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Blog 2019
Meine Blogtexte auf johnbassiner.de | 8. März bis 31. Dezember 2019
Blogtexte 2019 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de
# Seite
Jan ........................................................................................................................................................................................................................
17, 2021 - Inhalt: Blogtexte vom 8. März bis zum 31. Dezember 2019
2
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
8, 2019 - Malerei darf heute so vielseitig sein wie Musik, Schreiben, jede andere Kunst
3
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
11, 2019 - Warum zeichnen, warum Skizzenbuch?
4
Mrz ........................................................................................................................................................................................................................
12, 2019 - Warum malen?
5
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
6, 2019 - Skizzenbücher, im Original zu kaufen
7
Apr ........................................................................................................................................................................................................................
6, 2019 - Kalte Küche, was soll das bedeuten?
8
Mai ........................................................................................................................................................................................................................
14, 2019 - Du musst es wirklich wollen?
9
Jul ........................................................................................................................................................................................................................
24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur
13
Aug ........................................................................................................................................................................................................................
5, 2019 -„Wir schaffen das!“
17
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
16, 2019 - Nachgeschenkt
21
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
19, 2019 - Als ich klein war
27
Okt ........................................................................................................................................................................................................................
31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life
32
Nov ........................................................................................................................................................................................................................
9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel
35
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne
40
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
19, 2019 - Es fühlt sich gut an
42
Dez ........................................................................................................................................................................................................................
23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger
43
Dez 31, 2019 - Obama hat die Hand gewechselt
45
Blogtexte 2019 / Inhaltsverzeichnis - Datum, Titel der Publikation auf https://johnbassiner.de 2 [Seite 2 bis 2]
Malerei darf heute …
Mrz 8, 2019
… so vielseitig sein wie Musik, Schreiben,
jede andere Kunst. Seit dem Kindergarten,
der Schule, dem Grafik-Studium ist Zeit vergangen:
1964 bin ich geboren, als Illustrator
mit Diplom wurde ich 1990 der Wirklichkeit
übergeben, dem staatlichen Lernapparat entlassen.
Note: „Sehr gut“. Seitdem habe ich
illustriert, Segelbücher, die Zeitschrift Yacht,
Gelegenheitsjobs, nicht nur Grafik. Es ist mir
nicht recht gelungen, aus meinem Leben eine
geradlinig und finanziell erfolgreiche Karriere
zu machen. Zu Beginn unseres neuen,
schon selbstverständlich gewordenen Jahrhunderts,
begann ich mit Acrylfarbe zu malen.
Erst auf Holz, dann auf immer größeren
Leinwänden. Ich wollte mir selbst beweisen,
was ich kann. Ausgleich zu einem gefühlten
Mangel an sozialer Anpassung, fehlender Ellenbogen.
Gegenpol für normale Integration,
ein emotionaler Wutboxball für zuhause. Ich
wollte wissen, was ich leisten kann, wenn
man mich in Ruhe lässt, es meinem Sozialneid
entgegen halten. Für mich ist Malen Erfüllung,
mein Sinn des Lebens; nicht Glück,
ist Begegnung mit allen spürbaren, leibhaftigen
Gefühlen.
Brotlos sei die Kunst? Ich verkaufe Bilder. Das
kommt durchaus vor. Meine Malerei und ich
selbst als Person dahinter verstellen den geraden
und willkommen einfachen Weg in die
Ausstellungen. Ich passe nicht in bekannte
Muster. Ich arbeite an großen Acrylbildern
recht lang: mehrere Wochen, Monate. Ich
muss ja auch Pflichten erfüllen, anders Geld
erwirtschaften und darf meine kleine Familie
nicht überstrapazieren. Ich begann die freie
Malerei nicht wie eine Ich-AG als Geschäftsmodell.
Ich fing einfach an
zu tun, was ich vom Talent
her konnte, obwohl ich
ungeübt war. Ich wollte
mich fortentwickeln: Auf
mich selbst zu. Ich in war
in Illustration und Auftragsarbeit
unterfordert
und kämpfte nicht wirklich
dafür, ein guter Grafiker
zu werden. Es gefällt mir
inzwischen sehr, mich auf
meine ganz eigene Art
ausdrücken zu können.
Aktionismus mit dem man leicht in die Presse
kommt? Das ist nichts für mich. Ich wollte
ja gegenständlich malen, weil es mir liegt.
Schiffe, Bauernhöfe oder Brandung und nette
Dünen malen, weil das in die Wohnzimmer
passt? Schöne Akte, die man auch als Druck
anbieten kann? Ich brauche diesen Moment
im Alltag, wo ich plötzlich etwas erlebe, begreife:
Das wird mein Bild. Nur ich bin grad
hier, sehe das aus meiner Perspektive und
habe eine eigene Bildsprache, um es nun
in wochenlanger Arbeit zuhause zu rekonstruieren
und mich damit auszudrücken und
auszuleben.
In der Erwartung, als farbenfreudiger Erzähler
unterhalten und überraschen zu können –
Herzlich
John Bassiner
Mrz 8, 2019 - Malerei darf heute so vielseitig sein wie Musik, Schreiben, jede andere Kunst 3 [Seite 3 bis 3]
Warum zeichnen, warum Skizzenbuch?
Mrz 11, 2019
Mein Freund Martin schlägt gelegentlich vor:
„Du kannst unsere Wohnung auf Mallorca
nutzen, mache Zeichnungen, besser noch farbige
Aquarelle, die kannst du gut verkaufen
und die Gegend inspiriert.“ Fehmarn ist nicht
Mallorca, das Buch ist klein und Farbe ist
nicht, nicht einmal Fehmarn kann man hier
wirklich erkennen.
Ich habe den Monte-Carlo-Circus im Fernsehen
gesehen. Der weltbeste Jongleur, die
meisten Bälle überhaupt gleichzeitig in der
Luft. Bewegt die Arme rhythmisch fehlerfrei,
wie eine Windmühle ihre Flügel, arbeitet zuverlässig
wie die Betonmischmaschine auf
der Baustelle um die Ecke – und hat auf einem
Auge nur 10 Prozent Sehkraft, was von
der Ansagerin ausführlich als seine extrabesondere
Leistung (das auch noch) herausgestellt
wird. Nie fällt dem was runter. Der
Beste.
Während seiner Nummer habe ich mir kurz
ein Bier aus der Küche geholt. Davon, dass ich
ihn bewundere oder nicht, weil ich eventuell
ignorant wegzappe, hat der nix. Wenn er aber
täglich 8 Stunden übt, um nicht schlechter zu
werden, wird er ohne große Zusatz-Akquise
engagiert, wo auch immer. Seine Arbeit muss
er für sich ganz alleine lieben, denn, wenn er
auf das Publikum schielt – und da er nur „ein“
gutes Auge hat, wäre das für ihn noch recht
einfach und in diesem Fall seine Macke ein
Vorteil – verliert er die Kontrolle über sein
Kunststück.
Er muss sich konzentrieren und darf sich
nicht dem Applaus hingeben. Und dass es
nach dem Auftritt ordentlich im jubelnden
Publikum braust und rauscht, ist nur so Trinkgeld,
wie es vielleicht ein Mädel auf dem
Oktoberfest kriegt, die ordentlich Holz vor
der Hütte trägt. Dass der Jongleur selbst ein
schnuckeliges Mädel abbekommt, weil er so
gut ist, darf wirklich bezweifelt werden. Dass
sich deswegen mal
eine Beziehung aufgrund
Bewunderung
anbahnt, ja – aber
niemand liebt jemanden
dauerhaft
wegen seiner Kunst,
sondern viel wahrscheinlicher
wegen
seines Naturells,
dem ihm eigenen
Charakter, seinem
Humor (oder wegen
dem steifen Penis, den der jederzeit aus der
Hose zieht), den Muckis eventuell … oder einfach,
weil „sie“ an seiner Seite mitbewundert
wird. Wegen der zwanzig Bälle in der Luft,
wird „Mann“ kaum wirklich geliebt. Der hat
aus seinem Traum, der Beste sein zu können,
etwas gemacht – und muss nun arbeiten wie
jedermann.
Diesen Grundzusammenhang
von eigenen Träumen,
den sich zeigenden
Talenten, wenn jemand
jung ist und dem sich daraus
ergebenden: „Das
kannst du aber gut!“, zu
begreifen, ist für den reifen
Künstler ganz wichtig. Nur wenn du das mit
dem bewundert, gelobt und geliebt werden
trennen kannst von deinem Tun, bist du frei.
Du kannst so viel oder so wenig von deinem
Traum umsetzen, wie du als gesund und gut
für dich empfindest und „den Applaus“ auch
genießen.
Für viele deiner Mitmenschen ist deine Kunst
weniger wichtig, als das was du dir davon gekauft
hast. Ein dickes Auto, tolle Klamotten
und so was. Und wenn wir „Kollegen“ einmal
ehrlich sind, jeder geht doch mal Bier holen,
wenn der weltbeste Artist turnt. Wenn du
aber gerade auf einem Arm einen Handstand
machst (in der Manege), musst du voll und
ganz bei der Sache sein.
Wenn du also jung bist und die Eltern, die
Tante und der Kunstlehrer dir mal was Nettes
sagen, darf dich das später nie davon abbringen
zu begreifen, wann man sich irgendwo
selbst gut festhalten muss.
Beim Zeichnen z.B. wenn man nicht tastend
herumstrichelt, sondern „additiv“ zeichnet,
ein großes Gebäude „links oben“ beginnt,
eine Aktzeichnung am Kopf oder ein geparktes
Auto an einem
Scheinwerfer, und
man nicht wirklich
radieren und nachkorrigieren
möchte,
muss man irgendwann
auch „ankommen“.
Sonst „passt“ es nicht.
Mit diesem kleinen Skizzenbuch auf Fehmarn
2017 habe ich mich in die Richtung der beiden
aktuellen Skizzenbücher 2018, die nur
wenig größeres Format haben und die beide
ganz und gar mit dokumentenechten nicht
korrigierbaren Kugelschreiber gezeichnet
wurden, quasi vorbereitet.
Ich wollte das schaffen: ein ganzes Buch in
dem Sinne fehlerfrei, dass es mir selbst gefällt.
Dafür muss es nicht Mallorca sein. Ich
muss nur in dem Sinne „ankommen“, dass ich
die jeweilige Skizze nicht versaue.
Schenefeld, im Oktober 2018
Mrz 11, 2019 - Warum Zeichnen, warum Skizzenbuch? 4 [Seite 4 bis 4]
Warum malen?
Mrz 12, 2019
Könnte ich auch ganz anders malen, genauso
gut normale Arbeit machen, im Büro oder so?
Ich stelle mir die Frage, warum ich gerade so
lebe, wie ich’s tue? Warum ich getan habe,
was ich tat und solche Sachen. Dazu kommt,
parallel zum Wunsch, es gut darzustellen, die
bedrückende Frage, ob ich mein Leben verfehlte,
grundsätzlich versagte und es besser
wäre, ich könnte neu beginnen? Am Besten
doch mit dem Wissen und der Erfahrung von
heute! In der Summe dieser Überlegungen,
in Anbetracht vieler Gemälde, Zeichnungen,
Skizzenbüchern und dem Unvermögen, daraus
nenneswerte Anerkennung zu erlangen,
steht die Hintergrundfrage nach dem freien
Willen an sich.
Na ja, eines ist zum anderen gekommen. Erst
habe ich studiert, Illustration – und bin als
Infografiker so einigermaßen normal in das
Berufsleben gestartet. Als ich meinen Hauptkunden
verloren hatte,
begann ich zu malen:
attraktive maritime
Landschaft, Seezeichen
und Aquarelle, die sich
ganz gut in Café und
Kunstkreis-Umgebung
anbieten ließen, und
ich habe auch verkauft.
Reichlich Publikum kam
gern zur Vernissage.
Die Kunst unterliegt
wirtschaftlichen Gesetzen
von Produkt, Ort des Verkaufs und der
zum Verkaufsgegenstand passenden Zielgruppe.
Solange jemand nicht unangefochten
an der Spitze der etablierten Künstler mitmischt,
also ein Star ist welcher der breiten
Gesellschaft und nicht nur einer bestimmten
Kunst-Szene bekannt ist, wird unsereiner in
einem speziellen Bereich tätig, der schaffbar
ist. Wir sind unterwegs in Landschaft oder
zeichnen Akt, malen abstrakt oder real, arbeiten
in hauptsächlich einer Ausdrucksform:
Druckgrafik, Aquarell oder Ölmalerei.
Wir machen moderne digitale Präsentation
oder eben gerade nicht. Wir arbeiten stattdessen
mit selbstangerührten Pigmenten,
selbstgeschöpften Papieren als Malgrund auf
diese oder (nicht: und) jene Weise. Künstler
arbeiten in Serien. Der Wiedererkennungswert
ist „Marke“ im Verkauf. Genau genommen
ist’s oft nur Kunsthandwerk, das wir ausüben
(wenn wir ehrlich sind). Die Kollegen
illustrieren nur die Bedürfnisse bestimmter
Gruppen. Künstler möchten frei sein, sind es
oft nicht: Schauspieler in Serien träumten
anfangs größer.
So wie ich nach dem Verlust meiner Hauptbeschäftigung
als maritimer Info-Grafiker
ähnlich hätte weiter machen können, nach
entsprechender Akquise, in einem anderen
Info-Bereich oder organisiert mit anderen,
verabschiedete ich mich schnell wieder aus
gefälliger Malerei für das Wohnzimmer. Ich
machte mich als Person unmöglich. Ich entdeckte,
dass meine reale Malweise alles Bild
werden lassen konnte. War ich bislang darauf
fixiert, gefallen zu wollen und redete anderen
nach dem Mund, öffnete mir mein Talent
nun den Weg in Sehnsucht und Gefühle. Hatte
ich bislang weder sinnvoll eigennütziges
Streben noch eigene Meinung, kam jetzt ein
Ego hervor. Ich musste für die Gründe warum
ich so und nicht anders arbeitete einstehen.
Ich begann eigene Ideen zu formulieren.
Wenn ich weiter Teil eines Verlages geblieben
wäre? Womöglich wäre ich brav den anderen
gefolgt, die meinen etwas zu sein und
vielleicht noch spät aus der gewohnten Bahn
geworfen, zur Besinnung kommen, merken,
wie eingebildet ihr Leben ist? Einbildung
ist ein „dickes Fell“ – viele Menschen haben
nicht Selbstbewusstsein, eher: „Gruppenbewusstsein“.
Damit meine ich, dass ihr Ego nur
funktioniert, solange sie im sozialen Verbund
integriert weiter machen können. Ich frage
nach mir selbst – die Mehrheit fragt unbestimmt
nach dem Sinn vom Ganzen. Allen
gleich ist der Wunsch nach Entschleunigung,
Entspannung und Glück. Wer möchte nicht
innehalten, ausruhen, genießen und wenn
nicht glücklich, zufrieden sein?
Festzustellen, wie viel misslingt, und dass die
anderen auch einiges vermasseln, zu spüren,
wie mir andauernd
etwas in die Quere
kommt, hassen und
fluchen, zu lernen,
andere zu beschuldigen,
das hat mich
einige Jahre gekostet.
Ich habe das
gelernt: Glücklich
im Frust! „Sozialfalle“
bedeutet: Wie
in einer Endlosschleife
kreisend
gefangen sind wir,
wie alle anderen um uns herum, die nicht
den Weg ins eigene Denken finden. Unangenehme
Emotionen zu vermeiden, weil man
weniger stört, ist normal. Ein Obdachloser
kann auch mit größter Unterstützung nicht
kurzfristig Chef oder Präsident werden: Der
nächste Schritt kann nur so weit wie die individuellen
Möglichkeiten sein. Was wir selbst
können, ist nicht auf der Stelle trippeln. Wir
könnten vital voran gehen, wenn wir wüssten,
dass wir’s können. Der Wettbewerb mit anderen
mithalten zu wollen, vermiest die Zufriedenheit
mit dem individuellen Weg. Fehlt es
an Anerkennung? Davon möchte ich mehr!
Sehnsucht ist hartnäckig. Dazu Fatalismus.
Was schert mich meine Zukunft, Existenz, solange
ich im Moment erfüllt tue, was mir als
befriedigend erscheint?
Ich denke, dass viele entwickelte Zeitgenossen
nur Teil ihres Systems sind, ihr Ego ohne
das Produkt ihrer Firma wegbrechen würde.
Ich glaube, dass eigene Bilder mir selbst
ein Baumstamm sind, der fester verwurzelt
ist, als eine Karriere. Der fremdbestimmte
Mensch, der selbstbestimmte Mensch oder
das Wesen einer kanalisierenden Natur, was
sind wir? Führungspersönlichkeiten denken
freier, haben mehr Gestaltungsspielraum?
Welterklärer behaupten, dass Millionäre unglücklich
sind!
# Drei Beispiele: Jesus, das Gleichnis vom Säman,
Tageshoroskop und Feldenkrais: Wo ist
oben?
Das Gleichnis vom Sämann lehrt, dass auch
Gott nachlässig ist. Nicht jeder startet gut
platziert und genetisch perfekt ausgestattet
ins Leben. Die Feindseligkeit der natürlichen
Umgebung: Schon Jesus gibt zu, dass es mit
der Gerechtigkeit so eine Sache ist.
Mein (gestriges) Tageshoroskop: „Nach einer
stürmischen Zeit verziehen sich die Gewitterwolken
nun langsam. Sie können aufatmen
und wieder klar sehen. Das ist die Chance für
einen Neuanfang.“ Eine andere Tageszeitung
(von ebenfalls gestern) wenig positiv: „Sie
fühlen sich heute mit ihren Wünschen immer
wieder ein bisschen alleingelassen. Öffnen
Sie sich mehr für andere, dann kommt man
Ihnen, vor allem über Mittag, auch entgegen!“
Morgens habe ich darüber nachgedacht, was
besonders die Voraussagung der erstgelesenen
Zeitung bedeuten würde, und mir intensiv
gewünscht, es würde genauso passieren.
Tatsächlich erfüllte sich darin aber das
zweite Horoskop: „Sie fühlen sich heute mit
Ihren Wünschen alleingelassen“ – die Hoffnung,
meine Nöte würden sich zum Besseren
wenden, wurde enttäuscht. Meine Befürchtungen
hielten dem ersten Horoskop beharrlich
stand. Wenn Gewitterwolken abzogen,
dann unbemerkt. Vielleicht konnte ich das
nicht sehen, weil andere für mich taten, was
ich mir wünsche, und später werde ich vom
Glück beschenkt, im Sommer oder so? Niemand
kam mir (besonders über Mittag) entgegen;
vielleicht war ich nicht offen genug,
die Chance für einen Neuanfang? Das hätte
nur Sinn gemacht, wenn ich den Abzug der
Gewitter bewusst erlebt hätte, er also sichtbar
stattgefunden hätte. Dann hätte ich aktiv
mein Segel wieder gesetzt, ausgerefft oder
die Anker gelichtet, wäre in eine neue Richtung
losgesegelt. Fehlanzeige.
Wenn ich die Horoskope nicht gelesen hätte,
weil das unlogischer Blödsinn ist? Dann wäre
mir die tiefempfundene Begegnung mit meinen
Wünschen und Befürchtungen hier nicht
gelungen. Aus dem Allgemeinen fantasierte
ich, was es mir bedeutete, wenn eine stürmische
Schlechtwetterzeit ihr Ende fände!
Jeremey Krauss ist Feldenkrais-Lehrer. Das ist
so eine Art Turnen und Nachspüren, was es
mit uns macht. Wie im Yoga oder autogenes
Training. Krauss schlägt ein Gedanken-Experiment
vor: Man solle die Hände und Arme
„nach oben“ ausstrecken. Dann lege man sich
auf den Boden, und zwar auf den Rücken. Nun
strecke man erneut die Arme nach oben. Da
gibt es zwei Möglichkeiten, das zu tun. Die
einen strecken die Hände zur Zimmerdecke,
andere werden die Arme über den Kopf in der
Verlängerung ihres Körpers auf dem Teppich
ablegen. Immerhin um neunzig Grad verschieden,
kann die Anweisung „nach oben“,
die doch zunächst recht eindeutig scheint,
korrekt interpretiert werden. Da gibt es welche,
die streiten, es gäbe nur eine richtige
Lösung. Krauss sagt dazu: „Der Hintern ist
immer hinten.“ Sämann, Horoskope und wo
oben ist – wir denken nach, ob wir uns an der
Welt ausrichten oder an uns selbst.
Medikamente für psychisch Kranke: Das ist
etwa so, wie wenn wir uns eine Art Sack
überziehen, um nicht zu merken. Wir stecken
den Kopf in den Sand, bis die Gewitterwolken
unserer Ängste fort sind. Wir lesen quasi
das Horoskop gar nicht erst. Oder durch eine
unscharfe Brille. Selbstbestimmung wird in
diesem Fall notfallmäßig zurückgewonnen,
Mrz 12, 2019 - Warum Malen? 5 [Seite 5 bis 6]
indem der Arzt uns unsere Umgebung einnebelt
und wir mit Volldampf weiterschippern
können, weil dieser Nebel ein Gewitter verbirgt
(das es eventuell gar nicht gibt).
Jesus: man bete drum, dass die schlechte
Ausgangslage in Dürre oder Matsch uns
benachteiligtem Samenkorn nichts anhabe,
uns gottbefohlene Wege die Richtung zum
fruchtbaren Boden und die Gegend mit den
anderen Körnern, finden lässt. In diesem Fall
heißt es nicht, dass wir uns ein Gewitter einbilden,
sondern dass die Lage wirklich beschissen
ist. Aber in beiden Fällen geht die
Hilfe auf diese Art vor sich: „Vertraue darauf,
dass du den Weg zur Besserung findest.“ Ein
schwieriger Weg. Auch: Kein Leben ohne Weg.
Es ist da ein Boden, auf dem wir gehen. Es
heißt auch, dass andere um uns herum sind.
Wir sind nicht im Nichts.
Jesus entwirft den grundsätzlichen Rahmen.
Weiter als im alten Testament, das mit zehn
Geboten, Marsch ins gelobte Land, dem harten
„wie du mir, so ich dir“, Grundregeln funktionierender
Systeme und das Begreifen einer
großen (nicht vollends zu verstehenden)
Natur beschreibt, wird der Mensch vom Messias
aufgefordert, nach einer Kränkung nicht
zurückzuschlagen. Das ist nicht ganz einfach
umzusetzen.
Der Mensch ist sein eigenes Problem. Jesus
schlägt vor, nicht zu verzagen und einzusehen,
dass nicht alle gleich gut ausgestattet
und bestplatziert in die Welt kommen. Wir
mögen Gott drum bitten, gute Wege aufzuzeigen,
innere Stärke für schwieriges Gelände
zu entwickeln. Die beiden Pole: Individuelle
Kraft zu Selbsthilfe und Persönlichkeit auf
einer Seite und Bemühungen, die Umgebung
geschmeidig zu gestalten, auf der anderen.
Das dritte Beispiel: Wir sind in einem Raum.
Worauf beziehen wir uns? Auf uns, unseren
Körper – oder beziehen wir uns auf den
Raum, die Umgebung. Wo ist oben? Ist „oben“
über meinem Kopf? Oder ist oben dort, wo
die Zimmerdecke ist? Und was ist, wenn ich
mich hinlege und die Zimmerdecke dort zu
sehen ist, wo ich sonst den Horizont sehe?
Darf man noch angestellt in einer Firma arbeiten
oder geht Leben nur als Chef? Ich kam
nicht klar damit, anderen zu malen oder zu
illustrieren, wie sie es wollten, warum nur?
Was können Haarspaltereien wo oben ist
nützen? Ich habe darüber nachgedacht: Wer
nicht fühlt, ob es hinten juckt oder unten,
weiß vielleicht auch nichts mit sich anzufangen,
wenn seine Gesundheit von was betroffen
ist. Wo tut es weh? Das könnte aus der
Sicht vom Doktor ganz woanders sein!
Im Zimmer auf dem Rücken liegen, nachspüren,
wie sich’s anfühlt, wo sich was bewegt:
oben oder hinten, was bringt denn das? Was
hat das mit Kreativität zu tun? Ich schweife
gar nicht ab, von meiner Malerei! Hintergründig
im Sinne des Wortes wird das Experiment,
wenn wir weiter denken: linke oder
rechte Seite, vorn und hinten, wo ist das? An
Bord: Backbord bleibt die linke Schiffsseite
auch dann, wenn wir achteraus gehen.
Wo ist hinten, wenn ich auf dem Rücken liege
und meine Arme zur Zimmerdecke strecke, im
Bewusstsein, das sei oben? Schließlich doch
logisch, jeder Baum reckt sich nach oben,
weg vom Boden, gegen die Schwerkraft, hoch
in den Himmel. Ich liege rum, und wo ist hinten?
Hinten in der Nische, wo der Raum nicht
gut ausgeleuchtet ist, wo das Sofa steht, ganz
da hinten (ein großes Zimmer), jedenfalls
nicht dort, wo die Tür ist und ich den Raum
vorn betreten habe?
Ein Denkspiel, noch besser mit einem Freund:
Er steht bei meinen Füßen, ragt hoch auf,
sagt: „Hinter dir ist das Sofa.“ „Nein – ja“, sage
ich, weil ich an meinen Rücken denke, auf
dem ich liege (unter mir ist ja der Teppich –
und doch denken möchte, dass mein Hintern,
wie der Name ja schon sagt, hinten ist und
hinten bleibt). Das Sofa wäre wohl über meinem
Kopf?
Was kann man lernen: Jeder hat seine eigenen
Ansichten. Habe ich einen Chef, und der sagt:
„Da hinten, Bassiner … da“, so ist das zunächst
einmal die Perspektive meines Arbeitgebers.
Wenn ich das gut realisieren kann, fällt es
mir nicht schwer, innerhalb eines Teams ein
starkes Mitglied zu sein – und das konnte ich
nicht. Bis heute ist der Motor meiner Kunst
soziale Unfähigkeit! Im dünnhäutigen über
den narzistischen bis hin zum autistischen
Menschen, sind „Künstler“ in der Gesellschaft
beschrieben. Normales Mitlaufen gelingt uns
nicht. Wir kommen noch dahin zu begreifen,
dass Kunst Selbsthilfe ist.
Ob ich zwanghaft auch schlechte Wege
wählte, weil ich aktiv zu gestaltender Zukunft
scheute oder ob ich gar nicht anders konnte
(determiniert durch meine Vergangenheit),
und demzufolge passierte, was mein Weg
wurde? Ich bin Skeptiker was mein Verdienst
und auf der anderen Seite meine Schuld
ist. Ich schaue anders auf umjubelte Stars,
Obdachlose und Straftäter. Ich lernte mich
zu wehren. Als ich jung war, betäubte der
Wunsch, anderen zu gefallen, um sie im vorausschauenden
Gehorsam gütig zu stimmen,
das peinliche Gefühl von Kränkung, wenn mir
jemand klarmachen konnte, stärker zu sein.
Wenn ich nett in den Wald hineinrufe und es
wie versprochen freundlich zurück schallt,
werden dort immer noch Leute sein, die mir
aus meiner Vergangenheit einen Strick drehen.
Auch wenn ich in Frieden mit allen meinen
Fehlern lebe: Den ganzen Wald kann ich
nicht ändern.
Gut zu malen, ist nicht leicht. Es kann harte
widerspenstige Arbeit mit allerlei Tücken
sein. Ich bin durchaus nicht immer entspannt,
froh allein im Atelier zu wüten, wenn ich
nicht klar komme, mit Farbe und Form und
meiner Motivation. Aber: Eine eigene Welt
schaffen, wie das Paradies verlorener Kinderzeit,
Stunden, in denen wir träumten: Das
kann ein Bild sein!
Ich male so wie ich es eben tue, aus dem für
mich so wesentlichen Grund: Auf einem Bild
bestimme ich ganz allein, was passiert. Alles,
was auf spätere Anerkennung durch Fremde
zielt, ob das Bild ausgestellt und zu einem
guten Preis angeboten und tatsächlich verkauft
wird, soll zunächst zurückstehen. An
erster Stelle steht die eigene Qualitätsprüfung:
Ist dieses Bild ganz genau so gemalt,
wie ich den thematischen Rahmen und die
gemalte Form möchte, um es für mich selbst
als gelungen anzusehen? Nachdem ich geschickt
geworden bin, genieße ich es, ein
Arbeitsfeld gefunden zu haben das meiner
Kontrolle untersteht. Keine Kollegen, kein
Kunde, keine imaginäre Stimmen fremder
Kritiker, wie früher zu Beginn meiner Arbeit,
als ich wenig frei bei allem was ich tat, die
Lehrer aus Schule und Studium im Geist hinterfragte.
Gespenster der Fantasie oder reale
Auftraggeber, die mir dreinredeten oder Termindruck
machten! Ich bin kritisch, ich bin
selbstkritisch, ich bin Perfektionist, und das
ist hart genug.
Und wenn ich etwas geschafft habe, kommt
meine Frau ins Atelier, bringt mir einen Kaffee,
stellt ihn boshaft nah an das Wasserglas,
wo ich meine Pinsel eintauche, schaut auf
das Bild und sagt vielleicht: „Die Hand da ist
zu groß oder ich kann das da nicht erkennen.“
Eine letzte Instanz ausserhalb gibt es immer.
Aber im Atelier auf der Staffelei ist das Bild
ja noch nicht fertig. Ich konnte mir eine Arbeitsumgebung
schaffen, bei der Arbeit und
Broterwerb aufgeteilt sind. Meine Kunst ist
weniger zu malen, als das wirtschaftliche
und soziale Überleben grundsätzlich (und
dabei noch malen zu können). Gut möglich,
dass es ein Hobby ist. Nennt es so. Ich lade
mir kein Spiel runter. Ich kaufe mir keinen
Modellbausatz, den ich nach Plan zusammen
klebe. Mein Kopf selbst ist mein Spielzeug,
ich erfinde das Spiel.
Meine Farben, in welchem Format – wie
schräg, wie hell, wie dunkel, und was für eine
Geschichte ich malend erzähle, bestimme ich
allein. Ich muss die Motivation für das Thema
und das Durchhalten fertigzumalen allein
schaffen. Mein Ansatz ist anders, entspringt
meiner Erfahrung: Ich möchte persönliche
Bilder. Ich thematisiere nicht allgemein. Ich
schöpfe Motive aus eigenem Erleben, meinen
Gefühlen und nicht aus dem, was kollektiv
Medien beherrscht.
Was kann ich geben? Ich war sozial ausgerichtet,
bin erst heute schockiert, nach persönlicher
Erfahrung. Lüge und plakativer
Beschiss der Bürgermeisterin haben mich
verändert. Eine Insel frei von Beziehungen
und ihren Verletzungen habe ich mit meiner
Kunst gesucht und gefunden – und möchte
doch andere mit meinen Bildern erreichen.
Bin ich verkehrt aufgestellt in dieser Welt
schöner Brandungs- und Blumenszenen und
Hafenbildern einerseits und inhaltsschweren
Rostplatten, metergroßem Farbgeschredder
andererseits, dass hier kein Platz bleibt für
meine Malerei?
Ich habe kein Smartphone. Wenn ich mit
dem Bus fahre, schaue ich aus dem Fenster,
schaue mir die Sozialen an, mit ihrer digitalen
Suchtstörung. Schade: Die jungen Menschen
sind schöner denn je. Aber sie sind nicht bei
dem, was sie grade tun. Sie fahren nicht mit
mir Bus, sie sind im Netz ihrer Freunde unterwegs:
„Ich bin in Iserbrook“, schreiben sie
gerade. Stimmt das eigentlich?
Ich fühle mich nicht isoliert. Ich kann freundlich
und hilfsbereit sein. Ich genieße das Zusammensein
mit anderen, aber: Ich konnte
eine Grenze um mein innerstes Fühlen herum
aufbauen. Ich sehe die Welt mit meinen
Augen heute besser, schaue genau hin, merke
mehr. Das habe ich gelernt.
Das kann ich wiedergeben.
Schenefeld, im Februar 2019
Mrz 12, 2019 - Warum Malen? 6 [Seite 5 bis 6]
Skizzenbücher, im Original zu kaufen
Apr 6, 2019
Was heißt im Original? Alles echt, kein Druck
und nicht korrigierbar tintenecht artistisch
vor Ort gezeichnet. 2017 und ’18 habe ich im
Sommer zwei Wochen Urlaub auf der Insel
Fehmarn gemacht und jedes Mal ein Skizzenbuch
mit Zeichnungen gefüllt. Das ist nicht
neu für mich.
Neu ist, dass ich von Beginn an die Absicht
entwickelte, so ein Buch wie ein Bild zu verstehen
das schließlich im Rahmen einer Ausstellung
oder auf der Webseite interessierten
Kunstfreunden angeboten wird. Ich zeichnete
also wie bisher, um mir die Zeit im Urlaub zu
vertreiben und um mein Talent nicht einrosten
zu lassen, aber auch in der Absicht, fehlerfrei
durch das ganze Buch zu kommen, damit
ein schönes Ganzes entsteht. Fehlerfrei heißt
nicht perfekt im Sinne von fotogleicher Abbildung.
Es bedeutet, im Sinne des Gesamten
zu denken, wenn jemand das durchblättert.
Ich darf nicht achtlos herumstricheln oder
durchkritzeln, was misslungen ist. Es soll
nichts misslingen.
Die Bücher haben 160 Seiten, Hardcover.
2018 ist A5 und durchgehend mit dokumentenechtem
Kugelschreiber gezeichnet.
2017 ist in Bleistift und nur halb so groß.
Zuhause habe ich in Schenefeld gleich weitergemacht,
war damit im Herbst 2018 noch
in Backnang unterwegs. Ich bin beim Kugelschreiber
geblieben und auch bei den 160
Seiten in A5. Dann habe ich vom Typ her das
gleiche Produkt verwendet, aber größer in A4
(in Doppelseiten A3 quer, nur damit Sie sich
das besser vorstellen können).
Das Buch jeweils: Es soll schön daherkommen,
auch wenn nur skizziert ist.
Echt vor Ort erlebt, ohne Hilfe durch Fotografie
oder spätere Eingriffe zuhause.
Eine Auswahl der Abbildungen finden
Sie hier. Es gibt keinen Text, nur das Datum
ist im Bild. Es kommt vor, dass ich
mein Gegenüber frage, ob ich zeichnen
darf. Das mache ich, wenn mir jemand
(im Café) direkt gegenüber sitzt. Meistens
frage ich nicht. Es sind nur Striche,
denke ich bei mir. Überall haben die Leute
Kameras montiert. Jedes Handy hat
eine, alle sind Selfie. Ich habe gar kein
Mobiltelefon. Auf Fehmarn nehme ich
immer nur das Seniorenhandy meiner
verstorbenen Mutter mit und verabrede
ein Treffen zum gemeinsamen Essen mit
meiner Frau per sms, die für gewöhnlich irgendwo
am Strand herumliegt, während ich
in der Stadt sitze und zeichne. Ich frage: „Hast
du schon Hunger? Wo bist du?“ Sie schreibt
dann vielleicht zurück: „Südstrand. Nein“,
oder: „Strand am Sorgenfrei. Nachher Borgo?“
– (wir sind lange verheiratet).
Viel Spaß beim durch die Galerie(n) blättern.
Apr 6, 2019 - Skizzenbücher, im Original zu kaufen 7 [Seite 7 bis 7]
Kalte Küche, was soll das bedeuten?
Apr 6, 2019
Eine Geschichte in zwölf Bildern, warum? Daraus
kann man einen Kalender machen, das
ist ein Grund. Und: Ich wollte ein Konzept
entwickeln, eine lange Geschichte umsetzen,
mehr erzählen als auf einem einzigen Bild.
Wie in einem Film. Plötzlich ging das, da
ich einen neuen Eingang in meine Fantasie
fand. Es wurde möglich, Erinnerungen mit
quasi Schauspielern in fiktiven Situationen
neu zu gestalten. Es ist nicht nötig, Inhalte
eins zu eins wie im illustrierten
Krimi nachzubilden.
Du kannst verschrobene
Facetten einer Traumsequenz
formen. Lücken in
der Logik werden im Kopf
des Betrachters mit eigenen
Bildern gefüllt. Jack
London entwickelte sein
Thema, nachdem er selbst
das abenteuerlichste Leben
riskiert hatte. Joseph
Conrad fuhr zur See, bevor
er schrieb. Der Maler Caravaggio
floh in eine andere
Stadt, um Beschuldigungen
auszuweichen und weiter
malen zu können. Wenn
man absurde Realität malt, können Elemente
kombiniert werden, die in Wirklichkeit ganz
andere Bedeutung haben. Ein banaler Hauseingang
kann zum Eingangstor in ein Gruselkabinett
geeignet sein, wenn das eigentlich
nur ein nettes Lokal in irgendeiner Stadt ist.
Als Maler stelle ich andere Architektur an seine
Seite, erfinde noch ein Boot oder so dazu.
Kunst muss mehr sein als gefällige Deko, und
sie muss dem Individuum entsprechen das
schafft. Kunst muss persönlich sein. Blakey’s
Theme, das ist
ein Stück von
Art Blakey,
dem Schlagzeuger.
Eine
eigene Musik,
der eigene
Stil. Müssen
wir Erfolg haben,
wie die
Berühmten?
Oder dürfen
wir alle uns
auf auf den
ganz eigenen
Weg machen,
auch wenn
der wenig erfolgsversprechend
im Dunkel einer ungewissen
Zukunft verläuft? Nicht ohne Grund wird
hier vom Casting erzählt, von einer jungen
Frau. Nicht willkürlich sind bunte absurde
Situationen gemischt mit – ja, wie soll ich
das nennen? Wie wurden Tim und Struppi
erfunden, wie Asterix? Wer sind Schulze und
Schultze, der Kapitän, und wo mögen Automatix,
Verleihnix und Gutemine herkommen?
Haben sie Entsprechungen in der Realität ihrer
Erfinder Hergé, Goscinny und Uderzo?
Kalte Küche ist ein schräg verwunschener
Traum, auch Albtraum, in jedem Fall eine
Geschichte von Zwang, Abhängigkeit und
Befreiung. Es ist die Geschichte vom Erwachsenwerden.
Dichtgemacht wird diese „Küche“,
und mein Mädchen ist frei, das ist es. So hätte
ich das gern. Wenn ich male, bestimme ich
wie’s ausgeht.
Apr 6, 2019 - Kalte Küche, was soll das bedeuten? 8 [Seite 8 bis 8]
Du musst es wirklich wollen?
Mai 14, 2019
Es ist nicht verkehrt, sich nach einem Grund
auf die Suche zu machen, wenn man etwas
nicht versteht. Nach „dem“ Grund, sollte hier
eventuell stehen, um genau zu sein. Ein Leben
voller Ausflüchte, ein Leben auf der
zwanghaften Suche nach Lob und Anerkennung
ist die normale Alternative. Die Suche
nach dem, was uns bedrückt, irritiert oder
verstört, kann von einer Flut von Eindrücken
verdrängt werden. Sie verstellen wie dichtes
Urwaldblattwerk den Blick auf ein hartnäckiges,
kleines Problem: Ein schwarzes Loch im
All, ein weißer Fleck auf unserer Karte, die
eigene Macke! Schwer erkennbar, weil sie so
vertraut und gewohnt ist.
Aus dem Malen heraus habe ich gelernt, meinen
Alltag angenehmer zu machen. Angenehm
bedeutet nicht entspanntes Glück die
ganze Zeit. Es bedeutet, im Zulassen von Zorn
und Angst in der Bandbreite möglicher Gefühle
Unterschiede zu bemerken, und das ist
(in dieser Summe) mehr als angenehm. Vielen
bleibt das Glück vollkommener Emotion
verbaut, durch den Rahmen von Gewohnheit,
Erziehung und gesellschaftlichen Zwängen.
Unangenehme Dinge ereignen sich nun mal.
Menschen gefällt es nicht, unglücklich zu
sein oder ärgerlich. Man kann lernen, sich
für Kummer nicht niederzumachen. Peinliche
Dinge möchten viele gern vermeiden, und
Gewalt ist verpönt. Auf der anderen Seite
kommen wir tagtäglich in Situationen, die
nicht einfach sind. Umgebung und die notwendigerweise
anzusteuernden Stationen
auf unserem Lebensweg, weil einiges unserer
Vergangenheit uns festlegt, bestimmen den
Lebensweg mit und beschränken unseren
Willen und unser Geschick zum Glück.
Manchem reicht banaler Zwang, um in der
Behörde durchzuknallen: Ich benötige vielleicht
einen neuen Personalausweis, weil
der abgelaufen ist? Schließlich ist der Ausweis
in der Ausgabestelle der städtischen
Behörde eingetroffen. Ich gehe (am Folgetag
nachdem ich darüber informiert wurde) auf
das Amt und hole den neuen Personalausweis
ab. Es gibt genug Beispiele dieser Art,
bei denen wir verpflichtet sind, etwas zu tun.
„Ohne Krankenversicherungskarte ist man
kein Mensch“, sagte mir einmal der vertraute
Arzt, das war ironisch gemeint? Unser Wille
wird gern beschworen, aber die anderen um
uns herum wollen auch einiges. Oft können
wir uns dem nicht entziehen. So ist es wenig
verwunderlich, dass sich Situationen
zuspitzen, weil eine beteiligte Person von
einer dumpfen Umgebung unbemerkt an ihre
Grenze und darüber hinaus verschoben wird.
Die allgemeine Gesellschaft: Sie möchte gar
nichts dafür können, wenn jemand aus der
Haut fährt?
Auch sonst (in der Medizin und anderswo)
gern getan, der pseudodetektivisch kluge,
aber isolierte Blick: Zwei Bandscheiben verkeilen,
und doch ist die ganze Wirbelsäule
schlecht gehalten, warum sehen wir nur die
schadhafte Stelle an? Ein einzelner Mensch
wird zum Fehler vom Dorf schlechthin hin
vorverurteilt. Jeder kennt ihn, und jedes Dorf
hat einen Apfelfestbomber oder Reichsbürger.
