 12, 2020 - Querdenken 107 [Seite 104 bis 107 ]
Wir gehen vergnügt alle drei die Treppe im
Turm hoch. Ich zeige ihr mit reichlich wechselseitigem
Erklären zwischen uns (der Mann
sagt nichts, und Mattern schnauft vorbei, erleichtert,
dass sie noch rechtzeitig kommt)
den neuen Platz der Orgel auf der Empore –
und verabschiede mich dann schnell wieder
nach unten. (Sie hat beste Laune und wirft
sich gleich an den Spieltisch). Kein Ton, sie
probiert nicht. Gar nicht. Eine Orgel ist eine
Orgel.
Stille.
Weihnachten ist eine alte Mail
Dez 18, 2020
Hallo G,
noch einmal vielen Dank für alles. Auslage
beglichen, danke auch dafür. Heiligabend haben
wir im Altersheim bei meinem Vater
Knackwurst und Kartoffelsalat gegessen.
Wir machten das Beste draus. Anschließend
war ich mit meiner lieben Frau
bei Mattern zur Andacht, um neun in der
Stephanskirche. Diese Organistin! Du
weißt schon: die gute aus dem Nachbardorf.
Halstenbek oder Rellingen, keine
Ahnung. Wie immer, kam sie erst in den
letzten Minuten vor der Predigt.
Wir sitzen nun unten, und Mattern kommt.
Still erwarten wir den Heiligen Abend.
Man sieht, dass es gleich losgeht, alle sind
gespannt. Ohne auch nur einen einzigen Ton
des Übens oder Probierens beginnt das allerschönste
und schwungvollste Orgelvorspiel.
Du kennst die Frau.
Das ist die mit der A-Klassifikation.
Auftritt. Fünf kleine Minuten vor Beginn,
eine schlanke Diva mit langen Beinen.
Zerzaust. Raus aus dem Auto! Im schief
auf einer Schulter hängenden, nachlässig
übergeworfenen Wintermantel,
rast sie herein. Ihr pechschwarzes Haar
weht flatternd wie eine Fahne im Crescendo.
Sie macht große Schritte, stürmt
aufgekratzt und bester Laune gerade
noch pünktlich, mit einem Herrn im
Schlepptau (wahrscheinlich Ehemann und
Notenwender), als wäre der nur ein extra Köchelverzeichnis,
mit den wichtigsten, schwer
zu spielenden Passagen (wie unter den Arm
geklemmt), in den bereits gut mit Besuchern
gefüllten Kirchenraum … und sucht ihre Orgel:
„Wo ist die denn? Sie stand doch immer da
vorne rechts.“
Ich kann es nicht lassen (denn ich finde sie
einfach toll) und stehe auf, zwänge mich also
(zum Unmut meiner Frau) aus der Mitte unserer
Bankreihe an den anderen vorbei … und
biete mich als Kenner der Stephanskirche
an.
Fehlerfrei in gutem Tempo und mit Feeling
geht eine Musik nach der anderen durch den
Gottesdienst, und natürlich gibt es zum Ende
hin wieder einen wunderbaren musikalischen
Ausklang.
Virtuos.
Dass man weinen muss – so schön.
Was ich eigentlich sagen wollte: Bitte melde
dich mal bei (…).
Guten Rutsch in das Neue Jahr!
John
Dez 18, 2020 - Weihnachten ist eine alte Mail 108 [Seite 108 bis 108 ]
Frohe Weihnachten!
Dez 25, 2020
Weihnachten, eine Standortbestimmung.
Ich bin Maler, ich war Grafiker:
Ein langjähriger beruflicher Partner ist
in Rente gegangen. Eine Mitarbeiterin
im dazugehörigen Büro fand, ich müsse
doch ein Gruppenbild malen, zur Verabschiedung.
Ich erklärte ihr meine Bedenken.
Menschen mit denen ich zwanzig
und mehr Jahre herzlich verbunden
bin, mit einigen nur per Telefon! Wenn
ich male, möchte ich die Ähnlichkeit
der Porträtierten erreichen. Tatsächlich
helfen mir Fotos dabei nur, wenn ich die
Leute kenne.
Eine kleine Geschichte: Ich habe einmal ein
Doppelbild für ein Paar zur Hochzeit gemalt,
und das Bild gefällt mir auch. Es wurde freudig
angenommen und gelobt. Freunde des
Paares haben das vereinbarte Honorar gern
gezahlt. Ich hatte an die zwanzig Fotos, die
beiden waren anlässlich der bevorstehenden
Hochzeit am Hafen fotografiert worden, und
die Freunde, die mich mit dem Bild beauftragten,
konnten an diese Bilder gelangen,
haben sie mir heimlich gemailt. Damit schien
ich perfekte Vorlagen zu haben. Das junge
Paar sah ich erst, als das Bild, auf das ich sehr
stolz bin, bereits an ihre Freunde übergeben
war. Dann konnte ich die Verlobten das erste
Mal betrachten, und das geschah, ohne dass
man mich bemerkte.
Ich begriff: „Ach – das sind sie“, ich kannte ja
die Fotos.
Dann habe ich mich über mich selbst geärgert.
„So!“ … sieht er aus, dachte ich. Der junge
Mann hatte den schmalen Kopf eines Jugendlichen.
Seine ganzen Bewegungen deuteten
darauf hin, dass er beweglich, fast schlaksig
war. Auf eine jungenhafte Weise unbedarft.
Auf meinem Bild war das ein Mann. Ein Sean
Connery, der durch alle Gezeiten seine Braut
schippert, und das war doch nicht schlecht
für das Motiv?
Ich habe mich trotzdem geärgert. Eine Frage
des malerischen Handwerks. Der Hochzeitsfotograf
hatte die beiden am Hafen zu einer
Einheit gepaart, die er schließlich aus einiger
Entfernung mit dem Teleobjektiv fotografierte.