Niemand der integrierten anderen will
irgendwie dran mitschuld sein, sagt mit
Überzeugung, das ist er: der Spinner. Was
tun? Zu lernen ist, sich das Ausrasten selbst
nicht so übel zu nehmen. Eine gewaltfreie
Welt ist nicht erreichbar, war nie da und wird
nie sein. Sie ist weniger als eine Utopie, sie
ist schlichtweg eine dumme Ideologie, mit
der man kleine Mädchen in die Klapse treiben
kann. Verurteilen ist leicht, verstehen
ist schwieriger. Die Gefängnisse sind stets
gut gefüllt, und fragen Sie mal rum, die
meisten finden das gut. So viele Gute leben
Seite an Seite mit mir, die würden nie in die
Lage kommen, gerichtlich verurteilt und gar
weggesperrt zu werden. Sie sind sich scheinbar
sicher: „Das hat sie (die!) auch verdient“,
meinen viele, wenn das Gespräch auf einen
bekannten Fall kommt. Bei näherer Bekanntschaft
fallen Verurteilungen wackliger aus.
Nicht jeder hat gleich einen Mörder oder eine
Hochstaplerin Anna im Bekanntenkreis. Aber
eine depressive Mutter, den manischen Onkel,
der im Zwang auch mal ernsthaft Geld verbrennt
oder ein anderes irgendwie inkorrektes
Mitglied, das gibt es in jeder Familie. Ein
auffälliges Kind, das kommt vor. Ich möchte
in Erinnerung rufen, dass wir alle Menschen
kennen, die Anlass dazu geben, nachzufragen
warum etwas so ist: bei mir oder uns. „Warum
ich, warum bekomme gerade ich so ein
Kind“, sagt eine Freundin, „in ganz Hamburg
ist niemand mit diesem Gendefekt. Deutschlandweit
ein paar nur, so selten ist es. Und ich
wusste nicht einmal, dass ich das habe, warum?“
Das sagt sie mit normaler Stimme, aber
für mich klingt es wie ein Schrei. Du darfst
schreien, denke ich.
Anderen scheint weniger wichtig, warum irgendetwas
ist, sie leben einfach. Wenn wir
uns jedoch fragen „wie“ wir etwas machen,
bedeutet es genau zu beobachten und dem
Sachverhalt nachzuspüren. Wer zu fragen
beginnt: Wie kommt das? macht die überraschende
Erfahrung, näher an die Antwort auf
die Frage zu gelangen: Wie kann das sein?
und das ist beinahe ein: Warum nur? Wie
male ich ein großes Bild? Es mag wie Haarspalterei
scheinen, wie und warum auseinanderzuhalten.
Warum lebe ich, warum wurde
ich in Wedel geboren, warum regnet es, so
etwas lässt sich nicht gut beantworten. Wie
ich beim Malen vorgehe, ich kann mich das
fragen und eine einigermaßen treffende Antwort
finden. Wenn ich darauf achte, wie ich
etwas mache, komme ich dem eigentlichen
Grund warum ich’s tue näher. Ich weiß, wer
ich bin, was ich kann und was nicht. Kenne
meine Position, meine aktuelle Richtung und
erinnere, wo ich hergekommen bin. Es gibt in
einem Buch von Max Frisch diesen (wiederkehrenden)
Satz: Ein Mann (oder jemand, das
erinnere ich nicht so genau) hat eine Erfahrung
gemacht, wo ist die Geschichte dazu?
Das habe ich gelesen als ich jung war. Das
ist doch ein Widerspruch, hat da jemand sein
Gehirn zuhause liegen lassen? Wenn ich eine
Erfahrung mache, weiß ich was ich erlebte.
Nur wer sein Erleben reflektiert kann das in
Erfahrung verwandeln, und die anderen bleiben
eben doof, sie erleben bloß. Das ist doch
gerade, was den reifen Menschen vom Idioten
unterscheidet. Ich muss wissen, wie es
war – und dann erst erfahre ich mich selbst.
Frisch will uns hinters Licht führen, so sind
Schriftsteller. Er behält seinen Scheiß für sich
und möchte trotzdem petzen, das ist es.
Heute verwende ich Leinwände, die ich fertig
bespannt und weiß grundiert im Fachhandel
kaufe. Ich habe mehrere Bilder im
Format 100 x 120 cm gemalt, sind das große
Bilder? Klar, man kann größere Formate
bemalen, und einige kommen über 30 x 40
cm zeitlebens nicht hinaus. Größe ist relativ.
Als ich das Bild „Schenefeld Dorf“ malte, in
tatsächlich 70 x 120 cm, war ich schon stolz,
das geschafft zu haben. „Wer soll denn so
ein großes Bild kaufen“, meinte meine Mutter
dazu. (Das Bild wurde verkauft). Ich habe
schon im Text „Warum malen?“ zu begründen
versucht, wie sich mein Antrieb, überhaupt
zum Malen gekommen zu sein, herleiten lässt
und ein wenig befriedigendes Textfragment
fabriziert. Klar, ich war seit meiner Kindheit
talentiert, bin dabei geblieben, meiner Neigung
treu geblieben, malend schließlich dort
angekommen, wo ich nun bin.
Kommen wir zum wie, und da kann ich erzählen,
dass ich im Studium an einem Bild
in ungefähr dieser Größe, mehr als einen
Meter breit und hoch, gescheitert bin. Dieser
„Schinken“ (so nannte meine Oma ein großes
schwer gemaltes Ölbild, wie es vielleicht bei
irgendeinem Onkel im Wohnzimmer hängt)
steht umgedreht im Keller des Hauses meiner
Eltern und wird möglicherweise bald
einer Entrümpelung zum Opfer fallen. Inzwischen
scheitere ich nicht mehr am Format,
alle späteren großen Bilder wurden fertig.
Man muss es wirklich wollen. Diese nicht
wirklich zu erforschenden Gedanken warum
ich male, mischen sich hartnäckig in solche
hinein, die pragmatisch beschreiben, wie ich
das mache, warum? Insofern, ich habe das
schon angedeutet, halten wir einen Schlüssel
zu unserem Herzen, zu unserem Selbst in der
Hand, wenn wir dieses Denken als nützliches
Instrument besserer Orientierung begreifen.
Die Bewusstheit meines Tuns ist mein individuelles
Navi.
Ich könnte einfach behaupten, na ja, links
oben fange ich an zu malen und rechts unten
in der Ecke bin ich nach drei Wochen fertig,
Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 9 [Seite 9 bis 12]
so ist das. So ist es aber nicht. Eine Antwort
auf die Frage, wie ein Bild von mir gemalt
wird, lässt sich nur mit der Beschreibung
meiner täglichen Motivation weiterzumachen
erklären und den Strategien, mich in
diesen Zustand zu versetzen. Was muss ich
typischerweise anstellen, um etwas an dem
Bild zu tun, und was bedeutet das praktisch
auf der Leinwand? Schwer zu sagen. Sie sehen
schon, es macht mir Umstände, eine genaue
Antwort hinzubekommen. Es braucht
einen ganz persönlichen Grund für das jeweilige
Bild. Etwas, was ich nicht gut mit Worten
sagen kann, und genauso für mein Durchhaltevermögen
das Bild fortzumalen, über viele
Wochen. Anerkennung und Geldgewinn sind
kein Grund, es geht tiefer.
Der Kauf der Leinwand bei Boesner ist einfach.
Da ist alles fertig abgepackt, man muss
nur an die kleinen Keile denken, die sind
extra, und man bekommt sie in genügender
Menge so dazu. Man kann zu Jerwitz gehen,
wenn es einem bei Boesner nicht gefällt und
bestimmt gibt es noch andere gute Anbieter
fertig grundierter Leinwand. Zu Beginn
malte ich auf Holz, Tischlerplatte aus dem
Baumarkt, und die Rückseite dieser Platten
habe ich ebenfalls angemalt, damit das
Holz nicht krumm wird. Dann habe ich diese
Bilder mit Aluminiumleiste gerahmt, wie
ich es von Otto Ruths gelernt habe. (Otto
war mein wichtigster Prof. und Freund). Das
große Bild im Keller, das aus dem Studium,
dieses Ding, das ich nicht zu Ende brachte,
ist auf einem selbst zusammen montierten
Keilrahmen gemalt, den wir in einzelnen
Leisten bei Jerwitz einkauften. Dazu gab es
einen großen Lappen echter Leinwand, und
die haben wir unter fachkundiger Beobachtung
von Almut Heise mit dem Keilrahmen
verbunden, wir haben sie angetackert. Dann
wurde mit weißer Wandfarbe grundiert. Ich
machte eine Skizze, bevor ich malte, und die
Professorin bewertete diese so: „Gut. Ohne
Vorbereitung klappt es nicht. Aber zu exakt
darf die Skizze nicht sein. Sonst erlebt man
auf dem Bild nichts mehr.“ Darin steckt wieder
diese Befürchtung, dass bei zu genauer
Vorbereitung etwas vorweg genommen wird,
die Motivation das eigentliche Bild umzusetzen
beschädigt und weiter die Weisheit, dass
das Malen so befriedigend ist, weil du dabei
etwas erleben kannst. Du kannst haben, dass
du dich selbst überrascht, weil einige formale
Lösungen erst während der Arbeit im Prozess
der Herstellung erschaffen werden. Auf der
anderen Seite führen viele Wege nach Rom.
Mancher bereitet sich gern gut vor und ist
grad deswegen kreativ, jemand anderes darf
sich nicht festlegen, um die Inspiration nicht
zu gefährden.
Auf meine Unsicherheit wie vorzugehen sei
gefragt, antwortete die Professorin Heise:
„Sie müssen eben überall mit allen Farben
malen.“ Ihr Kollege Otto Ruths entgegnete:
„Gut ist auch, den Farbton für speziell eine
bestimmte Stelle exakt zu ermitteln.“ Was
ich wie einen Widerspruch begriff, muss das
nicht sein. Heute mache ich’s so: Ich male
fleckig, mit reichlich verschiedenen Farben
wie ein Impressionist und verdichte im Prozess
allmählich, bis ein nahezu einheitlicher
Ton ermittelt ist. Es muss noch leben. Kleine
Durchblicke lassen den Blick unter die farbige
Fläche zu. Es sind Augen: Sie erzählen die
Geschichte ihrer Entstehung. Ein wenig Buntheit
bleibt rhythmisch verstreut stehen. Das
heißt korrekt: das malerische Prinzip.
Netterweise muss ich meinen Professor
Grossmann erwähnen, der machte das zum
Selbstzweck. Pünktchen malen, nannten wir
das leider abwertend. Weitere Namen führen
zu weit, ich bin nicht mehr Student. Annamaria
Rucktäschel. Gero muss seinen Platz
bekommen, gewürdigt als Professor, Mensch
und Freund: Bei Gero Flurschütz studierte ich
„Informative-Illustration“ und gelangte zu einem
Diplom. Was immer das heißt.
„Ich will sehen, ob ihr das Bild schafft, oder
das Bild euch“, sagte sie, die feine Almut Heise,
die im Nachhinein wichtigste von allen, und
sie sagte auch solche Sachen: „Das Gemälde
muss für diesen Zweck mindestens einen Meter
breit und hoch sein, eventuell noch ein
wenig mehr. Nicht zu klein. Malt ein Familienbild,
Menschen die ihr kennt. Stellt eine
Gruppe auf. Die müssen real zeitlich, wann sie
lebten oder noch leben, so gar nicht zusammen
gewesen sein. Malt eine fiktive Gruppe,
auch stilistisch, ihr könnt so oder so malen,
denkt darüber nach, was ihr eigentlich wollt.
Die Gesichter sollen groß und gut erkennbar
sein. Aber nicht größer, als ein Gesicht in der
Natur ist. Porträts, die größer als wirkliche
Gesichter gemalt sind, machen keinen Sinn.“
Niemand malte sein Bild zu Ende. Wir waren
alle voller Begeisterung angefangen. Frau
Professorin Almut Heise saß, kaum mal mit
uns redend, schon zeitweise mit im Raum,
trank vielleicht ein Bier (aus der Flasche), las
etwas. (Eine wunderschöne Frau, manchmal
gab sie Geschichten zum Besten, und wir haben
sie auch in ihrem Atelier besucht).
Wir durften auch zu allen möglichen anderen
Zeiten in den Raum, wenn etwa keine Vorlesungen
sonst wo stattfanden. Und das nutzten
wir, nach ein oder zwei Semestern am
Bild irgendwie, um einer nach dem anderen,
klammheimlich, jeder mit mehr oder weniger
eingekniffenem Schwanz, unser Bild nicht
recht fertig gemalt, nach Haus zu nehmen.
Wir umschifften das Thema bei späteren Treffen.
Susanne fing in der Werbung was an zu
machen, ich illustrierte (weit unter meinem
Talent) die Zeitschrift Yacht (am Computer).
Dass ich heute male, verdanke ich so sehr
dieser lieben Almut Heise, das weiß ich jetzt.
Man muss es also wollen, sonst schafft man
so eine Fläche nicht. Zum Wie gehört der innere
Antrieb, und den muss ich starten können.
Der Beginn für ein neues Bild, ist bei mir
dort zu suchen, wo ungefähr das aktuelle Bild
fertig wird. Natürlich gibt es Überschneidungen.
Man denkt ja in einem fort. Bevor ich auf
der Leinwand beginne, bereite ich mich vor.
Wenn ich die Leinwand auf die Staffelei stelle,
zeichne ich mit Bleistift ein Raster darauf
und übertrage vorher entworfene Elemente
nach Plan. Ich male nicht drauf los. Ich möchte
spontanes Tun nicht abwerten: Man kann
toll in der Natur schaffen. Ich mache was ich
mache, weil es mir so gefällt und nicht weil
es die richtige Methode ist. Ich kenne die
richtige Art, ein Bild zu malen, nicht. Ich habe
ohnehin kaum Malerei studiert oder gelernt.
Ich kann wirklich gut zeichnen, und da weiß
ich genau, warum und wie und alles, was du
wissen willst. Malen ist mir die autodidaktische
Selbstbefriedigung. Das kann ich nicht.
Das mache ich, so gut es mir eben gelingt.
Ich male nicht einfach ein Foto ab. Ich möchte
eine Geschichte erzählen. Ich möchte etwas
sagen, aber nicht mit Worten. Ich möchte,
dass ich mein Bild schön finde! Mir liegt
nichts am rumgeschredder mit Spachtel oder
so. Ich löse eine ästhetische und thematische
Problemstellung, erforsche, wie ich etwas
ausdrücken kann, was ganz genau mich betrifft
und deswegen auch andere. Ich fange
bei mir an. Ich frage nicht: „Was könnte interessieren?“
Ich beginne dort, wo es mich nicht
mehr loslässt. Auch zu beschreiben ist, dass
jedes Bild auf vorangegangene Bilder folgt
und insofern ein Fahrwasser meines Lebens
abgesegelt wird, eine Entwicklung. „Mal doch
mal deine Familie“, sagte meine Freundin
(nicht die mit dem Kind) abschließend – und
ging „ganz weit“ weg; das klang so doof für
mich, nach allem was war – gar nichts begriffen!
Jetzt ist der thematische Rahmen ungefähr
erklärt, zugegeben so, dass nicht all zu viel
gesagt ist. Aber die Inhalte sollten ja ästhetisch
transportiert sein, da muss ich’s nicht
haarklein schreiben? Ich habe eine Idee, ich
skizziere eventuell, beginne Fotos zu machen,
suche passende Fotoelemente im Internet,
und ich montiere am Computer eine
Arbeitsgrundlage für das Bild. Dann übertrag
ich das per Bleistift und mit Pauspapier,
nachdem ich ausdruckte, auf die Leinwand.
Ich verwende eine dunkle Farbe, wie Indigo
oder Vandyckbraun und fange damit an, Teile
der Zeichnung malerisch konkret werden zu
lassen. Wenn etwas nicht so treffend gelingt,
beginne ich mit weiß zusätzlich.
Nun kommt es drauf an, wonach mir ist,
schwer zu begründen; es kommt vor, dass
ich inselhaft einen kleineren Teil farbig recht
vollständig ausführe und den Rest der Leinwand
einfach weiß stehen lasse oder ich
sehe zu, möglichst zügig eine Art Untermalung
überall hinzubekommen, so dass das
Ganze recht fertig wirkt. Das mache ich mal
so, mal so. Wichtig ist, nicht überall gleichzeitig
etwas anzufangen. Etwa, als würde man,
nachdem man sich ein renovierungsbedürftiges
Haus gekauft hat, ausgestattet mit einem
großen Traum, wie das alles mal werden wird,
übernehmen. Man saniert in jedem Raum nur
einen Teil, und das selbstgeschaffene Chaos
ist schließlich erdrückend. Besser ist es, einen
Fußboden fertig zu verlegen, sagen wir
im Wohnzimmer. Du kannst alle Fenster übermalen
und anschließend machst du die Küche.
Schlecht wäre, den neuen Fußboden an
einer Stelle ein wenig anzufangen, parallel in
die Küche zu gehen, mit einem Teil der Arbeit.
Die alten Tapeten etwa: sie werden an einer
Wand halb runtergekratzt oder drei Kacheln
versuchsweise abgeschlagen, aber dann seid
ihr erschöpft! Ihr könnt den Laden nicht mehr
sehen. Mit einer Vision von neuer skandinavischer
Frische brecht ihr auf. Ihr kauft im Sonderangebot
vier Farbeimer mit Schwedenrot
im Baumarkt, und deine Freundin malt mit
Tränen vor Glück wie alles werden wird ein
Fenster links vorn der Straßenseite rot an.
Das kann so in der Vielzahl der begonnenen
Baustellen im Messiehaus enden!
Deshalb ist die Grundregel: Ein Bild muss
immer fertig sein. Das ist wichtig. Fertig bedeutet,
am jeweiligen Tag genau so lang zu
malen, bis etwas dasteht das morgen oder
nächste Woche, wenn ich wieder dazu komme
weiterzumachen, gefällt (und Anreize gibt
wieder loszulegen). Wenn ich wieder dran
gehe genauso: Wo ist das Bild gerade jetzt
noch am schlechtesten? Wo ist die aktuell
schwächste Stelle? Dort zu malen, dazu muss
man sich eventuell zwingen. Es ist nicht gut,
eine gute Stelle immer besser zu machen. Es
kann schwierig sein, diesen nötigen Ort an
Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 10 [Seite 9 bis 12]
dem man sinnvollerweise weiter malt, auf
der Fläche genau zu lokalisieren. Wenn du
dir aber recht sicher bist, findet sich auch die
starke Motivation, genau hier voranzukommen.
Immer gut arbeiten, schnell voranmachen,
was ist nun richtig? Sei gründlich. Es ist
schlecht, eine Sache hinzupfuschen, im Gedanken
das reicht erstmal. Schlechte Stellen
sind schlecht und ziehen alles runter. Dazu
musst du wissen, was du genau als schlecht
empfindest, das ist wichtig!
Da kommt irgendwann der Punkt: Mein Bild,
jetzt kann es nicht mehr weg! Wie soll ich das
sagen? Es gibt auf dem Weg fertig zu werden
auch Zweifel. Manchmal eine schlimme Sache,
wer gibt es gern zu? Das sind so Schwierigkeiten,
man hat einen Sinn dafür, wie das
Auge des Betrachters den Elementen auf der
Fläche gern folgen möchte, Schwerpunkte
und Spannungen durch die
Richtungen und thematische
Kanäle einer Bildidee geleitet
zu werden, und spürt wenn es
Fehler in dieser Logik gibt.
Das ist beinahe eine unbewusste
Angelegenheit, eine
Art Denken direkt in Farbe
und Form. Nun möchte man
Stabilität, und so wie es beim
Segeln einer Regatta heißt,
die Schläge auf die Luvtonne
müssen immer kürzer werden,
muss man dem Bild als Ganzes
zielführend zuarbeiten.
Effektivität bedeutet einen
Rohling vom Bild zu erwirken,
der schon gut funktioniert. Es
beginnt Spaß zu machen, darauf
herumzuschauen. Das ist
wohl, wenn überall Farbe ist und einigermaßen
exakte Form, es sieht nicht gepfuscht aus,
ist noch gut zu steigern, wir freuen uns drauf,
farbliche Spannungen bald gekonnt ausreizen
zu können, wie eine gute Trimmung des
Segels, aber es fährt auch so schon gut los.
An einem Bild viele Tage oder Wochen arbeiten?
Das ist nicht die Abiturklasse im
Kunstleistungskurs. Ein ganz eigenes Bild zu
erfinden, ist nicht das Kulturhaus soundso,
das einen Wettbewerb zum Thema „x“ ausruft
(so etwas ist nur für spätberufene KünstlerInnen
befriedigend). Man kennt sich irgendwann.
Das wird entscheidender, als Bilder zu
verkaufen. Wie ich lebe, wird wichtiger als
die Existenz an sich. Ich kümmre mich drum,
gleich dem Seemann, der sagt: „Eine Hand
fürs Schiff, eine für dich selbst.“ Wie finde
ich mein Thema, was ist ein originaler „Bassiner“?
Ich versuche exemplarisch, irgendwo
einzusteigen. Erzähle, wie „Verwurstete Heimat“
entstand oder „Schöne Worte“, um dann
die komplizierten Strukturen anzudeuten, die
heute bei mir in Bewegung kommen. Und
die einfachen Anfänge motivischen Denkens
vom Beginn, das deute ich auch an.
Ich arbeitete damals Tag für Tag in einem Beschäftigungsverhältnis
das später unter dem
Begriff „Schein-Selbständigkeit“ einzuordnen
war, kann sein, dass es daran scheiterte? So
fing ich unvernünftigerweise an zu malen. Ich
malte aus dem Fenster raus den Hinterhof,
malte einen Leuchtturm und noch einen nach
einem Foto aus einem Buch, und als ich ein
wenig von diesen Sachen hatte, stellte ich in
einem Café aus. Ich aquarellierte im Urlaub
und stellte aus. Ich verkaufte an Freunde, ich
begann fleißiger zu werden und traute mich
an größere Bilder ran. Ich mal(t)e mit Acryl,
weil es einfacher ist als Ölfarbe. Man benötigt
nicht das Lösungsmittel und hat keinen Geruch
und nicht das Problem der Entsorgung,
und das Malen selbst ist einfach, es schlägt
nichts weg. Wenn es nach mir ginge, könnte
die Acrylfarbe gern etwas länger offen sein.
Ich verwende den Retarder standardmäßig.
Das mit dem Holz habe ich irgendwann zugunsten
typischer Leinwand gelassen, aber
Otto Ruths sagte treffend: „Das lappert nicht.“
Holz ist schon fein als Prinzip, das hat was.
Es ist so ein Prozess, Lehrermeinungen hinter
sich zu lassen.
Ich kann sagen, dass meine ersten Bilder thematisch
nahe an naiver Malerei und im Hobbykunst-Sektor
angesiedelt waren, mir fiel
nichts anderes ein. Allmählich kam ich auf
die Vorlieben persönlicher Inhalte, und dabei
bin ich konsequent geblieben. Als ich „Schöne
Worte“ umsetzte,
ging das
darauf zurück,
dass ich diesen
Spruch eines
extra-schicken
Mädels zu ihrer
Freundin: „Warum
müssen
hässliche Menschen
heiraten?“
aufgeschnappt
habe (zufällig
im selben Waggon,
mit meinem
Sohn in
der Hamburger
un-
Hochbahn
terwegs).
Die Mädels waren noch an der Grenze zum
Erwachsenwerden oder knapp darüber, und
ein Jungesellenabschied bahnte sich (buchstäblich
im Zug) an, aber von recht normalen,
männlichen Mitdreißigern. Das waren wohl
weniger die erhofften Traumprinzen der Teenies.
Mir kamen die vor wie Piet, Klaus und
Schampus, meine Segelfreunde; Tellkamp,
Nielsi, was weiß ich? Welche wie wir, nicht
„Brad Pit“. Einer musste „Kleine-Feiglinge“
verkaufen, und alle waren mit grünen T-
Shirts lustig angezogen. Spießer auf Mutprobe
für einen Tag. Die süßen und schicken
Teens saßen tuschelnd einige Plätze entfernt
und bewerteten die alten, bärtigen und wenig
gepflegten Jungs (die sicher gestandene
Männer im Beruf waren) abfällig. Wir stiegen
gemeinsam aus.
Ich fand die Mädchen scharf. Ich dachte an
meine eigene Hochzeit, die schon zurück
liegt, und ich bin ja lang verheiratet. Ehrlich,
ich wäre nie der Traummann einer so attraktiven
und begehrenswert, schnuckeligen Lütten
gewesen (und werde es aller Wahrscheinlichkeit
nie werden). Ich bin kein Wendler.
Diese Szene in der Bahn, weiter über den
Ausgang Hoheluft oder so, irgendwo oben,
wo die Hamburger U-Bahn draußen auf Stelzen
geht, wurde die Grundlage für mein Bild.
Natürlich habe ich die beiden (mich so erregenden
jungen Frauen / und zur Peinlichkeit
meines Sohnes) noch angequatscht, bis hinunter
an die Bushaltestelle, wo langverheiratete
Senioren und zwei von oben bis unten
in pechschwarzen Klamotten, mit allerlei
Sicherheitsnadeln an mutwilligen Rissen zusammengehalten
und im Gesicht mit reichlich
Piercing übel vernagelte, tätowierte und
glücklich verschmuste, fette Punks standen.
Daraus ein Bild zu schaffen, denn die reale
Situation hätte man höchstens erzählen oder
als Film darstellen können, war eine Herausforderung.
Den Hauptbahnhof wählte ich, um
eine breite Bühne zu schaffen. Nur eines der
praktischen Probleme. Eigentlich ist das Bild
schwach; gegen alles, was mir damals durch
den Kopf ging. Perfektion, ich bin immer noch
weit weg, vom möglichen kreativen Ziel und
kann mich meinen Idealen noch lange annähern.
Das ist doch gut, nicht wahr? Das ist
eine grundsätzliche Motivation.
„Verwurstete Heimat“, ich war mit der Jolle
unterwegs, allein, ein schöner Sommerabend.
Ich segelte nett unter Spi dahin, hatte die Pinne
bequem festgebunden, saß mehr vorn an
Deck, auf dem Platz, wo für gewöhnlich der
Vorschoter wirkt und steuerte nach Gewicht,
ich kann das. Ich war etwa auf der Höhe der
„Geheimnisinsel“ vor Fährmannsand, als die
„Barmbek“ elbab ging. Ein Containerschiff,
nicht besonders groß. Heimathafen „Monrovia“
stand am Heck; der war also ausgeflaggt.
Gleichzeitig kam gerade die Debatte um die
„Deutschland“ auf: Ein Schiff mit diesem Namen
auszuflaggen, das ging dann sogar dem
Kapitän zu weit, weil das doch einigermaßen
seltsam klingt, wenn statt Neustadt in Holstein
(oder so) der Heimathafen auf den Bahamas
(oder was weiß ich) ist.
Blankenese, wie kamen die Würste in das
Bild? Das ist schon schwieriger zu erklären.
„Alles sollte persönlich sein“, sagt Meg Ryan in
einem Film, Neapel lässt grüßen. Meine ganz
eigenen Fragen werden zu Bildern: Kann eine
gute Pizza wirklich nur Euro 3,95 kosten?
Auch „Zeitgeister“ ist kompliziert und „Malen
hilft“ wird nicht mehr gezeigt! Grenzen sind
welche, und das ist auch gut so. Ich habe die
Signatur aus der Leinwand geschnitten, bei
„Vorsicht Startbahn!“ genauso. „Mal kurz für
immer“, Willy hat es wohl weggeworfen? Im
Schredder der Pinneberger Kriminalpolizei
geendet, nehme ich an. So viele Mauersteine
umsonst für nix gemalt. Umsonst sei der Tod
heißt es. Den eigenen Tod zu überleben, ist
so unglaublich, wie an Christus zu glauben.
Im Moment male ich „Gurken und Rosen“, und
wir müssen mal schauen, auf welcher Seite
der Grenze von wem das Bild später ist. Ich
bin nun in der glücklichen Lage, Bilder für
mich allein zu malen, frei vom inneren Druck,
mich irgendwo um eine Ausstellung zu bewerben.
Die Freiheit ist im Kopf. Abhängig ist
jeder; aber selbst im Knast bist du frei, wenn
deine Gedanken dir selbst gehören.
Einige praktische Dinge: Schön ist, wenn
das Licht von links kommt. Gut ist, wenn
keine Sonne draufknallt, auf die Leinwand
(und es trotzdem schön hell ist), und bei
Lampenlicht finde ich es doof zu malen. Ich
habe normale Beleuchtung, und die ist mau
und gelb im Vergleich zum Tageslicht. Blöd
ist, wenn der Stuhl irgendwo hängen bleibt,
ich unversehens zurückrollend den Tisch abramme,
versehentlich das Malwasser umstoße,
und blöd ist meine Frau, wenn sie saugt
während ich male (weil der Lärm penetrant
nervt, auch wenn das von unten nur entfernt
aus dem Erdgeschoss zu mir ins Dachoberstübchen
tönt). Doof ist, wenn unbemerkt die
gelegentlich mit Retarder frisch angerührte,
zufällig recht flüssige Farbe an einer Stelle
unbemerkt von der Palette rutscht. Sagen
wir, das „Kadmiumrot-hell“ flutscht mir als
Ganzes von der in meiner Hand unbewusst
leicht schräg gehaltenen Farbmischplatte
auf die Hose, und ich merke das nicht. Das
Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 11 [Seite 9 bis 12]
hatte ich schon, auch einmal mit dem bösen
„Permanentgrün-hell“. Permanent bescheuert
ist diese Farbe! Sie weiß nie, was ich von ihr
will und hat eigene Teufel in sich. Auch wenn
ich versuche, exakt zu mischen: Nie ist irgendwas
richtig.Immer muss ich ein weiteres
Mal korrigieren, das dauert. Und dann noch
schlitternde Farbfladen? Es kommt darauf
an, welche Farbe gerade oben oder unten
auf der Palette angeordnet ist (die ich in der
linken Hand, den Daumen im dafür vorgesehenen
Loch platziert halte), und das mache
ich je nach dem Plan, was ich heute schaffen
möchte, verschieden. Die oberen Farben rutschen
auf der Palette zur Mitte, und manchmal
rutscht auch gar nichts. Man rührt das
nicht immer gleich, auf die selbe Art zusammen,
und es ist auch mal kalt, mal warm. Das
Wetter, der Sommer und solche Sachen.
Auf meinen Bildern kannst du was erkennen,
und das ist auch gut so. Ich möchte gegenstandslose
Bilder nicht abwerten, aber für
mich ist es nichts. Ich muss auch nicht wetteifern
damit, wie fotorealistisch ich bin, im Vergleich
mit was weiß ich. Ich muss es schaffen,
mein Thema auf den Punkt zu bringen, und
da kann ich mir selbst nicht bei in die Tasche
lügen. Ich höre erst auf, wenn ich fertig bin.
Was genau mein Thema ist, auch das ändert
sich während der Bildfindung, leider. Was ist
schon der eigene Wille, wenn der liebe Gott
immer mitmalt, das kann nur begreifen, wer
genau sein will und perfekt. Da kommt dann
immer was dazwischen. Darum ist es wohl
Kunst und nicht Wullst. Denn der menschliche
Wille – er ist beim stärksten Künstler am
kleinsten wohl.
Schenefeld im Mai 2019
Mai 14, 2019 - Du musst es wirklich wollen? 12 [Seite 9 bis 12]
Wir sind noch selbst die Natur
Jul 24, 2019
Nordkirche: Erstmals weniger als zwei Millionen
Mitglieder, Schenefelder Tageblatt
vom Sonnabend, 20. Juli 2019 – „Wofür der
christliche Glaube steht, ist für viele Menschen
nicht mehr verständlich“, sagte gestern
die Landesbischöfin (…), Kristina Kühnbaum-
Schmidt, heißt es dort.
Das liegt wohl daran, dass die Kirche sich als
eine soziale Institution unter vielen anderen
zeigt. Ist Religion grundsätzlich sozial, also
an erster Stelle gemeinschaftlich zu begreifen,
wir sind die Weltbessermacher? Oder
sollte die Kirche nicht idealerweise auf den
einzelnen Gläubigen (innerhalb der anderen)
schauen, dem Menschen Orientierung sein,
einen guten Weg als Möglichkeit aufzeigen?
Wenn suggeriert wird, es sei bereits durch
die Mitgliedschaft belegt, der Gemeinschaft
der guten oder sogar besseren Menschen
anzugehören, kann dieser hohe Anspruch
leicht verfehlt werden. Wenn sich die Kirche
mit sozialen Hilfsorganisationen gleichstellt,
gerät sie in die bekannten Probleme solcher
Institutionen. Besinnt sie sich stattdessen
auf ihre eigenen Werte, nämlich Menschen
in eine verbesserte Welt erst hinführen zu
wollen, muss diese Gemeinschaft nicht fertig
oder perfekt sein. Das hieße Schwäche innerhalb
der Kirche zuzulassen. Eine quasi offene
Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft.
Wenn Pastoren und Priester annehmen, als
Hirte nur den weißen Schafen vorzustehen,
bilden die anderen außerhalb eben eine größer
werdende eigene Herde aus, und die ist
möglicherweise nicht einmal schwarz, sondern
bunter und vielfältiger.
Viele Menschen (und nicht die schlechtesten)
sind da, die sagen: Wir können gut und
menschlich sein, auch ohne die Rituale einer
Kirche, und die beweisen es uns Tag für Tag
so nebenbei. Sie tragen die Gesellschaft ohne
viel Aufhebens. Sie treten für sich ein, machen
ihren Weg, helfen unspektakulär wenn es mal
passt. Dafür benötigen sie kein Ehrenamt. Es
ist ihr Selbstverständnis abzugeben, wenn es
noch für andere langt. Sie geben dem Bettler,
nehmen ihn aber nicht mit in ihr Haus. Sie
öffnen sich, und setzen doch eine Grenze, sie
sind gesund. Wir folgen ihnen gern, sie sind
in der Kirche, sie sind nicht in der Kirche, das
ist nicht wichtig. Auf der anderen Seite gibt
es Menschen, die krank werden am Anspruch
kirchlicher Gebote. Sie beten, sie missionieren
uns, sie nerven – sie sind erkennbar nicht
gesund. Es ist eine Wahrheit, dass manche
besser dran sind, die überkommene Glaubensdogmen
ablegen konnten. Vielleicht
tut uns eine schlanke Kirche sogar gut? Gott
selbst kann niemand abschaffen, wenn er um
uns herum wahrhaftig da ist. Lassen wir es
doch drauf ankommen!
Wir finden immer wieder neue, machtorientierte
Bosse ohne Skrupel, die innerhalb
der Gesellschaft wirtschaftlich kraftvoll aufsteigen.
Es gibt wohl schon Menschen, die
sich deutlich über das Gesetz stellen und
dennoch mehr und mehr Macht um sich
versammeln können. Jedenfalls ist das eine
Annahme, die durch zahlreiche Skandale in
Wirtschaft und Politik immer wieder neue
Nahrung erhält. Wenn die christliche Predigt
diese Leute nicht sozial mäßigen kann und
eher durchsetzungsarme Mitglieder eine
Glaubensgemeinschaft bilden, entsteht das
Bild einer schwachen Kirche. Das wäre eine
Gemeinschaft der Ohnmächtigen. Die Bibel
zeichnet ein anderes Bild. Der Gläubige
scheint dort auch unterlegen in schwierigen
Lagen und gewinnt erst allmählich innere
Stärke, kommt gerade durch Zweifel, Skrupel
und eigene Fehler zu einem besseren Selbst.
Vielleicht muss der moderne Gott suchende
Mensch akzeptieren, dass es Zeitgenossen
gibt, die ihn scheinbar mühelos beiseite
drücken und feist-zufrieden konsumieren?
Das sieht nach frechem Glück aus! Wer ohne
Glaube befriedigend leben kann, ist besser
dran, als ein Mensch, der glaubt Ansprüchen
genügen zu müssen, an denen schon einige
zerbrochen sind. Wir wollen doch nicht feist
und frech sein, wir wollen nicht gemobbt und
verarscht werden. Das ist eine Herausforderung:
Wer lernte anderen wehzutun, als das
Ergebnis der Überlegung, ich kann jetzt auch
tun wie die anderen, erlebt Befriedigung
darin nur, wenn er den Hass grundsätzlich
kultiviert. Muss zulassen, alle Sensibilität gegenüber
der früher selbstverständlichen Empathie
zu vergessen, als wäre eine Denkweise
ausgestorben, wie eine Tiergattung auf unserem
Planeten. Das faszinierende, sich selbst
in diese Richtung gehen zu lassen, ist den
Punkt innerer Umkehr zu bemerken – etwa,
wie ein frustrierter Ehepartner in langjähriger
Ehe nach einiger Zeit bemerkt, dass sein
Maulen nun nicht mehr nützt. Wenn der Rat
darin bestünde, nutze deine Ellbogen ohne
Gewissen, und es dazu keine Alternative gibt,
dann wäre die Welt ein Spielball der Asozialen.
Das ist sie aber noch nie gewesen.
Glaube kann frei machen, und dafür muss die
Kirche offen bleiben, mutig gegenüber sinkenden
Mitgliederzahlen, sich auf den Kern
ihres Wesens besinnen. Jesus Christus, dieser
langhaarige Spinner (so wie wir es von den
Gemälden kennen), dieser Aufrührer damals
in Jerusalem (nicht wenige werden ihn so
gesehen haben), den der Mob angeklagt und
schließlich angenagelt hat, unser Messias!
– der war anders. Er stand vor dem Tempel,
nicht auf der Kanzel drinnen, er mauerte sich
keinen Dom; er hat solange geredet, gepredigt,
bis einige genug hatten. Der hatte zum
Schluss nicht nur sinkende Mitgliederzahlen,
der hatte so viele „Daumen runter“, dass er
gekreuzigt wurde und starb.
Das wirkt bis heute nach.
Da sind wohl einige, die nicht glauben wollen,
dass der Heiland anschließend noch herumspazierte,
schließlich locker und zufrieden
angesichts seines Gesamtkunstwerks mit Vaters
Gnade in den Himmel aufgefahren ist.
Allein die Beschreibungen der letzten Tage
und Stunden im Leben vom Mann aus Nazareth,
regen bis heute immer wieder dazu an,
dargestellt zu werden. Im Film oder durch die
wiederholten Lesungen in den Kirchen. Es erschüttert
noch immer. Das ist der Mensch!
Vielfältig motivierte Demonstranten, wie
auch die zur Kirche gehörenden Bischöfe,
zeigen sich solidarisch mit den Rettern der
Flüchtlinge im Mittelmeer. Sie ziehen sich
eine leuchtend rote Schwimmweste über.
Hilft uns das? Das kann auch eine locker umgehängte
Maske sein, denn wir selbst bleiben
ja sicher an Land dabei. In Italien leben
Menschen. Irritierend ist das dünne, leicht
als fadenscheinig erkennbare Mäntelchen,
mit dem sich selbst für gut und besser Erklärende
gern behängen. In den verschiedenen
Leitungsämtern der Politik und den Kirchen
(manchmal) und natürlich überall in den Medien,
wenn wegen „irgendwas“ ein Aufschrei
durch die Nation geht. Wie an jedem Stammtisch.
Eine gute Predigt muss kreativ stark
sein, nicht nur im Chor harmonieren: Ich bin
auch dafür, wo die dagegen sind, und aus sicherer
Distanz leicht mal „dabei“ mitschwimmen-
und schwingen.
Jesus Christus gab sich ganz und gar hin, er
verkörperte seine Mahnung so sehr, dass er
zum Opfer der Welt um ihn herum wurde.
Er wich der persönlichen Gefahr nicht aus,
sprang quasi selbst ins Meer, um die Menschen
da heraus zu fischen. Und um bei diesem
Bild zu bleiben, weil es zum Weiterdenken
animiert und wir es in die heutige Zeit
projizieren können: Jesus fischte Menschen,
und da waren auch aggressive, wie gefährlich
zuschnappende Haie dabei. Es stimmt, dass
andere schuld sind. Aber wir sind selbst doch
auch die anderen, bitte. Was auch immer
ungerechtes weltweit medial uns erreicht,
reflexartig reagiert eine breite Palette sozial
sich engagierender Menschen. Das rote
Kreuz, die Seawatch, Greenpeace, der weiße
Ring, die Gewerkschaften und die großen Kirchen,
sie unterscheiden sich marginal. Etwa
wie die „guten“ Parteien in der Politik, bei
denen derzeit die grüne Farbe im Trend vorn
liegt. Konkurrieren evangelische und katholische
Kirche, wie SPD und Linkspartei, ist Gott
rot, schwarz oder grün?
Das Problem: Jede Organisation trägt das
Risiko in sich, innerhalb des Systems auch
Fehler zu machen, z.B. Korruption oder Missbrauch,
Ausbeutung der Mitarbeiter, während
man nach außen hin zu den sich für gut erklärenden
Personen gehört. Sind Menschen die
an Gott glauben nur eine Organisation, wie
jede andere Firma und Verein oder verbindet
sie der Glaube und deswegen eine innere
Stärke, die durch die Kirche lediglich einen
Rahmen findet, zum Gebet mit anderen? Die
feste Burg, das ist doch nicht das gemauerte
Gotteshaus. Die Kirche: Ein Vereinshaus, das
soll das nur sein?
Im Spiegel der Welt: Gerade hier könnte die
Kirche sich als von Gott beauftragt unterscheiden.
Sie könnte sich profilieren, im für
sie einzigartig möglichen Unterschied zu jeder
beliebigen sozialen Institution, dadurch,
dass sie sich nicht als eine weitere Polizei
präsentiert. Anprangern kann jeder. Gott vergibt
dir, aber seine Kirche nicht? Der Missbrauchsskandal
in der katholischen Kirche
wird nie befriedigend geklärt werden und
die Opfer werden nie gebührend gewürdigt
und nichts davon wird je umfassend wieder
gut gemacht werden. Das geht gar nicht. Und
nach dem Missbrauch wird immer vor dem
Missbrauch sein.
Jede Schule, Kindergarten, Sportverein und
Kirche, werden immer der Ort sein, wo Menschen
ausgenutzt, vergewaltigt werden. Jede
Psychiatrie birgt das als eine reale Gefahr in
sich. Alle sozialen Vereine für jungen Menschen,
Pfadpfinder, Jugendtreffs. Die Orte,
wo Jugendlichen ohne Orientierung oder die
bereits Opfer von Gewalt geworden sind, geholfen
werden soll, sind zugleich die Anlaufpunkte
für Erwachsene mit dem zwanghaften
Wunsch, sexuelle Macht auszuüben. Das
nährt jede Institution bedrohlich in sich, wie
Unkraut im Garten, ein Aspekt der menschlichen
Natur (wie ja auch immer neue Kriege
losbrechen). Das ist unabhängig von Glaube
Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 13 [Seite 13 bis 16]
und Kirche zu verstehen; obwohl Missbrauch
dort natürlich den Zorn der sich von Gott verlassen
fühlenden Menschen noch anfeuert.
Wir sind schwach und böse. Ob ein Mensch
nun Teil der Gläubigen ist oder nicht, spielt
keine Rolle. Es gibt keine „guten“ Menschen.
Ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ein
(noch) aktueller Bericht illustriert, wie leicht
Missbrauch bagatellisiert wird, nicht nur wie
z.B. gerade heute in den Nachrichten, bei den
Regensburger Domspatzen in Kirchenumgebung.
Tagesschau Investigativ / Das Portal für die
Recherchen der ARD
MONITOR: Missbrauch im Saarland, Nikolaus
Steiner, WDR, 24.06.19
Universitätsklinikum des Saarlandes/Möglicher
Kindesmissbrauch in etlichen Fällen
Über Jahre soll ein Assistenzarzt im Universitätsklinikum
in Homburg etliche Kinder
sexuell missbraucht haben. Laut Monitor-
Recherchen wurden die betroffenen Eltern
nicht informiert, obwohl das Klinikum schon
Anzeige erstattet hatte. (…) hat ein Assistenzarzt,
der zwischen 2010 und 2014 am Universitätsklinikum
des Saarlandes in Homburg
tätig war, in einer Vielzahl von Fällen intime
Behandlungen an Kindern vorgenommen, die
medizinisch nicht erforderlich waren. Der Klinik
lagen dabei schon früh Hinweise auf eine
pädophile Neigung des Mediziners vor. Die
möglichen Opfer und deren Eltern wurden
jedoch selbst dann noch nicht in Kenntnis
gesetzt, als die Uniklinik Ende 2014 Strafanzeige
gegen den Arzt stellte und die Staatsanwaltschaft
Saarbrücken wenig später ein
Ermittlungsverfahren einleitete.
(…) hatte an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Hunderte von Kindern behandelt.
Die Behandlung intimer Körperzonen gehörte
eigentlich nicht zu seinen Aufgaben.
Nach Recherchen von Monitor ergab eine
stichprobenartige Überprüfung der Behandlungsakten
durch den Klinikdirektor, dass 95
Prozent der Behandlungen (…) medizinisch
nicht indiziert waren. Wie viele Patienten betroffen
sind, ist bis heute unklar. Außerhalb
des Klinikums war der Tatverdächtige in der
Jugendarbeit tätig. Auch hier gab es Hinweise
auf sexuellen Missbrauch – die Dimension ist
jedoch unklar. (…)
Der Assistenzarzt ist im Jahr 2016 plötzlich
verstorben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
Saarbrücken wurden daraufhin
eingestellt. Auch in der Folge wurden andere
mögliche Opfer offenbar nicht informiert.
(…) Eine Anwältin betroffener Eltern,
die durch Zufall von den Vorkommnissen
erfahren hatten, wandte sich im April 2019
an den Ministerpräsidenten des Saarlandes,
dessen Staatskanzlei als Aufsichtsbehörde
für das Universitätsklinikum fungiert. Dort
kam man daraufhin zu der Entscheidung, nun
doch einen Teil der betroffenen Eltern über
die Missbrauchsvorwürfe in Kenntnis zu setzen.
(…) MONITOR: Missbrauch im Saarland/
Nikolaus Steiner, WDR 24.06.2019 07:36 Uhr/
Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk
am 24. Juni 2019 um 06:18 Uhr.
Mich hat erschüttert, als dieser Fall im Fernsehen
lief, wie rational und überzeugend ein
Mitarbeiter darstellen konnte, warum man
das seinerzeit nicht öffentlich gemacht hatte:
„Wir haben uns gedacht, wir schützen die
psychisch schwachen Kinder auf diese Art.
Die werden einfach angenommen haben, so
etwas gehörte zu der ihnen helfenden Behandlung
dazu, weil es ja ein Arzt war, der
das machte.“ Psychisch Kranke sind so doof,
die merken nix? Waren nur Kinder, und wir
sind erwachsen, wir sind Arzt.
Missbrauch im Gotteshaus ist nur der zufällige
Ort, an dem es geschieht. Der Kirche Heuchelei
vorzuwerfen und deswegen auszutreten,
bedeutet sich selbst außerhalb der Glaubensgemeinschaft
als den besseren Christen
darzustellen. Das ist intellektuelle Akrobatik,
mehr nicht. Wer sich auf diese Art profiliert,
beschneidet sich um das gemeinschaftliche
Glaubenserlebnis in einem Kirchenraum bei
einer Andacht. Nimmt sich die tiefe Geborgenheit
durch das christliche Miteinander
bei wesentlichen Lebensereignissen, Heirat,
Taufe, Konfirmation, und Beerdigung von Angehörigen.
Ganz schön kurzsichtig.
Gewalt ist Realität und besser ist doch, daraus
eine Kraft für eine menschlichere Gesellschaft
zu formen, als so zu tun, als ob man
etwas verstünde, was in Wirklichkeit keiner
kann. Niemand ist einfach so mal gut. Das
hängt sehr davon ab wo und an welchem
Ort der Welt und mit welcher Geschichte im
eigenen Gepäck der Mensch seinen Lebensplatz
hat. Und von der jeweiligen Situation.
Es ist leicht, mangelnde Zivilcourage anzuprangern,
wenn wir einen Vorfall in den
Medien kommentieren, aber schwerer ist
es, mutig zu sein, wenn der Moment es erfordert.
Schon immer haben Männer Frauen
vergewaltigt und werden es weiter tun. Es ist
ein natürlicher Unterschied, dass ein Mann
einen Penis hat, hart wie eine Waffe, wenn
er es so versteht, und die Frau eine natürliche
Öffnung an dieser Stelle ihres Körpers.
Es ist ein natürlicher Fakt, dass Männer in
der Regel kräftiger sind, und seit je haben
Soldaten, nachdem sie eine Stadt eroberten,
die Frauen im Ort vergewaltigt. Schon immer
haben Menschen, denen Macht über andere,
auch über Kinder zugefallen ist, das ausgenutzt.
Zu allen Zeiten haben inselhafte Gruppen
der Gesellschaft Raum für Missbrauch
gelassen und werden das weiter tun. Warum
so tun, als ob das alles eines schönen Tages
nicht mehr ist, so tun als ob du als Verkünder
dieser neuen Welt die Macht hast, das Unheil
an sich abzuschaffen oder es bei dir selbst
nicht existiert? Das können nur ganz naive
Menschen glauben. Die Kirche wird nur ernst
genommen, wenn Sie nicht wie ein Feuer
schwenkende Schamane oder als betakelter
Ordensonkel daherkommt. Glaube darf gern
real sein und handfest.
Ist die Kirche vielleicht ein zahnloser Tiger?
Gibt es eine spürbare Macht des Glaubens, wo
ist die Stärke zu finden bei denen, die glauben?
Kann ein gläubiger Mensch kraftvoll für
etwas stehen und ist deswegen in der heutigen
Zeit (noch) echter Bedarf dafür? Manche
tun alle Wunder der Bibel als Märchen ab.
Andere versuchen sich noch zu retten, wenn
wieder ein Forscher die geschichtliche Wahrheit,
anders als im biblischen Geschichtenbuch,
widerlegt, indem sie uns die Kraft der
Bilder dieser Texte beschwören. Ist da nun
eine praktisch nutzbare Fähigkeit, eine wirkliche
Macht, so wie eine Art Energiestrom
im Film „Krieg der Sterne“, eine anwendbare
Manipulation des Geschehens für einen irdischen
Skywalker auf dem Boden der Realität
unserer Moderne? (Manche suchen noch).
Die moderne Demokratie, der erkämpfte
Rechtsstaat heute: Raum für Kirche, Platz
für Glaube? Mahnt der Gläubige, greift er
ein, leistet er passiven Widerstand und auf
der anderen Seite, wo geht ein gläubiger
Mensch gern mit, sagt: „Ja!“ – mal davon abgesehen,
dass Religionen verschieden sind?
Wie geht der moderne Mensch mit seinen
Raum greifenden Kräften, nachdem wir nun
Jahrtausende lang Zeit hatten, uns kennen
zu lernen, um? Ich habe gegoogelt: Die Legislative
ist in der Staatstheorie neben der
Exekutive und Judikative eine der drei – bei
Gewaltenteilung voneinander unabhängigen
– Gewalten. (Wikipedia). Hier ist das Wort Gewalt
als anerkannte Kraft legitim. Wir haben
sie aufgeteilt.
Üben auch Gläubige Gewalt aus? Ist es erlaubt,
und wenn, auf welche Weise legitimiert?
Islam, Christentum – es scheint nicht
einmal klar, was die jeweilige Religion ihren
Anhängern genau auferlegt oder freistellt.
Wir diskutieren das immer wieder neu. Ganz
unabhängig davon, bleibt ja eine übergeordnete
Sinnfrage, ob Gott selbst in das Geschehen
auf Erden und im Weltall eingreift,
frei nach Einstein: „Gott würfelt nicht.“ (Albert
Einstein war Physiker). Ein großer Sinn
scheint nicht für alle gleich gut als eine Art
Zweck des Lebens erkennbar, wir hätten das
inzwischen bemerkt. Ein brutaler Serienmörder,
getrieben in perverser Lust, ein verheiratet
und vergleichsweise brav im System
mitlaufender Automechaniker, mit durchschnittlichem
Anspruch an seine Umgebung
– wir können nicht erkennen, dass sie gleich
sind. Der Mensch bleibt blind gegenüber seinem
Sein. Und muss doch handeln.
Gewaltverzicht ist eine grundsätzliche Forderung
des Christen an sich selbst, und heißt
das, es gelingt nach Ansage? Es ist wohl schon
gruselig, was ein Polizist heute tun muss, sich
zu tarnen, um das Schlimmste zu beenden.
Genauso gruselig finde ich, wie sehr der
Staat in unser aller privatestes Heim schaun
kann. Denn der Staat (handelt er so auf richterlichen
Verdacht) – das sind Menschen wie
du und ich, deine Nachbarn im Dorf (unter
Umständen). Die Kirche könnte im Verständnis
einer ganzen Welt deutlich machen, dass
Fehler vergeben werden können. Die Kirche
könnte zeigen, dass auf Gewalt zu verzichten
schwierig ist, weil die Welt voller Gewalt ist.
Es könnte uns eine Herausforderung sein,
unsere eigenen Fehler zu bemerken und vor
uns selbst zuzugeben. Es kann bereichern zu
spüren, wie sehr unser Ärger, unsere Wut und
Zorn auf die, die uns verletzen, uns nun wiederum
zum gleichen Hass führt.
Etwas zu merken ist eine Chance, die innersten
Regungen zu vermeiden dagegen riskant.
Es wäre eine einmalige Chance für die Kirche,
die Menschen zu lehren, auf ihre Bösartigkeit
zu verzichten. Als eine Herausforderung, eine
Aufgabe. Nicht, indem mit dem Finger auf
andere gezeigt wird, wie jeder es kann, sondern
durch eine Schau ins eigene Selbst. Ein
gläubiger Mensch bist du in der Erkenntnis
deiner Fehler und deinem Zorn auf andere,
aber eben nicht in der Idee, du wärest ja bei
den Guten (im Register eingetragen) und
kämpfst allein deswegen (bekanntermaßen)
gegen das Schlechte. Dann wäre durch das
Glaubensbekenntnis allein alles böse Tun
in dir nicht länger vorhanden und dir somit
unmöglich? Erfolgreiche Gehirnwäsche zum
saubersten und grundgütigsten Menschen?
Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 14 [Seite 13 bis 16]
Ein riskanter Irrtum bis zu dem Moment,
wo du, gesellschaftlich gesehen, komplett
versagst. Das ist schon vorgekommen. Viele
können sich gar nicht vorstellen, was ihnen
mit ihrer aggressiven Hände und Füße Kraft
möglich ist wie jedermann, und das bedeutet,
wie mit einer Tüte über dem Kopf, Vogel
Strauß zu spielen. Die Leute gehen in ein
Kino, schauen James Bond mit der Lizenz zum
Töten an, der weiß was er tut, der darf das?
Dann ist der Film aus, und die „Tagesschau“
ist ihnen der gleiche Film? Man schaut nicht
länger fern, wir sind stattdessen modern im
Netz unterwegs? Wir wissen Bescheid? Das
Leben ist kein Film. Nicht im Kino, nicht in
der Zeitung, nicht im Fernsehen und nicht im
modernen Internet sind wir.
Wir sind noch selbst die Natur.
Nicht zuzuschlagen und trotzdem frei zu
sein, ist schwierig. In einer Gesellschaft von
gruppenweise verkleisterten Opportunisten,
bedeutet Gewaltlosigkeit nur zu oft eine Art
„kalten“ Krieg gegen jedermann zu führen.
Wer nicht politisch korrekt durchhält und
ausrastet, verliert. Kein Wunder, dass Empathie
und Hilfsbereitschaft zum Marktwert
verkommen. Alle sind nur Prostituierte, wenn
gut zu sein wie ein Wappen ist, mit dem wir
uns maskieren.
Warum treten Menschen aus der Kirche aus?
Wohl kaum, weil sie eingesehen haben, dass
sie selbst jeden Tag ungerecht sind, zu ihrem
Nächsten und nun aufgeben, nach dem Motto,
diese Kirche, sie ist zu anspruchsvoll für mich.
Denken die: Das sind hier alles Gut-Profis neben
mir in der Bankreihe, ich habe unter der
Woche einfach nicht die Zeit dafür, weiter zu
üben, um dieses Level noch neben den Profi-
Gläubigen am Sonntag halten zu können, die
werden bald merken, wie verdorben schwach
und schlecht ich in Wirklichkeit bin, besser,
ich trete schnell aus? Die Menschen wissen
gar nicht was und wie sie etwas tun, sie machen
das, was andere machen.
Möglicherweise ist es eine Anspruchshaltung:
die Kirche, die Vereinsleitung, die Politik,
mein Chef, der Arzt, sie geben mir nicht
genug? Das Ergebnis unserer Konsum gesteuerten
Welt? Ich bezahle euch, also gebt
mir die Befriedigung die der Herr Jesus uns
einst versprochen hat? Das ist nirgends verkehrt
außer in der Kirche. Du gibst dich hin
und bekommst dafür, Glaube ist (wir erinnern
uns) andersherum. Was geben Menschen an,
gefragt warum sie ausgetreten sind? Meinen
Eltern war unter anderem die Kirchensteuer
ein Grund. Sie hatten ein Geschäftshaus gebaut,
waren Kinder des Wirtschaftswunders,
dieser Erfolg zeigte sich so in den achtziger
Jahren, als meine Schwester und ich erwachsen
wurden. Bei kraftvoll anwachsenden
Verdiensten, gleichzeitig den an jeder Ecke
flott steigenden Abgaben zündete ihr Argument:
„Das auch noch zahlen?“ durchaus im
Bekanntenkreis. Wir traten alle vier in kurzem
Abstand aus. Wir fanden das zeitgemäß.
Die verschiedenen Konfirmationen hatten
noch traditionell die Qualität unserer Familie
als gut integriert illustriert. Sie lagen
aber einige Jahre zurück, die Oster- und Weihnachtsfeste
waren bereits kirchenbesuchsfreie
Konsumtage geworden, da gingen wir
leichthin fort. Hat sich das ausgezahlt? Mein
Vater begann zu schimpfen, das machen ja
viele, wenn sie älter werden und es kommt
nicht so sehr darauf an, worauf. Heuchelei
warf er „den Pfaffen“ vor, parallel vermutete
er, die Katholische Kirche wüsste etwas vom
Sinn und Zweck der Welt, ein großes Geheimnis
etwa, wäre im Vatikan gespeichert. So wie
der seinerzeit populäre Erich von Däniken
sich einigermaßen sicher ist, dass wir von
Ausserirdischen besucht wurden.
„Wi lev nich op de erste Welt“, habe „der Alte“
(der bereits verstorbene Vater von meinem
Vater) immer gesagt, und das sollte wohl
noch unterstreichen, dass Papa Willy Bassiner
(genauso wie die Pfaffen in Rom) Dinge gewusst
hatte, die man „uns“ nicht sagte. Bassi’s
Vater war im Krieg nach Spanien strafweise
abkommandiert, nach Internierung. Sein Vergehen:
er hatte lautstark öffentlich gegen
Hitler gewettert: „Dat gift Kriech, de Mann
hat n’ Schaden. In der Mittelmeerfahrt hatte
er (angeblich) einige Heldentaten vollbracht,
als Kapitän des (großen) „Fortiedtje“, einem
(behauptete mein Vater) landesweit bekannten
Hochseeschleppers. Inzwischen überlege
ich, war es vielleicht: „Four Tides“ oder etwas
in der Art?
Maritime Meisterleistungen und Zivilcourage.
Denken wir an Käpt’n Blaubär, der Döntjes
erzählt. Nachts: Im Feuersturm der englischen
Flugzeuge, steht La Spezia in Flammen!
„Kaptein“ Bassiner, „de veerantwortliche
Schipper“ im Geleitzug, löppt mit de
ihm anne Siet gestellten Tankschiffen nich’
ein! Befehlsverweigerung: Kriechsgericht!
Dor kümmt noch bi, he hätt’ de Flak eigenmächtich
wedder afbaut, de se em an denn
Vorsteeven geschruuft harn. Willy har’ dütt
finstre Kriechsgerät e-nfach över Boord
’kippt! He wullt partut nix to doon hebben,
mit denn unmenschlichen Kriech. (Er verhinderte
die sichere Zerstörung vom Geleitzug,
da er erkannte, dass es im Dunkel der Nacht
leicht war, den Angriff auf See unbemerkt abzuwarten,
ging mit ihm anvertrauten Tankern
erst im Morgengrauen in das völlig zerstörte
La Spezia).
Held der zivilen Fahrensleute im Hitler-
Krieg! Er konnte den auf Schiet gelaufenen
Frachter von der Sandbank holen, nachdem
drei spanische Marineschlepper es nicht
schafften. So wurde er im ganzen Land berühmt
(behauptete mein Vater). Der Alte, auch
an Land unerschütterlich, damals: Er hatte,
unten in Spanien, einmal einen Riesenberg
mit goldigem Bargeld, angehäuft auf einem
Tisch, ausgeschlagen. Vorschuss für ein dubioses,
mafiöses und mit der ortsansässigen
Kirche verstricktes Geschäft. In einer Machtund
Wutdemonstration seiner Ehrbarkeit und
Nichtkäuflichkeit, gleich einem betrunken
tobenden Kapitän Haddock, wenn er den Säbel
gegen einen imaginären, roten Rackham
schlägt, hatte er den gesamten Tisch umgestoßen.
Das ganze viele Gold: es kullerte
durch den Raum über den Fußboden. Mit einem
Krachen stürzte der schwere Tisch den
erschrockenen Mafia- und Kirchenpaten vor
die Füße! Das erzählte uns mein Vater gern.
Er war ja nicht dabei. Es blieb dieser Eindruck,
manche wissen mehr, und man sagt es uns
nicht. Vertrauensverlust, vielleicht war das
ein Grund auszutreten? Glaube ist wohl über
das Selbstvertrauen hinaus auch das grundsätzliche
Vertrauen in das Dasein überhaupt.
Die Welt muss einen festen Boden bieten, damit
ich meinem Selbst Dinge zutrauen kann.
Sollte ich vorab sagen, dass ich John Steinbeck,
Conrad, Irving, Böll, Frisch, Watzlawick,
Popper – wirklich alles, was Rang und Namen
hat, rauf und runter gelesen habe, wenn ich
behaupte: Erich von Däniken ist nie blöd
gewesen, der kann schon in der Tradition
von Thor Heyerdahl verstanden werden, das
sind Forscher mit dem Mut, eigene Wege zu
gehen? Sie konnten sich auch selbst damit
finanzieren, weil ihre Ideen plakativ sind.
Was ist schlecht daran? Die Wissenschaft tut
gern wichtig, wenn angestammte langjährige
Fakten hinterfragt werden. (Däniken hat das
Niveau eines Boulevard-Journalisten). Raumfahrt,
wo ist Gott – Verschwörungen? Als zum
Jubiläum der Mondlandung noch einmal der
Start einer Saturn V im Fernsehen lief, habe
ich geweint und mitgefiebert wie damals.
Es wurde auch klar, dass man das nicht faken
kann. Thor Heyerdahl hat sich ernsthaft
forschend und mutig auf seine Fahrten begeben.
Däniken hat mich zumindest mit der
Grabplatte vom Kukumatz nachdenklich machen
können.
Was auch immer war – aus der Kirche trat ich
nicht aus, weil ich nicht glaubte. Mein Grund
war der persönliche Zorn, alleingelassen zu
sein. Weniger von Gott als von meinem Pastor:
Knuth ging nach Afrika, fand die Not dort
größer als in Wedel und kam zurück, um Jutetaschen
auf unserem Marktplatz feilzubieten.
„Jute statt Plastik“, war sein Motto. Wenn
man bedenkt, wie lange das her ist, modern.
Es gab also keinen geregelten Konfirmandenunterricht.
Am Ende einer vollkommen
unstrukturierten Zeit, wurden wir konfirmiert.
Der Pastor hatte sich anfangs der Konfirmandenzeit
einmal vorgestellt, skizziert, was das
Evangelium eigentlich wäre und jedem von
uns eine „Gute Nachricht“, das ist eine halbe
Bibel, in die Hand gedrückt. Er trat erst wieder
an uns heran, als der Tag der Feierlichkeiten
kam: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der
Himmel und Erde gemacht hat.“ Das wurde
mein Konfirmationsspruch. Heute würde ich
sagen, der Herr war weit hinter dem Pluto
in anderen Welten ernsthaft verhindert, und
Pastor Knuth tat wichtige Dinge in Afrika.
Kaum betreut vom jungen Diakon Werner, las
ich einmal in der Woche irgendein Buch der
kircheneigenen Bibliothek weiter, während
der Vertretungspastor in einem Nebenraum
auch irgendwas machte. Es gab dort jede
Menge primitive Sexual-Anleitungs-Bücher!
Wenn ich wieder in der Schule war, musste
ich meinen Freunden Jens und Lenzus neue
Wörter, die ich nun kannte und ihre Bedeutung
(petting), erklären.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das war damals
neu. Es ist ziemlich dick. Ich habe es
ganz gelesen, das war mein Konfirmanden-
Unterricht. Vielleicht habe ich deswegen nie
Drogen genommen, war nie für Geld bei einem
Mädchen; als ich im vergangenen Jahr
nun gelegentlich geschäftlich in St. Georg
unterwegs war, ständig angesprochen, ist mir
das wieder richtig bewusst geworden: „Na,
hast du Lust …?“
Mein lieber alter Vater wurde später stark depressiv.
Sein Traum durch „ranklotzen“ recht
bald arbeitsfrei Rentner zu sein, renommierend
herumzulaufen damit, in der Bahnhofstraße
oder am Yachthafen, ganz frühzeitig
die Arbeit generell aufgeben zu können und
nun nur noch segeln zu gehen, kam nicht
leicht in Gang. Erst allmählich wurde das
besser. Mit dem Auto, mit Bus und Freunden
Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 15 [Seite 13 bis 16]
unterwegs, lange Reisen mit der Segelyacht;
nach und nach fanden meine Eltern noch zu
einigen guten Jahren. Wir Kinder wechselten
nicht stilsicher in das Erwachsenenleben,
meine wiederkehrenden psychischen Erkrankungen
waren doch kaum zu verbergen
und niemand war stolz drauf. Das verdiente
Geld aus unserem Haus und Geschäft finanzierte
und unterstützte mich in wechselnden
Lebenslagen und meine Schwester in wechselnden
Berufen. Wenn meine Hilfe in dieser
Zeit vom Herrn kam, dem, der Himmel und
Erde gemacht hat, dann habe ich sie nicht
wahrgenommen.
Warum trat meine Mutter aus? Weil mein
Vater nicht mehr in der Kirche sein wollte,
ihm zuliebe? Das hat sie gesagt, als sie schon
krank war. Als Kind hat meine Mutter Karl
May rauf und runter gelesen, so begeistert,
dass sie eines schönen Tages zur allgemeinen
Belustigung in der Schule von den anderen
Mädchen mit einem „Großen-Karl-May-
Orden“ aus Pappe behängt wurde. Gerade in
dem Moment, als die Deutsch- und Klassenlehrerin
den Raum betrat. Peinlich. An einer
Schule, die das Abitur zum Ziel hatte, galt
der reißerische und streckenweise doch sehr
schlichte Stil von May nichts, da konnte „der“
deutsche Volksschriftsteller schlechthin, trotz
seines großen Erfolges, nicht punkten. Karl
May hatte es sehr mit dem Glaube, das zieht
sich durch alle Bücher. Ich habe die auch vollständig
gelesen. Heute würde ich sagen, dass
das durchaus bedenklich ist. Es hat mich in
einer Weise geprägt: Ich wollte nie wahrhaben,
dass Old Shatterhand eine Erfindung ist!
Ich glaubte alles. Möglicherweise später ein
Problem in anderen Lebensbereichen? Warum
meine Schwester austrat, kann ich nicht
sagen. Unsere Wege sind schon verschieden!
Wie wäre eine Familie gewesen, die ich gemocht
hätte?
Meine Mutter führte penibel und fleißig Buch
im familiären Betrieb, sie blieb hart, stark und
für sich allein auch ganz bestimmt glücklich,
bis sie schließlich krank wurde und schnell
verstorben ist. Mein Vater folgte bald darauf.
Ihm fehlte jeder Sinn, er sah gar keine Zukunft,
er blieb einfach im Bett liegen, bis er
wund und verhungert und voll mit Wasser in
der Lunge hustend endlich tot war. Ich saß
am Bett, das war ja gar nicht auszuhalten.
Er hatte nicht die Kraft, ein letztes Eisen in
einen weißen Wal Moby Dick zu schleudern
und mit einem Fluch auf den Lippen, angetakelt
und verheddert, verstrickt und gefesselt,
an seinen ganz eigenen Riesenfisch zu versaufen,
wie Ahab. Eine gottlose Familie?
Ich bin wieder in die Kirche eingetreten, habe
meinen Frieden mit mir und dem lieben Gott
gemacht, gefunden. Wir haben die Eltern beerdigt.
Das konnte ich nicht tun, ohne Gott
um Verzeihung zu bitten, und meine Mutter
ging gern, begleitet vom afrikanischen Pastor
und Freund Siaquiyah Davis. Er war unersetzlich
an unserer Seite in schwerer Zeit.
Meinen Vater haben wir still in kleinstem
Kreis beerdigt. Er wollte nicht zurück: Kein
klares Bekenntnis für unseren Herrn konnte
ich ihm entlocken. Und so habe ich seine
Urne selbst über den Friedhofsweg getragen,
nachdem ich auch einige Worte an die wenigen
Trauergäste gerichtet hatte. Ich folgte
dem ernsthaften und professionellen Bestatter.
Ich habe die Urne behutsam in das kleine
Erdloch gesenkt, wie ich es bei Siaquiyah, als
meine Mutter gegangen war, gesehen hatte.
Da ist eine Schlaufe aus dünnem Band
dran befestigt, und du musst aufpassen alles
langsam und geschickt und würdevoll zu
tun, damit nicht noch ein Malheur am Grab
passiert.
Wenn so viele Menschen gar nicht spüren,
was genau ihnen gut tut und wie sehr sie
manches kränkt, dann könnte die Kirche die
möglicherweise noch schwarzen Schafe doch
wie mit einem Spiegel blenden und beleuchten,
so dass das Licht Gottes sie weiß erstrahlen
ließe und sie sich nun hier zum ersten
Mal wohlfühlen? Eine blonde wunderschöne
Carola Rackete funkelt mit ihrem zupackenden
Mut wie eine Fackel der ungebrochenen
Hoffnung auf Rettung und Menschlichkeit, an
Bord im Mittelmeer als Seawatch-Kapitänin.
Sie ist eine amazonenhafte Heldin, hell am
Himmel der Sterne unserer Ideale, wie das
(beinahe) namensgleiche Feuerwerk, dass
wir abfeuern, wenn wir stolz auf uns sind.
Das möchten wir! sein. Wir ziehen eine
Schwimmweste über und demonstrieren. Wir
ziehen einen Zaun zum Reihenhausnachbarn
und prozessieren.
Gut sein und mit Lob belohnt? Wenn du das
willst, kannst du zu unzähligen anderen Vereinen
gehen, nicht zuletzt auch zur Polizei.
Die Kirche ist doch kein Verein! Wo ist die
Kraft des Glaubens, wenn die Pastoren sich
fragen müssen, warum ihnen weniger zuhören?
Ein Prediger sollte wie ein Bettler sein.
Jesus wurde doch verurteilt und öffentlich
gekreuzigt, Seite an Seite mit angeklagten
Verbrechern. Einige Dislikes dürfte der barmherzige
Messias da seinerzeit bekommen
haben. In dieser Tradition stehen wir Christen.
Wer richtet denn? Das steht uns nicht zu,
das ist die Aufgabe von denen, die sich das
zutrauen, bitte. Nehmt es an, ihr Pastoren,
Bischöfe und Bischöfinnen. Ertragt, dass sich
welche abwenden und bleibt an Bord vom
Kirchenschiff. Und wenn das irgendwann nur
noch ein kleines Boot ist. Es ist nicht zu erwarten,
mit Geld überschüttet zu werden und
mit dem Geschenk, unterhalb der Kanzel von
einer großen Menge bewundert zu sein, wie
ein Superstar, wenn man Glaube predigt, was
denkt ihr denn?
Einen Weg innerhalb der Gesellschaft finden,
das eigene Selbst zu formen und mit mehr
als einer gekauften Individualität aus dem
Baukasten dastehen: wie das geht? Das sollte
Kirche aufzeigen. Und das kann sie auch.
Menschen wenden sich ab, zum goldenen
Kalb, und? Das ist kein neues Problem. Die
Schöpfung an sich als verfehlt ansehen? Sich
erst zufrieden zu geben, wenn gar nichts
Böses oder Falsches mehr getan wird? Das
hieße, gegen Fehlverhalten so gründlich
siegen zu wollen, dass der Friede auf Erden
eventuell erdrückend und unmenschlich widernatürlich
würde, wie sich’s niemand vorstellen
kann. Eine so vollkommen künstlich
geregelte Welt, das wir uns darin kaum zurecht
finden. Wir hätten wohl gar nichts zu
tun? Könnten nichts lernen in einer Welt, die
keine Fehler, keine Unterdrückung und keine
Schmerzen kennt. Die in der Bibel an mancher
Stelle vorausgesagte neue Weltordnung
ist als wohltuend endlich beschrieben. Das
ist außerhalb unseres Begreifens.
Die schwedische Klima-Aktivistin Greta
Thunberg hat sich gegen Kritik gewehrt, sie
sei ein „Guru der Apokalypse“ und verbreite
Angst und Schrecken. Ein Zusammenbruch
des Bekannten in Überbevölkerung, Klimahitze
und Chaos ist beschreibbar! Eine göttliche
Endzeitwelt, in der alles ewiglich gut ist,
nicht. Warten wir einfach ab? Der Eintritt in
eine neue Welt kann doch nur wie das Aufwachen
aus einem Traum geschehen, da warten
wir auch nicht. Wir taumeln durch, bis wir
klar begreifen, es ist morgens. Dann wissen
wir für gewöhnlich, was nun zu tun ist. Wir
stehen auf, gehen ins Bad usw.
Worin besteht das höhere Gericht? Kirche
kann lehren, wie Glaube neue Wege aufzeigt,
nachdem der bisherige Kurs des Lebens abgesegelt
ist. Eine See- und Landkarte. Die
Vorstellung einer draußen und oben von
uns übergeordneten Macht, wird sich vernünftigerweise
innen Wege bahnen, uns lehren
und führen auch dort, wo jeder Weg zu
ende scheint. Wenn die alles stabilisierende
Weltordnung nicht kommt, bleibt nach wie
vor die Suche nach dem inneren Frieden
inmitten des umgebenden Chaos möglich.
Natürlich ist ein funktionierender Staat, wie
wir ihn haben, kein Chaos. Aber in den Köpfen
einzelner richtet das alltägliche Gewusel zumindest
zeitweilig soviel Unordnung an, dass
der Ausweg doch einfach darin besteht, das
Vertraute im Normalen wieder zu erkennen
und zur Ruhe zu kommen. Wahrscheinlich
ist doch, dass wir im Zuge der Klimaveränderung
vor Problemen stehen, die insgesamt
so komplex werden, dass die Not des Einzelnen,
sich zu orientieren ohnehin in den Focus
rückt. Da bleibt genug Raum für Glaube und
Religion. Wie sieht denn ein ewiges friedliches
und eventuell jenseitiges Leben aus, wo
wird das sein? Ich glaube, das ist genau hier:
Da wo wir sind.
Gott zum Gruße! Bleiben wir fröhlich und
finden zu neuer Gelassenheit, nach Enttäuschung
und Zorn, dem Begreifen eigenen
Versagens.
Schenefeld, 24. Juli 2019
Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 16 [Seite 13 bis 16]
„Wir schaffen das!“
Aug 5, 2019
Nicht zittern: „Alles Leben ist Problemlösen“,
Karl Popper. In großer Klammer vereint der
Philosoph das menschliche mit jeder anderen
Form des Lebens. Wir müssen nur einen
Tierfilm ansehen, um zu verstehen. Irgend ein
strubbeliges Wesen steckt die Nase aus dem
Loch, baut am Nest rum, wuselt geschäftig
um die Höhle, man kennt das. Vielleicht wird
Nachwuchs versorgt. Eventuell kommt eine
böse andere Gattung daher und schafft echte
Probleme, Kampf und Tod.
Lösen wir Probleme oder schaffen wir Probleme,
die wir lösen müssen?
Das Tier löst natürliche Probleme, die ihm
eigene Bedürfnisse und eine vorgegebene
Umgebung auftragen. Da der Mensch Natur
durch soziale Struktur ersetzt, entsteht eine
neue Situation. Das ist in vielen Bereichen
Realität. Anstelle den Schwierigkeiten durch
Wetter, Jagd und anderen äußeren Problemen
großer Natur, die ein Urmensch in geringer
Stammesgröße lebend, vordringlich meistern
musste, haben wir die Umgebung selbst
geformt. Je nachdem, zivilisiert im Bereich
integrierter Gesellschaft oder verdreckt im
Drogensumpf eines Slums, von allgegenwärtiger
aber machtloser Polizei wie im Krieg
gefangen. Ein sozialisiertes Dasein, eine Sozialnatur,
eine künstliche Umgebung. Wir leben
nicht vereinzelt hier und da einer im Wald.
Unsere Natur ist enges aufeinander hocken
mit anderen, die Natur ist vielen nur ein Park.
Landmarken, Berührungspunkte, natürliche
Widerstände? Die Bäume links und rechts,
das sind wir nun selbst. Dennoch scheint es
ja gerade die altmodisch echte Natur zu sein,
die uns im Klimawandel entgleitet. Wir beginnen,
das zu bemerken.
Die Natur kommt zurück.
Im heftigen Wetter und in der Person des afrikanischen
Flüchtlings gleichermaßen. „Wir
schaffen das?“, dieser Satz der Kanzlerin hat
polarisiert – warum? Es sind die, die unsere
Realität verdrängen, sie regen sich auf. Aber:
Wir ziehen die Grenzen wieder deutlicher.
Haben wir eine Wahl – wir vermehren unsere
Spezies jeden Tag, läuft deswegen unsere
Zeit ab? Der Urmensch hatte keine Uhr.
Ist der Mensch von Natur aus gesund, im
Sinne von kollektiv psychisch auf der Höhe?
Wenn ja, wird das wie selbstverständlich immer
so sein? Kann die Gesellschaft in künstlichen
Rahmenbedingungen ihre natürliche
Gesundheit verspielen, eine Umgebung, die
wenig gemein hat mit dem ursprünglichen
Planeten? Oder findet das menschliche Verhalten
Lösungen für jede denkbare Umgebung?
Was ist gesundes und zielführendes
Problemlösen? Wir mussten schon immer
neu denken. Haben wir kaum steuerbare
Überbevölkerung, und bedeutet das Unvergleichbarkeit
mit früher? Ein neues Problem.
Eines, das alle vereint und deswegen so bisher
nicht vorgekommen ist. Das Miteinander,
unsere gute Seite, wird gern beschworen:
„Frieden schaffen ohne Waffen!“ Wir nutzen
die freundliche Natur, sie ernährt uns. Auf
der anderen Seite, der Mensch verteidigt sich
gegen Naturkatastrophen und seine menschlichen
Feinde. Menschen sind selbst Natur.
Kämpfen wir gegen uns, als eigenen grundsätzlichen
Feind, weil das, was die Natur war,
nur noch ein vermüllter Restplanet ist? Sind
wir schon bald resistent gegen die natürliche
Zersetzung, wie unsere technischen Schöpfungen?
Im günstigsten Fall wächst die
Plastikblume, bewässert durch versauerten
Regen, plötzlich von selbst! Und ist essbar
geworden, weil auch wir zur Kunstfigur mutierten
– in einem evolutionären Sprung, den
niemand vorausgesehen hat: So könnten wir
(mit der Natur) wieder Freunde werden!
Der Mensch hat bewiesen, wie anpassungsfähig
er ist. Er hat sich die Welt bequem umgestaltet.
Wer nicht mag, muss nicht zu Fuß gehen.
Dem Wetter trotzen wir mit einem Haus.
Wir tragen Schuhe und warme Klamotten
gegen jeden Wintersturm. Mehr noch, wir machen
besser Eindruck mit Kleidung, als jeder
Papagei, dem die Natur ordentlich Farbe in
die Federn gegeben hat. Wir machten uns die
Erde untertan! Wir gestalten diese Welt. Wir
drückten ihr den menschlichen Stempel auf,
und einige meinen, wir erdrücken die Erde
dabei. Wir versauen das Klima, versauern das
Meer, alles voll mit Plastik – schließlich erstickt
die Menschheit im eigenen apokalyptischen
Dreck, bevor sie fremde Planeten nach
Bedarf kultivieren kann.
Ein gemeinsames Problem erfordert Klugheit,
aber: Ist dazu der gesunde Menschenverstand
ein Auslaufmodell in einer dekadenten ihrer
Natur entfremdeten Gesellschaft? Erkennen
wir, wie wir sind? Hinschauen! heißt es doch.
Heute sind überall Kameras, jeder kann sich’s
vorstellen: Vor vielen Jahren überlegte ich,
ein Kinderbuch zu machen. Seite für Seite
wollte ich den Bahnsteig einer S-Bahn-Station
zu bestimmten Uhrzeiten abbilden. Da
sind vermutlich um 8 Uhr herum die selben
wartenden Fahrgäste an jedem Tag der Woche
versammelt. Um 9 Uhr wären es andere.
Die wiederkehrenden 9-Uhr-Leute an jedem
Tag. Soziologie für jedermann, wer sind wir?
Eine Freundin hat in einem Geschäft gearbeitet,
im Einkaufszentrum. Der Laden war in
der oberen Ebene, im ersten Stock. Am Weg
vor den Geschäften ist ein Geländer, wie die
Schiffsreling auf dem Kreuzfahrtschiff. Dort
stand meine Bekannte, wenn wenig zu tun
war. Sie schaute runter auf die Menschen, die
im Erdgeschoss shoppen gehen. Wenn ich da
unten vorbei kam, sah hinauf – ich stellte mir
gern vor, im Abfahrtsbereich eines Hafens am
Kai zu sein und sie (zieht gleich ein Taschentuch
hervor, winkt mir noch, fährt ab) steht
oben an Deck. Wir verbrachten Zeit zusammen.
„Es gibt Oben-Leute und es gibt Unten-
Leute“, sie lachte, weil der Spruch mehrdeutig
ist. Sie meinte, wer unten jeden Tag vorbeikommt,
wird kaum mein Kunde. Sie kannte
sich aus. Da gibt es jeden Tag dieselben Menschen
hier – „Manche gehen nie oben.“
Wenn wir eine gesunde Gesellschaft beobachten,
werden wir dasselbe sehen, wie
in diesen Tierfilmen. Die Menschen, die wir
beobachten, lösen Probleme. Sie erfüllen
bekannte Pflichten. Sie gehen der Befriedigung
eines Hobbys nach, und das ist gleichfalls
das Lösen eines Problems: Wie kann ich
mich am Besten erholen? Wenn wir die Beobachtung
ausweiten, nicht nur den Flur im
Einkaufszentrum einen Tag lang anschauen,
sondern das Verhalten von Stadt und Bewohnern
insgesamt erfassen, könnte die Studie
genutzt werden, um Menschen zu verstehen
wie Alien. Was tut der Mensch? Mobbing zum
Beispiel ist Natur. Auch Tiere mobben. Jede
Gesellschaft grenzt aus. Wer dem System suspekt
ist, bekommt Gegenwind. Das Gesunde
der Gesellschaft liegt auch darin, abnormes
Verhalten als krank und eventuell gefährlich
abzusondern, in ein Gefängnis oder die Psychiatrie.
Wir führen eine Gefährderkartei, wir stöhnen
auf, wenn wieder einmal ein bislang unauffälliger
Mensch durchgeknallt ist. Wir hielten
den für so, wie wir uns selbst empfinden,
normal eben. Er hat nicht gestört. Dass der
Attentäter sich durch uns gestört fühlte? Wir
haben das nicht bemerkt. Das steht dem ja
auch nicht zu. So konnten wir übersehen,
was dieser stille unauffällige Typ ausgebrütet
hat. Wer hingegen auffällt, das begreifen
wir schnell: Der hat ’nen Schaden. Können wir
überhaupt einschätzen, wer hier grundsätzlich
krank ist, der gestörte Täter – oder wir
alle, die Gesellschaft insgesamt? Eine verboten
kranke Frage! Aber, wenn umgekehrt wir
kollektiv auf dem falschen Dampfer sind und
wissen das eventuell gar nicht, weil wir uns
aus einem noch zu beschreibenden Grund
nicht mehr als Gesellschaft wirklichkeitsgetreu
sehen können, sollten wir aufmerken
wenn einer auffällt. Dann nämlich wäre gestörtes
Anderssein eine Qualität.
Wie wäre das Bild, das eine kranke Gesellschaft
abgibt? Wir stellen uns das vor: Gewusel,
eine Stadt lebt, arbeitet und tut Dinge,
die Bewohner so tun. Aber das Verhalten ist
grundsätzlich krank, in dem Sinne es nicht
die Probleme der Menschen effizient löst.