Das machte, dass ihre Gesichter breit wurden,
man die Tiefe des Kopfes nicht sehen
konnte. Als das junge Glück nun (unbemerkt
von meinen neugierigen Blicken) auf der
Bühne einer Aula Musikinstrumente platzierte,
Notenständer auspackte, hatte ich reichlich
Gelegenheit, sie wie nebenbei zu sehen
und auch wie ihre Köpfe im dreidimensionalen
Raum ganz anders wirkten. Anschließend
sah ich mir zuhause die Fotos noch einmal
an. Nun war es einfach zu begreifen, dass ich
übersehen habe, was in der Realität ohne
Schwierigkeiten dem Auge eines Betrachters
übermittelt wird.
Ein Film ohne Ton, ein Foto in schwarz-weiß,
eine Musikaufnahme anstelle des wirklichen
Besuchs im Konzert; das sind Vergleiche, die
beschreiben sollen, wie ein Mensch glaubt,
etwas begriffen zu haben, wenn man ihm
nur einen Teil der Wahrheit präsentiert. Jedes
Wort, das wir nehmen, um zu beschreiben hat
auch diesen Mangel. Scheinbar ein anderes
Thema? Ich wollte eine Flaggenhalterung
auf meinem Boot haben „Leicht geneigt“, hatte
ich als Hinweis in die von mir gezeichnete
Skizze notiert. „Was heißt ,leicht‘ geneigt?“,
raunzte Mambo mich böse an, „zwei Grad
oder fünfzehn? Nachher bist du sauer und
sagst, es sei dir zu schief oder warum der
Flaggenstock so gerade ist!“
Deswegen kein Gemälde.
Die Verabschiedung von H. in die Rente;
ich habe also ein Modell der Bürogemeinschaft
gebastelt und zwar aus Fimo. Das ist
ganz nett geworden und gerade an meinen
Freund und zukünftigen Rentner erfolgreich
übergeben worden. Meine Lektorin schreibt,
sie habe „mit mir angegeben“, damit auch alle
wüssten, wer das tolle Ding fabriziert hätte.
Ich habe ihr geantwortet, die kleine Installation
trage doch am Rande meinen Namen.
Das Modell sei signiert, schrieb ich, an der
Seite befände sich ein kreativer Hinweis auf
den Schaffenden, mit Datum. Das ist für mich
ein Teil jedes Kunstwerks und gehört gestaltet
dazu.
Otto Ruths (mein Professor) schrieb seinen
Namen auf die Rückseite. Der malte auf dicke
Holzplatten. Damit sie nicht krumm würden,
nahm er am Abend nach der täglichen Arbeit
am Bild die Farbreste von der frischen Palette
und malte auf die Rückseite etwa soviel
Farbe, wie er über den Tag ins Bild gebracht
hatte hinten drauf. So wie man auch eine Tür
von beiden Seiten streichen muss oder die
Bodenbretter vom Boot beidseitig lackieren.
Wenn sein Ölbild fertig war, nahm Otto ein
gleichmäßiges, mittleres Grau und strich die
Rückseite einheitlich an, um dann mit breitem
Pinsel groß über die ganze Fläche sein
typisches „Ruths“ zu schreiben.
Was gehört dazu, ein Künstler zu sein? Manche
malen nicht, sie gehen einer anderen Leidenschaft
nach. Warum siegt die eine Kunst
in einem über die andere, und warum finden
manche, sie sollten kreativ sein, beginnen
trotzdem nicht mit dem, was ihnen eigentlich
liegt?
Weihnachten ist die Zeit, in der sogar im Supermarkt
Jazz läuft. Viele Menschen singen
Weihnachtslieder, selbst welche, die meinen
eigentlich unmusikalisch zu sein. Ein Bild
das meinen Namen trägt, ein Lied, dass ich
selbst singen kann, das ist für den Erwachsenen
die Möglichkeit, sich wieder wie im
Kindergarten zu fühlen. Etwas Eigenes gelingt,
ein Kunststück, das ich für gewöhnlich
kaufen muss. Als Rest vom Fest bleibt uns im
Jahr der Pandemie das gemeinsame Singen,
jedermanns Kunst. Das Tageblatt empfahl
seinen Lesern am Heiligabend „Stille Nacht“
bei geöffneter Balkontür zu singen, um das
durch die Pandemie beschränkte Fest ein wenig
sozial und gesellschaftlich verbindend zu
gestalten, wenn der Kirchgang in der Regel
ausfallen würde.
Ich hatte kurz vorher ein längeres Gespräch
mit Rinja, das ist meine Pastorin hier, nur wenige
Meter entfernt in der Stephanskirche,
und kann es nur begrüßen, dass sie sämtlich
die Gottesdienste abgesagt hat. Nicht allen
gefällt es. Ich finde, dass man Gott überall
nah sein kann. Was Scheinheiligkeit ist, führt
uns die Spitze im Staat vor, in jedem Staat
und jedem Dorf auf dieser Welt. Würdenträger
sind „Berufsgute“, und das geht nur zu oft in
die Richtung zur Schau gestellter Frömmigkeit.
Auch in der Führung einer Kirche und in
allen Kirchen der Welt kommt das vor. Nicht
zu ändern, aber den Preis zahlen diejenigen
selbst, wenn sie ihre Zeit mit dem Beten verschwenden
und es ihnen nur eine Pflicht ist.
Die einfachen Kirchgänger genauso blöd:
Die Schenefelder haben zwei Kirchen, und
etliche haben sich in allen Gottesdiensten in
beiden Kirchen angemeldet, als noch geplant
war, den heiligen Abend mit mehreren Veranstaltungen
entzerrt zu feiern. Unglaublich!
Unser Wohnzimmer, nach der Bescherung
öffneten wir die Tür zur Terrasse. Wir sangen
pünktlich zur Zeit das vorgeschlagene Lied.
Ich sang nicht, ich habe meine Trompete in
die Hand genommen und die paar Takte auch
leidlich hinbekommen. Ich habe in jedem
Winter unglaublich trockene, spröde Lippen,
und das behindert. Sicher ein guter Grund für
mich, stattdessen Bilder zu malen. Ich möchte,
dass ich gut bin, ganz egal, ob jemand
anderes sich für mich interessiert oder nicht.
Ich möchte gut malen. „Gut“ Trompete werde
ich nie spielen können, aus vielen Gründen.
Mir genügt es, ein wenig zu probieren, weil
ich meine eigentliche Kunst „gut“ beherrsche
und immer kreativ bleibe. Das ist ganz unabhängig
davon, ob ich ausstelle, verkaufe oder
die Bilder sonstwie gelobt werden.
Manche schreiben ihren Namen in das Bild,
einige signieren gar nicht. Es ist ein Muss zu
signieren, wenn man verkaufen will? Meine
Professoren lehrten, darauf zu achten, die Signatur
als einen Teil der Ästhetik zu verstehen.
Ein Student schrieb seinen Namen recht groß
(und von sich selbst begeistert) brachial hingezimmert
in jedes Bild unten in eine Ecke.
Das führte dazu, dass man die gute Zeichnung
gar nicht genüsslich anschauen konnte,
sondern das Auge unweigerlich sofort diesen
Dez 25, 2020 - Frohe Weihnachten! 109 [Seite 109 bis 110 ]
heftig geschluderten „Max Mustermann“ anvisierte.
Ich habe es mir gemerkt, den Freund
damit aufgezogen und später auch mal eine
Kürbismalerin im Einkaufszentrum belehrt.
Die stellte dort aus und arbeitete sogar vor
Ort. Sie hatte eine Staffelei neben ihren Bildern
und rundherum einige Kürbisse drapiert
und malte nun ein dekoratives Bild nach dem
anderen. Verglichen mit meinen Fähigkeiten,
war sie nur eine dieser Frauen, die in
der Volkshochschule angefangen haben und
dann toll finden Sonnenuntergänge, Bauernhöfe,
italienische Pinien oder Brandungsbilder,
Hunde bzw. Enkelkinder zu porträtieren.
Dass ich nur ein naseweiser Oberlehrer
war, der für einen maritimen Buchverlag illustrierte
und längst nicht selbstständiger
Künstler, denn diese Begegnung ist viele
Jahre her, begriff ich erst anschließend. Ein
Schlüsselerlebnis. Die Künstlerin, denn das
war ja tatsächlich eine, während ich zu dieser
Zeit „nur“ Illustrator gewesen bin, stieg
beherzt gleich einen Schritt hoch, auf eine
Holzpalette, damit sie mit mir auf Augenhöhe
gleichgroß selbstbewusst reden konnte.
Hübsch und klug; sie war etwa so alt wie ich,
und auf meine Fragen verriet sie mir einiges
über ihr Künstlerleben. Man würde ja nicht
nur malen, sondern müsse eben auch viel dafür
tun, um Ausstellungen zu bekommen und
entsprechendes Publikum, das kauft.
Danach habe ich selbst angefangen zu malen
...
Ich war doof genug gewesen – eine Malerin
zu belehren, die Signatur sei ein Teil des
Bildes, und selbst stocherte ich am Rechner
unterbezahlt Info-Grafik zusammen? Und
durfte mir vom Autoren in rot am Rand angemerkt
durchlesen: „Der Mond, wenn er es
denn sein soll, ist als solcher nicht zu erkennen.“
Unzählige Erinnerungen. Ich wurde
belehrt: „Vor dem Hotel (ein großer Name)
fahren keine Busse!“ Ein Küchen- und Möbelgeschäft
im Städtchen über meine Zeichnung
anschließend einer Korrektur: „Das sind wir
doch!“ (Nachdem ich das zuvor der Realität
entsprechende Gebäudebild ums dreifache
aufgeblasen hatte, damit es wie gewünscht
als Werbung neben den Großen der Branche
Bestand habe). Ein im Hintergrund integriertes
Segelschiff auf einer Zeichnung, das nur
illustratives Beiwerk war und dem Inhalt der
Info-Grafik ein wenig Leben geben sollte,
wurde kommentarlos nebenbei vom Verlag
zur modernen Yacht umgezeichnet. Das sah
ich im Belegexemplar. Ich begriff nicht, was
alle lernen müssen, die Aufträge erledigen.
Man ist in etwa Handwerker, kein Künstler
und liefert bitte wie gewünscht. Mein Freund
Uwe Jarchow, der zahlreiche technische Grafiken
für verschiedene Kunden machte, und bei
dem ich viel über Illustration gelernt habe,
schrieb diesen Satz in jede seiner Rechnungen:
„Sie bestellten und erhielten.“ Mit dem
erwähnten Abteilungsleiter meines großen
Kunden traf ich auf einer Weihnachtsfeier
(oder Bootsausstellung) zufällig den Kopf des
Familienunternehmens: „Das ist Herr Bassiner“,
stellte der verantwortliche Auftraggeber
(und heutige Freund H.) mich vor, lobte: „Der
gute Zeichner, er hat (…) illustriert“, aber der
andere hörte nicht zu. Er sah mich kaum an,
meinte: „Ach ja?“, und knüpfte sofort an anderes
an. „Wir wollten noch über … (irgendein
Projekt) sprechen.“ Er machte mit dem bisherigen
Thema weiter, ohne mich zu beachten.
Da stimmte was nicht. So ging ich auf die
Suche, ein besseres Leben zu finden. Es gibt
Menschen, denen hört man zu. Vielleicht ist
das nicht wichtig? Was kann alternativ befriedigen:
Ich probierte mich in freier Malerei.
Der Kommilitone „Mustermann“ genauso.
Während er einen überschaubaren, dennoch
aus meiner Sicht zu beneidenden
Erfolg hat,
bin ich schnell abgedriftet:
in die „Schmuddelecke“,
so werde ich
bewertet.
Ich habe mich auf vielerlei
Weise unmöglich
gemacht und bin dankbar
für dieses Schicksal.
Mein Vater, der als angestellter
Maschinenschlosser
unzufrieden
war und durch Selbstständigkeit
mit dem
Fischladen und dem
Bau eines großen Geschäftshauses
doch
nicht frei wurde, schaffte
es nie, seinen Ängsten
und Motivationen
auf die Spur zu kommen.