Der Einzelne wuselt irrational herum. So eine
Art Ameisenhaufen, der sich dabei dumm anstellt
und allmählich selbst zerstört. Schildbürger,
die Unfug machen. Wie würde eine in
sich kranke Gesellschaft überleben? Und wie
würde eine kranke Gesellschaft über nicht
dazu passende Menschen urteilen? Wenn
eine unmündige Gesellschaft existenzfähig
wäre, dann doch nur als Anteil eines gesamten
Systems, in dem einige übergedeckelt
das Sagen haben und ausserhalb Menschen
ums echte Überleben kämpfen. Wir müssen
nur in die schmutzigsten Slums der Metropolen
schauen: Ein moderner Dschungel, der
dem steinzeitlichen Urwald an Gefährlichkeit
in nichts nachsteht. Wenn die gesamte Erde
zum Irrenhaus mutierte, wer fütterte diese
Menschheit? Im Überlebenskampf erprobte,
einfache Menschen vom Rand, würden die
Oberhand über die gewinnen, denen man
ihre Realität nur dargestellt hat und die daran
glaubten? Es gibt noch Hoffnung.
Die Schildbürger bauten ein Rathaus, sie
vergaßen die Fenster in den Mauern und
versuchten Licht mit Säcken hineinzutragen.
Heutige Patzer städtischer Verwaltungen
reichen nicht an diese Satire heran. Licht
in Säcken tragen, wie massenhaft gerufene
Soldaten, die in einer Notlage Sandsäcke
schleppen damit der Deich nicht bricht? Moderne
Arbeit ist klug: wenige Menschen produzieren
spezialisiert. Wir würden bemerken,
dass Licht nicht die ganze Zeit von einzelnen
Menschen mit Säcken transportiert werden
kann. Wir würden eine Maschine bauen, die
säckeweise Licht ranschafft! Diese Maschine
würden wir umweltfreundlich mit Strom aus
Sonnenlicht antreiben. Wir sind die besten
Schildbürger von heute, bis es noch wieder
bessere gibt. Leistungssteigerung hat die
Klugheit besiegt.
Unsere Wirtschaft ist so, dass das Nachbardorf
einen Apparat baut, der noch mehr Licht
in noch mehr Säcken schneller anschleppt
und deswegen in Konkurrenz zu unseren
Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 17 [Seite 17 bis 20]
Leuten alles plausibel und nötig macht. Einige
sind sauer auf ein Kind Greta, das uns ermahnt.
Man muss sich das vorstellen: Landwirte
hier bei uns sollen ihren Viehbestand
verkleinern, damit die Menschen weniger
Fleisch essen! Wir sagen: Sie hat Asperger.
Der psychisch gestörte Mensch erkrankt am
wechselseitigen Wirklichkeitsbeschiss der
Umgebung. Unter dem Druck der Erziehung
schlecht aufgestellter Erwachsener, gewöhnt
sich der abhängige junge Mensch daran, einer
nicht nachvollziehbaren Realität (sich in die
Tasche lügender Menschen), sein spezielles
Wirklichkeitsbild entgegenzuhalten. Das zerbricht,
wenn ein Kind selbst erwachsen wird.
Manche Eltern wollen „das besondere Kind“;
nicht selten kommt ein kleiner Idiot dabei
heraus. Wenige Stars konnten der irrationalen
Umgebung ihrer Kindheit etwas entgegensetzen
das sie später wirklich besonders
gemacht hat. Mehr Studierte gibt es, die noch
Glück haben wenn sie eine Taxe fahren können
oder Briefe austragen. Viele Menschen
sitzen dauerhaft in einer psychiatrischen Einrichtung,
das ist statt „ganz besonders“ ganz
besonders traurig.
Einigen ist Denken, wie anderen zuhören und
ihnen nachsprechen. Den meisten Erwachsenen
ist fortwährendes verbales Verdrehen
der Realität nicht bewusst. Unzählige Fettleibige
reden sich ihr Leben schön, magere Essgestörte
gleichwohl. Nicht nur im Bereich der
Ernährung, es ist mehr als eine Angewohnheit,
alles besser darzustellen. Das ist wie
ein Schmerzmittel, als kurzfristige Lösung
nachvollziehbar. Die Lüge steckt, neben dem
was wir anderen nebenbei erzählen, wer wir
sind oder vorgeben sein zu wollen, auch in
der Werbung. Wir imitieren das, betreiben intellektuelle
Inzucht, verkaufen uns gut. Eine
Schmerzsalbe macht keine Seniorin mit Kniebeschwerden
gesund. Es gibt kein Pflaster für
einen gereizten Darm, obwohl das als gutes
Produkt beworben wird. Niemand braucht
vitale Sprint-Dragees, um mehr Leistung zu
bringen. Sich gegen andere aufzuwerten, sich
selbst wie ein Produkt anzupreisen, eigentlich
als Ergebnis der Konsumgesellschaft,
bricht uns insgesamt das Genick. Natur und
Erde können wir auf Dauer nicht belügen. Der
Kapitalismus besiegte den Kommunismus,
nun besiegt uns die Natur.
Unsere Krankheit ist Effizienz, auch politisch.
Durch vielfältige Demokratie im Vergleich
zu kommunistischer Diktatur, wurden wir im
einzelnen Menschen so leistungsfähig, dass
der Raubbau am Ganzen ein bedrohliches
Tempo angenommen hat. Es wird schwierig,
wenn das, was uns voranbringt weil es so gut
ist, uns schneller ans Ende bringt. Wir sind
Gefangene unserer selbst, weil wir überall
sind und einer dem anderen sagt, was wir
zu tun haben. Wir lassen uns nicht von der
Natur belehren. Wir bemerken die Natur erst
bei Katastrophen. Kein naturverbundener
Mensch in direkter Konfrontation zum Wetter,
wo es etwa gegolten hätte auf einem Schiff
das Segel zu reffen oder Schutz irgendwo im
Gelände zu suchen, hätte solange gewartet
wie wir heute als Gesellschaft insgesamt.
Wir deuten die Geschichte zu unseren
Gunsten. Wenn wir von der Zeit des Nationalsozialismus
hören, wähnen wir uns wie
selbstverständlich bei den Guten. Wir wären
Anne Frank. Wenn ein hundertjähriger Täter
schließlich noch dingfest gemacht werden
kann, das gefällt. Gottes Mühlen scheinen zu
malen. In der Schule wurde mir gesagt, zeitgenössische
Wissenschaftler hätten vor dem
Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 nach Christus,
der Pompeji-Katastrophe gewarnt, heute
finde ich dafür keine Belege. Im Gegenteil, es
heißt, dass der Ausbruch des nahen Vulkans
die Bewohner der Umgebung überrascht
habe. Die Lehrerin meiner Grundschule hingegen
schilderte plastisch, wie unbelehrbar
die Menschen gegenüber den fundierten
Warnungen gewesen seien und wie fatal alles
endete, wie eine Strafe eben. So sind Lehrer.
Auch die Titanic, sie ging unter, weil man
den Dampfer als unsinkbar bezeichnet hatte,
ein schicksalhaftes Ende. Natürlich wären wir,
damals an Bord gewesen, doch bestimmt diejenigen,
die clever ein Floß aus den schweren
Mahagoni-Türen des Salons gezimmert
hätten oder edelmütig Menschen aus dem
Wasser zu uns ins Boot gezogen hätten, das
wir noch erwischten.
Wir empören uns leicht, sprechen vom
menschlichen Versagen? Überlebende erzählen
von Schiffbrüchigen im Rettungsboot
und anderen im Wasser draußen, die sich ans
Dollbord geklammert hatten. Wer es ins Boot
schaffte, schlug den Verzweifelten außen am
Rumpf mit einem der hölzernen Riemen, mit
denen diese Boote gerudert werden, auf die
klammen Finger, bis sie aufgaben, ins Eiswasser
wegsackten: „Sonst kentern wir!“ Der
kurzsichtig Stärkere gewinnt ein Match. Wir
sollen den Viehbestand in Deutschland reduzieren?
Um den Ausstoß klimagefährlicher
Furze aus den Ärschen der Rinder in den Griff
zu bekommen? Da denke ich an die Ärsche,
die mich auf der Landstraße mit ihrem protzigen
SUV nötigen, noch ein wenig schneller
zu fahren. Die mir bis auf wenige Meter hinten
drauf drängen und sich mutmaßlich gerade
einen zweiten Luxus-Grill und exquisites
Zubehör gekauft haben, für ein zünftiges
Steak zu jeder Zeit. (Ich esse übrigens sehr
gern Rindfleisch vom Grill und fahre auch
sehr gern Auto).
Selbst wenn alle modernen Zivilisationen zu
gelenkten Demokratien verdooften, blieben
noch die Bewohner der restlichen, möglicherweise
eher vom Klimawandel und harten
Kriegen, Hungersnöten betroffenen Naturbereiche,
voll mit unserem Müll und ums tägliche
Überleben kämpfende Menschen. Die,
deren Hosen nicht der Mode wegen zerrissen
sind, weil es dort keine neuen heilen Hosen
gibt. Wir abgehobenen, gesunden Auskenner
der Luxusrechtsstaaten, eingebildet auf
unser freiheitliches, angeblich menschlicheres
besser sein, wir suchen Gefährder durch
Beobachtung. Wo sind sie, was könnten sie
planen? Wir sind uns ganz sicher: unsere gesunde
Welt wird von gestörten kranken Menschen
bedroht. Wer hat sie gestört und wobei,
egal. Wissen wir Bescheid, wenn wir anderen
zuschauen oder meinen wir nur zu wissen?
Auf einem geparkten Auto habe ich gelesen:
„In meiner Welt macht das Chaos das ich verursache
durchaus Sinn.“
Physik spiegelt sich im Alltag wieder, Wikipedia:
Die heisenbergsche Unschärferelation
(…) ist die Aussage der Quantenphysik, dass
zwei komplementäre Eigenschaften eines
Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau
bestimmbar sind. Heißt wohl, wenn ich weiß
wohin du gehst, kann ich nicht erkennen, wie
schnell du gerade bist. Weiß ich, wie schnell
du bist, bleibt mir verborgen, wo du hingehst
und wo du aktuell exakt bist. Je genauer ich
auch hinschaue, mit dem Beweis des einen,
mache ich mir die Kenntnis des anderen unmöglich.
Meine Beobachtung, ungefähr. Wo
sind die Bösen, was planen sie? Nach jeder
spektakulären Aktion, wenn eine länger observierte
Zelle ausgehoben wurde, schleicht
sich das fatale Gefühl ein: dieser Fahndungserfolg
bedeutet wohl nicht, dass hier die
Wahrheit an sich gefangen wurde.
Unschärferelation ist …? Man kann annehmen,
dass Wahlen durch Vorabfragen beeinflusst
werden. Wir nehmen weiter an, dass
auch bewusste Manipulation stattfindet. Im
positiven Sinne hilft Berichterstattung dem
Wähler, das für ihn Beste herauszufinden. Die
Gesellschaft diskutiert gründlich aus. So wird
deutlich, was uns wichtig ist. Wir können die
Richtung einschlagen, die dem Nutzen aller
dient. So ist der merkelige Politikstil entstanden.
Am längsten vorn an der Leitungsspitze
bleibt kein Mensch mit einer festen geraden
Linie und eigener Überzeugung. Eine Wackelpudding-Spitze
leitet uns in die Zukunft von
Deutschland und der Welt. Tanz auf dem kippeligen
Boden der politischen Bühne, gebildet
von einer gärenden Masse unzufriedener
Wut- und anderer Bürgerinnen und Bürger.
Wir wählen die beste Tänzerin, machen ihr
die heißeste Musik. Nicht zittern! Wer abstürzt
verliert.
Was ist wahrscheinlich? Entweder kommen
wir durch, bis zum Mars, und zuhause auf der
Erde wird es ganz anders als je zuvor. So eine
Science-Fiction-Welt vielleicht. Wir passen
uns an, das bedeutet, dass wir selbst mehr
wie die Umgebung werden, die wir schon
sind. Wenn es keine Luft mehr gibt, atmen wir
das, was es dann gibt, und ein Implantat in
unserer Brust formt einen Luftersatzstoff daraus,
mit dem unser Organismus handlungsfähig
ist. Apokalyptische Zustände, in denen wir
scheitern, sind auch nicht unwahrscheinlich.
Vorher: Große Gefängnisanlagen und für politisch
Unkorrekte die Psychiatrien, modernes
Lagern. Luxusbereiche, Machtzentren. Lemminge
in Arbeit, Seite an Seite des Roboters.
Angreifer aus dem wilden Dschungel wahrscheinlich.
Das ist ja eigentlich schon heute
so. Sich selbst in den eigenen Ansprüchen zu
erkennen, die eigene Angst und Aggressivität
zu verstehen und daraus klug zu werden,
Maßlosigkeit bei sich zurückfahren, langsamer
zu sein, wenn zu rasen nicht nützt – das
bleibt gut bis ans Ende.
Die Richtung, wir kennen sie nicht, die Menge
drückt hierhin, dorthin. „50 Jahre Kanzlerschaft
Willy Brandt“, hängt es schief auf einem
Plakat im Dorf. Filmabend, die alten Zeiten.
Einige Alte, die sich noch erinnern, werden
hingehen. Wir kennen schon aus der Bibel,
dass es fatal in die verkehrte Richtung geht:
Kaum, dass Moses ein paar Tage oben auf
dem Berg am Gesetzestafeln beschaffen ist,
werden die anderen vom zum neuen Leader
berufenen Populisten animiert, all ihr Gold in
eine Form zu gießen. Sie tanzen blöde um’s
goldene Kalb, und Moses ist außer sich, als
er zurück kommt. Führen wir von innen oder
eiern wir ab? Ein Stimmungsbarometer misst
kollektives Fieber. Von Arzt zu Arzt, von Doppelspritze
zur Doppelspitze. Das sind wir.
Zwei Seiten des Problems: Von außen geht
die Beobachtung am Innersten vorbei. Im
Inneren der Gesellschaft ist es fehlende Distanz,
die unmöglich macht, das Ganze zu sehen.
Wir können annehmen, dass der Einzelne
nicht grundlos etwas tut. Wir nehmen es aber
nicht an. Wenn wir unseren Nachbarn beobachten,
werden wir uns an irgendeiner Stelle
Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 18 [Seite 17 bis 20]
über sein Tun erheben: Warum macht der das?
Wir würden niemals uns so anziehen und so
einem Hobby nachgehen oder dergleichen.
Hier liegt der Anfang einer unter Umständen
dynamischen Absturzbewegung innerhalb
eines Systems. Die gegenseitige Beobachtung
dient zu Recht auch der Kontrolle des
Ganzen. Es ist zunächst nur die Abstimmung,
inwieweit sich benachbarte Menschen wohlfühlen.
Alle haben ein ähnliches Häuschen
oder gleiche Vorlieben. Darüber hinaus beobachtet
sich die Gesellschaft auf Regelverstöße
hin, und das trägt ebenfalls zur Stabilität
bei. Diese Stabilität kann gerade deswegen
problematisch werden, wenn sie einen theoretischen
Rahmen hat, der dem Einzelnen
nicht entspricht. Wenn das Gesetz verlangt,
um 5 Uhr stehen wir alle auf und beginnen zu
arbeiten, wird jemand der gern länger schläft,
übergangen. Banale Vereinfachung, aber jede
Form von Mobbing, Ausgrenzung und in der
Folge psychische Erkrankung und Aggression
beginnt einmal.
Probleme einzelner, Bedürfnisse, wovon träumen,
Ziele: Welche Regeln sind unerlässlich,
damit die Gesellschaft vielen gerecht ist?
Je komplexer das System, umso machtvoller
kann sich Zwang ausbilden welcher einigen
abverlangt, sich mehr anzupassen als gut
ist. Schlimmstenfalls wird der Mensch unter
widernatürlichen Bedingungen krank. Wenn
normal sein bedeutet, ziemlich bescheuert
sein zu müssen, ist es nicht das richtige für
dich. Krankheiten durch Umweltzerstörung:
Der Mensch kann als einzelner zunächst wenig
dagegen tun, dass Umweltgifte in seinen
Körper gelangen. Trotzdem hilft er mit, die
Bedingungen zu verschlechtern, allein weil
er lebt. Wir können erkennen, dass Menschen
zuviel und widernatürlich essen, weil die anderen
es tun, weil die Läden diese Sachen
verkaufen. Wir stellen intellektuellen Druck
fest, der Menschen dazu bringt ihre Identität
nicht an ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten
sondern an pseudo-individueller
Mode. Wir bemerken, dass Menschen durch
das Anschwärzen ihrer Nächsten, wenn diese
vermeintlich regelwidrig leben, eine kleine
Aufwertung ihres Selbstwertes erfahren, und
dass dieselben Menschen darunter leiden,
wenn sie selbst ausgespäht, ausgegrenzt und
kritisiert werden. Wir können annehmen, dass
raumgewinnende Aktivitäten eines jeden andere
bedrängen, manche mobben, einzelne
krank machen.
Ein Staat, der uns ausspäht und gängelt, wie
wir das wieder erleben. Macht das krank?
Passiert das nur in „bösen“ Ländern, China
oder Russland oder machen das alle Staaten?
Die große Glocke um uns herum. Drückt auf
die individuelle Entfaltung, die Perspektive
des Einzelnen. Hier kommt wieder die grundsätzliche
Frage auf: Bedeuten intellektuell
und perspektivisch in ihrer Kreativität amputierte
Einzelpersonen ein letztlich krankes
Ganzes oder ist es möglich, zufriedene desinformierte
Menschen heranzubilden? Leben
wir bereits in einer Lüge, wie Winston, der
Protagonist in George Orwells Roman „1984“
oder der Wilde im symmetrischen Buch von
Aldous Huxley „Schöne Neue Welt“, den Klassikern
pessimistischer Fiktion? Treten wir gut
informiert auf der Basis von Fake-News fleißig
Hamsterräder, bis wir am Ende erkennen,
das Leben ist vorbei und was war das nun?
Ein Staat, in dem Kunst Deko ist. Die Politik
eine Farce. Die Leistungsträger sind nicht
berufen, sie sind im Job. Sie sind nicht verliebt,
sie sind in Partnerschaft (mit Vertrag).
Nüchterne Rationalität im verbalen Duktus
politisch korrekter Ausdrucksfähigkeit unterstreicht
die Ernsthaftigkeit fit moderner
Akteure. „Das passt schon, alles gut“ – wir
sprechen neu. „Das ist nicht so meins, MeToo“
– wir können Kommunikator. Eine Beziehung,
deren Bindung der gegenseitige Nutzen ist,
welcher nicht zuletzt gegenseitige Wertsteigerung
bedeutet und deswegen nur auf Zeit
gilt. Wir opfern die Träume der Funktionalität.
Erwachsensein in so einer Welt: Menschen
spielen im Sandkasten der Illusion, sie seien
mündige Bürger und Leistung bestimmt den
Selbstwert. Nicht krank werden! Dabei ist die
Bedingung: Was du dir kaufen kannst von
deiner Arbeit, steht über dem, was du machst.
Eine Gesellschaft, in der die Bürger glauben,
Rechte und Perspektiven zu haben und unter
Umständen erleben, wie das System alle Werte
karikiert. Verzerrte Menschen, eingepfercht
in die Baukästen vorgefertigter Schein-
Selbstständigkeit. Zum Glück verpflichtet,
wenn schließlich alles passt: Haus, Frau und
Kind. Boot oder Pferd und Hund dazu und ein
Garten, der Job stimmt. Randfiguren werden
belächelt. Dicht an dicht stehen ihre kleinen
Mickey-Maus-Villen im Neubaugebiet.
Stehen wir am Anfang des Problems einer
größer werdenden Gesellschaft, die Probleme
inflationär erschafft statt zu lösen und
möglicherweise im Bemühen um Fortbestand
die eigene Instabilität forciert? Je mehr
wir einander auf die Finger schauen, um Unrecht
frühzeitig einzudämmen, desto fieser
wird der Druck. Extreme Belastung einzelner
Punkte eines gesellschaftlichen Bogens, dem
gemeinsamen Nenner des Wohlbefindens,
wird diese Punkte krachend brechen lassen.
So erschaffen wir den aggressiv gestörten
Mitbürger selbst. Weil fortwährende Spitzen
vom Provokateur unbemerkt bleiben, der sich
im Gegenteil als mahnender gutmenschlicher
Polizist versteht.
Je spezialisierter wir schaffen, desto effizienter
sind wir. So haben wir den Beruf des
Controllers erfunden. Die moderne Gesellschaft
sucht den Fehler. Um noch besser zu
werden. Die These ist: je spezialisierter, desto
leistungsfähiger. Je besser kontrolliert, desto
effizienter. „Nach fest kommt ab“, der sich daraus
ergebende Umkehrschluss ist bedenklich.
Spezialisten sind keine Allrounder. Was
wäre ein halber Mensch, der den Körper eines
ganzen hat? Wir stellen uns das vor: Ein
Leib, ein Hirn, zwei Arme, zwei Beine – aber
nur spezialisierte Handlungsfähigkeit. Der
kann nur Rechtskurven laufen. Er kann nur
auf eine Art denken. Ungefähr halb so viel,
wie ein der vollen Natur ausgesetzter Affe. Er
weiß nichts mit sich anzufangen, wenn Neues
aufkommt, weil er so zentriert auf seine
ganz spezielle Umgebung trainiert, nur rote
Türen mit Klinke links nach außen öffnen
kann. Andere schließen für ihn diese Türen.
Vielleicht hat sie jemand auf der Rückseite
blau angestrichen? Kenntlich gemacht und
deswegen sicher. Person-A (rot, Klinke links:
nur öffnen!) weiß nicht, was Person-B überhaupt
als blau und Aufgabe für sich erkennt.
Was ist blau?
Ein weiteres Beispiel. Musikunterricht, eine
kleine Geschichte. Was bringt Menschen zu
höchster Leistung? Zur Nachahmung empfohlen:
Als ich ein wenig Fuß gefasst hatte,
im Leben, und mit Info-Illustrationen gut
verdiente, noch nicht malte, wollte ich einen
Kindertraum auf den Weg bringen. Ich nahm
Trompetenunterricht als Erwachsener! Vor
der Stunde hörte ich gern, wie mein Lehrer
anderen noch Tipps gab. Er schraubte die
kleinen Tablets von den aus den Ventilen ragenden
Stößeln ab, um dem Schüler das Leben
schwer zu machen. Ganz genau musste
dieser nun drei dünne, senkrecht bewegliche
Rohre treffen, und Bob scheuchte ihn durch
einige schnelle chromatische Läufe. Ohne die
runden Tasten (groß, wie in etwa unsere kleinen
Geldstücke), hatte der Schüler mit Auflagen
in Trinkhalmstärke zu kämpfen die in
die Fingerspitze drücken und schwierig exakt
zu treffen sind. Es gibt Amateurjazzer, deren
schlechte Angewohnheit es ist, die Ventile
grundsätzlich aus der Mitte ihrer Finger zu
drücken, anstelle die Präzision ihrer flinkeren
Fingerspitzen zu trainieren. Die lassen, weil
es bewusste Aufmerksamkeit, das zu erlernen
bedeutet hätte (welcher sie als Autodidakt
nicht fähig waren), die halben Finger links
überstehen, weil es auch so geht. Was geht
denn? Natürlich kann ein Musiker ausdrucksstark
mit einfachen Mitteln bewegende Musikmomente
schaffen. Ein Virtuose hingegen
muss Techniken trainieren.
Training, Fitness, Routine – wie im Sport. Anschließend
drehte Bob die Tasten oben wieder
fest und lockerte nun boshaft ihre natürlichen
Stopper unten. Geschraubte Auflagen,
wenn die Pumpen niedergedrückt sind, direkt
oberhalb der Rohre, in denen der Schieber
auf und ab gleitet. Anstelle filzgepolsterter
Auflagen des Ventilzylinders, trafen die Finger
nun metallisch klöternde Scheiben. (Eine
Trompete kann in ihre Bauteile zerlegt werden).
Jetzt musste der Schüler wieder schnelle
Tonleitern spielen: „I wanna hear a clack in
each tone.“ Wie zusätzliche Percussion, sollten
klackernde satt gedrückte Anschläge die
chromatischen Läufe begleiten und alle Töne
gleichmäßig fließen. Als der Geplagte das
Ende seiner Stunde herbeisehnte, bewertete
Bob: „Ich habe rr-R-ächt, es sind die Finger.“
Sein rollendes „r“ und die unverwechselbar
amerikanischen Einschübe, wenn ihm (wieder
einmal) das deutsche Wort fehlte, sind
unvergesslich.
Kann jemand Trompete spielen, andere
nicht? Natürlich muss man üben. Aber es
gibt Menschen, die mit der Trompete oder
rhythmischer Musik grundsätzlich nicht klar
kommen. Bob hat auch sehr gute Schüler, und
die wollen besser werden. Im Beispiel geht
es nicht um Talent, können oder nicht können.
Ein talentierter junger Trompeter, und
der sollte schnell und exakt werden. Musste
er anders atmen? Sollte er höher ansetzen?
Hätte er mehr chromatisch üben oder besser
Stücke spielen sollen? Bob war offenbar der
Ansicht, die erhöhte Bewusstheit auf das, was
der Bläser mit seinen Fingern machte, wäre
gezielt zu üben und hatte auch gleich Tricks
für zuhause dabei. „Es sind die Finger“ – wie
Berater, die Abläufe im Prozess einer Firma
betrachten und anschließend dem Chef Gutachten
erstellen, an welcher Stelle effizienter
gearbeitet werden kann. Bewusstheit kann
man lernen.
Wenn ein Flugzeug abstürzt, wir suchen den
Grund. Wenn andere besser sind, wir fragen
den Unternehmensberater. Wenn wir junge
Leute ausbilden, wir spezialisieren sie, qualifizieren
exakt. Sie verdrängen alte Mitarbeiter,
die die Firma gern abfindet. Früher galt,
wir sind in die Arbeit reingewachsen, haben
uns nach und nach verbessert, einige Male
gewechselt. Studenten von der Schule sind
Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 19 [Seite 17 bis 20]
heute speziell trainiert. Fast jeder von uns ist
Rechtshänder, und kaum jemand kann alles
mit beiden Händen gleich gut tun. Das ist
nicht neu. Früh erfand der Mensch spezialisiertes
Handeln, um besser zu werden. Wir
begreifen, dass den Grund eines Problems
zu kennen, der Schlüssel zur Lösung ist. Ich
frage Dörte am Yachthafen: „Was machen die
Kinder?“ „Üben Rollwenden an der Alster, mit
Trainer im Begleitboot. Die können schnell
wenden, aber nicht, wenn ein Gegner sie
zwingt. Dann parken sie nur ab. Das wollen
sie optimieren.“ Im Sport, im Beruf: Bist du
dein eigener Detektiv, wirst du besser. Leistung
befriedigt unbestritten.
Die Kehrseite verdient Beachtung: Die neuen
Beispiele sind dem Straßenverkehr entnommen.
Einige sind der Meinung, wir hätten zu
viele Verkehrszeichen aufgestellt. Sie sind
der Ansicht, zu viele Ampeln bremsen nur
und beruhigte Zonen mit verbreitet installierten
Buckel-Schikanen, davon gäbe es zuviel.
Kritiker finden sich, die der Meinung sind,
Blitzanlagen dienten nur der beutegeilen
Polizei. Das darf man ja fast nicht schreiben,
denn mehr Menschen werden hier und da ein
weiteres Verbotsschild verlangen, dort eine
Spielstraße und ein Tempolimit sowieso.
Die „grüne“ Welle ist uns nicht immer wohlgesonnen.
Ampelstopp, Stau – wer Auto fährt,
muss sich in Geduld fassen. Unzählige Sicherungen
(nicht nur im Verkehr). Sie brennen oft
durch. Gurtpflicht, Handy-Am-Steuer-Verbot,
keinen Alkohol dürfen wir trinken, exakt vom
TÜV geprüft ist unser Fahrzeug. Airbag wo es
geht; das sicherste Fahren aller Zeiten – und
dennoch fahren Menschen verkehrt herum
in die Autobahn ein. Dement, verwirrt, einfach
blind – und einige in suizidaler Absicht.
Viele Menschen können nicht mehr auf ein
Fahrrad steigen, ohne sich einen Helm anzutüdeln,
eine gelbe Warnweste umzuhängen,
und einige von diesen Menschen sind sogar
klug. Man darf annehmen, dass Verkehrsteilnehmer
ganz bewusst moderne Sicherungen
nutzen. Sie fahren bewusst viel Fahrrad, sind
schnell, bei Regen und in schummrigem Licht
unterwegs, die brauchen das.
Wir erinnern uns noch? Damals, Old Shatterhand
ist wieder mit Hatatitla unterwegs. Am
Horizont der Prairie taucht ein anderer Westmann
auf, kommt näher, eine Begegnung im
Wilden Westen! Kommt ja nicht so oft vor.
Weites Land. Wir sind im amerikanischen
Indianergebiet, so wie es uns Herr Karl May
anschaulich fabuliert hat, und da verwundert
es den geneigten kundigen Leser nicht, oh
Wunder, der andere hat kein schäbiges Yankeegesicht,
nein oh Zufall (schon wieder) ein
Sachse trifft auf einen anderen, mitten in der
Rolling-Prairie, ganz weit weg von Dresden
und Radebeul: „Guten Tag, habt Ihr vielleicht
einen Indianer gesehen, der ein schwarzes
Pferd reitet?“
Heute, der Bus schrammt in die Haltestelle.
Menschen drängen raus, andere rein, alles
gleichzeitig, und ein Rollstuhlfahrer oder ein
Rollator-Senior halten noch zusätzlich auf.
Jemand muss die metallne Klappe von innen
aus dem mittleren Türbereich als Rampe für
den Senior einrichten, lässt sie unsanft auf
den Gehweg krachen! Du suchst einen Sitzplatz.
An guten Tagen ist es leicht. Alle sind
gerade hilfsbereit, man lacht, schafft Platz
für den Rolli, lagert einen Kinderwagen mit
um und findet noch einen Sitzplatz, vielleicht
neben einem schlanken freundlichen Zeitgenossen,
der zurück lächelt und ein unverbindliches
aber höchst sympathisches „Moin!“
oder so zum Besten gibt. (Es gibt aber auch
andere Tage).
Wie können Menschen gleichgültig aneinander
vorbei und gegeneinander Platz beanspruchen!
Die Vogel-Strauß-Tüte über dem
Kopf, den Blick mobile gesenkt. Klar, wenn
nicht der freundliche Sachse von weit her
angeritten kommt, stattdessen aus dem Hinterhalt
mordlustige Rothäute feuern, mit Karabinern
welche sie skalpierten Bleichgesichtern
abgenommen haben, dann war es schon
immer böse. An anderen Tagen jedenfalls. Wir
sind nicht kollektiv krank, wir sehen uns nicht.
Wir sind eingebildet und wissen es nicht. Das
neue Problem: Wir sind zu gut geworden! Wir
müssen über Hasskommentare reden? Im
Netz müsse gelten, wie überall: Wer anderen
drohe, müsse strafrechtlich verfolgt werden.
Fernsehen: die von einer sympathischen Frau
der grünen Partei nachdrücklich vorgetragene
Forderung. Niemand kann widersprechen,
zu eindeutig die Situation. Es hat in Folge
solcher Drohungen realen Mord gegeben.
Wir wehren nicht Anfängen. Wir sind mitten
drin in der neuen Welt. Ein Sender zeigt typische
Kommentare auf der Plattform, wir kennen
das. „Nimm deinen scheiß Satelliten und
verpiss dich!“, musste Lena Meyer-Landrut in
Oslo über sich und ihren Song im Netz lesen.
Harmlos, verglichen mit aktuellen Beiträgen.
Menschen des öffentlichen Lebens müssen
viel aushalten.
Politikerin, attraktive Frau, vor nicht langer
Zeit ein Mädchen in der Schule, wie müssen
wir uns das vorstellen? War sie eines der klugen,
ein wenig braven Kinder aus guter Familie,
die schon mal gesagt hat: „Der da, Herr
Lehrer, der war’s“, wenn ein Mitschüler eine
Banane falsch weggeworfen hat? Wir gehen
nach der Schule weit auseinander. Auf einen
grünen Hügel oder in strafbaren Sumpf. Eine
grüne Spitzenfrau ist, wo Zerstörung der Natur
und Lösungsansätze, es besser zu machen,
hohen Aufmerksamkeitsfaktor garantieren,
unantastbar. Demokratie in Gefahr! Frauen
werden noch benachteiligt – die Natur wird
angegriffen! Ein blattgewordenes feminines
Menschengewächs: Wie kann man(n) die beleidigen?
Achtung Satire! (Neue Bilder sind so nötig.
Bitte nicht nachmachen). Findet ein Mädchen
die Treppe mit Geländer auf den Gipfel
eines parteigrünen Mount Everest. Sie kauft
sich einen Öko-Kletteranzug. Sie setzt einen
Anti-Aggressionshelm auf, schaut die himmlische
Friedensleiter – und beschreitet die
Stufen aufwärts. Ist es ihr leicht, gut grün zu
sein! Sie bemerkt die bekannten Müllberge
am Rande der Route. Am Gipfel staut es sich,
Nachdrücker schieben sie in eine doppelte
Spitze oder knapp daran vorbei. Hier der Berg
und daneben bist du! Sie blickt idealisiert in
die bessere Ferne: The green flash! Sie gibt
die erwachsene Greta am Berg.
Wind weht und wird Sturm. Grüne Wellenberge
werden grau, schließlich weiß in Gischt
– ich bin auf See! – in schlechtes Wetter geraten.
Ich habe probiert, anders als gewohnt,
der „schiefen Bahn“ ein Bild zu malen, wie das
Deck eines im Wind steil und schräg überliegenden
Rahseglers. Aber genau so alt wie ein
Segelschiff ist dieser Ausdruck. (Wer kennt
schon die guten Strecktaue, die Seeleute
benötigten, um keinen der Mannschaft zu
verlieren)? Wo ich auch versuchte, eine Lanze
für Straftäter an sich zu brechen, um auf die
abgehoben feste Position hinzuweisen aus
welcher wir urteilen – auf dem Boden hier,
musst du doch geradezu abrutschen, kommt
immer wieder nur: Selbst schuld.
Eine Freundin im motorgetriebenen Rollstuhl,
sie würde keinen Menschen schlagen,
nie. Jemanden angreifen? „Stell dir doch nur
vor, wie das für dich wäre, wenn dich eine
Faust im Gesicht trifft“, sagt sie. „Du kannst
gar nicht auf einen erwachsenen Mann einstürmen
und ihn kraftvoll niederstrecken. Du
kannst nicht gehen, hast keine Kraft im Arm.
Du bist eine alte Frau im Rollstuhl. Dein Mann
benötigt eine volle Stunde, dich anzuziehen
und hineinzusetzen. Jedenfalls im Winter,
wenn du warme Sachen anziehen musst“,
habe ich entgegnet. Kannst es dir nicht vorstellen,
weil du es nicht tun kannst. Du bist
raus aus diesem Spiel, habe ich gedacht.
Ich bin ein Mann, ich kann es tun.
„Ich bin schon wütend gewesen“, sagt meine
Freundin rechtfertigend, als müsste sie
mir beweisen, dass auch sie immer noch ein
Mensch sei. Die schlimmste Befürchtung?
„Wenn mein Mann nicht mehr da wäre“, sagt
sie – was soll ich dann machen? – (ich vervollständige).
Und an meine Frau denke ich –
dann auch an Susanne … und an früher denke
ich auch oft. Das soll man ja nicht.
Ein als Flüchtling eingereister Mann vergewaltigt,
ermordet eine Studentin – und sagt
im Gericht: „Das ist doch nur ’ne Frau, was
habt ihr denn?“ Es gibt keine guten Menschen,
hier nicht und dort nicht. Gut zu sein ist Zufall
oder eine Erfahrung – vielleicht – die uns
hilft, den Weg zu finden. Ein Geschenk, nicht
selbstverständlich. Erst wenn wir, die guten
zivilisierten Menschen, auf unseren dann
immergrünen Bergen stehen, deren Schnee
einer von gestern ist, werden wir verstehen.
Vorher bleibt uns nur, mehr und noch größere
Gefängnisse zu bauen. Eine randvolle Welt
ist ein nicht zu ignorierender Faktor bei allen
Vergleichen. Wir leben in der Besten aller
möglichen Welten! Ist unsere Zeit begrenzt?
Es hat sich was geändert. Wir können nicht
gut sagen, früher wäre es besser gewesen.
Wir können nicht sagen, es war immer schon
schlimm. Wir sind die Erde A.
Da ist keine Reserve, keine Erde B.
Danke, Greta Thunberg, du merkst noch. (Meine
Mutter hieß auch so). Wenn Kinder wieder
Susanne, Katrin oder Thorsten, Klaus, Thomas
oder Ulrike heißen, werde ich alt sein. Wie
sieht dann Schenefeld aus, und was macht
weit weg Person A. an der roten Tür? Ein Problem
ist das eigene. Fällst du auf, wenn du
gleich dem Kind im Märchen: „Der Kaiser ist
ja nackt!“ rufst? So etwa entstehen meine Bilder
„Zeitgeister“ und aktuell „Gurken und Rosen“–
nicht der Anfang meiner Probleme …
:)
Schenefeld, Anfang August 2019
Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 20 [Seite 17 bis 20]
Nachgeschenkt
Okt 16, 2019
Das Leben ist ein Geschenk. Was kann ich
damit machen? Die Sparkasse hatte diese
Headline für verschiedene Spots: „Jeder
Mensch hat etwas, das ihn antreibt.“ Stimmt
das? Können wir über uns verfügen, wissen
wir, was Wirklichkeit bedeutet oder ist alles
Leben mehr oder weniger Blindflug? Was
macht Menschen im einzelnen aktiv, die
ganze Erde, Heimat und Basis des Lebens,
sich drehen – und wie heftig wäre ein Crash,
wenn eine Wand in der Umlaufbahn errichtet
würde – ein anderer Klotz im All wird falsch
geparkt?
Solange die Erde rast, solange das Leben wuselt
– alles ist in Bewegung. Wer fragt nach
dem Widerstand, wenn es nicht gut läuft,
weiß geschickt umzulenken, wenn der Schuh
drückt, der Rücken schmerzt? Höher springen
als gestern, mehr Geld als der Nachbar verdienen,
eine Liebe perfekt machen? Den Unfall
vermeiden. Wir können nicht beantworten,
warum unser Herz schlägt, aber wir spüren,
wann es Zeit wird zu essen. Wir müssen uns
nicht zum Atmen aufraffen, es geschieht. Das
Herz schlägt, ohne dass wir wissen warum.
Wo gehen wir hin?
Leben ist ein Antrieb, wie ein Motor, der immer
läuft. Wir sind unterwegs, sogar nachts
im Bett. Das Bett rast als Teil der Erde, und
wie an Bord von einem Schiff oder im Wagen
eines schnellen Zuges, können wir die Kabine
zum Deck hin wechseln oder mal in den
Speisewagen des Zuges gehen. Das Tempo
unseres Fahrzeuges ist die Basis von allem.
Wir sollten akzeptieren, dass wir diesen Zug
nicht wechseln können und den Zeitpunkt
der Abreise verlegen. Wir wissen nicht, wann
wir ankommen und wo.
Zunächst werden unsere Eltern bestimmen,
mit welchem Wagen wir fahren. Geschenkt
und nachgeschenkt: „Das Leben ist ein
Traum. Irgendwann wachst du auf“, hat mir
ein Freund gesagt. Chaotische Umgebung
stößt uns herum! Fahren im ruppigen Gelände,
ohne selbst lenken zu können. Ein Traum
mit schnellen Szenenwechseln. Erwachsen
ist erwachen? Der Unterschied besteht nicht
darin, dass Chaos und gestoßen werden ein
Ende hat. Wir sind in gewissem Maße steuerungsfähig:
„Ich gehe mal in den Speisewagen
und trinke ein Bier“, sagen wir, und der
Zug rast weiter.
Wir nehmen an, als kleiner Mensch in einer
großen Welt herumzulaufen, achten kaum
auf die Schwerkraft. Als Baby ist die Sache
durchaus anders. Totale Abhängigkeit, interpretiert
als gefühlte Allmacht. Fehlt was oder
juckt es irgendwo? Schreien genügt – und es
passiert etwas. Wirst du gefüttert und eigentlich
hat’s dich gejuckt, dann beginnst du eben
von Neuem damit, die Mama anzubrüllen. Du
bist immer in der Mitte deiner Welt. Drückt
etwas gegen deinen Hintern, lernst du, dich
auf den Bauch zu drehen. Nach einiger Zeit
drückst du den Boden mit Armen und Beinen
von dir weg. Die Tante nennt es: „Oh, er
krabbelt schon“, aber du weißt nicht, was eine
Tante ist, und dass du im Zimmer unterwegs
bist. Du drückst nur was weg.
Auf diese Weise bewegst du eine ganze Welt,
wie ein Hamster sein Rad dreht. Da ist kein
Boden für dich, es gibt keinen Teppich unten
oder eine Zimmerdecke oben. Das ist das,
was immer drückt, und allein durch drücken
und schieben mit deinen Gliedern, kannst du
einen Tapetenwechsel machen. Auch Mama
drückt dich! Du lernst nun, selbst zu drücken
und stoßen. Leben ist Widerstand, manchmal
mehr, dann wieder weniger. Halte es dir vom
Leib! Schmiege dich an, du bist nicht allein.
Selbstschutz ist leicht, solange Mama kommt.
Oben oder unten, das macht wenig Sinn für
dich. Du weißt, wie weit deine Füße von deinem
Mund entfernt sind. Das hast du schnell
besser verstanden als manche Erwachsene.
Wir kennen Dinge, die wir erledigen müssen:
aufs Klo gehen müssen wir. Wir müssen die
Miete bezahlen und pünktlich sein, wenn
etwas davon abhängt. Zu leben, kann Kampf
darum sein! Wir kennen Vorlieben, Sachen,
denen wir gern nachgehen und manches davon
ist eine Sucht. Es gibt Zeiten, in denen wir
Pflichten ausblenden: genießen, gutes Essen,
Sex – mit Freunden abhängen oder irgend
ein Spiel machen, Sport, nichts existentielles.
Einige lieben die Arbeit.
David Hockney beschreibt, wie er (als Jugendlicher)
bemerkte, dass es Menschen gibt,
Künstler, die nicht im Auftrag ein Werbeschild
(bis nächste Woche) fertigen oder den Hund
der Nachbarin porträtieren, sondern Bilder
für sich selbst malen. Hockney schreibt, als
Kind hätte er angenommen die Bilder im
Museum würden nach Feierabend gemalt,
wenn die Künstler mit ihren Werbeschildern
und Plakaten fertig wären. Das hing damit
zusammen, dass in seiner Nachbarschaft sehr
wohl Menschen anzutreffen waren, die kreativ
arbeiteten: Drucker und Fotografen für die
Dorfzeitung oder der Mann, der die Plakate
für das Theater malte. Die logische Perspektive
für einen talentierten Schüler ist wohl,
sich nach Perspektiven umzusehen: „Was soll
aus dem Jungen werden?“, werden Eltern,
Verwandte gesagt haben. Dazu Lebensweisheiten,
typische Tipps, die nicht gerade eine
Karriere als professioneller Fußballer, Musiker
oder Künstler nahelegen. So sind Eltern.
Hockney muss früh mit eigenem Denken begonnen
haben, sich frei gemacht haben von
dem was gesagt wird. Er begriff bereits zu
Beginn seines Lebens, dass Menschen Geld
verdienen mit Bildern, die nicht im Auftrag
entstanden. Er verstand, Hobby von Kunst zu
unterscheiden. Nachdem er es verinnerlicht
hatte, konnte er individuell arbeiten.
Bei mir war das durchaus anders. Eine Freundin
und ich hatten Anfang der Neunziger in
Chicago die Gelegenheit, Dennis Conner kennenzulernen.
Uli fragte ihn nach dem Spaß
beim Segeln. Das zu tun, was für andere nur
Wochenendvergnügen ist, aber die Antwort
fiel vergleichsweise brutal aus: kein Spaß,
nur Arbeit. Harte Arbeit, wir wären naiv hieß
das. Ich war noch (von uns beiden) besonders
naiv, ich habe mich nicht einmal getraut, ihn
anzusprechen.
Der Blog, es ist wie meine Malerei: Ich schreibe
zunächst für mich selbst. (Schreiben sei
das Sichtbarmachen von Gedanken, sagte
uns Professor Martin Andersch im Studium).
Gegenüber nachwachsenden Künstlern (die
im Kunstunterricht dahingelobt sind), habe
ich auch die Pflicht zu informieren, wie ich
über Malerei denke. Es sollte lohnend sein,
authentische Kenntnisse und das erreichte
Lebensgefühl weiterzugeben, möglichst frei
von der Absicht, alles gut wirken zu lassen.
Was bringt die Beschäftigung mit Kunst,
wenn Anerkennung weniger im Vordergrund
steht, als zu malen an sich?
Um den Eindruck nicht nachvollziehbarer
Überheblichkeit zu entkräften: Ich bin verheiratet,
habe parallel zur Info-Grafik mit Malerei
angefangen, nachdem klar wurde, dass ich
in der Summe verschiedener Einkommen einen
aktiven Hausmann und Papa geben kann.
Meine Eltern beteiligten uns an Mieteinnahmen,
das hat immer geholfen. Geld ist nicht
alles, mache nicht glücklich heißt es, und ich
wäre gern normal durchs Leben gegangen.
Ich möchte davon abraten, mich zu beneiden.
Als junger Erwachsener wurde ich wiederholt
aus der Bahn geworfen, und die Basis meines
Lebens wurde zu ergründen, warum ich
und andere psychisch erkranken. Ich wollte
eine so grundsätzliche Antwort über die verschiedenen
Diagnosen breit hinweg – und
forderte Gesundheit ohne Medikament und
Therapie vom Leben und der Gesellschaft
zurück. Das ist nun gut gelungen. Es hätte
gern schneller gehen können. Ich fand meine
Freunde dort, wo ich es nicht vermutet hätte,
wegweisend, danke! Wenn ich mich berufen
fühle, dann dazu, Erfahrungen hin zu malenund
schreiben.
Dem Arzt genügt die „Begleitung“ des Behandelten.
Er findet es nicht verkehrt, Erkrankte
nur diagnostisch zu beschreiben, wie in der
Biologie verschiedene Arten bezeichnet sind
und übliche Medizin anzuwenden. Er versteht
sich gern als lebenslanger Anleiter für diejenigen,
denen zunächst gar keine Wahl bleibt,
da sie unmöglich normal sein können. Ihnen
diese Möglichkeit zurück zu geben, das ist
ein Ziel, vor dem der Psychiater kapituliert. Er
schafft die Alternative pseudonormaler Zukunft.
Die eigene Wohnung, eine Arbeit, und
dass es zu einer gewissen Anpassung kommt,
die je nach Diagnose und Form typischen
Ausprägungen kranken Verhaltens milder
werden, da geht es hin. Falls die Krankheit
schubweise auftritt, wird angestrebt, dass die
Schübe weniger heftig sind und seltener. Das
sind erfahrungsgemäß erreichbare Ziele, die
das Team, bestehend aus Arzt und Patient, erwarten
kann.
Dass gerade diese pragmatische Haltung,
erreichen zu wollen was typischerweise
gelingen kann, ein Nährboden für weitere
unerwartete psychotische, aggressive oder
depressive Fehlentwicklung ist, die sich zur
Überraschung des Arztes trotz seiner Medikation
und Therapie ereignen, wird er kaum
einsehen wollen. Ein junger Mensch nimmt
nicht an, zum parallelen Leben neben den
normalen anderen, seinen früheren Mitschülern,
bestimmt zu sein. Man erwartet von ihm
lebenslang gepaart mit einem Arzt auszuhalten.
Ein den Eltern nachfolgender Dau-
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 21 [Seite 21 bis 26]
ererzieher, der ohne mit dieser Erziehung je
zu einem Ende zu kommen zufrieden ist. So
ermuntert, in irgendeiner Ausbildung durchzuhalten,
damit irgendein Abschluss erreicht
wird, darf sich ein Betroffener schon gegängelt
fühlen. Psychisch Kranke fühlen aber
nicht, das ist ihr Problem.
Die Kraft eines Medikamentes wird unkontrolliertes
Aufwallen von Emotionen zu verhindern
suchen. Es ist damit der Zeitpunkt des
Aufwachens aus dem geleiteten Leben eines
Kindes in die Risikobereitschaft verantwortlicher
Selbsthandlung bis zum Sanktnimmerleinstag
verschoben. Kein Erwachsener kann
ohne tiefe Gefühle existieren. Sie sind gerade
die Basis seines Erlebens und der Grund, Verstand
und Mut zu entwickeln! Damit es nicht
zu quasi spätpubertären Schüben, nun mit
Gewalt in die Freiheit der anderen auszubrechen
oder Resignation und Rückentwicklung
kommt, fehlt zunächst die belastbare Theorie,
die menschliches Verhalten zuverlässig
beschreibt.
Belastbar hieße Messbarkeit der Entwicklung
eines jeden, sein Verhalten, Gefühle, Wohlbefinden
und auf der anderen Seite: Ängste,
Aggression und Ziele des Menschen – das ist
schwer zu fassen. Der Psychologe, der Philosoph,
der Psychiater, der Soziologe, viele
Gurus und nicht zuletzt die Kirche wissen
schon Bescheid. Einen Beleg ihres Könnens
bleiben sie uns schuldig. Eine rethorische
Frage: Warum erbringen sie den Nachweis
ihrer jeweiligen Kenntnis nicht dadurch, dass
sie entgleiste Mitglieder der Gesellschaft
zurück in geregelte Bahn bringen? Weil es
unmöglich ist, in einer dynamischen Entwicklung
mit unzähligen, daran beteiligten
Faktoren und Personen, den exakten Grund
und den dafür direkt verantwortlichen Helfer
zum persönlichen Erfolg und Wegweiser in
das erfüllte Leben zu definieren. Und weil es
nicht einmal möglich ist, erfolgreiches Leben
zu beschreiben.
Das erklärte Ziel der Gesellschaft ist gar
nicht, normalgesundes Verhalten der Erkrankten
dauerhaft zu erreichen. Sie werden
als Gestörte beruhigt, gelten als auffällig,
und wenn der gewohnte Ablauf des Systems
wiederhergestellt ist, genügt es. Wem genügt
das denn? Zwischen den Träumen, was uns
möglich sei, unseren Erwartungen ans Leben
und dem Erreichbaren können ganze Welten
liegen. Andere mussten auch zurückstecken.
Ich konnte nicht dafür kämpfen, meine Träume
wahr zu machen: Ich kannte meine Träume
gar nicht! Ich nahm nur unklare Sehnsucht
wahr. Ich wollte nicht behandelt, wie
an der Hand von jemandem leben. Geduldig
sein, Patient?
Ich bin nun ein Mensch.
Worin besteht Erfolg und was bestimmt
den Wert von Kunst? Ein Kunstsammler sei
(selbst) kein Künstler, sagt David Hockney im
schon erwähnten Buch. Ein bemerkenswerter
Satz, finde ich. Wer sich ein Bild kauft, malt
nicht. Wer ein Bild malt, hat es sich verdient
und muss es nicht bezahlen. Was ist das
wert?
In meinem Fall: Selbstwert. Das Bild, das bin
ich. Es ist mehr, als ein Roman für die Schublade.
Meine Bilder hängen an der Wand. Es gibt
eine Webseite und ich habe ausgestellt, auch
verkauft. Das steht nicht im Vordergrund. Eine
Entwicklung hat stattgefunden: Das primäre
Ziel ist zu malen, fertig zu werden mit der
selbst gestellten Aufgabe. So wie ich arbeite,
ist das eine langwierige, verzwickte Tätigkeit,
bis ich zufrieden bin. Es kommt nicht (mehr)
darauf an, von wem auch immer gelobt zu
werden oder gut bezahlt. Ich möchte einem
ästhetischen und inhaltlichen Problem in der
vollen Qualität meiner erlernten Fähigkeit
gerecht werden.
Es gibt kein Medikament, das klug macht. Es
ist Methode, junge Menschen die nicht klar
kommen, in lebenslange Abhängigkeit binden
zu wollen, als hätten sie Diabetes. Ich
habe nach Unabhängigkeit gesucht. Zwei
Menschen fallen mir ein, denen es ähnlich
ergangen ist wie mir, die mutmaßlich dem
Rat der Umgebung bis heute folgen. Der eine
wollte ein „saugeiler“ Saxophonist werden
(oder Tischler). Hat er gesagt. Der andere
wurde in seiner Ausbildung zum Landschaftsgärtner
aus dem normalen Leben gerissen, es
ging nicht mehr. Diagnose? Das heißt nicht
elegant: Burnout. Wir sind Rohrkrepierer, die
nie abgehoben sind.
Um eine attraktive Position in der Gesellschaft
auszufüllen, benötigt man das nötige
Selbstbewusstsein, dorthin zu gelangen. Als
ich jung war, hatte ich das kaum, wusste es
aber nicht. Das liegt ja in der Natur der Sache.
Selbstbewusstsein ist zunächst ein Wort,
etwa wie Intelligenz; das sind abstrakte
Verständigungshilfen und weniger zuverlässig
als Dingworte in einem Satz: Das blaue
Auto fährt auf einen Berg. Hätte jemand zu
mir gesagt: „Was machst du?“ Meine Antwort
damals möglicherweise: „Ich habe ein Boot“
– leicht ist es, in ein anderes Thema hinüber
zu segeln ...
Jede Erkrankung verläuft anders. Es gibt keine
Definition von Normalität. Behandelt wird,
wenn die Fähigkeit eigenverantwortlichen
Handelns in Frage gestellt werden kann. Wer
sich nicht ums Selbst kümmern kann oder
Gefahr ist im Verzug, wem wir die Macht
der Gesellschaft aufzwingen können, der ist
krank? Ein Kind kann ich zwingen, einen Erwachsenen
nur, wenn derjenige das mit sich
machen lässt – oder ich sicher sein kann,
leicht unterstützt zu werden, wenn Hilfe nötig
scheint: Das Gesetz unterstützt die Ordnung.
Hier soll nicht diskutiert werden, dass
Menschen zu Unrecht untergebracht sind.
Die Klinik ist definitiv ein Schutzraum, und
moderne Medikamente sind gut wirksam.
Notsituationen können in der strukturiert
vernetzten Zivilisation gut entspannt werden,
und in diesem Text geht es weniger darum,
dass die moderne Welt vermehrt psychisch
kranke Menschen behandelt, möglicherweise
erst hervorbringt.
Viele gehen aus eigenem Antrieb in eine Klinik,
zu einem Therapeuten. Sie stören sich
nicht daran, medikamentöse Unterstützung
und therapeutische Hilfe anzunehmen, wie
sie z.B. eine Brille oder die Verwendung von
orthopädischen Einlagen in Schuhen gern
tolerieren und mit der Vorstellung modernen
Menschseins vereinbaren können. Der Rollator
ist heute ein vertrautes Alltagsgerät. Die
Ausstattung eines aktuell typischen Fahrradfahrers?
Für einen Zeitreisenden aus der
nahen Vergangenheit gewöhnungsbedürftig!
Freiheit und Unabhängigkeit werden weniger
verlangt als gleichmäßige Umgebung. Das
mag daran liegen, dass Kontrollverlust mehr
gefürchtet ist, als individuelle Lebensgestaltung,
dem damit verbundenen Risiko. Auch
viele moderne gut integrierte Menschen sind
mit einer Existenz wie aus dem Baukasten
nicht unzufrieden, solange sie nicht isoliert
sind und ähnliche und andere Gruppen, in
wirtschaftlicher Stellung ober- und unterhalb
ihrer eigenen Position erkennbar sind.
Ein gesamtgesellschaftlich zufriedenes Irrenhaus
mit unmündigen Menschen – wenn eine
feste Machtstruktur besonnen regiert, wie in
Orwells Roman? Es ist schon vorstellbar.
Einige sind froh, dass man ihnen zuhört. Mich
irritiert, wie standardisiert dem Kranken die
Hilfe gegeben wird, wenn keine Akutsituation
zum Handeln zwingt. Sich die Arme ritzen?
Der Trott durch die Einrichtungen: „Wenn ich
mit der Therapie fertig bin und anschließend
zu Hause, wird alles wie vorher. Mama ist
wieder immer da, und es beginnt ja doch von
vorn“, so etwa hat es mir eine junge Frau in
der Klinik anvertraut. Resignation und intelligentes
Begreifen gleichzeitig; das konterkariert
jede hochqualifizierte Behandlung mit
wenigen lakonischen Sätzen, deprimierend.
Polizeibekannt? Natürlich werden Menschen
vom sozialpsychiatrischen Dienst ungefragt
helfend an die Hand genommen (wie eine
Seniorin, die gar nicht über die Straße möchte).
Das passiert, wenn der Staat glaubt, vorausschauend
sein zu müssen. Es ist dieser
Begriff der „Auffälligkeit“, an dem ich mich
störe. Wenn es einfach wäre, Probleme vorauszusehen,
so wie wir sagen können: „Dieses
Kind hat die Masern“, dann könnten die
nötigen Schritte effektiv getan werden. Auf
der anderen Seite beschreibt die erschreckend
oft wiederkehrende Einordnung: „Der
Täter war zuvor unauffällig“, wenn ein Amoklauf
stattgefunden hat, dass es uns nicht gelingt,
Menschen in Gesellschaft zu sehen und
Beteiligte vor einem Rätsel (wie vor einem
Ausserirdischen) flüchten, wenn es passiert.
Es ist immer Aggression im Spiel, die sich
letztlich gegen den Kranken selbst richtet.
Es spielt keine Rolle, wie wir die Erkrankung
nennen. Sie ist sozial motiviert. Sie beschädigt
den Betroffenen. Sie kann die Umgebung
verletzen, zusätzlich, das hängt ja vor
allem von der Festigkeit des jeweiligen Außen
ab. Bei einer Explosion im Volksfest begreifen
die Besucher nicht, dass sie für ihre
gesunde Fröhlichkeit bezahlen. Sie kennen
den Täter und seinen Neid auf ihr Dasein gar
nicht, dem nichts gesünderes zur Verfügung
steht, seine Gefühle auszuleben. Eine starke
Motivation ist nötig, um gewalttätig zu sein.
Wir sollten nie vergessen, dass man es nicht
mal so eben fertigbringt. Die breite Spanne
des momentanen Lebensgefühls, zwischen
dem Glühwein trinkenden Mitglied einer feiernden
Gruppe und dem zum gleichen Zeitpunkt
seinen Lkw in den Markt lenkenden
Attentäter, schockiert besonders, wenn wir
uns vorstellen, wie die Rollen der Menschen
getauscht werden könnten. Das ist der Moment,
wo sich der Normale für menschlich
hält und den Amokläufer für außerhalb jeder
Vorstellung. Eine gruppenweise organisierte
terroristische Tat, ein religiös motivierter Anschlag;
in jedem Fall ist der Amokläufer bereit
zu sterben! Das ist krank, wie auch immer
es anschließend eingeordnet wird. Das ist in
der Regel ein Mann, er ist bereit zu intensiver
Aggression. Wir sollten annehmen, dass Motive
sich Geltung zu verschaffen, wesentlich
sind. Zu realisieren ist, dass wir im Fall von
Amok auf kurzem Wege die Todesstrafe als
Teil unserer Gesetzgebung akzeptieren.
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 22 [Seite 21 bis 26]
Bei Depression geht es nicht um Traurigkeit,
sondern darum, eine ganze Familie unter
Dampf und in vermeintlicher Schuld zu halten;
das ist aggressiv. Wenn eine junge Frau
sich die Arme ritzt, sucht sie ihre Grenze
wahrzunehmen und ist aggressiv, zunächst
gegen sich selbst. Das übt aber auch Druck
auf Eltern und Freunde aus, man fühlt sich
zum Mitleid gezwungen. In jedem Fall wird
Angst und die Unfähigkeit, sie aktiv gesund
einzuordnen, der Grund sein. Statt kanalisierter
Risikobereitschaft mit einem taktischen
Ziel, das uns gerade deswegen voranbringt,
bahnt sich unklare Aggression den Weg.
Was mich zum Nachdenken brachte, war
seinerzeit der Fehler in der Argumentation
des behandelnden Arztes, ich wäre außerhalb
meiner Krankheitsschübe gesund. Es
ist anzunehmen, dass damit mein Selbstbewusstsein
gestärkt werden sollte. Diese Zeit
könne genutzt werden, neue Erkrankungen
zu verhindern. Das ist uns aber regelmäßig
misslungen. Krank macht, was eindringt wie
ein Virus. Auch verbalisierte oder fantasierte
Risiken. Es geht uns im Kopf rum, Angst fährt
in die Glieder, und einige merken nicht einmal,
wie Angst sich anfühlt. Und zwar, weil
die das Selbst verletzende Angriffe anderer
durch unbewusste und individuell verdrehte
Denkweise geradezu in die eigene Psyche
hineingebeten werden. Abgrenzung heißt
also Abwehr. Dass im Versuch nicht krank zu
werden, Aggression das letzte, aber letztlich
nachvollziehbare Mittel wird, ist für mich nur
zu verständlich. Wem also das Vermeiden
jeder heftigen Reaktion wie in das Gehirn
geschrieben wurde, ein Gebunden sein im
Grundsatz des Ichs, dem wird sich diese Kraft,
wie das Leben selbst, einen Weg bahnen,
ohne nach Verletzlichkeit zu fragen.
Es gibt den ganzen Tag über Handlungen
sich im Lebensweg überkreuzender Personen.
Aus großer Entfernung betrachtet, wären das
nur wuselnde, rempelnde Teilchen. Dass wir
in diesem Prozess noch denken, fühlen und
etwas erwarten, wäre aus der Distanz ganz
unwesentlich. So betrachtet ist hier nur eine
einzige Kraft aktiv. Wie beim Blick auf die
Strudel und Schäume im Schraubenwasser
eines ablegenden Fährschiffs, würden wir
keinem Tropfen im Wasser das Selbst zusprechen.
Jeder einzelne Schluck Wasser müsste
sich allein darum kümmern, seine Individualität
(buchstäblich) nicht zu verwässern. Die eigene
Grenze zu definieren, ist unumgänglich
und ein individueller Lernprozess, wenn wir
nicht die Identität an das Allgemeine verlieren
wollen. Ohne eine eindeutige Definition
des Selbst, kann sich unser Organismus nicht
gesund entwickeln und wird verkümmern.
Ich begann riskanter und mutiger zu werden,
wollte bewusst angreifbar werden, mich dabei
beobachten, wie ich mich individuell in
Schwierigkeiten brachte! Provokation wurde
Methode – das fing schon damit an, die Erkrankung
zuzugeben. Wer nur freundlich tat,
musste ins eigene Messer seines inszenierten
Rufmordes laufen, wenn ich zuverlässig blieb
und die Spekulationen, was ich in Wahrheit
für einer sei, nicht eintrafen. Falsche Freunde
raus! Was habe ich dabei gelernt? Zunächst
den jeweils eigenen Anteil meiner Angst,
also die vielen möglichen Schwierigkeiten,
die sich aus einer Aktivität von mir und dem
gewünschten Ergebnis ergeben können,
wenn etwas nicht klappt. Ich musste mich
mit meinen Erwartungen auseinandersetzen.
Die Erfahrungen waren ernüchternd. Erst allmählich
fand ich einen persönlichen Stil, damit
umzugehen, dass ein von mir erwartetes
Verhalten anderer sich oft nicht erfüllte. Mir
war also nie klar gewesen, wie unzuverlässig
nicht nur das Wetter, sondern eigentlich jede
Wirklichkeitsvorstellung ist. (Malen hilft).
Ausländer kennen Probleme bei der Wohnungssuche
und in anderen Lebensbereichen.
Weniger angesehene Mitglieder der
Gesellschaft werden ebenfalls ausgegrenzt.
Ausgegrenzt sein kränkt, es braucht keine
bessere Erklärung, keine Diagnose oder den
Spezialisten, um zu begreifen, dass einzig die
Fähigkeit innerer Stärke gegen diese Mechanismen
hilft. Die Alternative wäre, die krank
machende Umgebung zu wechseln, aber wohin?
Oder eine Art Schutz zwischen mich und
die angreifenden Belastungen durch andere:
Medikament, Beichtvater, die individuelle
Rüstung? Gut möglich, dass die Pharma so
denkt. Psychische Krankheiten sind traumatisch.
Wenn Selbstbewusstsein zunächst aus
dem Meistern von Schwierigkeiten hergeleitet
werden kann – ich spüre meine Körperlichkeit,
weiß um meinen Verstand, kenne
meine Fähigkeiten, Schwächen, und meistens
gelingt es mir, ein Ziel zu erreichen – dann
wird schnell klar, wie sehr ein unvermeidbarer
Aufenthalt in der Klinik runterzieht.
Ein Teufelskreis, den ich letztendlich nur
ohne die Hilfe der Ärzte durchbrechen kann.
Mit jedem weiteren Tag der Unterstützung
akzeptiere ich eine abhängige Lebenssituation,
und die Krankheit ist die Folge von Unselbstständigkeit.
Innere Stärke kann durch
nichts als den eigenen Lernprozess erworben
werden. Das kann natürlich durch eine Art
coaching unterstützt werden, und selbstverständlich
können Medikamente zeitweise
sinnvoll unterstützen. Gefühle und Sensibilität
medikamentös zu dämpfen, verhindert jedoch
Risiken wahrzunehmen und verlängert
den Weg in die Unabhängigkeit. Wie lange
und wie bindend soll das sein? Aus diesen
Angeboten und Überlegungen ein eigenes
Konzept zu formen, ist der nötige Anteil auf
dem Weg zum gesunden Selbst.
Jede ausgegrenzte Gruppe kann sich untereinander
solidarisieren und daraus Stärke
für den einzelnen formen. Das funktioniert
aber nur, wenn diese Gruppe sich untereinander
sozial verhalten und erkennen kann.
Es liegt auf der Hand, dass Menschen mit
psychischen Krankheiten kaum so effizient
zusammenhalten, wie etwa die afrikanischen
Sklaven, die in Amerika noch heute diesen
Prozess ihrer Befreiung weiter und weiter gehen.
Die Schuld liegt in der Hautfarbe? Da ist
klar, dass die Farbe der Schuldigen weiß ist.
Es wird schwieriger, wenn der Unterschied
nur ein wenig größer ist als die Farbe der
Haut, das liegt auf der Hand.
Wenn Männer mit Männern Liebe machen,
Männer mit Kindern Liebe machen; die Gesellschaft
mobbt nicht grundlos. Es geht um
den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt.
Inzucht wurde als Problem erkannt
und verboten. Gleichgeschlechtliche Liebe
haben Generationen als krank empfunden,
und das sehen wir heute anders! Wir konnten
uns dazu durchringen, ein drittes Geschlecht:
„Divers“ mit einem Wort zu benennen, diese
Menschen gibt es in großer Zahl, überfällig.
Wir können Sex mit Kindern weiter nicht zulassen
– und in der Skizze dieser Aufzählung,
sollte ein flexibel denkender Mensch die
wahren Errungenschaften unserer Zivilisation
begreifen. Es ist nicht einfach, tolerant zu
sein. Unterscheidungsfähigkeit muss gelehrt
und diskutiert werden: Wir geben dem Bettler,
aber wir verschließen unsere Haustür.
Das Problem der psychisch Kranken ist, dass
sie durchaus zu Recht ausgegrenzt werden
und zudem nicht fähig sind, sich zu solidarisieren,
Gefahr ist im Verzug. Helfen bedeutet
in jedem Fall sich einzulassen, bestimmt
mehr als auf eine andere Hautfarbe. Missbrauch
der Helfer kann problematisch sein:
Ärztepfusch wird in Zahlen belegt. Soundso
viele wurden falsch operiert, am Darm, am
Rücken, am Auge – wer wurde falsch therapiert?
Wer sich nicht wehrt, wird unter den
Tisch gekehrt. Darüber steht nichts in den
Statistiken am Jahresende. Die besten Chancen
hat ein psychisch Kranker, wenn er nicht
mehr krank wird. Dann bleibt weiter die nicht
änderbare Vergangenheit, die unter Umständen
unvermeidlich bekannt ist, und das ist
eine Herausforderung! (Ich nehme sie täglich
an).
Heute gibt es nicht selten als Antwort auf die
Frage, die Jungs früher mit: „Lokomotivführer“
und Mädchen mit: „Verkäuferin“ beantwortet
haben: „Erst ein soziales Jahr und dann studieren.“
Seitdem wir einen Job suchen, mit
dem Partner zusammen und ein Arbeitsplatz
für uns geschaffen wird, gibt es die Welt von
gestern nicht mehr. Ein Buchtitel von Stefan
Zweig, ich habe das gelesen: Berufen und
verheiratet war man.
Meine Mutter verwendete noch die Anrede
„Fräulein“ selbstverständlich, wie die Engländer
„Miss“ sagen. Niemand möchte zurück
in eine Zeit, die nur von Menschen verklärt
wird, die darüber den verbalen Beschiss, den
jede Epoche auf ihre Art hatte, ausblenden.
Immer wieder werden junge Menschen von
Erwachsenen getäuscht, auch wenn es gar
nicht beabsichtigt ist. Erwachsene verstehen
die Realität genau so wenig. Gerade ältere
Leute können oft nicht nachvollziehen, dass
Jugendliche sich Fragen stellen, ob sie überhaupt
eine Zukunft haben. Eine Wirklichkeitsauffassung
ist ein Instrument zur Navigation.
Sie ist nur so gut wie die Seekarte, nach der
das Schiff gesteuert wird. Das Unglück, ein
psychisch krankes Wesen heranzubilden beginnt,
wenn das Kind die Dinge genau wissen
möchte, die seine Umgebung mit einer
Erklärung befriedigt, die nur dem nützt der
sie verbalisiert. Die Eltern reiten ein Pferd
durch die bekannten Wiesen, schenken ihrem
Kind gleich ein Flugzeug, drücken ihm die
Flurkarte vom Gelände neben dem Hof in die
Hand – und der Lütte hebt ab – fliegt, allein
im Cockpit, hinter dem Wald über das offene
Meer in die Nacht; so etwa.
Manche finden sich zurecht, andere weniger.
Opa wird noch stutzig, wenn die Enkeltochter
antwortet: „Ich möchte studieren.“ Er hakt
nach: „Was denn?“ Eltern, Freunde und das
Mädchen selbst, sie schieben den Zeitpunkt
selbstverantwortlicher Existenz gern auf. Die
Welt lebt davon, Schulden zu machen. Die
Absichtserklärung ist salonfähig geworden.
Die Wahrheit wird durch „Fake-News“ ersetzt,
wir haben ein neues Wort dafür – und müssen
deswegen nichts mehr tun? Das macht
die künstliche Intelligenz für uns, und Elon
Musk fliegt zum Mars. Senkrechtstarter wie
er, ziehen an der Masse typischer Schulabgänger
vorbei, das ist nicht neu, und wir können
annehmen, dass der entspannte Weg in
das Leben seine guten Seiten hat. Aus gutem
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 23 [Seite 21 bis 26]
Grund möchte ich trotzdem davor warnen,
emotional auf Pump zu leben und der Angst,
vor Entscheidungen davonzulaufen.
Der Frisör, zu dem mein Vater und ich gingen,
als ich ein Kind und später Jugendlicher war,
beurteilte meinen Vater: „Bassi kann ja schon
austeilen, einen spöttischen Witz machen,
dein alter Herr. Aber, kann der auch einstecken?“
Ich erinnere mich an diesen Moment,
ich habe das nämlich nicht begriffen, war ich
fünfzehn? Auch später, mit vielleicht gut 20
Jahren, hätte ich ein Gespräch über Gefühle
und Selbstbewusstsein nicht wirklich führen
können: ich habe mein Unvermögen überspielt,
mich in jedem Fall für normal wie jedermann
gehalten und bin sicher, die Mehrzahl
meiner Zeitgenossen hätte auch nichts
an mir irritiert. Ich störte nicht.
Neulich: Ich hörte vor nicht allzu langer Zeit
im Bus das Telefonat einer Frau mit (es war
aufgrund von Lautstärke und Drang in ihrer
Stimme unvermeidlich), die sich ausgiebig
ins Zeug legte, einen Mann zu beschreiben:
„Er hat kein eigenes Standing“, sagte sie unter
anderem (und möglicherweise hörten wir
unbeteiligten Mitfahrer ein Gespräch unter
Kollegen, dann wäre die Frau Psychologin
gewesen). Es kann natürlich auch um den
Ex gegangen sein. Er kam nicht gut weg, das
merkte man.
Hier soll nicht erörtert werden, was sich im
Bus gehört. Ich kann etwas zu meiner Freundin
sagen und es ist gut möglich, dass sie mich
so versteht, wie ich es meine. Was passierte
wohl, wenn ein Arzt mir sagt: „Sie haben kein
eigenes Standing“, oder dergleichen? Der
Sinn und Zweck, die Zuverlässigkeit, Besserung
zu erzielen, die verschiedenen Ansätze
von Therapie in Relation zur Form einer Erkrankung,
das kann diskutiert werden. Bevor
jemand selbstbewusster und damit gesünder
leben kann, muss er den Ist-Zustand wahrnehmen.
Dann folgt eine für Betroffene, wie
diejenigen, die sich berufen fühlen zu helfen,
interessante Frage, wie etwas besser werden
soll, das zunächst eindeutig scheint, bei näherer
Betrachtung aber ein Wort ist, das nur
unter „Insidern“ begriffen wird? Ein selbstbewusster
Mensch verfügt über eine normalgesunde
Fähigkeit, aber in der Regel so normal,
dass es ihm kaum möglich ist, sein Tun zu
erklären. „Brust raus, Schultern zurück!“ oder
„Reiß dich zusammen“, Tipps die Haltung betreffend
sind bekannte aber hilflose Versuche,
offensichtlich durchsetztungsunfähige
Zeitgenossen zu bessern.
In eine Castingshow gelangen immer wieder
junge Menschen, die gar nicht singen können.
Eigentlich kann das gar nicht sein, wer singt,
wird doch unweigerlich gehört und kritisch
bewertet, die Eltern, die Freunde, ein Musiklehrer:
Wie kommt es, dass niemand korrigierend
eingegriffen hat? Und sich weiter junge
Menschen blamieren? Das ist ein wesentlicher
Grund für den Erfolg dieser Formate. Es
sollte uns zu denken geben. Es ist nicht, dass
Dieter Bohlen böse ist, es ist vielmehr so,
dass er verlässlich ist. Die Umgebung mancher
Kinder ist unzuverlässig. Das Problem
ist nicht der harte Juror, es ist auch nicht, dass
zu singen schwierig ist oder es nur ums Geld
ginge. Es ist so, dass da immer Menschen
sind, die sich selbst nicht wahrnehmen.
Ich war sehr gut im Zeichnen. Hätte es eine
Castingshow gegeben, in der die Bewerber
etwas zeichnen, da hätte ich gute Chance auf
einen Recall gehabt! Es gibt auch Talentierte
im Casting, die werden nicht vorgeführt, aber
sie gewinnen die Show nicht. Da spielen ja
einige Faktoren eine Rolle. Zunächst einmal
wird, wer singen kann, schon deswegen ein
besseres Körpergefühl mitbringen oder umgekehrt,
freies Atmen wird Singen als natürliche
Ausdrucksform gratis mitliefern. Eine
gute Verfügbarkeit der Muskulatur, eine flexible,
sportliche Körperhaltung; Musik machen
und Selbstbewusstsein bedingen einander.
In gewisser Weise ist auch das eine eigene
Erfahrung. Heute kann ich akzeptabel singen,
sagen wir mal: für den Hausgebrauch, verstehe
in welchem Takt ich bin, wann der Chorus
von vorn beginnt und kann auch bemerken,
wenn ich falsch liege und mich anpassen.
Ich weiß, was ich mache und kann besser
werden. Es kommt darauf an, wieviel ich übe.
Als ich jung war, liebte ich schon Musik, ging
aber der Auseinandersetzung (mit mir selbst)
gut zu sein, dass ich mit anderen zusammen
hätte musizieren können, aus dem Weg. Nicht
nur, weil es keinen guten Unterricht in der
normalen Schule gab, ich organisierte nicht
diesen Traum, Musik zu machen. Das ist keine
Frage von Talent, das war ein Problem
mangelnder sozialer Kompetenz. Insofern
fühle ich mich berufen, über diese Dinge
zu schreiben und die Defizite meiner Erziehung
anzusprechen: als meine wesentliche
Leistung herauszuarbeiten, wie meine Kunst
mich dorthin führte, wo ich hin musste, ohne
es zu wissen. Da sind ja immer neue junge
Menschen, denen es ähnlich geht.
Erwachsene sollten weniger die vergangene
Zeit beschuldigen oder versuchen, sich selbst
in einem möglichst guten Licht glänzen zu
lassen, sondern Wege zeigen, die gelungen
sind und Irrtümer nicht verschweigen. Ich
hätte weiß Gott gern anders gelebt und
schneller und effektiver sein können, dorthin
zu gelangen, wo ich heute gern bin. Damit
wären auch Sehnsüchte erfüllbar gewesen,
die jetzt nicht nachholbar sind. Die Kunst besteht
in der Fähigkeit, die eigene Realität zu
erkennen, zu tun was heute möglich ist. Es
sei nie zu spät, sagt man. Aber das ist nur relativ
wahr. Auf jeden Topf passe ein Deckel, ist
genauso Unfug. Niemand bleibt der Topf, der
er einmal gewesen ist. Dass sich hingegen
stets neue Türen öffnen und
wir, klüger geworden, nicht
anderswo sinnlos gegenan
rennen? Das stimmt.
Natürlich verdanken einige ihr
erfülltes Leben einer gesunden
Familie, für die sie nichts
konnten, als sie dorthinein
geboren wurden. Es ist einfach,
rückblickend den Eltern
für unser Versagen die Schuld
zu geben, und es stimmt, dass
viele Schwierigkeiten in der
Kindheit beginnen. Gleichwohl
gibt es erstaunliche Lebenswege, die
in armseligen Verhältnissen ihren Anfang
genommen haben. Ich hätte mehr erreichen
können, aber niemand hätte es so machen
können wie gerade ich. Mein Leben in seiner
Einzigartigkeit (wie das von jedem einzig ist),
das gefällt mir doch!
Ich muss nicht Musik machen, aber ich hätte
gern früher mit der Trompete angefangen!
Ich verstand nicht, warum ich damit nicht zurecht
kam und heute, wo es mir als Fähigkeit
zur Verfügung steht, kann ich alternativ ein
wenig unter der Dusche singen und mich auf
das Malen konzentrieren. Ebenfalls andere
Wünsche, die nicht wahr wurden: Selbstbewusstsein
bedeutet gleichermaßen zufrieden
zu sein, mal passiv zu bleiben, wie über den
nötigen (sogar aggressiv) voran treibenden
Antrieb zu verfügen, wenn es wichtig ist. Sich
verteidigen zu können, im Falle man vorgeführt
wird – und anschließend unproblematisch
auszuschlafen, die Fähigkeit, sich von
Stress zu erholen, ich kann das heute: tun
und lassen.
Der Grund dafür, dass Bilder zu malen so
wertvoll ist? Der Wert für das Selbst, ungestört
von anderen und doch im Widerstreit
mit der Welt fertig werden, ich kann das erklären:
Ein Gesetz der Fläche, weit mehr als
der Geschmack der ungeübten Betrachter,
eine Art inneres Raster. Der Mensch findet
sich selbst, im Erforschen der Natur. Unser
Gehirn erkennt Ordnung, wo keine ist, und
das mag darin liegen, dass jedes Wesen darauf
angewiesen ist, Wege zu finden. In einem
Urwald Sinn zu sehen? Für eine Pflanze
besteht der Sinn darin, inmitten anderer das
Sonnenlicht zu finden und Wasser. Sie wird
ihre Wurzeln dorthin treiben, wo diese die
Feuchtigkeit nutzen können, ihre Äste und
Blätter dem Licht zuwenden. Der Mensch
wird sich im Gestrüpp einen Pfad bahnen, der
ihn auch morgen sicher nach Hause führt,
wie der Wurm, das Wildschwein, der Vogel
das jeweilige existentielle üben, gerade diese
Umgebung zu nutzen.
Eine leere weiße Leinwand ist eine Wiese,
und der Maler findet darauf den Garten Eden
oder eine chaotische Struktur. Wer das Bild
schließlich anschaut, sollte genauso Wege
finden können, die ein Mensch nachvollziehen
kann, weil er genauso Mensch ist. In
einer Abbildung Raum zu erkennen, wir müssen
das lernen. Die Kunst der Perspektive in
einer Darstellung der Natur anzuwenden, als
eine Technik menschliches Sehen zu imitieren,
wurde studiert wie die Mathematik. Wir
können durchaus diskutieren, ob hier etwas
gefunden wurde, das die Wirklichkeit ist –
oder ob es die menschliche Interpretation
der Welt ist. Aus dem Bereich realer Strukturen,
kann das menschliche Auge seinen Teil
der sichtbaren Farben abbilden, unser Ohr
über einen Abschnitt in
der Skala möglicher Töne
verfügen. Die Wissenschaft
konnte belegen, dass die
existierende Realität größer
ist. Tiere sehen spektral
anderes, können Dinge
hören, die uns verborgen
bleiben. Die Gläubigen
der verschiedenen Religionen
suchen zu akzeptieren,
dass unser irdisches
Dasein größer ist, als wir
erkennen können.
In jedem Fall wird ein Mensch nach längerer
Beschäftigung mit Kunst Methoden finden,
die ansprechende Arbeiten hervorbringen.
Richtig von falsch zu unterscheiden, kann
individuell begriffen werden: Mit wachsender
Erfahrung erkenne ich, was mich am Gemälde
(noch) stört. Ich kann mein Bild nun
genau so lange verbessern, bis es mir selbst
als gelungen erscheint. In sofern kann ein erfahrener
Maler auf die Bewertung einer Jury
verzichten und zufrieden sein: alle inneren
Kritiker wurden zu Freunden, haben gemeinsam
gemalt. Das genau ist der innere Frieden
real erlebt.
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 24 [Seite 21 bis 26]
Bis mein Bild fertig ist, müssen viele den Weg
weisende Stimmen darum ringen. Meine Frau
und mein Sohn wissen, wie laut und unflätig
ausfallend ich werden kann, wenn ich wieder
einmal mit den Umständen verwechsle, was
ich in Wahrheit selbst verbocke. Damit ein
gesundes System von innen handlungsfähig
wird, müssen die vielgesichtigen Motive außen
in eine geschlossene Form zu eindeutiger
Aktivität gebunden werden.
Das Gesicht der guten Jazztrompeter beim
Vortrag zeigt die Intensität innerer Kräfte
und den Einsatz der Muskulatur in einer
Weise, die niemand mit dem Gesicht zuwege
bringt, der es nicht so gekonnt gelernt hat.
Youtube zeigt Freddie Hubbard in Großaufnahme,
und keiner der nie spielte, könnte
ihn imitieren. Auch die anderen Stars dieser
Musik, einzigartig sind sie, unverwechselbar.
Das ist der Mensch. Was ist die Gage des
Abends oder der Preis eines Bildes dagegen?
Das muss jeder für sich einschätzen. Für mich
zählt einzig Erfahrung, die ich durch das Machen
weiter fortführen kann. Es geht mir viel
weniger darum, wie gekonnt ein Künstler
ist. Es geht um den eigenen Fortschritt, und
das kann vom ersten zum zweiten Bild, das
überhaupt begonnen wurde, Ziel sein. Musik:
Louis Armstrong sagt in einem Buch: „Ich studierte
die Akkorde und Harmonien und begriff
anschließend, dass ich sie schon vorher
die ganze Zeit gespielt hatte.“
Wir entdecken die Welt, wir finden uns
selbst.
Natürlich entwickeln die Künste sich weiter.
Dinge werden gemacht, die früher nicht akzeptiert
wurden. Ehrlicherweise sollten wir
zugeben, dass inzwischen viel erfunden wurde
und die Kunst nicht nur darin besteht, insgesamt
neu zu werden sondern auch darin,
Varianten innerhalb bekannter Ausdrucksformen
zu finden. Kreativ zu schaffen, innerhalb
eines Rahmens, ist immer individuell neu. In
der Malerei können wir das wörtlich nehmen.
Die Bilder sind in der Regel rechteckig, haben
einen Abschluss der Fläche an Kanten, und
innerhalb der vier Seiten besteht die Kunst
darin, ein eigenes Motiv zu schaffen. Es muss
das Malen nicht abgeschafft werden als keine
Kunst, weil es ja von früher schon da ist. Auf
der anderen Seite ist es eine unendliche Folge
von Entdeckungen, die ein Maler macht,
im Probieren was gut aussieht, zielführend
einer Idee und was nicht.