Er begann die Suche, aber verzettelte sich
in den allgemeinen Ratschlägen, ohne eine
individuelle Antwort zu finden. Er begann
gesund, endete depressiv. Ich dagegen wurde
gleich zu Beginn meines Lebens krank in
meiner Unzufriedenheit, verstand nichts, fing
an zu suchen und begreife mich auf einer
Art Treppe, der gute Weg ins Bessere mit seinen
Rückschlägen. Es geht nur aufwärts. Ich
zahle den Preis, die Vergangenheit mit ihren
verpassten Chancen exakt wahrzunehmen,
trotzdem wurde mein Leben befriedigender.
Die Lösung besteht für mich nicht darin, den
Ort des „alles ist gut“ zu erreichen, sondern
bewusst den Tag zu gestalten. Meine Freiheit
funktioniert genauso im Knast oder Krankenhaus,
wenn man um alles bitten muss. Macht
über andere zu haben ist kaum zufriedenstellend
oder gar die Freiheit an sich, wie etwa
ein großes Anwesen zu besitzen oder viele
Bewunderer, finde ich.
Der Heilige Gral oder die Blaue Blume befinden
sich nicht in Edinburgh.
Der Ort des Glücks ist dort, wo wir hingehen,
wenn wir Kummer haben und es besser wird.
Den Weg dorthin zu kennen, heißt weniger
von einem Platz zum anderen zu wechseln,
sondern innezuhalten und sich selbst verwandeln
können. Die Freiheit von der eigenen
personalisierten Angst zu erlangen bedeutet,
die Momente wahrzunehmen, in denen
wir die Wahl für eine Entscheidung haben,
und sie rückblickend von den Augenblicken
zu unterscheiden, in denen wir unmöglich
anders handeln konnten. Das bemerkt man
anschließend: Sonst würden wir ja den eigenen,
besseren Weg wählen. Spontanität und
Zwang in ihrer Unterschiedlichkeit zu begreifen,
ist individuelle Freiheit. Sich die verkackten
Situationen nicht übel nehmen, Professor
Otto Ruths (eingangs erwähnt) dazu:
„Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat
nur eine relativ dürre Zukunft.“
Wenn ich sowas erzähle,
betonen die
anderen immer, wie
toll meine Frau alles
mitgehe, und ich
sage: „Ja.“ Ich denke
aber, sich eine Umgebung
zu schaffen,
wo es gut ist, bedeutet
grundsätzlich auf
dem richtigen Weg
zu sein. (Wenn man
sie gut pflegt, hält
die Ehefrau ein Leben
lang). Insofern
gehe ich auch dieses
Mal von mir aus, das
ist falsch?
Greta Thunberg,
sie ist bestimmt
egoistisch, und viel dreht sich um sie, und
vermutlich ist es nicht leicht, mit ihr zusammenzuleben,
man sagt sie habe eine „Soundso-Krankheit“.
Aber sie konnte schaffen, dass
ihre Umgebung sich an sie angepasst hat.
Statt dass ihre Eltern sie in eine Zukunft drücken
konnten und sorgenvoll schauen, warum
das Kind nicht isst … geht der Vater mit
ihr über den Atlantik segeln, stürzt sich in die
reale Gefahr zu ertrinken. Das war kein Spaziergang.
Aber wir können annehmen, dass
er seine Tochter liebt. Es ist kein Machtverhältnis,
was sie bindet, es ist ihre ganz eigene
Gesundheit als Familie und Einzelwesen.
Dafür gibt es kein Modell: Sollen wir nun alle
„Bio essen und segeln gehen“ – das kann es
nicht sein.
Jedem seine Lösung. Am Schlimmsten sind
die dran, die sich nicht merken und nicht suchen,
wer sie sind.
Kunst? Ich stelle nicht mehr aus. Ich illustriere
nicht mehr. Ich bin jeden Tag kreativ.
An der linken unteren Ecke von dem Bild mit
dem Mädchen auf dem Floß male ich seit einigen
Wochen das Wasser, allmählich sieht es
dort ganz gut aus.
Frohe Weihnachten!
:)
Dez 25, 2020 - Frohe Weihnachten! 110 [Seite 109 bis 110 ]
an. Das ist nur ein Beispiel, wie Entspannung
ganz praktisch gelehrtes Nichtstun sein kann.
Die Bewegung, die ein Mensch dabei macht,
besteht darin etwas nicht zu tun, eine Last zu
Boden gehen lassen.
Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich?
Dez 27, 2020
Zuhause bleiben ist einfach. Malen, Schreiben,
Lesen: Es gibt immer etwas zu tun. Glücklich
bin ich, in meiner Schmuddelecke, „Nackedei-
Künstler“ ist vergleichsweise freundlich kommentiert.
„Ist der doof?“, mag noch dahinter
stehen, weiß ich ja nicht. „Die Bullen ermitteln
gegen ihn, sieh dir doch seine Bilder
an, und das krude Zeug, dass er schreibt; er
ist bescheuert!“ Eine Blase wabert, Fantasie
weitet die Cloud …
Viele sind ihrem Unglück wie ausgeliefert. An
einen bestimmten Ort zu gehen, um etwas
loszuwerden, ist nicht das Zimmer zu wechseln
oder den Partner zu suchen. Kopfschmerzen
sind ein Beispiel, wie etwas, das man mit
sich herumträgt, bleibt. Manche gehen mit
ihren Schwierigkeiten hierhin, dorthin, wie es
geraten wird, und es geht ihnen wie denen,
die mit ihrer Migräne erleben, dass die Küche
nicht besser ist als das Wohnzimmer.
Menschen lösen Probleme. Anschließend
befinden sie sich an einem neuen Ort schon
deswegen, weil Zeit vergangen ist. Ein Platz
in der Zukunft wird immer ein neuer Ort sein.