Entwicklungsmöglichkeiten sind bessere
Heilung. Ein Mensch ist kein zu flickender
Stuhl. Leben ist ein Prozess, ein Körper bewegt
sich in der Zeit, und unser Gehirn passt
sich gern lernend an neue Gegebenheiten
an, wenn wir ein Feld neuer Erfahrungen
betreten können. Um sich auf sich selbst zurück
zu werfen, wie Robinson auf die Insel;
es nützt mehr, aktiv etwas zu tun, ohne dass
jemand stört, als auszuschlafen und sich zu
entspannen. Die Erholung vom unvermeidbaren
Stress geschieht im erfüllten Spiel, mehr
noch im Erschaffen der eigenen Spielwiese!
Beim Ausfüllen eines Kreuzworträtsels oder
beim Spiel mit einer gekauften Einrichtung,
eine App oder dergleichen, würde es nicht so
gut wirken.
Nein, zu Beginn einer künstlerischen Entwicklung
werden wir unweigerlich darüber
nachsinnen, wie die Betrachter, die wir uns
während der Arbeit zunächst nur vorstellen,
reagieren. Das muss ja auch so sein, denn ein
Bild transportiert einen Inhalt in die Öffentlichkeit,
und zu malen und nicht an die zu
denken, die wir erreichen wollen; das wird es
nicht geben. Es wäre unehrlich zu behaupten,
dass es ganz egal sei. Die Freiheit des Denkens
besteht gerade darin, genau zu sein.
Unselbstständigkeit ist vorausschauend gehorsame
Anpassung an andere. Das kommt
nicht von ungefähr. Abfällig wird ein kranker
Mensch als „gestört“ bezeichnet: Im Ausdruck
kommt die Wahrheit seiner Macke durch, die
anderen waren schuld. Wenn ein Kind oft unterbrochen
wird, etwas zu tun das nicht ganz
einfach ist, wird das Denken dieses späteren
Erwachsenen geprägt von inneren Stimmen
der Einmischung sein, auch wenn niemand
im Raum ist.
Unzuverlässige Liebe: überraschend, nicht
nachvollziehbar alleingelassen. Dazu Überforderung
nach dem Motto: „Du schaffst das,
mein Kind ist etwas ganz Besonderes!“, von
Bezugspersonen, wenn wir als Kind unänderlich
von ihnen abhängig sind, ist der Anfang.
So entwickelt ein Kind seine Selbst-Störung.
Es handelt nur, um von anderen dafür gelobt
zu werden. Aus der Gewohnheit, immer
unterbrochen zu werden, lernt der kindliche
Organismus, die in seine Tätigkeit einbrechende
Stimme schon vorher zu ahnen. Daraus
entwickelt sich das abhängige Denken.
Eine Stimme im Kopf spricht. Umgangssprachlich
das Gegenteil wäre Bauchgefühl
oder Intuition, dieses beherzte, risikofreudige
Entscheiden – kein psychisch Kranker kann
das. Allenfalls zwanghafte, heftige Aggressivität
stehen zur Verfügung, der böse Rest der
Freiheit. Gesunde wägen noch ab, ob sie dem
Verstand folgen oder sich mal machen lassen.
Sie können wählen.
Die Eltern: Lob im Übermaß? Das schadet
nicht weniger, als vernichtende Kritik. Es ist
das Zuviel an Einmischung, im Wechsel mit
völligem Alleingelassen sein, in einem Alter,
wo Kinder abhängig sind. Ernährer haben die
Macht. Wie beim Haustier: Der böse Hund ist
das Ergebnis falscher Haltung.
Das Kind: Wir begeben uns außerhalb unsres
Selbst – als wäre die Regierung des Landes
ins Exil gegangen, bedrängt vom Chaos im
heimischen System – im Beobachten anderer,
wie wir auf sie wirken könnten. Statt
innerhalb unsrer Person mit effektiven Maßnahmen
Vertrauen zu schaffen, ist das eine
Flucht (die unnötig wird, wenn ein Erwachsener
gelernt hat, Körper und Geist zu einen).
Ich war in vielem früh überfordert, schon
deswegen, weil ich einen schlechten Start im
örtlichen Kindergarten hatte, sozialer Druck
andauerte, als ich aus heutiger Einschätzung
verfrüht die Grundschule beginnen musste.
Ein unnötiger Versuch, anschließend das
Gymnasium zu besuchen, erscheint mir heute
mehr von meiner Mutter aufgezwungen, als
selbst gewollt oder von Lehrern empfohlen.
Im Gegenteil. Natürlich blieb ich krachend
sitzen und ging ab. Realschule. Später dann
doch noch Fachhochschulreife. Meine Methode
nun: einschleimen beim Lehrer, ich
habe mich angebiedert, wo es ging. Eine erste
Freundin findet man so in Schule oder Studium
nicht. Wer mag Jungs, die nicht wissen
was sie wollen, wer sie sind und sich freuen,
wenn eine gute Note ihr braves Verhalten
stärkt? Meine Leistungen waren nur durchschnittlich.
Ich war dünn und unsportlich.
Blieb doch die leicht zu erreichende Anerkennung
im ansonsten wenig respektierten
Fach Kunst. Mein Talent war bereits im Kleinkindalter
gut entwickelt, ein Geschenk!
Gelobt zu werden, stand an erster Stelle. Ich
hatte mein Fortkommen einer Umgebung
anvertraut, die sich mit dem Ende der Schulund
Studienzeit radikal bösartig änderte: Ein
in Freiheit orientierungsloses Tier aus dem
Zoo wurde in den Dschungel gegangen.
Unsere Geschwindigkeit ist zunächst das
Tempo der Erde. Unser großer blauer Planet.
Das Fahrzeug für uns kleine Menschen. Wir
reden von Zeit, und das ist wieder ein Wort,
ein Begriff. Was ist Zeit? Selbst Fachleute diskutieren
noch. Es scheint, als könne nur das
eine auf’s andere folgen. Kausalität, das Auto
fährt, es biegt auf die Fernstraße, beschleunigt,
und nach einiger Zeit kommt’s an. Ohne
ein Ding in seinem jeweiligen Tempo, fällt
es schwer Zeit zu beschreiben. Der Zeiger
einer Uhr, die aufeinanderfolgenden Ziffern
im Display, das sind alles Elemente, deren
Bewegung uns zum Begriff Zeit angeregt hat.
Ein Stein liegt in der Wüste rum, er verwittert,
wird Risse bekommen. Der Zahn der Zeit nagt
an ihm? Ein Stein lebt ja nicht, und es ist ihm
wohl egal, ob er leidet? Um Geschwindigkeit
zu verstehen, interessieren wir uns für etwas,
das sich bewegt. Ich winke mit meiner Hand,
winke schneller. Was ist Entschleunigung?
Um langsamer zu sein, muss ich fragen, was
gebremst wird? Es ist doch immer gut, die
Dinge beim Namen zu nennen: Eine Hand
bewegt sich, ein Auto fährt und John braucht
lange dafür. Wofür? Ohne die Dinge, die wir
bewegen, fällt es schwer, Zeit zu verstehen.
Wie lange benötigt „ein“ Künstler für ein
gutes Bild? (Was ist gut)? Keine Ahnung. Ich
habe „Malen hilft“ in nur drei Wochen gemalt.
Ich war extrem verstört, enttäuscht und wütend.
Eine Abrechnung. War das gut, war das
richtig? Ich habe so gut und realistisch gemalt,
wie ich es gerade konnte. Dieses Bild,
was war meine Intention? Gewaltporno, Persönlichkeitsrechte
wurden verletzt, es steht
nun in einer Ecke meines Ateliers, ein kleines
Loch ist in der Leinwand dort, wo die Signatur
war. Im Internet sollte es nicht mehr zu
sehen sein. Dark ist die Nacht. Drei Wochen
Malerei können nicht rückgängig gemacht
werden. Mein Tempo, ich habe Vollgas gefahren
in meinem Zorn und war dann schließlich
genau dort, wo ich hinwollte! Meine Kunst
bestand darin, erst nachzudenken und anschließend
zu schauen, ob der Versuch zum
erwarteten Ergebnis führt. Einige haben es
begriffen. Danke. Drei Wochen, das Format ist
120 x 100 cm, und an „Gurken und Rosen“ im
gleichen Format arbeite ich inzwischen seit
Mitte März (wir haben Oktober).
Ich habe eine Zeitlang als Briefträger gearbeitet.
Dort war die korrekte Erfassung der
Arbeitszeit ein wichtiges Instrument, nicht
nur der Abrechnung. Der Ablauf der gesamten
Arbeit war in Menge der Sendungen, verwendetem
Fahrrad und Tour in direktem Bezug
zur Zeiterfassung, die wir als Zusteller nie
aus dem Auge verlieren durften. Das gesamte
zweckmäßige Berufsleben ist ein Netz ineinandergreifender
Abläufe. Und Leistung ist
die Definition, wieviel in welcher Zeit bewegt
wurde. (Ein städtischer Linienbus fährt nach
Plan). Arbeit an sich wäre, den Stein auf den
Berg zu schaffen. Eine Leistung wird daraus,
wenn ich sage, wie lange es dauerte. Bleibt
noch die Frage, ob es individuell mir gut
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 25 [Seite 21 bis 26]
getan hat, eine sportliche Herausforderung
oder eine zwanghafte Qual, ein existentieller
Kampf?
Kunst ist anders, jedenfalls nach meinem Verständnis.
In der Ansprache einer Vernissage
sprechen wir gern von Arbeiten, die gezeigt
würden. Noch nie hörte ich, dass jemand
Leistungen an die Wand hängte. Hier geht es
also um das Wohlbefinden bei gelungener
Bewegung! Ein Künstler schafft im eigenen
Tempo ein eigenes Motiv. Alles andere wäre
Illustration: Deko für die allgemeine Gesellschaft,
malen eines Themas, ausgerufen
vom Aussteller zum Termin einer Präsentation.
Das geschieht dennoch ständig, und die
Akteure solcher Veranstaltungen betreiben
Selbst- und Gesellschaftsbeschiss. Das ist
keine Kunst, obwohl es so heißt.
Selbstwert ist Haltung, und das ist genauso
Aktion wie standhalten. Auch im negativen
Gefühl. Kunst bedeutet nicht, rosarot glückstaumelnd
bei softer Musik vor sich hin zu
pinseln, obwohl es das mal sein kann. Insgesamt
wird aber der Mensch John Bassiner bewegt,
wenn ich mich dazu entschließe, Maler
zu sein. Nun kommt die Eigenverantwortung
an erster Stelle, und da können wir diese
Künstler, die Unmengen Alkohol trinken oder
Drogen nehmen sehen, die pedantischen, die
alles ganz genau planen und die anderen,
die sich ganz der Spiritualität und spontaner
Schaffensenergie hingeben. Eigenverantwortlich
heißt, dass es meine Sache ist, wie
ich’s mache.
Theater des Lebens. Die Kunst ist meine Physik:
„Der Kopf ist dein Spielzeug“, sagt Charlie
Chaplin dem Kind – das Geld hat wieder
einmal nicht gereicht, ein Geschenk zu kaufen
– als gealterter Clown. Es kostet nichts
zu denken! (Das ist der Film, in dem er zum
Schluss von der Bühne rückwärts in die große
Trommel stürzt, sie ihn dort drin steckend
raustragen). Es sind die unvergesslichen Momente
der Kunst, die berühren.
Was interessiert mich, wieviel Geld wohin
geflossen ist bei einem Werk das mich zum
Lachen, zum Weinen oder Träumen brachte?
Geschenkt: Das will ich auch machen, habe
ich gedacht als ich ein Bilderbuch von AOF
bekam oder „Nordkap“ von Schnars-Alquist
im Original anschauen konnte.
Nachgeschenkt: Die umfangreichen raffinierten
Einfälle kreativ zu erleben, über die ein
Künstler nach Jahren der Selbsterforschung
verfügt, übersteigen emotional den materiellen
Wert, wieviel „Meyer“ für ein Bild zahlt. Es
wird sich niemandem auf diese Weise offenbaren,
als dem Maler selbst: in seinen starken
Motivationen, Zweifeln und Irrwegen während
der Herstellung. Eine Reise jedes Mal.
Oktober 2019, geschrieben im Zug nach
Backnang
Auf eigenen Füßen stehen. Ich stelle mir vor:
Nicht die Schwerkraft gibt mir Gewicht, zieht
runter. Stelle mir vor, der Apfel fällt nicht vom
Baum zu Boden. Ich stelle mir das so vor, der
Boden ist der große Schieber. Meine Rakete
ist die runde Platte, dieser vertraute Kreis der
Erde, mit dem ich voran gebracht werde. Die
große Kraft. Die Drehung der Erde bemerke
ich dabei gar nicht. Es ist doch die Sonne und
der Mond die oben herumfahren! Das Himmelszelt,
der Hintergrund ist vorn. Dahin fliegen
wir, und Han Solo ist wohl gerade im Begriff,
den Hebel im Cockpit bis zum Anschlag
zu reißen und alle Sterne werden perspektivisch
fluchtend weiße Striche – Fantasie!
Dass ich mich gegen eine Platte stemme,
die wie die Spitze einer rasenden Rakete beschleunigt,
und ich, nachdem ich die Balance
darauf zu stehen lernte, auch gehen kann –
zunächst als Kleinkind noch wacklig wie betrunken
– ich halte mir den Boden vom Leib,
pariere sein Drängen mit Ausfallschritten?
Das ist mein Bild der Welt.
Auf diese Weise kann ich mir ins Bewusstsein
rufen, wie schnell ich Tag für Tag reise. Das
ist elegantes Denken, warum? Es bedeutet,
stets zu wissen wie unbedeutend klein der
Mensch ist, wie schwach jeder Schlag, Tritt
und Schritt, wenn wir den Schwung der Welt
davon abziehen. Zum anderen ist es selbstbewusste
Größe, ich bin stets in der Mitte
meiner Welt, für die ich hauptverantwortlich
bin. Mein Leib, mein Ich. Was auch kommt, sogar
der Fußboden geht mich an, und ich halte
nur dagegen. Meine Gesundheit beginnt im
Bett, wenn ich mich in eine bequeme Lage
drehe. Die Zukunft der Erde, ihr Tempo ist die
Kraft von allem: Der Motor läuft, wir sind unterwegs!
Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 26 [Seite 21 bis 26]
Als ich klein war
Okt 19, 2019
Als ich klein war, wohnten
wir im alten Haus. 1976
ließen meine Eltern es
abreißen, bauten dort ein
modernes Geschäftshaus. So groß bauten sie
(und die Bank), dass sie es sich gerade noch
trauten. Sie haben sich viel Geld geliehen,
und mehr Geld noch haben sie zurückgezahlt,
wegen der Zinsen. Unser Haus ist Teil einer
belebten Straße mit Geschäften. Natürlich
haben sich Straße und Städtchen seit damals
verändert.
Als mein Vater klein war, war Krieg. Das alte
Haus wurde von einer Brandbombe getroffen.
Aber mein Papa war nicht in Gefahr. Es war
ja damals das Haus von einem Opa. Er war
als Kind Schafe hüten in Friedrichskoog, auf
dem Bauernhof eines Onkels. Sein
Wohnhaus stand in Hamburg, direkt
am Michel. Es wurde total weggebommt,
und weil man das schon
kommen sah, war Erich rechtzeitig
an die Nordsee verfrachtet worden.
Unser altes Haus war also das
Haus von Opa Werner. Damit ist ein
Großvater von meinem Vater gemeint,
und der war im Keller, als die
Ölfabrik angegriffen wurde.
Eine englische Brandbombe
traf nicht die Mobil-Oil,
sondern die Badewanne von
Opa Werner. Dort ist sie ertrunken!
So kam es nicht zur
Zündung. Werner kam aus
dem Keller, räumte auf und
flickte nach dem Krieg das
Dach. Dieses reparierte Dach, wie ich
es als kleiner Junge im Hintergrund
unsrer Spiele im Garten noch immer in
Erinnerungen vor mir sehe, war rot, fast
orange. Es leuchtet wie damals in der
Sonne für mich, wenn ich nur kurz die
Augen schließe. Ja, es geht mit offenen
Augen, dann aber weine ich.
Ein Drittel vom Dach war schwarz. Dort
schlug damals die böse Bombe hin. Eingeschlagen
hat 1976 auch die große Betonkugel,
die an eine Kette des noch größeren
Menck-Bagger-Kranauslegers angetakelt war.
Die hat gleich das Ganze umgehauen:
Unser Küchenfenster,
den Dachüberstand darüber,
mit den Nestern der vielen
kleinen Schwalben, deren Wiederkommen
ich im Frühjahr
stets so sehnlich erwartet hatte.
Die weiß gekalkten Mauern
mit ihrem kleinstädtischen
Charme, alles weg, ab, runter.
Immer wieder ließ der unbarmherzige
Baggerführer das
Ding, diese riesengroße Kugel,
wie ein Mörderpendel in die
Wände schlagen, bis nur noch
ein großer Haufen Schutt lag. Er hat sicher
Geld dafür bekommen. Baggerfahrer ist ein
Beruf.
Nachbar Frank, nur zwei Jahre älter, hat alles
mit Kamera festgehalten, auf Super-8-Film.
Ich war sechs Wochen in Berchtesgaden.
Angeblich wog ich zu leicht. Sie haben dort
einen Berg mit zwei Spitzen, Watzmann heißt
er, und einen Königssee mit einer kleinen
Kirche. In Sicht unsres Barmer-Ersatzkasse-
Kinderheims war der Unterberg, er ist lang
dahin gestreckt, eckig. Ich stehe wohl immer
noch an der Schaukel im Garten des Kinderheims
und schaue hinauf zum Berg: Weiße
Wolken ziehen langsam und ganz weit oben
entlang seiner
grauen Kanten,
Vorsprünge –
und der Himmel
darüber ist tief
dunkelblau.
Ich sollte, um
vor den anderen
Kindern in
einer Mutprobe
zu bestehen,
ein Mädchen
küssen. Da ich bis zu diesem Tag noch keine
Freundin gefunden hatte, an diesem Ort für
verschickte Kinder (elf Jahre war ich alt), überredete
ich just vor diesem Abend (eindringlich,
beschwörend, wie nötig es sei, dabei zu
sein) ein noch etwas jüngeres, schüchternes
und sehr blondes Mädchen, der das Ganze
recht suspekt war. Sie hat aber mitgemacht,
und dafür bin ich ihr bis heute dankbar.
Ich überstand das Heim, aber als ich nach
Haus kam, war dort kein Haus mehr. Auch
kein Garten. Der Birnbaum, der große Birnenbaum,
der mir immer
der Baum vom Kalle
Blomquist gewesen war,
war weg. Ich lag nicht
detektivisch kombinierend
drunter, wie Kalle
– aber unter seinen
Zweigen stand doch
immer der hellgrüne
Kadett von Herrn von
Holt. Seine Frau war
bei uns Verkäuferin. Wo
würde der nun parken?
Wo der Garten gewesen
war, lag Sand aus dem Loch der Baugrube. Ein
großer Berg, gelber Sand, Lehm und Schutt.
Und ein zweiter Berg dahinter, schwarzer
Mutterboden – zusammen unser eigener
kleiner Watzmann? Drum herum glotzend wir
vier: Meine Eltern freuten sich wie närrisch,
so Großes taten sie doch wohl gerade!
# Als ich klein war, zweiter Teil
Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trugen
von meinen Eltern beauftragte Tischler zwei
große weiß lackierte Holztüren durch unser
gewundenes Treppenhaus nach oben in die
Wohnung. Wie diese Männer, die Türen tragend,
den Bogen der Treppe aufwärts neh-
Okt 19, 2019 - Als ich klein war 27 [Seite 27 bis 31]
men und schnaufend damit von
unten aus näher kommen, das ist meine früheste
Erinnerung. So bekam ich ein Kinderzimmer.
Diese Türen wurden zu einer Doppeltür
montiert, damit konnte das Wohnzimmer
abends gegen meins geschlossen werden, ich
ungestört schlafen, die Eltern noch reden.
Dann lag ich heimlich lauschend an der Ritze
unter der Tür. Dort, wo so interessant gelblich
golden auf den alten lackierten Holzdielen
das Licht schimmerte und ein Gemurmel von
Stimmen später Besucher zu mir drang. Vorher
war der Durchbruch zwischen den beiden
Räumen einfach offen
gewesen. Große
Fenster blickten auf
die Bahnhofstraße.
Über den Flur, der
eine eigene Tür jeweils
zu meinem
und dem Wohnzimmer
hatte, kam man
geradeaus in das
kleine Bad, wo mein
Vater in Eigenarbeit
viel verändert hatte.
Rosa war es gekachelt, schweinchenrosa – mit
weißen Fugen. An die Dusche mauerte mein
Vater einen kleinen Deich gegen das Zimmer
hin, eine selbst gemachte Duschwanne entstand,
und darin wurde ich gebadet.
Bog man am Ende
des Flurs links,
war dort das Elternschlafzimmer
mit dem Ehebett.
Es gab auch einem
kleinen Balkon.
Die Fenster
der Balkontür
trugen im Winter
die schönsten
Eisblumen auf
ihrem Glas. Das
sehe ich heute nie
mehr. Ein weiteres
Fenster ging zur Gartenseite. Da konnte
man leicht auf das Dach des Anbaus klettern.
Dieser Anbau hatte Flachdach mit Teerpappe
und ging über die volle Breite vom Haus.
Rechte Seite Flurende: hier war die Küche,
eine Speisekammer ging noch ab.
An der Tür zur Speisekammer habe ich immer
gepumpelt. Was das ist? Wenn morgens
das große Müllauto kam, sprangen an jedem
Haus die auf dem Tritt mitfahrenden Männer
ab und hängten die Tonnen in die Vorrichtung
des Fahrzeugs. Sie schwangen die Mülleimer
schwungvoll mit der am Auto eingebauten
Mechanik halbkreisförmig aufwärts, ließen
sie dann einige Male auf und ab und gegen
den Anschlag dengeln, bis sie vollständig
leer waren. Das machte ich mit unsren Milchkannen
an der Tür zur Speisekammer nach,
und das ist pumpeln.
In der Küche
wurde auch
gegessen. Ich
bin mir unsicher,
wie das
bei uns (meinen
Eltern) mit dem
Herd war. Nachher
hatten wir
eventuell schon
einen Gasherd,
heizten aber
zu Beginn noch
mit Kohlen, Koks- und Eierbrikett. Im Kachelofen
im Wohnzimmer nahm man die Koks, die
kleinen eiförmig gerundeten Kohlen wurden
in der Küche verwendet, auch Brikett dort.
Alles lagerte in Kisten im Keller, (wo es auch
eine Kartoffelkiste gab) und wurde immer
hoch getragen.
Aber auf jeden Fall dort ganz oben, in der
Wohnung unter dem Dach, direkt über unsrer,
mit schrägen Wänden, wo Oma Lina wohnte,
war ein Küchenherd mit diesen Eisenringen
in den Feuerlöchern. Je nach
Bedarf wurde hier die Hitze
angepasst. Durch Herausangeln
eines Rings mit dem Eisenhaken
konnte man die flammende
Öffnung jeweils um den entsprechenden
Radius erweitern.
War es zu heiß, legte man einen
oder zwei Eisenringe passgenau
in die Mitte, bis es wieder
stimmte.
Bei Oma auf dem Klo oben, wo
alles ganz eng und dachspitzig
war, gab es überall bis in die hintersten
verwinkelten Schrägen hintapezierte Katalogseiten,
mit Abbildungen von Dampf- und
Diesellokomotiven oder den modernen elektrisch
betriebenen Loks, mit ihren hochgestellten
Stromabnehmern, in originaler Bemalung
der damaligen Zeit. Da waren auch
die grünen und blauen D-Zugwagen, wie ich
sie kannte, wenn wir mit der Eisenbahn nach
Büsum an die Nordsee fuhren. Tankwagen
und alle möglichen Güterwagen hatte jemand
zu ganzen Zügen aneinandergereiht an
die Wände geklebt. Ausgeschnitten vielleicht
aus Märklin-Modellbahn-Katalogen, ersetzten
sie eine nicht vorhandene Tapete. Oder
sollten auch Lücken gegen den Wind verteidigt
werden? Manchmal schneite im Winter
dünner Pulverschnee hauchfein durch die
Dachritzen. Auf dem Klo war es dann buchstäblich
arschkalt.
# Als ich klein war, dritter Teil
Vom Kinderzimmer aus sah man auf die Straße,
oft stand ich dort, ja! Noch heute male
und zeichne ich aus dem Fenster meines
Ateliers schauend. Meine ersten Kinderbilder
waren Straßenbilder. Mein Vater bestand darauf,
stets unsren Laden mit einzumalen, ganz
schön egoistisch und eingebildet, nicht wahr?
Ich sah so viel: Die Bogenlampe schwang im
Sturm! Bei Fenske wurde das Schaufenster
dekoriert. Der Schnee vor der Bücherei, die
mal das Kino war, wurde mit dem großen
Schiebebagger von Körner weggeräumt. Ich
hatte ihn von SIKU selbst auch in klein, als
Modell. Er war grün und rot, mit gelber Hydraulik.
Die großen orangen Sauber-Autos, Kehrmaschinen,
mit dem gerundeten Tank für den
Dreck, die im Sommer die Straße beesten
(mein Kinderwort: kommt von Besen), wurden
im Winter zu Schieberautos. Auf diese Art
vorn umgebaut, schoben sie mit leicht schräg
gestelltem Schieber den Schnee an den Straßenrand
in Richtung der Parkstreifen, die wir
ganzseitig längs der Fahrbahn hatten. (Anfangs
war es keine Einbahnstraße).
Vor Weihnachten bauten die Männer in geringen
Abständen die hölzernen Tannenbäume
auf, als Straßenschmuck. Sie stellten sie in
die Löcher, die im Sommer mit Metallplatte
verschlossen wurden. Ganz früher nahmen
die Arbeiter einfach eine passende Gehwegplatte
auf und gruben mit Spaten und Schaufel
ein Loch für den Lampenbaum. Dann
schraubten sie
normale Glühbirnen
in das
Metall-Dreieck
oben, machten
Lichttest,
tauschten eventuell
schlechte
Birnen mit Hilfe
einer Leiter aus.
Zum Schluss
Okt 19, 2019 - Als ich klein war 28 [Seite 27 bis 31]
wurden echte Tannenzweige
spiralförmig um den
Mast gewickelt, Baum für
Baum, die ganze Straße
entlang. In das dreieckige
Gitter der Spitze kam ein
passender die dreieckige
Form ausfüllender Tannenzweig.
„Die Kastanien blühten, die Hauptstraße lag
im tiefsten Frieden, und man hörte den Pfiff
der Lokomotive vom Sechsuhrzug.“ So ähnlich
beginnt wohl ein Buch von Astrid Lindgren
mit Kalle aus Kleinköping in Schweden. Ja,
wir haben das hier probiert,
anstelle eines Pakets,
wo Onkel Einar (im
Buch) alles durchschauend
schnell seinen Fuß
drauf setzt: Wir nahmen
ein altes Portemonnaie
vom Großvater, versahen
es mit dünner Schnur
zum schnellen Wegziehen,
wenn ein gieriger
Passant käme und versteckten uns unten
an der Auffahrt. Mark, Franziska,
Frank und ich – aber es klappte
nicht.
Zirkus machten wir tatsächlich
auch, in unsrem großen Garten,
hatten jedoch nicht das Pferd,
hatten nicht den Krieg der weißen
Rose – aber Regina von
Schlachter Heins. Sie war dünn
wie Eva Lotte, damals.
# Als ich klein war, vierter Teil
Im Wohnzimmer war in der hinteren
Ecke der große beinahe zimmerhohe
gemauerte Kachelofen.
Die quadratisch sandfarbenen
Kacheln hatten fast die Abmessungen von
großen Schallplattenhüllen, größer jedenfalls
als Topflappen. In der anderen Ecke war
die Tür zum Flur, dann kam etwas Wand, Platz
der Musiktruhe, die später näher an den Ofen
rückte, zum neuen Schrank.
Die Südwand, dem Durchbruch
mit den beiden
weißen Türen gegenüber,
war fensterlos. Dort stand
das graue Sofa, darüber
ein selbst gemaltes Ölgemälde
meines Vaters;
Segelschiff, Dreimaster. Er
hatte ein Johannes-Holst-
Originalgemälde vom
Buchtitel „Spiegel der See“
Joseph Conrads kopiert.
Aber (nicht nur) die Webeleinen
waren von ihm vergessen
worden; schlampig
gemalte Striche auch
die nackten Wanten.
Weitere Fehler: Die See des Ozeans
war ihm zu steil und kurz geraten, wie
Schwell eines Bugsier-Schleppers, der
an das Ufer schlägt. Und das habe ich
ihm schon damals vorgehalten.
Als meine Eltern den Laden eröffneten,
bekamen wir diesen Büroschrank, der
sogar einen Safe für die „Bombe“ hatte.
Diese Bombe war ein kleiner abgerundeter
silberner Container aus Metall. Er
kam nach Einwurf seines vollen baugleichen
Vorgängers, der die Kasseneinnahmen
des Ladens enthielt, aus
dem Apparat der Volksbank oder der
Stadtsparkasse geschossen, mit einem
polternden Geräusch. Vorher hatte man
unauffällig, die „Bombe“ mit dem Geld
im Mantel verborgen, noch einen Spaziergang
zur Bankfiliale
zu machen.
In der Ecke, in der unser
Kachelofen nicht war
oder auf der Sofaseite
am Fenster, jedenfalls
nicht beim Flur, stand im
Winter der Tannenbaum
mit den Geschenken. Ich
verlangte stets einen
deckenhohen Baum. Da
kam meinen Eltern ein
Hocker gerade recht: der
hatte in die Oberseite so
weiße Kacheln eingelassen
und geschwungene
Beine. Das war schon
mehr ein kleiner Tisch, als ein Hocker;
aus dunklem Holz, beinahe schwarz. Im
Sommer standen Blumen darauf.
Wir gingen Heiligabend nicht in die
Kirche. Der Laden wurde bis mittags
geöffnet. Die Leute holten eingetütete
schon bestellte Karpfen ab, die von uns
in der voran gegangenen Blutnacht erschlagen
wurden. Mit mir gaben Tante
Käthe und Peter (vom Segeln) die Fische
hinter der grünen halb geöffneten
Garagentür den Leuten aus.
Bei Frau Herchenhan durfte ich mich
keinesfalls mit dem Wechselgeld vertun:
Meine liebe alte Klassenlehrerin.
Man muss immer weiterzählen; kostet
es zwölf Mark und siebzig Pfennig,
denkt man gar nicht. Man beginnt automatisch
Geld aus dem Fach zu nehmen. Man
nimmt drei Zehn-Pfennig-Stücke, ähnlich den
heutigen Zehn-Cent-Stücken, dann ist man
bei dreizehn Mark. Jetzt nimmt man ein Zwei-
Mark-Stück oder wahlweise zwei Eine-Mark-
Stücke, erreicht so fünfzehn Mark. Wenn man
jetzt noch ein Fünf-Mark-Stück aus der Kasse
fischt, kann man gleich auf zwanzig rausgeben.
Gibt die Kundin aber vielleicht fünfzig,
kommen noch dreißig dazu.
Abends nach dem Essen (alles, aber nie Karpfen
am heiligen Abend), eventuell Ente oder
Gans (manchmal hatten wir Streit mit dem
Schlachter, wegen falschem Gewicht oder
Geruch des Vogels), kam die „Geschenke-
Schlacht“ bei uns. Sie artete ab 1971 mit
meiner Schwester noch aus. Wir Kinder der
Kinder des Wirtschaftswunders!
Am Schlimmsten jedoch war es einmal früher,
noch so ganz am Anfang. Ich hatte mir
einen zweiteiligen Fernlaster-Sattelzug mit
Anhänger gewünscht und bekam ihn! Er war
so groß, ein Kind konnte reiten darauf. Es war
so toll! Ich war super aufgeregt. Alle lachten,
wir freuten uns ja so, ich weiß noch. Überall
Okt 19, 2019 - Als ich klein war 29 [Seite 27 bis 31]
lagen Papierhaufen
der ausgepackten Geschenke,
und die Kerzenflammen
des Tannenbaums
flackerten
in der aufsteigenden
Wärme.
Ein gelber mit Wasser
gefüllter Zehnlitereimer stand drunter. Ich
schob das Auto herum, kuppelte den Anhänger
ab und wieder an, rangierte rückwärts
damit. Der Lastwagen war in großen braunen
Pappkartons gewesen, wie so Umzugkartons
etwa. Spät am Weihnachtsabend machte ich
diese Kartons, die ja nur die Geschenkverpackung
gewesen waren, in einem irren Hüpfen,
Springen, Trampeln, Treten und Reißen und
unter dem Beifall der lachenden vor Glück
strotzenden Eltern restlos kaputt. Wem von
uns dreien war die Idee gekommen?
Absolut unerwartet (auch für mich selbst)
geschah es dann; mein Stimmungswechsel
überraschte
alle. Ganz
p l ö t z l i c h
nun, schlugen
mir
mein Toben
und Lachen,
das Trampeln
und
Freuen um:
in allerheftigstes
Weinen
und Schluchzen! Die Kartons hätte man
ja noch zu Häusern für den Laster (auch Garagen
oder so was) machen können, war es
das? Ich weiß heute nicht mehr. Versuche
meiner Eltern, mich tröstend wieder zu beruhigen,
begannen verstört. Sie lösten den
Abend schließlich so: „Lieber nun ab ins Bett
mit dir, ist ja auch wirklich spät geworden.“ Es
schüttelt mich noch heute, daran zu denken.
# Als ich klein war, fünfter Teil
Ich liebte Louis Armstrong, liebe diese Musik
bis heute. Mein Vater bevorzugte ja vielleicht
die spätere (und neuere Schallplatten
Aufnahme) von zum Beispiel dem originellen
Jazz Stück: „Ory’s Creole Trombone“ von Kid
Ory’s eigener New Orleans Jazzband aus den
Fünfzigern, ohne Louis, der inzwischen eigene
Wege ging, Weltstar geworden war; das
konnte ich nie begreifen. Die Hot Five- und
Seven Aufnahmen von Louis
liebe ich wie ein Schatz Goldstücke,
bis heute. Goldene Töne,
dazu blaue Töne der Klarinette
von Johnny Dodds, später Ed
Hall bei den All Stars, Teagarden,
Trummy Young – ich konnte
Stunden mit diesen Aufnahmen
zubringen.
Und natürlich: Gerd Vohwinkel
in „King of the Zulus“ – die Aufnahme
vom Zehnjährigen der
Old Merry Tale Jazzband! Meine
Eltern sind wirklich Teil des applaudierenden
Publikums auf der
Schallplatte, waren vor Ort dabei.
Die mitreißende „Bourbon Street
Parade“ mit allen vier Trompetern
der Merrytale, die aufeinander
folgenden Soli von Sputnik und
Gerd! Ein wenig wie bei Ory ist
„Opel Super Fünf“; Vohwinkel hat
viele Stücke geschrieben.
Es ist auf der Fünfzehn-Jahre-Doppel-LP.
Das ist die, bei der die Titel vertauscht gedruckt
sind. Die Band imitiert das Auto des
Orchesters. Man war damit unterwegs zu verschiedenen
Gigs durch das Deutschland der
fünfziger und sechziger Jahre. Der Motor lief
fehlerhaft auf fünf Zylindern. Die Band interpretiert
das: Bis zu dem Moment nun endlich,
auch nach musikalischem Stottern und
immer wieder noch einmal Anlauf nehmen,
alle sechs Zylinder zusammen arbeiten und
die schönste wohlklingende und dahingleitende
Musik uns entführt: in fließende Fahrt
voll Harmonie. Abrundend stottert der Motor
am Schluss noch einmal, alles wie echt von
den Musikern intoniert!
Wir hatten eine Musiktruhe mit Radio und
Plattenspieler, Plattenhalter (wie Teller in der
Spülmaschine). Meine Lieblingsaufnahme
war eine Instrumental-Schnulze, kein Jazz. Sie
war tatsächlich auf einer Postkarte in Rillen
gepresst worden. Die Karte hatte ein kitschiges
Bild: Sonnenuntergang, Passagierdampfer.
Die konnte man ganz normal auflegen
und abspielen: Daaa Dada Dadadie immmdadadideda,
und später kommt dies: Didadadidadadidadadi
– di – bitte nicht lachen! Wenn
die blöden (Name geändert)-Kinder bei uns
waren, deren Mutter bei uns verkaufte, sie
nicht wusste wohin mit ihren Kindern, musste
ich mit ihnen in unsrer Wohnung oben zusammen
auskommen, spielen. Sie wollten
immer nur Musik mit Gitarren und mit Gesang.
Gesang musste sein, und sie lachten
mich aus für meinen Geschmack.
Später hatten wir einen kleinen weißen
Fernseher. Die Mondlandung haben wir
noch beim Opa gesehen. Den wichtigen
Boxkampf von Cassius Clay, dem Boxer, der
sich später in Muhammad Ali umbenannte,
sahen wir bei Onkel Berend. (Als ich in
den Neunzigern, im Versuch, Uli nun doch
für mich und von mir zu überzeugen, nach
Chicago über den Ozean flog, war eine Mutter
mit Kind im Flugzeug meine Begleitung.
Fremde, aber nett: „Zeig ihm was du hast“,
sagte die Mutter, und das Kind zeigte mir
einen Zettel mit einem Autogramm. Ein
einfacher karierter Zettel aus einem Schulheft.
„Das ist die Unterschrift von Muhammed
Ali im Original“, sagten sie. „Auf dem
Hinflug war er mit uns im Flugzeug.“ Ich
habe das geglaubt).
Dass es mit Uli klappt, glaubte ich auch lange.
Der Fernseher zog mit in die Übergangswohnung
um, sie war für die Bauphase. Er zog
um in das neue
Haus, und er
hatte nur drei
Knöpfe für nur
drei Programme
in schwarz,
weiß und nötigenfalls
grau.
So war das. Am
Boden, im alten
Wohnzimmer,
lag dieser grüne
Teppich. Er hatte
so ein Muster
aus gelb/blauen Quadraten, tat viel Gutes als
Spielgrund, war Straßenboden und so. Er zog
auch um, aber nicht mehr in den Neubau. Ich
vermisse ihn.
# Als ich klein war, sechster Teil
Mein Vater war kreativ. Er malte die Dekound
Bühnenbilder für Feste des Segelvereins.
Er hatte das Treppenhaus mit Leuchttürmen
der Elbe bemalt und eben auch den Dreimaster
bei uns im Wohnzimmer. Ich bekam
eine Schultafel für zu Haus, malte ebenfalls
Dreimaster, mit Kreide. Meine Mutter hatte
technische Zeichnerin gelernt und konnte
durchaus zeichnen, auch künstlerisch. Mein
Vater lobte mein Talent auf vielfältige Weise,
er bastelte, sägte, schraubte und spielte oft
mit mir. Er war so stolz und glücklich ein Familienvater
zu sein, einen Sohn zu haben.
Mein Erich baute für mich Schiffe aus Holz.
Wir bauten auch zusammen an einem Hapag-
Dampfer, im Hinterraum des Ladens. Wir alberten
über die deutsche Sprache, sagten:
„Der Mast, die Mäste“ statt korrekt „Masten“,
wir „beölten“ uns vor Lachen – sagt man
das heute noch? Der Hapag-Dampfer wurde,
da zunächst unvollendet, von mir später
allein, als ich etwas älter und geschickter
war, schließlich als grüner Kümo (Küstenmotorschiff)
fertig zu Ende gebaut. Das passte
Okt 19, 2019 - Als ich klein war 30 [Seite 27 bis 31]
vom Maßstab her besser zu Schlepper und
Schute.
Mein Vater baute einen blauen Metall-Tunnel
für die Holzbahn, die heute Brio-Bahn heißt.
„De Wihnachtsmann hätt’ wat los“ lobte Jan,
der Arbeitskollege in der Schlosserei, denn
Erich baute auch diesen tollen Magnus-
Hebekran und sogar ein Wrack zum Bergen
gleich mit! Er baute fehlende Diesellokomotiven
aus Holz. Er baute mir Dampfer aus
Elbsand mit dickem Schornstein, Masten aus
Zweigen oder Schilf der nahen Schlickbänke,
wo wir etwa die Jolle an den Strand gezogen
hatten: Damit segelten wir
am Wochenende. Ich war, in
der Plicht stehend und vor
mich hinsummend, vielleicht
das Radio für alle an Bord?
Ich war Aussenbordmotor,
wenn ich, Beine strampelnd
und Wasser verspritzend,
achtern an Deck versuchte,
uns Fahrt zu geben, während
wir doch ankerten! Das Elbwasser
hatte „Schaumiche“ –
ein weiteres Kinderwort, das
wir hatten. Gemeint waren diese Gruppen
von Blasen (in vertraut schmutzigem Weiß),
die sich im strudelnden Wasser bilden, in
dem wir stets bedenkenlos badeten.
Wir waren alle rund um den Tisch im Wohnzimmer
versammelt (über dem Sofa dahinter
der in Öl gemalte Dreimaster), als schweren
Herzens die Jolle verkauft wurde. Die Käufer
zahlten mit braunen Tausend-Mark-Scheinen.
Das neue Boot hatte eine Kajüte. Meine
Schwester wurde geboren, wir waren nun zu
viert. Alles wurde noch einmal ganz anders.
Ein einziges Mal nur zeichnete auch meine
Mutter mit mir gemeinsam, etwa eine Stunde
lang. Ich hatte ein Heimatbuch geschenkt
bekommen, darin ein Foto vom Riedemannschen
Haus. Meine Mutter wusste von einem
Baum, der auf dem Foto bereits fehlte. Er hatte
vor dem Giebel gestanden. Wir zeichneten
jeweils beide für uns ein eigenes Bild, und
meine Mutter schlug mir vor, aus der Fantasie
den Baum mit in die Abbildung zu nehmen.
Es ist dann sehr schön geworden. Ob es noch
irgendwo in einer Mappe ist, dieses Bild (und
das andere von Greta) – wo sind sie geblieben?
Sie hatte diese kleinen Quadrate der mehrfach
unterteilten Fenster als dunkle mit
Bleistift geschummerte Vierecke gemacht.
Es entstanden so (nun nachbleibend dazwischen)
helle weiße Streben, wie im Original
(zwischen dem Fensterglas), das konnte ich
damals noch nicht, habe es an diesem Tag
wie einen Trick von ihr gelernt und nie mehr
vergessen.
Das ist ein Text aus meinem Heft für Emily:
„Geschichten für Mal- und Zeichenunterricht“,
2012
Okt 19, 2019 - Als ich klein war 31 [Seite 27 bis 31]
Mein Bild: Reform Your Life
Okt 31, 2019
Das ist wohl in „Der Schatz Rackhams des Roten“,
als Haddock an Deck, den Sextanten in
der Hand, bedeutungsschwer beginnt: „Hier
stehen wir …“, sagt der Kapitän. Er schaut gerade
hinaus, auf das weite blaugrüne Meer,
begreift. Der Kapitän vollendet den Satz nicht,
wirkt gedankenverloren – und Bienlein, Tim
und die Schulzes blicken ihn einigermaßen
verständnislos an. Er macht diese Pause, um
anschließend um so heftiger loszubrechen,
schnauzt einen der Umstehenden an! So ungefähr
… es ist lang her, dass ich das gelesen
habe. Was meint Haddock, wo ist diese Insel?
Genau weiß ich’s nicht mehr. (Das Heft ist
im Keller verschollen). Der Kapitän steht an
Deck, aber der Sextant in seiner Hand weist
schon darauf hin: Es geht um die genaue Position
des Schiffes.
Kapitän Haddock, eine glaubwürdige Figur
meiner Jugend. Die Comics waren bunt. Zu
farbig für einige, sie ernst zu nehmen – John
Wayne verkörperte noch regelmäßig einen
alten Haudegen, wenn wir Fernsehen schauten.
Die Eltern meiner Eltern haben in einer
Welt gelebt, die schwarz-weiß gewesen ist.
Fragen sind erlaubt. Wer hat anschließend
die Bäume grün übergestrichen, nun rote
Dächer auf die Gebäude gepinselt, was ist:
„Technicolor?“ Meine Familie, beide Großväter
hatten Patent. Einer war im Hafen Kapitän
gewesen, der andere auf großer Fahrt. Hugo
Schnars-Alquist malte als erster das Meer so
blau, wie es in den Passatregionen der Ozeane
wirklich ist. Er ging selbst an Bord. Die
alten Holländer malten, ohne je die heimatlichen
schlickig-braunen Brackwasser zu verlassen,
einer beim anderen ab.
Die See ist nicht dein Freund: „Alle Mann an
Deck, Klar zur Wende!“ Eine Hand für dich,
eine für das Schiff. Festhalten! Schlechtwetter,
es gibt Augenblicke (nicht nur an Bord, wo
Navigation wesentlich ist), auch sonst Wendepunkte
des Lebens, die eine klare Ansage
benötigen, was gerade nun zu tun ist! Das
große Schiff. Jeder kennt Situationen in denen
es darauf ankommt auch im übertragenen
Sinn, fest an Deck zu stehen: „Hier stehe
ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“ – so
ähnlich soll Martin Luther gesprochen haben,
und dann hat er den Kurs einer ganzen Kirche
geändert. Heute ist Reformationstag.
Inzwischen ist die Welt bunt! Da ist kein Kind
mehr, das sich fragt: „Hatten sie damals noch
keine Farbe?“ Ein Weltbild ist eine Wirklichkeitsauffassung.
Damit ist ein Weltbild weniger
ein gemaltes Bild, es ist ein Bild, das wir
von uns und unserem Platz in der Welt haben,
eine Vorstellung, eine Annahme. Paul Watzlawick
weist in mehreren Publikationen nach,
dass der Mensch die Wirklichkeit nicht kennt
und jede Auffassung und das Wahrnehmen
der Realität das Ergebnis von Kommunikation
ist. Wir kommunizieren durch unsere Sinnesorgane
mit der Umgebung und entwickeln
Annahmen. Was wir wie Wissen einordnen,
ist nur zu oft etwas, das wir selbst nie nachprüften.
Wir können Licht machen, betätigen
den Schalter und erklären: „Da fließt Strom.“
Das muss nicht bedeuten, dass wir die Sache
insgesamt verstehen und ein Kraftwerk bauen
könnten. Wir können einen Lichtschalter
betätigen, wir sagen: „Auf dem Mond gibt es
keine Lufthülle“, aber wir waren nicht dort,
und nur wenige wissen, wie Elektrizität im
einzelnen funktioniert. Verbalisierte Informationen
und Sinneseindrücke prägen unser
Denken. Wie die Welt beschaffen ist, davon
sehen wir nur soviel, als das Spektrum der
gesamten Strahlung dem menschlichen Auge
zugänglich ist. Im Bereich der Schallwellen
ebenso; wir hören nur, was Menschen hören,
und die Vielzahl der Schwingungen um uns
herum ist wesentlich größer.
Nicht jeder war im Ausland, hat aber Informationen
darüber. Zu wissen, wie es beispielsweise
in China ist, kann darauf beruhen, ein
Buch gelesen zu haben, einen Film gesehen,
oder ein Freund hat uns vom Urlaub erzählt.
Wenn jemand schon dort war, wird das sein
Wissen was es heißt in China zu sein, um diese
Erfahrung reicher machen, und wer viele
Jahre in Peking gelebt hat, wird noch intensiver
beantworten können, was „China“ ihm
bedeutet. Insgesamt kennt aber nicht einmal
ein dort geborener Chinese das Ganze, was
wir leichthin mit einem Wort bezeichnen.
Ein Wort, in die Suchmaschine eingegeben,
bringt sofort ein Ergebnis.
„Peru, Land in Südamerika, Beschreibung:
Peru ist ein Land in Südamerika. Hier befinden
sich ein Teil des Amazonas-Regenwalds sowie
Machu Picchu, eine alte Inka-Stadt hoch
oben in den Anden. Die Gegend rund um Machu
Picchu, einschließlich des Heiligen Tals,
des Inka-Pfads und der Kolonialstadt Cusco,
verfügt über zahlreiche Ausgrabungsstätten.
An der trockenen Pazifikküste Perus liegt die
Hauptstadt Lima mit einem gut erhaltenen
Zentrum aus der Kolonialzeit und wichtigen
Sammlungen präkolumbianischer Kunst.“
Die Welt an sich: Wir kennen sie nicht. Wir arbeiten
mit dem, was wir darüber wissen. Wir
machen uns ein Bild, um planen zu können.
Es bleibt eine persönliche Auffassung, subjektiv
und perspektivisch, wie ein Gemälde
vom Garten aus dem Fenster gesehen anders
ist, als eine Abbildung von unten im Gras herumliegend.
Das zu verstehen, ist nicht nur
für den Maler wichtig. Begreifen kann dazu
führen, mit eigenem Kartenmaterial das Lebensschiff
vor Strandung zu bewahren. „Die
Wissenschaft hat festgestellt“, heißt es in einem
Kinderlied, und dann kommt der ganze
bekannte Unsinn. Es gibt Menschen, die essen
Sachen, die andere nie zu sich nehmen würden,
weil sie meinen, es täte ihnen gut. Kunst
ist meine Wissenschaft: Ich konnte nicht aufhören
damit, jedes fertige Bild ist die Antwort
auf eine Frage. Ein Bild ist ein Ausschnitt der
Welt, eine Geschichte, wie ein Roman einen
Lebensabschnitt definiert. Der Autor greift
solange in das Geschehen ein, korrigiert seinen
Stoff, bis eine insgesamt sinnvolle Struktur
geschaffen ist. Dann schreibt er, und so
malen Künstler, so wird Musik erfunden.
Wie wäre eine Welt, in der ein göttliches Strafgericht
eins zu eins eingreift, wenn die Sache
aus dem Ruder läuft? Da baut ein „Führer“ ein
„Konzentrationslager“ – aber eine übergeordnete
Macht stoppt dieses menschenverachtende
Tun rechtzeitig: Ein Blitz soll vom Himmel
fahren und die Bösen töten! Atheisten
führen bekannte Argumente: „Wenn es Gott
gäbe, dann würde er nicht zulassen, dass“ –
usw. gern an, wenn man sie missioniert, wie
wichtig Glaube sei. Sie wollen in Ruhe gelassen
werden. Es stimmt aber: Der direkte
kausale Bezug göttlicher Leitungsfähigkeit
zum Guten der Welt ist nicht recht erkennbar.
Wir müssen das zugeben: Der Mensch muss
noch selbst handeln, um das Schlimmste zu
richten und einzudämmen. Böse sein ist das
eine, Böses zulassen das andere.
Was schlimm und was gut sei, das ist genauso
eine Auffassung, die wir immer wieder neu
definieren. Zusammengefasst können wir
sagen, dass der gegenseitige Druck, den die
einzelnen Mitglieder der Gesellschaft aufeinander
ausüben, ein Regelwerk hervorgebracht
hat, das beständig modifiziert wird. Von den
einfachen und elementaren zehn Geboten
bis in die Jetzt-Zeit war es ein langer Weg mit
vielen Erfahrungsberichten, den die Menschheit
bis zur heutigen Gesetzgebung gegangen
ist. Erfahrungsberichte sind Kommunikation,
und unser Denken bedeutet, daraus
Schlüsse für neue Entscheidungen zu ziehen.
Das führt dazu, sie wieder zu kommunizieren.
Aktive Handlungen, die sich daraus ergeben,
werden von anderen kommuniziert. Und sei
es, dass jemand zusieht und seine Augen ihn
anregen, unser Tun zu begreifen. Zuschauen
ist nicht machen. Bis ich zeichnen konnte, wie
ich es nun kann, musste ich das sehr oft tun.
Aus Wahrnehmung erwächst das Bild der Realität.
Es bleibt eine Ansicht. Der auf die Person
beschränkte subjektive Ausschnitt des
einzelnen. Niemand anderes als der Mörder
selbst weiß, wie es sich anfühlte, seine Tat zu
tun und kann genau das Motiv angeben. Jede
Realitätsschau bleibt eine Einschätzung aus
der eigenen Perspektive. Selbst meine Reflexion
von dem, was ich gestern machte, bleibt
eine Erinnerung. Die Aktion selbst verfliegt
mit dem Moment ihrer Umsetzung.
Mit flexiblen Denken ist es leicht, weiter zu
gehen. „Man muss die Welt nicht verstehen,
man muss sich nur darin zurechtfinden“, Albert
Einstein oder scheinbar widersprüchlich
dazu: „Man braucht nichts im Leben zu fürchten,
man muss nur alles verstehen“, Marie
Curie. Physiker erklären uns die Welt. Beide
Sinnsprüche zeugen von der Suche nach
der Realität und bringen eine Antwort. Das
Ergebnis der Forschung ist: Entweder bist
du zufrieden damit, das Licht einzuschalten,
merkst dir wo der Schalter ist und gut ist –
oder du verstehst deine Furcht im bewussten
Selbst in jeder Lebenslage, kennst dich gut
genug, siehst die Welt von innen, um verlässlich
einzuschätzen, wie die beste Reaktion
auf alles ist. Was auch immer kommt. Das
ist dasselbe Ergebnis auf gegenteilige Weise
formuliert. Interessant ist hier das „alles verstehen“,
weil verstehen nicht „alles gelesen
haben“ bedeutet. Verstehen kann nur heißen,
selbst zum Mond zu fliegen oder einzusehen,
nicht zu wissen was ein Mond ist. Vier Buchstaben
sind nicht der Mond. Die Beruhigung
der Emotionen kann nur im Begreifen eigener
Unzulänglichkeiten gelingen.
In einem Schulbuch sah ich als Kind die zeitgenössische
Abbildung eines Textes aus dem
Mittelalter, ein Wanderer ist bis zu dem Ort
gelangt, wo Himmel und Erde sich berühren.
Das ist eine flache Welt, und wie eine Käseglocke
ist ein Himmel darüber gestülpt. Der
Wanderer ist am unteren Rand der Himmelskuppel
und hebt den Saum des Himmelszeltes
ein wenig an, steckt seinen Kopf auf die
Seite hinter der bekannten Welt durch und
erblickt eine Art kosmisches Räderwerk. Ich
habe diesen Text gefunden:
„Flammarions Holzstich, auch Wanderer am
Weltenrand oder im Französischen au pèlerin
(„auf Pilgerschaft“) genannt, ist das Werk eines
unbekannten Künstlers. Der Holzstich er-
Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 32 [Seite 32 bis 34]
schien erstmals 1888 als Illustration in dem
Unterkapitel La forme du ciel („Die Form des
Himmels“) des populärwissenschaftlichen
Bandes L’atmosphère. (…) Die Darstellung
zeigt einen Menschen, der am Horizont als
dem Rande seiner Welt mit den Schultern
in der Himmelssphäre steckt und dahinter
Befindliches erblickt. Das Bild wurde im 20.
Jahrhundert häufig für die authentische Darstellung
eines mittelalterlichen Weltbildes
gehalten und oft reproduziert.“
Wir haben das so skizzierte mittelalterliche
Weltbild verworfen. Die Weltumsegelungen
der ersten grundlegenden großen Entdecker
haben mit der Vorstellung eines Himmels,
den ich am Horizont wie einen Mantel anheben
kann aufgeräumt. Die Idee, dass da etwas
noch hinter der Welt ist, ist alt. In der Predigt
unserer Pastorin, die vor nicht so langer
Zeit neu in die Stephanskirche hier im Dorf
gekommen ist, erfuhren wir vom Leben und
Ende des Namensgebers. Ein Zeitgenosse von
Jesus Christus und Märtyrer. Der Tod des Stephanus
wird so beschrieben:
„Als sie das hörten, ging’s ihnen durchs Herz
und sie knirschten mit den Zähnen über ihn.
Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum
Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und
Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach:
Siehe, ich sehe den Himmel offen und den
Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.
Sie schrien aber laut und hielten sich ihre
Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein,
stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten
ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab
zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß
Saulus, und sie steinigten Stephanus; der rief
den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm
meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und
schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde
nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied
er.“
„Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn
zur Rechten Gottes stehen“, wen
diese Textstelle nicht berührt, dem ist nicht
zu helfen. (Das habe ich gedacht, als ich’s
in der Predigt hörte). Dann fiel mir „Truman“
wieder ein, und so bin ich auf die Idee gekommen,
etwas zum Thema zu schreiben. Wikipedia
fasst den Film zusammen:
„Die zentrale Figur des Films ist der Versicherungsangestellte
Truman Burbank, der – ohne
davon zu wissen – der Hauptdarsteller einer
Fernsehserie ist, die sich zum Ziel gesetzt hat,
das Leben eines Menschen von Geburt an zu
dokumentieren und per Liveübertragung im
Fernsehen zu präsentieren. Zu diesem Zweck
hat Christof, der Produzent der Serie, Truman
als Baby von seiner Firma adoptieren lassen
und eigens Seahaven, eine von Wasser umgebene
Küstenstadt unter einer riesigen Kuppel
(…) bauen lassen. Seahaven ist eine idyllischharmlose
Kleinstadt im Stile der 1950er Jahre
mit simuliertem Wetter, Sternenhimmel,
Sonne und Mond. (…) Hier wächst Truman
auf, umgeben von Schauspielern, täglich beobachtet
von über 5.000 Kameras. Finanziert
wird (…) hauptsächlich durch Produktplatzierung.
(…) wird Truman langsam misstrauisch, als
versehentlich ein Scheinwerfer (…) direkt
vor ihm zu Boden fällt. In der Folge erwecken
verschiedene andere Missgeschicke
zusätzlich sein Misstrauen, worauf er sich
aus Sicht der Produzenten irregulär verhält.
So erkennt er plötzlich seinen Vater in einem
Obdachlosen auf der Straße wieder, was ihn
sehr irritiert und verwirrt, da sein Vater in
seiner Kindheit bei einem Bootsunfall ums
Leben gekommen sein soll. In Rückblenden
erfährt der Zuschauer mehr über den Anfang
der Serie, die Trumans Leben praktisch lückenlos
dokumentiert hat. Man erfährt von
Zwischenfällen, bei denen Außenstehende
eindrangen, um Truman mitzuteilen, dass er
in einer künstlichen Welt lebt. So wird Lauren
vorgestellt, eine Frau, die Truman immer noch
liebt, obwohl er eine andere Frau geheiratet
hat. Lauren wurde nach einem Versuch, Truman
die Wahrheit über seine Welt zu sagen,
aus der Serie entfernt. (…)
Es wird deutlich, dass die Produzenten (…)
schon in Trumans Kindheit mit allen Mitteln
versuchen mussten, ihn vom Fortgehen abzuhalten.
Dies wurde dadurch erreicht, dass
Truman (…) dazu gebracht wurde, eine starke
Angst (…) zu entwickeln (…) eine Seebrücke
zu überqueren. Truman versucht, aus dieser
Welt, deren künstlichen Charakter er mehr
und mehr erkennt, auszubrechen. (…) Schließlich
flieht er aus der eigens für ihn gebauten
Stadt, indem er ein Segelboot entwendet.
Christof (…) erscheint als eine gottähnliche
Figur, die über das Schicksal von Truman
wacht, ihn beobachtet (…) und manipuliert.
Nachdem er vergeblich versucht hat, Truman
durch einen künstlich erzeugten Sturm zum
Kentern zu bringen (…) beschwört er ihn, in
Seahaven zu bleiben, da die Welt außerhalb
(…) grausam und hart sei. Doch Truman wählt
den Ausgang. (…)“
Als dieser Film im Fernsehen lief und ich die
„Truman Story“ gesehen habe, war einige Zeit
seit der Premiere im Kino vergangen und der
Begriff „Fake News“, der heute gern verwendet
wird, untypisch. Als ich „Wie wirklich ist
die Wirklichkeit“ oder „Anleitung zum Unglücklichsein“
von Paul Watzlawick gelesen
habe, vor etwa zwanzig oder sogar dreißig
Jahren, habe ich diese Lektüre genauso gelesen
und nicht verstanden, wie ich den Film
gesehen, aber nicht begriffen habe. Ein Erlebnis
ist noch keine Erfahrung. Mir fällt abrundend
noch Tenzin Gyatso ein, der 14. Dalai
Lama, mit diesem Statement: „Die Physik
sucht das Weltall zu erklären, wir aber wollen
wissen, was dahinter ist“, und als das damals
im Fernsehen lief, dachte ich, wie leicht er es
sich mit so einem Spruch macht. Einstein und
Hawking arbeiteten ein Leben lang, mussten
alles was ihnen einfiel den Kollegen zum
Fraß vorwerfen, und wenn sich’s nicht beweisen
ließ oder ein anderer Physiker die
jeweilige Theorie widerlegen konnte, fingen
sie von vorn an. Ein Mönch, der sagt er schaue
hinter die Welt, lebt hinter dem Mond.
Hinter dem Mond, wer war schon dort? Kunst,
Wissenschaft und Glaube sind hier vereint:
„Sie ist klein und unscheinbar, diese Figur auf
dem Mond. Aus Aluminium gefertigt, nur 8,5
Zentimeter groß, ist das kleine Kunstwerk das
einzige seiner Art auf dem Erdtrabanten. Am
2. August 1971 wurde es dort von der Crew
der amerikanischen Apollo-15-Mission hinterlegt.
So winzig sie ist, so groß ist die Geste.
Denn die Statuette ist zugleich ein Denkmal
für die Astronauten und Kosmonauten, die
bis zu diesem Zeitpunkt ihr Leben verloren
haben. Kosmonauten? Ganz richtig, auch der
verstorbenen sowjetischen Raumfahrer wird
dort mitten im kalten Krieg gedacht, ihre
Namen stehen neben denen der Amerikaner
auf der hinteren Plakette. Als berühmtester
natürlich Juri Gagarin, der 1968 bei einem
Flug starb. Entworfen und gefertigt wurde
die Figur, die „Fallen Astronaut“ genannt wurde,
von dem Künstler Paul Van Hoeydonck
aus Belgien. Bei seiner Arbeit leitete ihn eine
Bedingung: Die Figur durfte weder als männlich
oder weiblich erscheinen, auch keine
bestimmte Ethnie verkörpern. Sie sollte vielmehr
die ganze Menschheit darstellen. Und
klein musste sie sein, um sie überhaupt auf
den Mond schaffen zu können. Und dort ist
der „Fallen Astronaut“ noch immer.“
Ein Text, aktuell kopiert aus t-online.de – Rubrik:
„Historisches Bild“ – ein Foto vom Mond,
sieht aus, wie ein Bierdeckel, der schief im
grauen Mondschotter steckt, davor liegt der
kleine Blechastronaut, wie lang dahin gestolpert
im groben Mondsand. Verschwörungstheoretiker
glauben, dass die Mondlandung
ein Fake ist. Wikipedia schreibt an anderer
Stelle: „Edward Joseph „Ed“ Snowden ist ein
US-amerikanischer Whistleblower und ehemaliger
CIA-Mitarbeiter. Seine Enthüllungen
gaben Einblicke in das Ausmaß der weltweiten
Überwachungs- und Spionagepraktiken
von Geheimdiensten – überwiegend jenen
der Vereinigten Staaten und Großbritanniens.“
Wenn wir das glauben, müssen wir die
Mondlandung ebenfalls glauben. Es gibt keinen
überzeugenden Whistleblower, der uns
detailiert etwa von dem „großen Mondfake“
berichtet hätte; und es hätte einen gegeben,
bei so vielen Beteiligten.
Wenn ich ein Gott wäre und wollte Menschen
machen, würde ich dieser „künstlichen Intelligenz“
alles geben, mein ganzes eigenes
Wissen und dazu noch die Befähigung, selbst
über Leben und Tod zu entscheiden? Möglicherweise
nicht. Ich würde mir vorbehalten,
den Stecker zu ziehen, würde mir einen privaten
Teil größerer Wirklichkeit behalten, schon
deswegen, damit das mit dem Leben das ich
machte nicht vollends aus dem Ruder läuft.
(Kann natürlich auch sein, dass wir Menschen
so eine Art Tschernobyl sind; es ist bereits
passiert). Ich glaube nun wiederum daran,
dass der einzelne Mensch, als eine Art Spielball
der umgebenden Natur und den vielfachen
Motiven seiner Mitmenschen, ebenfalls
bestimmen zu wollen, umher gestoßen wird,
angerempelt die ganze Zeit. Ich glaube fest
daran, dass die Kraft des einzelnen vielfältig
beschränkt ist, durch sein Unvermögen, das
Ganze zu sehen und durch die Behinderung
unumgänglicher Widerstände, die sich aus
dem Ort und der Zeit seines jeweiligen Daseins
ergeben. Im Positiven sehe ich viele
Chancen, mutig einen eigenen Weg zu finden,
wenn die innerste Angst etwas könne schiefgehen,
verstanden ist. Was das heißt?
Dazu fällt mir noch eine Geschichte ein, und
diesmal ist es eine eigene. Das war vor einigen
Jahren. Wir fingen an, im Sommer den
Urlaub auf der Insel Fehmarn zu verbringen.
Davor waren wir nach Dänemark gefahren.
Das fing an mit dem Boot: Wenn nicht auf
der Elbe unterwegs, ließen meine Freunde
und ich uns durch den Nord-Ostsee-Kanal
schleppen (unsere Jollen haben keinen Motor),
sind in der „Dänischen-Südsee“, rund Fünen
oder rund Seeland gesegelt. Eine langvertraute
Mitseglerin und beste Freundin
hat „nach Dänemark geheiratet“, und meine
Frau und ich sind in den Sommern, als unser
Sohn klein war, gern dort gewesen. Auch
in der Umgebung im Ferienhaus, nicht weit
entfernt, machten wir Urlaub. Wir fuhren mit
dem Auto hin. Fehmarn war für uns nichts
weiter, als ein Stück Straße auf dem Weg in
Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 33 [Seite 32 bis 34]
das jeweilige Ferienhaus. Auf der Insel ist
schließlich Puttgarden, das ist das Ende vom
Land, und man wartet auf die Fähre. So haben
wir das gesehen. Das war bevor die Debatte
um Brücke oder Tunnel in Gang gekommen
ist. Ich kann nicht genau sagen, warum wir
die Insel für uns entdeckten. Ich finde es dort
ganz wunderbar. Das ist schön wie Dänemark,
aber nicht so weit entfernt. Wir haben anfangs
„Urlaub auf dem Bauernhof“ gemacht.
Eine feine Sache (wenn man ein kleines Kind
hat).
In dieser Zeit fand auch die Begebenheit
statt, an die ich mich erinnere, weil sie so
wichtig wurde und ich das nicht geahnt habe.
Damals spielte das Städtchen Burg oder der
touristische Südstrand mit den drei prägnanten
Hotel-Häusern keine Rolle in unserem
Urlaub. Wir waren im Norden „auf dem Dorf“
und kamen allenfalls bis Landkirchen
zurück in Richtung einer belebten
Ortschaft. Landkirchen als belebt
zu beschreiben, ist mutig. Dort fand
ein Bläserabend bei schönem Wetter
stand. Der Turm der großen Kirche
steht wohl neben dem Gebäude, und
ein Friedhof geht längs dem langen
Kirchendach im roten Ziegelgewand
hin, weg von der Hauptstraße. Ein
kleiner Weg begrenzt die Gräber,
und auf der anderen Seite ist eine
von alten Bäumen beschützte Wiese,
die vor dem Gemeindehaus einen
Abstand zur Straße schafft. Ein
guter Platz für einen lauen Abend
mit allmählich tiefstehender Sonne
und dem blitzenden Blech! Mehr
als hundert sommerlich-fröhlich gekleidete
Eingeborene und kultivierte Touristen waren
als Publikum des hervorragenden Orchesters
zusammengekommen. An Details erinnere
ich mich nicht wirklich, aber dass ich nach
der Aufführung noch mit einem Trompeter
ins Gespräch kam. Ich habe ihn nach seiner
Lesart der B-Noten gefragt, weil Kirchenmusik
das gern anders auffasst als die populäre
Musik.
Nachdem einige Stücke gespielt waren und
wir ein Glas Weißwein oder etwas zu knabbern
bekommen konnten, war die Stimmung
wunderbar sommerabendlich verklärt. Fremde
Menschen gerieten unverhofft miteinander
ins Gespräch. Zarte und doch schwungvolle
Melodien erklangen, vornehmlich kirchlicher
Natur. Jetzt kam der musikalische Leiter ins
Erzählen. Ich erinnere mich nicht genau, aber
es ging drum, jazzige Elemente in die klassische-
und kirchenmusikalische Bläserwelt zu
integrieren. Die Musik muss swingen, damit
sie gut ist, das wusste schon Bach.
Der Titel eines neuen Kirchenliedes wurde
uns anschaulich erklärt. Ein wenig modisch
hatte da jemand getextet. So in der Art: „Swingin’
God“; und das war der Titel eines Originals
vom Komponisten aus einem Orchester,
mit dem der musikalische Leiter befreundet
war. Ein Stück das sie jetzt nicht spielen würden,
stattdessen ein eigenes Werk. Wie gesagt,
es ist lang her und es kann sein, dass
ich alles nicht ganz richtig wiedergebe. Nun
wurde uns dieses andere Stück und die Entstehungsgeschichte
dazu vorab beschrieben,
warum und wieso – das sollte wohl swingen,
im besten Sinne des Musizierens – aber hier
ging es nicht um populäre Kirchenmusik, die
mit verstaubter Steife mancher Kompositionen
aufräumen wollte. Man hatte weniger
die Absicht, Menschen in die Gotteshäuser zu
locken, weil fetzig (wie mit Whoopi Goldberg
in Sister Act) gejazzt würde; hier ging das um
eine ebenso feinsinnige wie originell betitelte
Musik.
„Zwinge Deinen Gott“, hieß die eigenwillige
Komposition.
Das ist bei mir hängen geblieben. Was sollte
das? Zwinge „deinen“ Gott. Da ist ein persönliches
Element, eine Art Zweikampf? Welche
Person ist gemeint? Gott ist für uns alle da,
und es gibt nur einen einzigen, heißt es. Der
große Gott. Den nun zwingen? Eine Herausforderung.
„Klopfe an, und dir wird aufgetan“,
das kam mir auch in den Sinn. Da muss ich
an jemanden denken, der die Tür zum Gotteshaus
eingetreten hat und brüllt: „Komm da
raus aus deiner Hütte, Mann!“ Die Musik, ich
erinnere es nicht, war sie heftig? Inzwischen
habe ich mir ein eigenes Bild gemacht, und
das soll man ja nicht. Aber, als Maler – hier
stehe ich mit meinem Pinsel – ich kann nicht
anders. Luther war auch nicht frei, handelte
unter Zwang. Er musste. Muss Gott tun, was
ich erzwingen kann?
Gleichauf sein. Mein Sohn ist achtzehn Jahre
alt, und ich muss daran denken, dass ich
ihn jetzt frei gebe, von meiner Macht der
Erziehung. Ein Vater kann das Kind zwingen
zu gehorchen, und manchmal muss man das
tun. Ich überlege, wann hat mich mein Sohn
gezwungen zu handeln? Mir fällt da etwas
ein, das kann ich hier unmöglich erzählen.
„Zwinge deinen Gott“, da muss ich schließlich
an Katrin denken, das ist auch so eine beste
Freundin, die für mich einmal falsche Stimmen,
als Ratgeber von göttlicher Weisung, so
trennte: „Das war er dann wohl nicht“, meinte
sie, als es drum ging, dem Bauchgefühl zu folgen
(wenn der Verstand versagt).
Frei werden von Zwang: „Jetzt könnt ich’s
tun“, überlegend wie Hamlet – sich schließlich
anders entscheiden: Zweifel oder Klugheit?
Zweifel ist nicht Feigheit. „Wenn du im
Zweifel bist, tue nichts“, sagt uns Napoleon,
und der war nicht feige. Die Macht über das
eigene Ich; abwarten können, ist Freiheit.
Keine Wahl zu haben, macht Angst. Nicht
ausweichen: Der Angst direkt ins Gesicht zu
sehen, das ist Mut – kann bedeuten, keine
Wahl mehr zu haben und wie ein Automat zu
reagieren, wissend, nur so in die Freiheit zu
gelangen.
Und die Welt hinter der Welt, was hat das
damit zu tun? Ich glaube nicht, dass man im
Mittelalter dumm war, die Erde den Menschen
deswegen eine Scheibe oder die Welt früher
nur schwarz und weiß, weil die Farbfotografie
oder die Digitalkamera noch nicht erfunden
war. Ich glaube, dass zu jeder Zeit der Geschichte
der einzelne Mensch klug werden
konnte, so klug es eben geht, (und dass ist
nicht wiedergeben können, wie Einsteins
Formel lautet oder ein Lexikon aufsagen bei
Günther Jauch). Da stelle man sich nur mal
so einen neunmalklugen Roboter vor, wie wir
vielleicht bald einen erfinden, der mehr kann,
als den Rasen nach Programm mähen oder
Rollläden ablassen, während wir im Urlaub
sind. Was wird der von uns einfordern?
:)
Reformation – nun ist es ein Feiertag.
Okt 31, 2019 - Mein Bild: Reform Your Life 34 [Seite 32 bis 34]
Motivation, von Oelke bis Teufel
Nov 9, 2019
Er könne nur infizieren – seit sich das Wort
„Motivation“ als wichtige Komponente im
Unterricht etabliert habe, sei die Vorstellung
präsent, es ließe sich auch Lust lehren
– meinte Siegfried Oelke in einem kleinen
Aufsatz. Oelke war damals Professor für Illustration
an der Armgartstraße, der Fachhochschule
für Gestaltung in Hamburg. Er selbst
hatte seinerzeit bei Alfred Mahlau studiert.
Einige, die später bekannt wurden, Horst
Janssen oder Loriot (Vicco von Bülow), waren
bei Mahlau gewesen.
Ich kam nicht dazu, bei Oelke Illustration zu
studieren. Er starb, bevor ich den ersten Studienabschnitt
beendet hatte. Er unterrichtete
ausschließlich im zweiten Teil des Studiums.
Dafür musste man die Zwischenprüfung bestanden
haben und ungefähr vier Semester
dort gewesen sein. Dazu kam, ich wusste gar
nicht, wer das ist. Siegfried Oelke war ein geschätzter
Lehrer und Kollege, der zu meiner
Zeit an der Armgartstraße bereits viele Jahre
lang unterrichtet hatte. Mit Gero Flurschütz
und Otto Ruths, dem langjährigem Sprecher
der Schule und ihrem gemeinsamen Freund
Martin Andersch, gaben diese Dozenten der
Fachhochschule maßgeblich die Form, die sie
hatte, als ich dort studierte. Flurschütz war
auch Student bei Mahlau gewesen, zeitlich
etwas nach Horst Janssen, und ich erinnere
Anekdoten. Gero hat gern von früher erzählt,
wir haben viel Zeit miteinander verbracht.
(Bei Gero Flurschütz habe ich schließlich Informative
Illustration studiert).
Bei Mahlau war es besonders, der war nicht
irgendwer. Janssen, der fertige Student und
beeindruckende Zeichner, kam noch gelegentlich
zum Unterricht, besuchte seinen
alten Lehrer und verbliebene Kommilitonen
– kam möglicherweise auch, um eine Freundin
zu treffen oder eine neue dort an der
Hochschule zu finden, in der nachwachsenden
Generation – und ich habe auch eine Beschreibung
davon, wie Mahlau unterrichtete.
Die Studenten kamen einmal in der Woche
zusammen. Die neu angefertigten Arbeiten
wurden an die Wand gepinnt, so dass alle sie
sehen konnten. Mahlau sagte nichts dazu. Er
zeigte nur wortlos auf einige Bilder, hängte
diese möglicherweise um, an eine exponierte
Position abseits der anderen, und die Schüler
mussten sich selbst einen Reim drauf machen,
was das zu bedeuten hatte. Waren diese
Entwürfe gut? Sie mussten sich an Hand der
sparsamen (Belehrung kann man ja eigentlich
gar nicht sagen) selbst ein Urteil bilden.
Ich kann nicht beschreiben, wie der Unterricht
bei Oelke, dem inzwischen selbst bekannten
Mahlau-Zögling, ablief. Ich habe ihn nur ein
einziges Mal getroffen, und ich wusste nicht,
dass er ein von vielen bewunderter Professor
war. Von Mahlau und den erwähnten Geschichten
wusste ich anfangs genauso wenig,
woher auch. Ich war neu bei Martin Andersch
angefangen. Das muss zu einer Zeit gewesen
sein, wo ich „Sie“ und „Herr Andersch“ oder
„Professor“ zu ihm sagte, das war eine Respektsperson
(und alt); der Bruder von Alfred
Andersch, dem Schriftsteller. Martin ist schon
viele Jahre tot, starb gleich nach der Pensionierung
und ich denke noch oft an gemeinsame
Momente dieser Zeit zurück. Er wurde ein
Freund; und das kam, weil ich seinen Sohn
schon vorher vom Segeln kannte, aber nicht
wusste, dass der Vater Professor für Schrift
und Buch war.
Bei Martin Andersch lernten wir „Humanistische
Kursive“ mit Feder und Tinte schreiben.
Wir nahmen auch Aquarellfarbe aus der Tube,
die wir mit Wasser entsprechend verdünnten.
Wir mischten die Farbe, bis sie eine gute
Fließkraft hatte: satte Farbtiefe, aber leichte
Gleitfähigkeit der Feder auf dem Papier. Martin:
„Scriptol ist Schlamm, und mit Schlamm
kann man nicht schreiben.“ Die Federn schliffen
wir auf einem Arkansa-Splitter, brannten
sie ab vor der ersten Benutzung und lernten
so einiges. Wir schnitten Schilf zu Rohrfedern.
Der Professor: „Das Rohr schneidet man von
November bis März.“ Wir schrieben mit Material
das wir uns selbst erst dafür suchen
mussten: Glasscherben, Steinsplitter, Äste
aus dem Garten der Wartenau oder steife
Pappschnipsel: „Schriftzeichen ohne Bedeutungsinhalt“;
und das sah aus wie chinesisch.
Ein ganzes Buch habe ich layoutet und einen
Dummy davon gebastelt. Ich beschrieb ein
riesiges Blatt edles Papier mit einem Kapitel
aus „Spiegel der See“ von Conrad. Martin: „Eines
der schönsten Bücher, die es gibt“, und so
haben wir uns näher kennen gelernt.
Er holte ein Foto von einer Jolle aus seiner
Tasche. Das Boot kannte ich, es war der alte
Holzpirat von einem Freund, der war gerade
verkauft, und ich wusste an wen, aber nur den
Vornamen. Das war Martins Sohn, nur wenig
jünger als ich selbst. Als ich das große Papier,
meine Semesterarbeit beschrieben hatte,
wollte ich das ganz besonders gut machen.
Ich konnte nicht ahnen, dass der Professor
Ahnung von Schiffen hatte, aber es sollte
ein schöner Text sein. In der Mitte vom Blatt
sparte ich die Worte aus und zeichnete einen
Dreimaster hinein. Ich schrieb exakt Wort für
Wort nach Conrad über das Ankern und den
Unsinn, den die Journalisten mit der Seemannssprache
machen. „Fallen Anker!“ oder
englisch einfach: „Let go!“ heißt es. (Da wird
nicht geworfen). Danach tat mir ein ganzes
Jahr lang der Handwurzelbereich
meiner guten rechten Mal- und
Zeichenhand weh. (Dreimal habe
ich das Papier beschrieben, und
erst mit der dritten Fassung war
ich leidlich zufrieden, so dass ich
mich traute, diese dem Prof. zu präsentieren).
Einmal war Siegfried Oelke zu Besuch
beim Kollegen Andersch und
beklagte sich bitterlich über irgendwelche
Idioten, die etwas nicht
begriffen hatten, was er im Auftrag
gezeichnet hatte. Dazu zeigte er
seinem Freund einen Druck und
wies auf Stellen hin, an denen er
Konturen mit der Umgebung hatte
verschmelzen lassen, und jemand
hatte etwas in der Art: „Was soll das
sein?“ dazu gesagt. Das war mein
einziges Treffen mit Oelke, und ich
habe erst später begriffen, dass er
das war. Ich dachte naseweis: ich
kann’s auch nicht erkennen; sagte
aber nichts. Später habe ich alles
verschlungen, was ich von Oelke
bekommen konnte, Publikationen
und Drucke, Illustrationen. Ich habe
mich stets von seinem Stil, mit dem Bleistift
zu zeichnen, leiten lassen. Natürlich habe ich
die ganze Zeit bei Otto Ruths gehört, wie es
zu machen sei, aber der optische Selbstunterricht,
wie ich gern wollte, dass es bei mir
werden sollte ist von Oelkes Zeichnungen
geprägt.
Busch. Das war auch einer, den alle kannten,
aber der war zu meiner Zeit bereits nicht
mehr an der Armgartstraße. Er starb, kurz
nach dem ich zu studieren begonnen hatte.
Den habe ich auch nur einmal gesehen.
Er kam, alt und angeschlagen, auf Krücken
vorbei, am Flurende oben zum Raum dreihundertirgendwas,
wo wir immer zeichneten,
seinen Freund Otto zu besuchen. Später
begriff ich, dass ich den bekannten Grafiker
Wilhelm Busch „in echt“ gesehen hatte. Der
zeichnete mit Kugelschreiber als sein liebstes
Werkzeug. Das ist nicht jedermanns Ding.
(Ich habe jetzt mehrere Skizzenbücher damit
gemacht, als Herausforderung nicht korrigierbar
klarzukommen; Busch illustrierte
aus der Vorstellung mit Kugelschreiber, wo
es eigentlich weniger nutzt und ein Bleistift
gute Möglichkeiten bietet, sich einer Idee an-
Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 35 [Seite 35 bis 39]
zunähern. Meine Skizzen sind direkt nach der
Natur. Eine schwarze farbechte Kugelschreiberlinie
mag zu einem guten Druckbild in der
Reproduktion beigetragen haben).
Wilhelm M. Busch, Illustrator zahlreicher Bücher,
Namensvetter von dem mit Max und
Moritz und bitte nicht mit ihm zu verwechseln.
Zur Einordnung: Ich bin 1964 geboren,
habe von 1985 bis 1991 an der Armgartstraße
studiert. Wir machten ein Diplom.
Die Fachhochschule wollte bessere Grafiker
machen, keine Künstler. Die sollten am Lerchenfeld
studieren. Dazu benötigte man das
ganze Abitur, und das habe ich ja bekanntlich
nicht geschafft. Der „echte“ Busch mit
seiner Witwe Bolte ist genau hundert Jahre
vor meinem Vater zur Welt gekommen. Mein
Professor Ruths, in den zwanzigern des vorigen
Jahrhunderts geboren, war noch im Krieg
gewesen, während mein Vater als „weißer
Jahrgang“ weder bei den Nationalsozialisten
noch in der späteren Bundeswehr Soldat
wurde. Wilhelm M. Busch, der sich einen
Namen in der Romanillustration (wie es sie
nicht mehr gibt) gemacht hatte, war älter als
Ruths. Sie waren Künstlerfreunde, gingen
gemeinsam auf einige Studienreisen. Zum
Stierkampf in Pamplona fuhren sie, und ich
kenne Geschichten. Otto Ruths wurde mein
wichtigster Professor und Freund, und Busch
war sein engster Kollege an der Fachhochschule.
Ich habe diesen Text mit Oelke begonnen,
weil ich mich besinnen musste, warum ich
motiviert bin zu malen. Ich wurde gefragt.
Wir waren auf einem Geburtstag eingeladen,
und ich habe dort eine Kollegin gesprochen,
die ich lange nicht gesehen habe. Sie bildet
Kunstdozenten aus und kommt nicht mehr
dazu, selbst zu malen, sagt sie. Sie findet
Gründe: liest noch die Mails, bringt den Müll
raus und hängt Vorhänge auf, nachdem die
mal wieder gewaschen wurden. Es gibt immer
zu tun. Sie ist nicht recht glücklich. Das
Geld stimmt, die Zukunft scheint gesichert,
aber die eigene Kreativität droht einzuschlafen
oder für immer zu versiegen, was tun?
Es ist wenig wahrscheinlich, anderen helfen
zu können, die in dieser Lage sind.
Motivationstraining? Das Buch was am
wenigsten zu meiner selbstständigen
Malerei beitrug, war ganz bestimmt „Der
Weg des Künstlers“ von Cameron. Meine
Bekannte hat mir bei unserem Wiedersehen
von einem inspirierenden Workshop
erzählt. Ein Partner und sie haben Karten
mit Themen angefertigt und einen
zweiten Stapel mit grafischen Techniken.