Obwohl ich wieder in „die Bahnhofstraße“
laufe, kann ich nie zurück gehen und erleben,
wie es dort früher war. Von Napoleon kommt
der Rat: „Wenn du im Zweifel bist, tue nichts.“
Und Moshe Feldenkrais wusste: „Auch das
Nichtstun ist eine Beschäftigung.“ Wenn man
still auf dem Rücken liegt, fand er heraus, sollten
alle unnötigen Spannungen in der Muskulatur
zurückgehen und nach und nach das
Gewicht die Massen des Körpers aufliegen
lassen. Der Grad der Vollständigkeit mit der
es geschieht zeigt an, wieweit ein Mensch locker
lassen kann, etwas loszulassen, was unnötigerweise
gegen die Schwerkraft gehoben
ist. Der Bogen, den die Wirbelsäule nach vorn
in Richtung auf den Unterleib, den Bauch im
unteren Bereich macht, wenn jemand steht,
nützt dem Menschen im Liegen nicht, und
deswegen können alle Wirbel vom Hintern
bis zu den Schultern flach auf der Matte liegen.
Eine Hand, die man prüfend seitlich unter
diese Wirbelsäulen-Brücke schiebt, frisch
nachdem man sich hingelegt hat, passt nach
einiger Zeit der Entspannung nicht mehr unter
den Körper – wenn wir fähig dazu sind,
diese Stelle abzusenken. Dazu bietet das
bekannte Training verschiedene Lektionen
Während das geschieht, vergeht ein wenig
Zeit. In dieser Zeit dreht sich die Erde ein
Stück um ihre Achse, sie rast auch
eine gewisse Strecke auf der Bahn
um die Sonne. So gesehen, befinden
wir uns nach einer Entspannungsübung
auf der Matte in einem Raum
trotzdem zügig in Bewegung. Wäre
unser Haus, in dem wir das tun, ein
Wagen im Gefährt „Erde“ (und das ist
der Fall, das bemerken wir normalerweise
nur nicht), wird klar, was damit
gemeint ist, nach einer gewissen Zeit
woanders zu sein, an einem anderen
Ort, wenn wir nur herumliegen.
Es hat sich ja auch draußen etwas
geändert. Wir können es nicht beurteilen,
aber Dinge die uns betreffen,
können nach einiger Zeit, ohne dass
wir aktiv waren, anders sein. Eine Entscheidung
wurde getroffen, und wir
befinden uns anschließend in einer
neuen Situation. Deswegen sind wir,
nachdem Zeit vergangen ist, anders.
Wir änderten uns; nicht nur, dass
wir ein wenig älter geworden sind,
Muskulatur sich bewegte und neue
Gefühle aufgekommen sind, auch
das Drumherum hat sich gewandelt.
Ein anderes Wetter beginnt gerade,
oder ein Kündigungsschreiben wurde
uns zugestellt. Das zu begreifen,
kann helfen die Zeit einer Pause so
zu nutzen, dass wir individuell eine
positive Bewegung nach vorn, quasi
auf unser ganz persönliches Ziel
zu, machen. Wir begreifen, wie es
gut tut, etwas eigenes zu tun, einer
Kunstfertigkeit nachzugehen oder
eine Ruhezeit zu machen, in der wir
zu uns finden, die Welt ausblenden.
Mit ein wenig Klugheit können wir
(eventuell verschüttete) Intelligenz
dafür verwenden, dass wir uns nicht
ständig Zeitdruck einbilden, weil wir
anderen folgen, der äußeren Umgebung,
die uns herumzappeln lässt.
Wir meinen, durch bloßes Eilen ganz
schnell Gewinne einfahren zu müssen?
Das Wort „Entschleunigung“
wurde erfunden, man solle sich „zusammenreißen“,
heißt es, aber viele
müssen erst lernen, das auf eine eigene
Weise zu tun.
Zu malen, wie es mir gefällt, ist jedenfalls
keine schlechte Idee.
Feldenkrais-Training ist ein empfehlenswertes
Programm, viele Künstler
nutzen es. Eine Anstellung zu wechseln,
eine neue Arbeit zu finden, die
besser zu uns passt? Ich habe damit
begonnen, zu malen und vieles anders
zu machen, weil so ein natürlicher
Prozess unterstützt wird, Dinge
zu finden die Spaß bringen, unsere
Individualität ausmachen. Wie ich
heute male, das hätte ich mir früher
niemals ausdenken können. Eine abfällige
Bemerkung über etwas, das
man nicht begreifen kann, wäre mir
über die Lippen gekommen, wenn
ich mir begegnet wäre, damals:
Dez 27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich? 111 [Seite 111 bis 112 ]
„Was macht der denn!?“
Wenn es uns gelingt, die oben skizzierte Bewegung,
nicht nur im Bereich der Wirbelsäule
geschehen zu lassen, kann ganz praktisch
ein Problem gelöst werden durch Nichtstun.
Rumliegen macht glücklich, weil Schmerzen
nachlassen, wenn wir uns entspannen können.
Sich anschließend angenehm bewegen
können, wird die Stimmung heben und neue
Aktivitäten gelingen besser nach einer Pause.
Unterwegs sein durch abwarten? Etwa, wie
wenn wir wieder Kind wären, im Auto eingeschlafen
sind, der Papa fährt, es ruckt, wir
wachen auf – und wir werden stutzig: „Huch!
Wir sind angekommen?“
Wenn es mir gelingt, Probleme durch bewusstes
Verhalten in den Griff zu bekommen,
ist es vergleichbar damit, ein Spiel zu gewinnen.
Man versteht, dass man nicht gegen sich
selbst spielen kann, aber eine Einheit schaffen,
wenn alle Motivationen zu zaudern oder
sich gesundheitlich zu beschädigen, ausgeräumt
werden.
Ein Teil eines jeden Systems wird den Weg
des gemeinsamen Projekts bremsen, es fragt
sich nur, wie stark. Ein Mensch ist genauso
ein System wie etwa eine Firma, ein Team.
Wer nicht zu uns passt, fliegt. Die Kirche hat
ein Missbrauchsproblem. Die SPD hat Sarrazin.
Ein Autokonzern hat einen Dieselskandal,
die Polizei ein Problem damit, dass sie nicht
nur gut ist, wie wir’s gern hätten. Wenn mir
das Bein weh tut, gehe ich vielleicht zum Orthopäden,
aber ich schneide mir das dumme
Ding nicht weg. Die Einheit des Menschen
scheint sich von der etwa des Staates zu
unterscheiden, der Verbindung von Spielern
zum gemeinsamen Sportverein. Den Einzelnen
wie eine systemische Gruppe aus Körperteilen
mit ihren Muskeln, dem leitenden
Gehirn und seinen Ideen, die Organe mit den
typischen Erkrankungen betrachtet; das sind
wir nicht gewohnt. Das Team einer Mannschaft
oder ein Projekt: „Wir sind die gute, die
grüne Partei“ – (und du gehörst nicht zu uns),
scheinen nicht vergleichbar mit den Abläufen
in unserem Körper und der richtungsweisenden
Zentrale im Oberstübchen? Viele Zimmer
und einiges los im Menschen.
# Integration statt Amputation
Überzeugungen können wir doch ändern,
Gewohnheiten – und das wird den Körper
genauso betreffen, wie unser Denken. Es ist
schade, dass es nur selten gelehrt wird: Der
Mensch kann üben, ein nicht wie gewünscht
funktionierendes Bein danach zu fragen, warum
es nicht mitmacht, dorthin zu gehen, wo
alle anderen Teile, wie Rumpf, Schultern, Kopf
und Arme es tun. Warum hat mein Bein keine
Lust mitzuspielen? Wir lernen normalerweise
nicht zu denken, das Bein könne Angst haben,
aber das ist der wahrscheinlichste Grund …
Viele Menschen bitten nicht gern um Unterstützung,
wählen lieber den eigenen Weg.
„Ich weiß schon“, fallen sie anderen, nachdem
sie diese um was gefragt haben, schnell ins
Wort. Dabei möchten sie nur nicht zugeben,
wie es um sie steht. Allein klug zu sein, bedingt
Intelligenz und die Bereitschaft zu
lernen. Die typische Alternative ist nicht Individualismus,
sondern persönliche Dummheit.
Wir können innerhalb der Beziehung
Grenzen ziehen oder eine Gruppe verlassen.
Allein gehen, sich zu trennen, funktioniert
nur, wenn bestehende Abhängigkeiten aufgelöst
werden können. Beispiel Großbritannien:
Der Brexit ist ein Ehekrach, eine psychische
Ausnahmesituation, eine kollektive Blödheit.
In mehr als zwanzig Jahren wurden Abmachungen
ausgelotet, Gemeinsamkeiten und
Trennendes geschmeidig zur Europäischen
Union geformt. Um nun zu einem neuen Vertrag
zu finden, der dasselbe ist wie vorher. Wir
müssen nur kurz warten, dann werden alle,
die jetzt Nachteile vom Brexit haben, massiv
dafür kämpfen zu bekommen, was sie bisher
an Rechten und wirtschaftlichen Möglichkeiten
hatten.
Einen Weg selbst auf Risiko und möglichen
Gewinn hin einzuschätzen, ist wie Bergsteigen:
Wir sagen: „Das könnte ich nie“, der Kletterer
erkennt noch, welches Gelände speziell
für ihn geeigneter ist. Wir bleiben am Fuß
des Berges stehen, besteigen schließlich eine
Gondel, um auf den Gipfel zu gelangen. Reinhold
Messner kann auf alle Berge klettern.
Messner wird wissen, weshalb er es lernte,
wie ich weiß, warum ich „Nackedei“ male.
Menschen, die zum einen nicht gern Hilfe
annehmen, obschon sie andererseits nicht
spüren, was ihnen nicht gut tut, schaffen sich
die Probleme selbst. Obwohl sie nicht um
Hilfe bitten, ist ihnen jeder Tipp recht, den
sie sich irgendwo herbei suchen für ihr Problem,
damit sie anschließend einen blöden
Weg selbst gehen. Blöd, weil es ein Weg ist,
der nicht zu ihnen passt. Sie sagen protzig: „I
did it my way.“ Es heißt, das Sinatra das Lied
nicht mochte?
Ein Erfinder, der einiges vorausgesehen hat,
irrte sich: „In der Zukunft arbeiten die Menschen
nur noch zwanzig Stunden, weil Maschinen
ihnen die Arbeit abnehmen.“ Die
moderne Frau sieht sich einer Vielzahl von
Möglichkeiten gegenüber. Mit den nicht nachlassenden
Versuchen, die Gleichberechtigung
vollumfänglich in allen Bereichen unseres
Lebens zu erreichen, wurde bislang noch
versäumt, den Männern eine Gebärmutter in
den Leib hineinzuoperieren. Ich frage mich,
warum das kein Thema ist. Man kann heute
alles, da müsste doch gleich ein passendes
Gen herangezüchtet werden, damit die neuen
Wesen, die dieser Welt, die wir schaffen
möchten, von Geburt an perfekt angepasst
sind wie die Eier legende Wollmilchsau: in
diesem Fall der Unisexsaumensch. Männer
seien Schweine, heißt es, und Frauen wollen
auch welche sein? So kommt es mir vor.
Das Problem ist gar nicht, die Existenz zu
sichern, der Verpflichtung standhalten zu
können, sondern der Anspruch, nichts zu
verpassen. Darum male ich dieses Bild vom
Mädchen auf dem Meer, denke an die mutige
Greta Thunberg, die ihrer Krankheit durch
Intelligenz getrotzt hat, uns allen vorführt,
was Wahrheit ist, (und an A. denke ich auch
die ganze Zeit, wo immer sie ist), während
ich mich an meine Frau anschmiege, zufrieden
mit dem Erreichten. Ich gehe myway in
den Tag und mag das Lied nur wegen denen
nicht, die’s nur hinplappern.
:)
Dez 27, 2020 - Der „Nackedei-Künstler“, das bin ich? 112 [Seite 111 bis 112 ]
Fassade für Alex
Dez 30, 2020
Es ist ein Baustil, Häuser mit schmucken Vorderseiten
in die Straßen zu bauen und hintendran
wird pragmatisch darauf verzichtet,
mit Extras zu protzen, und so ist es ja auch
im übertragenen Sinn gemeint, wenn jemand
wie „hinter einer Fassade“ lebt.
Ich bin mit einem Freund verkracht, mit dem
ich als Jugendlicher viel Zeit verbrachte. In
einem längeren Streit wurde viel geschrieben,
und einmal rief er an, von den beiden
langen Mails die er mir geschickt habe, möge
ich die erste bitte löschen. Er habe versehentlich
zu früh auf „Senden“ geklickt. Unten
drunter stünde das, was er sich notiert
habe als Skizze, was an Argumenten hinein
müsste, und das sei nicht für mich bestimmt
gewesen. Deswegen solle ich es nicht lesen
und stattdessen die zweite Mail lesen, die sei
identisch bis auf seine Gedächtnisstützen.
Ein befremdlicher Anruf, wenn diese Mail
voll mit trickreichen Formulierungen das Ziel
hat, mich zu etwas zu bewegen, was ich nicht
möchte! Die erste Mail entsprach der zweiten
und hatte keine skizzierten Ideen unterhalb
vom regulären Text. Warum auch immer.
# Gepostet und gelöscht
Ein prominenter Sportler twittert zur Corona-
Pandemie und löscht den Tweet kurz darauf.
Einige haben Bildschirmfotos gemacht und
tragen die Botschaft weiter. „Seht mal, das
hat er gesagt – und dann gelöscht.“ Wenn
man selbst nichts zu sagen hat, kann man
damit noch ein wenig angeben. Unser Bundespräsident
ist ein gutes Beispiel dafür, wie
alltags eine Rolle gelebt werden kann (und
in seinem Fall muss), wenn man nicht gerade
von Beruf Schauspieler am Theater ist oder
im Film. Frank-Walter Steinmeier muss sich
als Bundespräsident wie einer verhalten. Der
Schauspieler wird je nach Thema vom Guten
zum Bösen wechseln. Von bekannten Sportlern
erwarten wir vorbildliches Verhalten in
der Öffentlichkeit. Sie können, wie der Präsident,
nicht wechseln. Sie werden von uns
zum Bösen gemacht, wenn sie etwas Falsches
sagen.
Als wir klein waren, älter als zehn Jahre aber
noch nicht siebzehn, würde ich sagen, fuhr
ich mit diesem Freund und seinen Eltern zum
Skifahren. Lang waren wir unterwegs, im
Mercedes vom Papa. Meine Eltern arbeiteten
um diese Jahreszeit und konnten sich
keinen Urlaub nehmen, da hatte es sich
angeboten. Auf der Hin- oder Rückfahrt
machte die Familie einen Zwischenstopp
in Bayern, wir besuchten eine Jugendfreundin
des Alten. Die Strecke bis Österreich
ist weit. Es bot sich an, auf eine
Einladung hin, dort zu übernachten und
die neuen Lebensverhältnisse kennenzulernen.
Die „kleine Karin“ (hier werde
ich als Kunstgriff beginnen, alle Namen
zu ändern) kam ursprünglich aus Norddeutschland
und hatte frischverheiratet
ein Einfamilienhaus in einem Neubaugebiet
bezogen. Ein kleines Kind machte das
junge Glück perfekt.
Wir verließen die Autobahn und hatten es
nicht weit.
Der Mann für’s Leben, sie hatte ihn gefunden,
Elbe, Nordsee und die alte Kugelbake für ihn
stehen lassen, um sich hier in Bayern neu
(und für immer) zu verwurzeln. Das kleine
Kind, das bereits laufen konnte und allerlei
Blödheiten machte, war dabei, während wir
unseren Besuch zunächst mit einem Spaziergang
starteten. Die Beine vertreten nach der
Fahrt, und wir sollten einander kennenlernen
und die Umgebung – verstehen, warum
das gerade hier ihre gewählte Zukunft und
Perspektive sei. Das war Ende der siebziger
oder Anfang der achtziger Jahre, so genau erinnere
ich mich nicht. Ein Neubau im noch
nicht zu Ende gebauten Terrain mit weiteren
Einheiten. Das Paar hatte sich ein Grundstück
gekauft, ein üppiges Einfamilienhaus errichtet.
Rundherum waren kleine, geometrisch
hingeplante Straßen und einige bereits fertige,
ähnliche Häuser. Wir spazierten herum
und sahen ausgehobene Rechtecke im Lehm
und matschige Lücken mit Unkraut, als Bauland
erkennbar und unvollständige
Häuschen, wo anderntags gearbeitet
würde, eine Mischmaschine hier, ein
Kran dort.
In der Entfernung rauschte die Autobahn.
Ein nahezu vollkommen menschenleeres,
ödes Totdorf mit alten,
schmutzigen Bauernhöfen, windschiefen
Fachwerkhäusern (ohne
Bewohner scheinbar) fand sich in
geringer Entfernung. Graue Wände,
riesige Spitzgiebel, verstaubte Gardinen
hinter den Fenstern und kaum
ein Bürgersteig: so dicht rauschte
der üppige Durchgangsverkehr einer
Bundesstraße durch das finstere
Dorf. Ein abgetakelter Maibaum, viele
Meter hoch, eine dünne Stange in einem
grauen Himmel in der Mitte auf
einem Sandplatz, das erinnere ich.
Weit und breit kein Mensch.
Die Karin und ihr Frischverliebter hatten einige
Straßen weiter im Neubauviertel, das
genauso menschenleer daherkam, zusätzlich
ihres Wohnhauses wo wir den Mercedes geparkt
hatten, in einem anderen Einfamilienhaus
den Kellerraum eingerichtet.
Es ist zu lang her, als dass ich wüsste, wie die
Besitzverhältnisse gewesen sind. Der Mann
hatte direkt auf der anderen Seite der Autobahn
einen sicheren Job in einer bekannten
Industrie. Das war der Grund, warum sie hingezogen
sind.
Dieser Keller, einige hundert Meter entfernt
vom Wohnhaus, er war tatsächlich komplett
mit Waren in Regalen als Laden (!) ausgestaltet:
Handarbeitsbedarf. Wolle, Stoffe und
allerlei Häkelkram – mit blauem Teppich
ausgelegt, und an der Seite bemerkten wir
einen kleinen Verkaufstresen. Es stand eine
zünftigen Kasse darauf, wie sie in ein ordentliches
Geschäft mit reichlich Kundschaft gehört.
Das alles fand man vor, nachdem man
hintenrum ums Haus (das sich oben noch im
Bau befand?) gegangen war.
Uwe, ihr Mann, schloss uns eine schmale Tür
dafür auf. Dann gingen wir die für nur eine
Person schmalen Betonstufen runter, um unten
eine weitere Tür zu öffnen, und dort war
dann der Laden. Ein Kellerraum, so groß wie
eine kleine Wohnung, und hier sollte und
wollte die kleine Karin sich selbst verwirklichen
– und Geschäfte mit der Wolle machen.
Wenn die anderen gebaut hatten. Wenn es
später hier Menschen geben würde, die dann
zu ihr in den Keller kämen, und alle wären
sicher freundschaftlich glücklich mit allen
verbunden im gleichen Schicksal in der Nähe
ihrer Autobahn und dem Arbeitsplatz bei der
„Firma“ da drüben?
Wir spazierten eine Stunde lang durch einen
kühlen Abend, ohne dass ein Windhauch
wehte, mit wie drübergespannt flächigem
Himmel, eine hellgraue Platte über uns. Ich
weiß noch: Keine Kuppel, kein Raum nach
da oben, eher bedrückend als erhebend. Ich
kann die ganze Stimmung abrufen, als wäre
es jetzt und hier. Das Wetter im bayrischen
Flachland? Ein trister Deckel anstelle frischer,
weiß-blauer Nordseeluft wie wir’s bei uns
hier oben gewohnt sind. Wir plauderten, und
Dez 30, 2020 - Fassade für Alex 113 [Seite 113 bis 114 ]
es stellte sich raus, diese beste, kleine Freundin
von Thorstens Papa (Name geändert)
hatte ursprünglich mit Blick auf das Meer gewohnt.
Immerhin, zum Ende des Rundgangs,
hob der gnädige Wettergott das Laken kurz
an, lupfte die Wolkendecke für eine schmale
Lücke, gab uns eine gelbe Kante für einen
schlappen Sonnenuntergang. Licht der Hoffnung!
Ich empfand bereits einen leichten
Grusel, war es nicht gewohnt anderswo zu
schlafen bei Leuten, die ich nicht kannte. Wir
drehten die große Runde durch die leeren
Straßen, aber es blieb dabei: Das tote Dorf,
die unfertige, geplante Siedlung, der seltsame
Laden für nicht vorhandene Kunden an
einem Ort den niemand finden würde – im
Hintergrund rauschten die Fahrzeuge vorbei.
Anschließend Heimkehr ins traute Häuschen,
essen: Es gab Raclette, das war damals ungewöhnlich
und ein neuer Einfall, Gäste zu
bewirten.
Die Kartoffeln präsentierten sie im lustig
switzerdütsch bestickten „Warmhaltesäckli“
aus Leinen.
Das Kind war ein hyperaktives Monster. Vor
vierzig Jahren waren solche noch ohne Bezeichnung
wie etwa: „Systemsprenger“ (der
Film). ADHS war uns kein Begriff. Zappelphilipp
nannten die Erwachsenen Störer. Sie
kamen nur ganz vereinzelt vor. Ein Mitschüler
etwa, in meiner Realschule, hatte „seine
wilden fünf Minuten“, aber das war eine Ausnahme.
Das anstrengende Kind der kleinen
Karin und dem Uwe; wir sollten es bespielen,
während die Kartoffeln kochten und das
Essen vorbereitet wurde. Das gritzige Wesen
explodierte ununterbrochen, ein Knallfrosch,
ein Teppich kleiner Chinaböller, Rattadazeng!
– ein Junge wie ein Feuerwerkskörper.
Er begann Attacken gegen alles. Schmiss mit
Bauklötzen, mit Legosteinen. Ein Alien, es zertrampelte,
was wir zum Spiel arrangierten, es
schrie, es brüllte.
Der Vater war drahtig, aber nicht sehr groß. Er
hatte einen kurzen, dornigen Bart, rothaarig.
Kleine, kalte Augen: Ein böses Wesen wurde
aus ihm, wenn er schließlich hart durchgreifen
musste, das Balg zu züchtigen. So etwas
hatte ich noch nicht erlebt. Das störte die
ganze, arrangierte heile Welt. Es war erst
besser, als der Störenfried mit Gewalt ins
Bett verfrachtet wurde, wir zum essen kamen.
Karin erinnere ich als attraktive, scherzende
Person. Sie lachte und schien erstaunlich
glücklich. Weil wir zu Besuch waren?
Ich fand alles furchtbar.
Im Flur hingen zwei oder drei Aquarelle, auf
denen die Duhnen von Cuxhaven, das Watt
oder die fern am Horizont erkennbare Insel
Neuwerk mit ihrem mächtigen Leuchtturm
abgebildet waren. Das habe ich mir angeschaut;
mein vertrautes, schönes, windiges
Segelrevier. Hier nur dieses öde Flachland an
der Straße. Kein See zum Angeln oder Bootfahren,
segeln, nicht einmal eine mäandernde
Aue fand sich in der Nähe?
Uns wurde doch all das Tolle
gezeigt, weswegen sie gerade
hier wohnten. Draußen öde,
und drinnen teuer: Im Haus
die heile Welt mit Kartoffelwarmhaltesäckli
und dem
kleinen Monster? Beim Essen
redeten die Erwachsenen
über die Wirtschaft, die Industrie,
die Geschäfte.
Und das Raclette schmeckte
vorzüglich.
Als wir „großen Kinder“ Thorsten
und ich zu Bett gingen,
bekamen wir ein Dachgeschoss
für uns, mit tiefdunklen
Holzverschlägen, in denen
zwei Gästebetten in Nischen
wie Höhlen Platz gefunden
hatten. Es gab ein gewaltiges
Bücherregal. Dort habe ich an diesem Abend
noch lang im Bett mit Hilfe einer kleinen
Lampe gelesen: „Chaplin, die Geschichte(n)
meines Lebens“. Das hatte ich im Regal gefunden.
Wieder zurück in Wedel, habe ich es
mir gleich gekauft. Das habe ich später einige
Male ganz durchgelesen, immer wieder.
Es hat wirklich geholfen.
:)
Dez 30, 2020 - Fassade für Alex © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg
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