In der Mischung zogen sie nun unerwartete
Kombinationen, in etwa: Einsamkeit/Bleistift
oder Populismus/Aquarell,
um dann für eine festgelegte Zeitspanne
in jeweils einem Studierzimmer zu verschwinden
und die Aufgabe umzusetzen;
das sei ja so genial gewesen und
anregend. Ich will das gern glauben,
aber für mich wäre es nichts. Warum
sollte ich diese starke soziale Komponente in
meine selbstständig entwickelte Kreativität
einbringen? Die Begeisterung meiner Kollegin
auf diese Art endlich kraftvoll motiviert,
per Losverfahren zu einer Aufgabe zu kommen,
eine untypische Technik unter Zeitbeschränkung
für ein aufgegebenes Thema anzuwenden,
kann ich nicht wirklich teilen. Ich
blieb diplomatisch, verstand, dass sie dabei
kreatives Glück empfunden hat. Das ist Kindergarten,
angeleitet wie in der Schule; wenn
jemand eigenständig Kunst machen möchte,
reine Zeitverschwendung. Ein Trend, das Arbeiten
in einer Gruppe. Ein gemeinsames
Thema, einen Termin zu dem „geliefert“ wird
und dann endet alles in einer Präsentation.
Gemeinsames Skizzieren: „Urban Sketching“,
kollektiv draußen unterwegs. Wenn die anderen
nicht dabei sind, beginnt keine „KünstlerIn“
zu zeichnen. Eine modische Bezeichnung,
sozial vernetzt – dabei sein.
Ich habe nur Geschichten zu bieten, intime
Momente meines Lebens, wenn ich versuche
zu sagen, was mich dabeibleiben lässt,
hat anfangen lassen. Ich war froh nach dem
Studium in freier Mitarbeit eines Verlags, maritime
Auftragsarbeit zu machen. Nun konnte
ich soviel Geld für ein selbstständiges Leben
verdienen, dass ich eine Wohnung und das
Essen, Kleidung allein erwirtschaften konnte.
Immerhin dauerte diese erfolgreiche Phase
als Illustrator einige Jahre an. Ich fand zu
Frau, Heirat und Kind, wir nahmen uns eine
gemeinsame Wohnung; ich war beinahe normal.
Als aus Deutschlands führender Yacht-Zeitschrift
Europas größtes Segelmagazin wurde,
war das für mich ein ungewolltes Ende
regelmäßiger Auftragsarbeit in freier Mitarbeit
dort und der Anfang meiner Malerei.
Das erste eigene Bild nach dem Studium,
ohne dass ein Lehrer oder Kunde es so haben
wollte, malte ich im überschaubaren
Format eines Zeichenblocks auf Acrylmalpapier.
Motiv: Ein kleiner Leuchtturm. Er steht
bei Glückstadt am Deich. Ich fuhr nicht etwa
hin, malte vor Ort. Ich fand den vertrauten
Freund vieler Segeltage in einem Buch. Dort
habe ich abgemalt. Ich zeichnete vor, malte
aus (wie in der Grundschule), und dann habe
ich’s auf Tischlerplatte geklebt, Aluleisten
drum montiert. Ich fand das toll, war stolz auf
mich. Es ist allenfalls Naive-Malerei. Das Bild
hängt im Kinderzimmer meines Sohnes. Er
ist inzwischen achtzehn Jahre alt und zieht
vernünftigerweise bald aus. Das Bild ist etwa
genauso alt.
Ich war keineswegs mit einem klaren Plan
oder dem studiert ausgebildeten Talent unterwegs.
Ich machte
ein dilettantisches
Bildchen und
hielt mich für wer
weiß wie genial.
Heute arbeite ich
viele Wochen oder
Monate, und wenn
ein anspruchsvolles
Thema fertig
ist, bin ich sehr
zufrieden, mir aber
bewusst, wie unbedeutend
meine
Bilder insgesamt
sind.
Ich kann Eckpunkte
im Leben benennen,
die mich motivierten. Ich liebe maritime
Malerei. Da war zunächst ein Buch mit
Bildern von Anton Otto Fischer das ich von
meinem Großvater geschenkt bekam, der ja
zur See gefahren ist. Schon als Jugendlicher
habe ich mich für dieses Genre interessiert,
habe einiges im Bücherschrank. Ich schaute
mir zahlreiche Gemälde von bekannten Marinemalern
im Original an.
Ich habe im Studium viel Zeit mit Otto Ruths
verbracht, kenne und schätze seine Malerei
und Auffassung von Komposition und Farbe,
aber ich malte nie bei ihm. Gemalt habe ich
bei Almut Heise. Wichtig wurde alles, was
ich von Edward Hopper, David Hockney, und
William Kurelek bekommen konnte. In Bologna
auf der Kinderbuchmesse hatte ich das
unglaubliche Glück, kanadische Originale anschauen
zu können, und ich habe einige Bücher.
Kurelek ist ein wunderbarer Erzähler.
Auf dieser Messe hat meine Freundin Ute
Martens einen kleinen Band mit Gemälden
von Menzel gekauft, das ist aus dem „Albogen“,
(und meine Frau war später so lieb, mir
dieses Buch in Berlin antiquarisch zu kaufen).
Ich habe gezeichnete Bücher von Tomi Ungerer,
einen Band mit Porträtzeichnungen von
Hockney. Ich habe Petterson und Findus, Tim
und Struppi, Asterix – unverzichtbar! Storm,
Flash Gordon und jede Menge Prinz Eisenherz.
Ich habe mir, wen wundert das, einen dicken
Band mit den verschiedensten Pin-Up-
Künstlern antiquarisch auf einem Flohmarkt
gekauft und ein Buch mit den unglaublichen
Aktgemälden von Freud habe ich natürlich
auch. Jetzt habe ich Bo Bartlet durch Zufall
ergoogelt, bewundere das unendlich.
Deswegen beginne ich aber nicht zu malen.
Andere sammeln auch Bücher und Bilder,
und allein davon, dass man etwas mag,
macht man’s ja noch nicht. Sicher haben
mich Biografien voran gebracht, für die ich
mich interessierte. Ich habe über Louis Armstrong,
Dizzy, Miles und Chet Baker gelesen,
besonders gern autobiografische Texte. Keine
Maler, aber Individualisten in ihrem Fach. Sie
konnten nicht beliebig sein, Musik ist nicht
irgendwas. Ich kenne zudem zahlreiche Musiker
persönlich. Lebensläufe faszinieren mich,
die Ansichten kreativer Publizisten: Der klassische
Pianist Horowitz, Filmemacher Charlie
Chaplin, Walt Disney und natürlich die
Bücher von Moshe Feldenkrais, Popper und
Watzlawick; ich habe verinnerlicht, was sie
aufgeschrieben haben.
Als Jugendlicher habe ich die Hornblower-
Romane gelesen. Eine gute Beschreibung
von C. S. Forester, wie er kreativ vorgegangen
ist, findet man im Aufsatz: „Meine Bücher
und ich.“ Von treibenden Quallen im Meer
und Muscheln am Holz erzählend beginnt
der Text. Der Schriftsteller führt aus, wie er
zunächst zulässt, nicht so genau zu planen.
Kreatives Denken bedeutet ihm, nicht exakt
hinzuschauen was ihn umtreibt, bis die Dinge
deutlich hervortreten. Das hat den Vorteil,
dort anzufangen, wo es lohnend ist. Einen
Stoff zu finden, der nach einiger Zeit als
unterbewusst bereits entwickeltes Element
immer hartnäckiger selbst für sich spricht. Er
macht anschaulich, wie eine neue Idee erst
allmählich Form annimmt. Beschreibt, wie
Einfälle im Dämmerdunkel eines versunkenen
Bereichs vom Gehirn, als eine Art vollgesogenes
Treibholz unter Wasser herumgondeln
und Ableger des Themas wie Bewuchs,
Kraut und Seepocken hinzukommen, bis man
sich vernünftigerweise ernsthaft der Sache
annimmt.
Im Text steht auch der bemerkenswerte Satz:
„Nichtstun macht mich nicht produktiv.“ Der
Schriftsteller geht nicht in das Studierzimmer
und wartet auf den Kuss der Muse. Den
Schreibraum betritt er erst, wenn er fertig mit
der Idee seiner Geschichte ist und dann wird
Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 36 [Seite 35 bis 39]
diszipliniert geschrieben. Der Autor setzt
sich einem selbstgeschaffenen Zeitplan aus,
schreibt ein immer gleiches Pensum am Tag.
Würde er sich hinreißen lassen und mehr fabrizieren,
könne er am darauffolgenden Tag
nichts zu Papier bringen, meint er. Das kennt
er schon aus Erfahrung mit sich selbst. Setzt
er hingegen einen Tag lang mit dem Schreiben
aus, empfindet er gleich belastenden
Zeitdruck, da sein Verleger vorab in Kenntnis
gesetzt ist, was Forester thematisch und wie
viele Seiten stark zu einem bekannten Termin
ungefähr abliefern wird.
Von John Irving wird erzählt, dass er typischerweise
einige Sätze oder eine Seite vom
Schluss der Geschichte zu Beginn notiert.
Auch dieser Schriftsteller entwickelt sein
Thema im Kopf, fängt nicht mal so an, was
aufzuschreiben. Zu wissen, wo man hin will,
ist von Vorteil. Genauso Edward Hopper, der
sagt: „Wenn ich mich an die Staffelei setze,
ist schon alles erledigt.“ Das sind Künstler, die
innere Disziplin zu schätzen wissen. Es gibt
andere Wege zu einem Ergebnis zu kommen:
Der „Herr der Ringe“ hat sich als Trilogie von
Weltrang während der Schreibarbeit verselbstständigt,
wie auch der Film „Casablanca“,
wo die Macher nicht recht wussten, wie
die Sache enden sollte. Das erfolgreiche Duo
aus Hans Albers und Heinz Rühmann behakte
sich in der Umsetzung der Szenen, die Albers
gern frei heraus anging und Rühmann auf
den Schritt genau plante. Charlie Chaplin im
Film und Artie Shaw in der Musik, sie waren
Perfektionisten und kein studierter Psychologe
würde ihr Arbeitsverhalten empfehlen.
Ich war ja nicht dabei, aber Anekdoten haben
mich immer interessiert. Meiner Auffassung
nach ist Kunst absolut persönlich, also gerade
nicht sozial; auch in einer Band muss
der einzelne seinen Teil für sich beherrschen.
Sich kennen lernen: Was mag gerade ich, was
kann ich – wo kann ich drauf aufbauen, dabei
bleiben und besser werden?
Ich kann aus eigener Erfahrung nachempfinden,
in welche Panik und Wut man über sich
selbst gerät, wenn in weit vorangeschrittener
Arbeit ein unerwartetes Problem auftaucht.
Das Bild steht auf der Staffelei. Angetan von
der täglichen Arbeit, bist du gut voran gekommen
und voll motiviert, weil du dich auf
den Tag freust, an dem die Sache irgendwann
fertig ist. Und dann kommt ein Moment, wo
eine bislang unbemerkte kompositorische
oder thematische Schwäche der gesamten
Konstruktion den Boden unter den Füßen
wegzuziehen scheint. Das kann einige Tage
Panik bedeuten, ob das Bild überhaupt zu
retten ist.
Forester beschreibt so eine Situation: „Ich
hatte mir einfach gesagt, hier entfliehen sie“,
gibt er zu, als ein entscheidender Moment
ihn beim Schreiben kalt erwischt hat und
der professionelle Schriftsteller nun grundsätzlich
an seiner Befähigung zweifelt, ob
er überhaupt zu diesem Beruf geeignet ist.
Er spürt womöglich die gleiche Angst seiner
im feindlichen Frankreich gefangenen
Freunde am eigenen Leibe: Wie komme ich
da raus? Jedes Projekt wird zu einer Art Reise,
niemand möchte vor dem Ziel abbrechen. Ich
glaube, es war Menzel, der ein monumentales
Gemälde halbfertig (ein Leben lang) im Atelier
ausgehalten hat.
Von Beethoven ist bekannt, dass er lange
Kompositionen im Kopf entwickelte, bevor er
Noten zu Papier gebracht hat. Wissenschaftler
und erfolgreiche Geschäftsleute betonen, wie
kreativ sie denken (müssen). Von Einstein ist
überliefert, wie es sich mit der Relativitätstheorie
im Ursprung zugetragen haben soll:
„Mir ist etwas ganz Wunderbares eingefallen,
nun muss ich es (aber) noch aufschreiben“,
soll er zu seiner Frau gesagt haben – und anschließend
grummelnd lang daran gesessen
haben, genau festzuhalten,
was er
eigentlich bereits
fertig erdacht hatte.
Worte für etwas
zu finden, ist extra
Arbeit, kreatives
Denken ist anders.
Ich habe einen
Mann gesehen, der
konnte anspruchsvolle
Rechenaufgaben
schneller
als eine Maschine oder doch zumindest genauso
exakt lösen. Das war Teil einer Show.
Dem Mathe-Genie wurde eine große Schultafel
hingestellt, und er bekam seine Aufgabe.
Die Lösung bestand in einer vielstelligen
Zahl, so lang, dass die Ziffernkombination die
volle Breite der Tafel benötigte. Der Mann
rechnete aufeinanderfolgende Kommastellen
für die Zuschauer in Echtzeit vor, schrieb
mit Kreide in lockerem Tempo Zahlen hintereinander
weg, dass man nur staunte; dabei
redete er die ganze Zeit. Er sagte nicht etwa:
„Jetzt kommt eine Drei, dann eine Sieben“,
er brabbelte: „Nun kommt das Ding hier,
jetzt kommt da sowas … und nun machen
wir eine von diesen.“ Dabei schrieb er (bzw.
seine Hand schrieb, sollte ich wohl genauer
sagen) in etwa: vier, acht und zwei – (nur als
Beispiel).
„Hornblower“ (Der Kapitän) wurde während
einer Schiffsreise in Gesellschaft mit einigen
Passagieren erdacht. Spiele an Deck, gemeinsamer
Landgang, Essen mit den anderen, Forester
war damals leicht beschäftigt und gut
unterhalten unterwegs. Er hat seinen neuen
Helden in die Küstenformationen und Meere
hinein erfunden, in denen er selbst gerade
Kreuzfahrt machte. In der Heimat angekommen,
konnte er aufschreiben, was er jeden
Tag an Bord im Geiste durchgespielt hatte.
Als ihm die neue Figur gut vertraut vor dem
inneren Auge stand, nach dem veröffentlichten
ersten Roman „Der Kapitän“, entwickelte
er weitere Episoden mit dem eigenwilligen
Helden. (Es ist mit Gregory Peck verfilmt).
Sein Thema ist der auf sich gestellte Mann.
Im Kapitän auf stürmischen Meer, bedroht
von unvorhersehbaren Feindaktionen, kommunikativ
abgeschnitten und entfernt von
der Admiralität, die ihn mit einer Aufgabe
betraut hat, findet der Schriftsteller das Modell
dieser Idee, die er in immer neuen Geschichten
erzählt. Sein Horatio Hornblower,
der den eigenen Namen als sperrig hasst, ist
in Ausnahmesituationen extrem mutig, empfindet
jedoch würgende Angst dabei. Selbst
hält er sich für feig, nimmt an, dass andere
bedenkenloser durchs Leben gehen. Das ist
ein schöner Mann, der sich steif und linkisch
bewegt. Hornblower ist unfähig, Musik zu begreifen,
ein Ton ist ihm wie der andere, aber er
ist mathematisch brillant und ein guter Kartenspieler.
Es gibt albtraumhafte Beschreibungen
des mörderischen Krieges und große
Liebe! Hornblower findet sich in persönlicher
Gegnerschaft zu Napoleon, dem er zeitlebens
als britischer Kommandant bekämpfen muss
aber nie persönlich trifft. Er hat einen Freund
in Bush, mit dem er viele Reisen zusammen
segelt der aber schlichten Gemüts ist (und
nie seekrank wird). Bush habe einen gusseisernen
Magen, heißt es, und der von der
Mannschaft bewunderte Kapitän Hornblower
verkriecht sich zu jedem Reisebeginn in seine
Kajüte, weil niemand bemerken soll, wie er
sich übergibt. Er möchte zudem
als „der große Schweiger“ gelten
und beißt sich geradezu auf die
Zunge, wenn es um taktische
Kommunikation geht, damit er
intellektuell Sieger bleibt.
Hornblowers Freund (und untergebener
Offizier) Bush beschreibt
Lady Barbara, der von
Forester erfundenen Schwester
von Lord Wellington (den es
wirklich gab) seinen Kapitän,
der es bevorzugt, zum Nachdenken
auf der Luvseite des Achterdecks auf und
ab zu gehen und dabei keinesfalls gestört
werden darf: „Er denkt in einem fort.“ Dann
unterbricht er, seine Offenheit korrigierend:
„Verzeihung Mylady, bei Ihnen ist es natürlich
genauso.“ Hornblower hat eine Angewohnheit,
er macht im Gespräch: „Ha – Hm“, räuspert
sich ohne Not.
Das machte mein Großvater ganz genauso.
Manchmal denke ich dran, wie vertraut es
war.
Forester beschreibt auch eine Marotte, die
einiges über seine eigene Denkweise verrät.
Der Autor erzählt in „Meine Bücher und ich“
davon, in Gesellschaft mit anderen zu essen.
Typischerweise bekommt man eine Suppe,
und es gehört sich, gepflegte Unterhaltung
mit Tischnachbarn zu führen, während
gemeinsam gegessen wird. Der bekannte
Schriftsteller gibt hier zu, dass er, während
die Suppe serviert wird, die Angewohnheit
entwickelt habe, vor Beginn des Essens abzuschätzen,
wie viele Löffel er zum Mund führen
muss bis der Teller leer ist. Alles heimlich,
versteht sich. Der höfliche Engländer lässt
kein Sterbenswörtchen davon verlauten, derweil
halblauter Smalltalk untereinander gepflegt
wird, alle Suppe essen und er im Geiste
mitzählt, wie nahe seine Schätzung dem tatsächlich
ausgelöffelten entspricht.
Forester berichtet, wie eine Erkrankung sein
Leben verändert und er jedes Buch in der
Vorstellung schreibt, das könne sein letztes
sein. Er machte, wenn möglich, keine Aufzeichnungen:
„Das Geschreibsel das dabei
heraus kommen könnte, wenn ein anderer
die Geschichte zu ende bringt“, für den Fall er
während der Arbeit stirbt, ist ihm unerträglich.
Natürlich ist meine Motivation, ein neues
Bild zu beginnen heute anders, als zu Beginn
meiner Arbeit. Das liegt in der Entwicklung
meiner kreativen Persönlichkeit, die unausweichlich
voranschreitet, je länger man dabei
ist. Auf jeden Fall ist ein Künstler immer auch
davon bedroht, seine Motivation generell zu
verlieren. Dazu kann ich nichts sagen, weil es
mir bislang nicht passierte, und zur aktuellen
Motivlage habe ich schon publiziert. An
dieser Stelle fällt mir vor allem ein Moment
ein, der mein Leben grundsätzlich veränderte,
und das möchte ich noch erzählen.
Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 37 [Seite 35 bis 39]
Als es mit der Illustration noch lief, machten
wir einmal mit der ganzen Redaktion einen
Tagesausflug mit dem Reisebus und zwar
nach irgendwo hinter der Oste (aber vor
Bremen). Wir steuerten verschiedene Aktionspunkte
an, tranken Kaffee im Restaurant,
fuhren paarweise rudernd in kleinen Booten
über einen Binnensee und alberten in einer
Art ehemaliger Kiesgrube bei verschiedenen
Rallye-Aufgaben herum. Matze und ich
sägten mit einer Riesensäge eine Scheibe
von einem Baumstamm, und die anderen
mussten es besser machen. Als es dämmerte,
bestiegen wir endgültig wieder den Bus und
nahmen Hamburg, die Heimat, zum Ziel.
Diesmal ergab sich eine andere Sitzordnung,
und da waren Ausflugsteilnehmer, die ich
gar nicht kannte. Ich kam neben einen im
Vergleich zu mir schon älteren freien Mitarbeiter
zu sitzen. Das schien vielversprechend
zu werden, schon beim Einsteigen. Der Mann
hatte Humor. Ich glaube, er war mit einem
bereits leicht angegrauten Schnurrbart bestückt,
wie es seinerzeit nicht mehr modern
war. Der trug wohl eine kurze dunkelbraune
Lederjacke und hatte die vitale Sportlichkeit
eines gestandenen Mannes mit eigenen Ansichten
im „besten“ Alter.
Im Bus dudelte Musik, und mein neuer Nachbar
erklärte eine kategorische Ablehnung
von Country-Music zugunsten von Jazz. Ein
guter Anfang! Er war offenbar Fotograf. Damals
begann der Siegeszug der Digitalfotografie
über den Film. Ich bekam zunächst
eine fachlich qualifizierte Argumentation
für oder gegen die jeweilige Technik. Der
Computer hatte den Alltag bereits erreicht.
Aber E-Mail und mobiles Telefon kamen nur
zögerlich in der Gesellschaft an. Dateien
schickte ich mit dem „Leonardo“, und vorher
rief ich bei Helmut in der Grafik an, dass ich
die Absicht hätte, ihm jetzt zum Beispiel eine
neue Karte mit Törntipps-Mittelmeer zu schicken.
Die wäre für eine Soundso-Geschichte,
sagte ich vielleicht, von diesem oder jenem
Autoren für das aktuelle- oder nächste Heft.
Wir sprachen noch regelmäßig miteinander.
Das machte man so. Und dann schalteten wir
beide diesen grauen Kasten an, und die Datei
ging auf den Weg in die Redaktion.
Das Fotografieren, wir kauften Filme, die waren
von Kodak, Agfa oder modern bunt: Fuji
– und die hatten 36 Bilder oder auch weniger,
das waren bekannte Produkte in bekannten
Verpackungen. Auch wie diese Filme in den
jeweiligen Kameratyp einzulegen waren, was
man beim Zurückspulen vernünftigerweise
zu machen hatte, das wusste man. Das blieb
jahrelang gleich. Das war so wie Schöllerhammerkarton,
den hatte es seit Erfindung
der Erde und des Weltalls und dem ganzen
Rest gegeben und würde es bis an das Ende
aller Tage weiter geben.
Meine berufliche Laufbahn hatte nach dem
Praktikum bei Werner Harders in der Grafik
von Markenfilm ihre Fortsetzung bei Schlotfeldt
in der Hansastraße genommen, und
dort war es Peter Plasberg der mir zur OM-2
verhalf. Die habe ich noch immer. Ich fotografiere
nur nicht mehr. Diese Spiegelreflexkamera
hat gegenüber der Nikon den Vorteil,
dass sie klein und leicht ist. Ich habe nicht so
große Hände. Es ist eine Kunst, eine Kamera
so festzuhalten, dass die Bilder unverwackelt
scharf werden. Ich lernte, so abzudrücken,
dass nur das vorderste Fingerglied den
Auslöser drückt (wie man auch lernen muss,
beim Schießen mit einem Gewehr zügig aber
entspannt über den Druckpunkt durchzuziehen).
Peter brachte mir zudem bei, den Film
behutsam einzulegen. Man muss darauf achten,
dass beim späteren Weitertransport nach
jedem Bild alles klar geht, da man ja nicht
mal eben aufmachen kann und nachsehen.
War der Film voll, spulten wir mit einer kleinen
Kurbel zurück, und da fand Plasberg es
gut, wenn ich mir angewöhnen würde, den
Film exakt so weit in seine Dose zurückzuschrauben,
dass noch einige Zentimeter
rausschauten. Dafür musste man Gefühl entwickeln.
Er war der Auffassung, dass man auf
diese Art dem Labor eine Freude machte, da
die Leute dort einen Anfasser fänden, um den
Film in der Dunkelheit wieder zur Entwicklung
herauszuziehen. Nur „Lieschen Müller“
würde stumpf „bis Ende“ in die Dose spulen,
der professionelle Fotograf müsse immer
mitdenken. Ich habe aber von anderer Seite
gehört: „Die schlachten die Dose sowieso,
das ist ganz egal.“ Ich kannte mich allmählich
aus. Nicht nur in der Fotografie. Eine Zeitlang
änderte sich kaum etwas, so ist es mir immer
vorgekommen.
Dann kam eine unerwartete Dynamik in die
Welt. Alle machten Airbrush. Einen Kompressor,
wie mein späterer Arbeitgeber, Lehrer und
Freund Uwe Jarchow sich seinen aus Lkwund
ähnlichem Zubehör selbst zusammengebastelt
hatte, mit eigens dafür zusammen gelöteten
Geschläuch, für teilweise im Ausland
langwierig zu bestellende Spezialpistolen,
gab es nun an jeder Ecke serienmäßig. Farbkopierer
wurden Standard. Man konnte die
Kopien locker bezahlen, und überall gab es
neuerdings entsprechende „Copy“-Shops. Die
englische Sprache mussten wir können. Man
sagte: „shit“ statt: „So’n Schiet!“ (oder Chance
statt Schanx und mehr davon). Fotoläden
schossen wie Pilze aus dem Boden. Es wurde
direkt im Laden entwickelt, und du konntest
deine Bilder nach nur einer Stunde schon bekommen!
Filmentwicklung hatte so etwa eine Woche
mindestens gedauert, Agfa und Kodak waren
allein zuständig, bis Porst „mit der runden
Ecke“ auftauchte, und die Sofortbildkamera
gab es bald auch. Viele lernten schwarz-weiß
Bilder selbst zu entwickeln, einige hatten ein
kleines Farblabor im Keller, ich konnte das!
Dann kam der Boom, wie oben beschrieben
– der Siegeszug der Compact Disk und vieles
mehr – und bald darauf verschwand der ganze
Zauber schneller, als er aufgetaucht war.
Dann wurde noch einmal alles ganz anders.
Es wurde so, wie es jetzt immer ist.
Im Bus: Mein Sitznachbar erzählte von seiner
Arbeit als Fotograf, und nun kam Leben
in unser Gespräch. Ich wollte auch was zum
Besten geben, fing an, eine Porträtfotografie
zu loben. Ich erinnerte mich: vor kurzem
wäre doch Erdmann auf Doppelseite im Heft
gewesen. Ich war einigermaßen im Thema,
hatte eine Karte beigesteuert. Wilfried
Erdmann stand kurz vor seiner „Gegen-den-
Wind-Reise“, wollte ganz allein an Bord um
die Welt segeln. Das Schiff ohne Hilfs-Motor
(da bin ich mir nicht sicher), der Trip geplant,
ohne je wo anzulegen. Alles, auch das Essen
für die lange Weltreise, musste von Beginn an
Bord komplett dabei sein. Um es noch extremer
auszugestalten, war die Reise „verkehrt
herum“ geplant. Statt so zu segeln, dass wie
üblich gute Winde mitschieben, Schlechtwetterzonen
und Jahreszeiten mit bekannten
Unwettern vermieden würden, den Kurs etwa
durch den Panama-Kanal abzukürzen, statt
um Kap Horn zu gehen (wie die Kochs es gemacht
hatten), wollte Erdmann alle Schikane
(und sich selbst) auf einmal bezwingen.
Allein.
In der Redaktion hatte er eine Weltkarte mit
der geplanten Route hinterlassen, das war
die Vorlage für mich. Meine Aufgabe bestand
darin, sie einzuscannen und eine Infografik
daraus zu kreieren. Mit grünem Filzstift hatte
er vorgemalt, wo es längs gehen sollte.
Und es ist möglich, dass diese Fotokopie mit
der von seiner Hand eingemalten Linie hier
noch irgendwo bei mir in einer Mappe mit
alten Arbeiten liegt. Ein Erdmann im Keller
ist eventuell mehr wert als ein Bassiner an
der Wand? Vielleicht sollte ich danach suchen,
ein Bankschließfach anmieten, besser
ist das.
Der kommende Held war vor Abfahrt an Bord
fotografiert worden. Er saß in seiner Kajüte,
dem zukünftigen Zuhause für lange, gefährliche
und einsame Zeit. Er entwickelte die
Reise in der Vorstellung, exklusiv für die staunenden
Reporter vom allergrößten Segelmagazin
Europas. Den Blick hatte der Extreme
vergeistigt in die Ferne gerichtet, die nur er
schon so sehen konnte, im Halbdunkel seiner
Erdmannhöhle. Mann in der Tonne. (Kathena
ist aus Alu).
Und das hatte einer fotografiert. So gut, dass
es eine Doppelseite mitten im Heft wurde.
Das Gesicht des Abenteurers in Lebensgröße,
der Blick männlich klug und ernst. Er schaut
besser, als von jedem nur denkbaren Schauspieler
darstellbar, sinniger als jeder Cameloder
Marlboromann; und du konntest jeden
Bartstoppel oder Sonnenfleck gestochen
scharf sehen, ein feiner Reflex im glänzenden
Auge. Das war eine fotografische Meisterleistung
der Porträtkunst. Der Fotograf hatte
keinen Blitz verwendet, um sich gegen das
tückische Halbdunkel zu helfen. Hier hatte
einer auf das unmöglichste Filmmaterial mit
dem feinsten Korn und der besten schwarzweiß
Zeichnung vertraut. Hatte in Kauf genommen,
deswegen extra lang belichten zu
müssen – und ganz ruhig hin gehalten und
dann abgedrückt. Dieser Moment! Das hatte
ich gesehen, und wollte erzählen, wie geil
dieses Foto war, wollte mich als Kenner der
Materie beim älteren Nachbarn beliebt machen;
und da sitzt ein echter Heinz Teufel neben
mir! Der war das nämlich, und ich kannte
den gar nicht.
Ein wirklicher Künstler.
Nun redeten und redeten wir, es wurde dunkel,
und der Bus fuhr in Richtung Hamburg.
Und wir hörten Country dabei. Das war dann
egal. Schließlich kam es zu einer Sonderrunde
durch den Freihafen. Wir überquerten
den Köhlbrand auf der schönen Brücke, keine
Ahnung, warum es nötig war. Die Fahrt sollte
wohl in der Nähe vom Hauptbahnhof enden,
und dem Busfahrer gefiel die Route. Es war
inzwischen Nacht geworden, später Abend,
und alle Lichter des emsigen Hafenbetriebs
funkelten, wie extra für uns zum Abschluss
des Ausflugs angeschaltet. Ein alltägliches
Feuerwerk der Ästhetik krönte unsern lustig
kollektiven Kurzurlaub für einen Tag. Die fleißigen
Krane rotierten in unermüdlicher Ladearbeit,
beleuchtete Schubverbände waren
ruhelos im Kanal unter uns unterwegs. Aus
der Höhe gesehen kleine Lastwagen (wie Wi-
Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 38 [Seite 35 bis 39]
king Autos) schlichen da rum, mit Containern
beladen, das bunteste, geschäftigste Gewusel
draußen, während wir über den mutig geschwungenen
Himmelsbogen der schönen
Brücke sausten. In unermüdlicher Bewegung
rauschte alles in seine jeweilige Richtung.
Entgegenkommende weiße Augen der anderen
Autos links, rote Lichter der Fahrzeuge
vor uns, in langer Kette. Die dunklen Haltetrossen,
an der Seite ins Nichts der Nacht verschwindend,
sind noch über uns fluchtend in
den Himmel gemalt, wie sie dabei diese ganze
großartig filigrane Konstruktion tragen.
Ein unvergesslicher Fahrtrausch. Wir fliegen
durch die bunte Hafennacht.
Warum weiß ich das noch?
Das war dieser Heinz Teufel. Wir hatten, inzwischen
müde vom Reden, in Gedanken eigenen
Welten nachhängend, dösend im Bus
gesessen, als diese brillante Szene das bisher
eher konturlose Dunkel ablöste. Da schaut
dieser Teufel an mir vorbei in die Nacht und
sagt leise, fast zu sich selbst: „Das sind ja alles
noch Bilder. Die müssen ja alle noch fotografiert
werden.“ Das war wie ein Auftrag
vor Gott, vor der Welt – eine Verpflichtung für
jemanden, der es hinbekommen kann. Unerledigte
Pflichten.
Das hat mich dann nicht mehr los gelassen.
:)
Schenefeld, Anfang November 2019 – heute
beim Arzt. Diagnose: Mein Meniskus innen
rechtes Knie ist möglicherweise abgerissen,
Operation wahrscheinlich. Es tut beschissen
weh, aber das macht nix.
Es gibt ja immer zu tun.
Nov 9, 2019 - Motivation, von Oelke bis Teufel 39 [Seite 35 bis 39]
Ankern oder auf der Tonne
Dez 15, 2019
Zu Beginn dieser Elbe- und Segelgeschichte
kommen mir die Schulzes in den Sinn. Schulze
und Schultze, der eine mit „t“ – der andere
ohne. Die Detektive aus „Tim und Struppi“,
Reise zum Mond: Ich denke an den Moment,
wo sich beide fest aneinander klammern. Jeder
hält sich am andren fest – aber eben nur
Mensch an Mensch – und nicht an der Rakete,
wie es nötig gewesen wäre.
Das versteht nur, wer das Heft kennt. Anders,
als es mit der Saturn V wirklich war, erzählt
Hergé die Geschichte vom Mondflug auf seine
Art. Der Professor Bienlein erfindet die
passende Atomrakete und Tim, der weiße
Hund und viele Figuren der bekannten Geschichten,
fliegen zum Mond. An Bord gibt
es viel Platz und künstliche Schwerkraft. Der
Raketenmotor selbst erzeugt Bodenhaftung.
Bienlein erklärt seine Physik: Der Antrieb
muss ständig in Betrieb sein,
damit das funktioniert. Etwa, als
würden wir auf eine Autobahn
einbiegen und Gas geben, um
im rasenden Verkehr mithalten
zu können und dabei fest in den
Sitz gedrückt.
An Bord ist es komfortabel. Kein
Vergleich mit der sardinenengen
Apollo-Kapsel. Die Reisenden
bewegen sich vertikal
in einem mächtigen Turm, der
am unteren Ende von einem
Reaktor angetrieben wird. Eine
große Düse zwischen den drei
Standbeinen für die Landung auf dem Mond
erzeugt einen breiten Feuerstrahl. Dafür wird
die Rakete bei der Ankunft am Erdtrabanten
umgedreht. Die Raumfahrer wenden und lassen
sich, gebremst vom Düsenstrahl, auf den
Mond sacken, bis die Rakete schließlich in
einem Krater aufsetzt. Auf dem Flug dahin
passiert einiges. Wie für eine Puppenstube,
hat Hergé eine kleine Architektur erfunden
und perfekt gezeichnet. Übereinander angeordnete
Ebenen sind durch Leitern und
runde Verschlussdeckel im jeweiligen Boden
verbunden. Die Kammern dienen verschiedenen
Aufgaben. Vom Maschinen- über einen
Schlafraum bis zur Kommandozentrale ist alles
durchdacht strukturiert, als wäre das ein
Schiff. Oder wie Zimmer in einem rot-weißen
Leuchtturm: Das ist die Mondrakete.
Als einige Male unerwartet der Antrieb
ausfällt, fliegen alle schwerelos herum.
Der Whisky von Kapitän Haddock schwebt
als orange Kugel aus dem Glas! Haddock
und seine schweren Schuhe mit den Magnetsohlen,
Ingenieur Wolff, ein Mitarbeiter
von Bienlein, der Professor selbst und die
Schulzes, ein Spazierstock; alles taumelt im
geräumigen Kommandoraum der Mondrakete
herum. Schließlich erreicht Tim einen
Steuerhebel, kann den Motor erneut starten:
„Achtung, Festhalten!“, ruft noch jemand, weil
die Schwerkraft wieder einsetzt. Die Reisenden
erlangen ihr Körpergewicht zurück, und
der Flug wird fortgesetzt. Nur die Schulzes
stürzen ab: „Eigenartig, wir hielten uns doch
ganz fest!“
„Ja, aber woran?“, fragt Wolff die verbeulten
und verdutzten Detektive.
(Sie hatten sich brüderlich umklammert).
Das hier ist keine Mondgeschichte.
Vielleicht tue ich mich schwer, da
ich eine Dummheit erzählen möchte.
Eine eigene. Da muss ich mich erst
warm schreiben. Noch ein weiterer
Umweg, bitte: Joseph Conrad schrieb
in seinen Romanen kunstvoll konstruierte
Sätze in englischer Sprache.
Er arbeitete gründlich am jeweiligen
Buch. Schreibend konnte er sich elegant
ausdrücken. Nicht so im Alltag: Er sprach mit
stark polnischem Akzent. Die mit ihm zur See
gefahrenen Kameraden und Offiziere an Bord
berichteten, er sei oft kaum zu verstehen
gewesen. Wenn er Zeit zum Überlegen hatte,
gelangen ihm die wunderbarsten Worte.
Er schrieb sehr langsam. Es dauerte, bis ein
Buch von ihm fertig wurde. In „Spiegel der
See“ ist ein Kapitel über Schönheit, Sinn und
Zweck der Seemannssprache. Genau und zuverlässig
sollten Conrads Worte sein, warum,
das hatte er auf See erfahren.
In alter Tradition ist es eine Berufssprache.
Sie ist aus handwerklichen Notwendigkeiten
und Gefahren an Bord entstanden, dient der
Sicherheit und Schnelligkeit in schwerem
Wetter. Kein Gerede welches gleich „dem
Tratsch gelangweilter Landratten“ mal so
oder nach Belieben verwendet werden darf!
Eine Berufssprache? Mein Zeitung lesender
Vater, gelernter Maschinenschlosser, ärgerte
sich jedesmal, wenn nach einem Autounfall
der Verletzte „heraus geschweißt“ wird. Was
ist falsch daran?
Joseph Conrad wendet sich gegen die Unsitte
der Journalisten, den „Anker zu werfen“. Das
Schiff „warf“ Anker – ein Unding für Conrad.
Warum schriebe man nicht einfach: „Die Flotte
ankerte vor der Küste“, oder: „Matrosen
bargen die Segel – das Schiff ging vor Anker.“
Nein, immer würde mit diesem so wichtig
schweren und unentbehrlichen Schiffshalter
in Not- und Alltag „herumgeworfen“. Zudem
bekämen Landratten den Eindruck, es mit
einem fachmännischen Ausdruck zu tun zu
haben. „Let go!“ oder in schönem Seemannsdeutsch:
„Fallen Anker“, muss das Kommando
an Bord heißen.
Mein Vater erklärte: Schweißen verbindet.
„Schneiden“ macht frei; (Schneidbrenner).
Wir hatten ein kleines Boot. Eine offene Jolle
aus Holz, mit der auch Regatten gesegelt
wurden. Die Elb-H-Jolle bildet hier bei uns
eine bekannte Klasse, wie etwa der Pirat oder
das Folkeboot. Damit fuhren meine Eltern
Urlaube in die Ostsee und als ich geboren
war, Badeausflüge an den Sand gegenüber
von Schulau. Danach segelten wir ein etwas
größeres Schiff, einen eisernen Jollenkreuzer,
weil meine Schwester dazu gekommen war
und schließlich den Delphin (aus Kunststoff),
einen Kielschwerter. Als richtige Yacht war er
noch ein wenig komfortabler; alle Boote hießen
„Globetrotter“. Als ich ungefähr fünfzehn
Jahre alt war, begann ich bei einem Freund
mitzusegeln. Nach den vielen Jahren mit unseren
Eltern, glaubten wir es allein mit der
Elbe aufnehmen zu können. Das Boot meines
neuen Kapitäns: Ich kannte die Jolle bereits
aus Kindertagen. Bernd hatte die 561 von einem
Freund der Eltern gerade gekauft. Hier
kennt jeder jeden. Nur durch segeln selbst
lernt man gute Seemannschaft, nicht durch
die Teilnahme an einem Kurs und den Abschluss
einer Prüfung, so wichtig das sein
mag.
Später habe ich die 331 „zurück in die Familie“
gekauft. Die Elbe ist anspruchsvoll. Nun
konnte ich eigene Fehler machen! Erfahrungsbericht
der anderen: „Jetzt ist John gegen
die Tonne gefahren“, sagt die Mannschaft
zu Steuermann Piet (der vor zehn Minuten
selbst eine große, rote Fahrwassertonne abgerammt
hat)! Und mit Petroleum der Bordlampe
und einem Lappen (weitersegelnd) die
Schiffsseite reinigt. Piet zu Kocki: „Nun hängt
er mit den Reffleinen an der Tonne fest!“
„Nein!“ „Doch – Wahnsinn, jetzt klettert er auf
die Tonne!“
Ja, das war schon bitter. Vor allem, als ich
dann, auf der Tonne stehend, mein Boot an
den Reffleinen des Großbaums festhielt, das
mit prallen Segeln im kräftigen Ebbstrom
gurgelte. Jetzt war der Abstand von mir (auf
der Tonne) bis zum Achterdeck nicht eben
klein. Reffleinen am schwingenden Großbaum
sind nicht gerade die typische Art, ein
Boot zu halten. Ein feiner Satz, den ich dann
noch machen musste. Aber wenigstens das
gelang, an diesem Frühlings-Sonnabend, an
dem wir Helden der Unterelbe das Segeln
erst wieder neu erfinden mussten. Auch mein
lieber Peter (Piet), der gleich seinem Vater
jede Welle duzt – (schreibt: Die Yacht!).
Wir fanden es attraktiv, diese Boote zu segeln,
mit denen schon unsere Eltern so glücklich
waren. Die H-Jolle ist in harten Wettkämpfen
ein anspruchsvolles Sportgerät. Sie ist ein
Zuhause und ein Abenteuerboot auf langen
Reisen ohne Motor. Nicht nur, dass wir jedes
Wochenende unterwegs waren, auch die
Sommer während des Studiums und noch
viele weitere Jahre danach, war ich in den
Ferien wochenlang in Dänemark auf Tour. Im
Laufe dieser Zeit lernten wir geschickt das
Wetter und die speziellen Feinheiten dieser
Schiffe zu nutzen und begriffen allmählich,
unsere Fehler von denen zu unterscheiden,
die Leute machen, die keine Ahnung haben.
Wahrscheinlich haben wir während langer
Dez 15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne 40 [Seite 40 bis 41]
Jahre einfach zu viele Dummheiten gemacht.
Zu wissen, worin genau ein Fehler besteht, ist
der Unterschied der den Profi vom Amateur
unterscheidet.
Schon damals, als Bernd und ich anfingen,
machten wir Mist. (Auch: Wir krachten im Regattaeifer
auf die Steine eines Stacks). Vielleicht
erklären die zahlreichen Blödheiten
unseren überheblichen Humor, den wir gern
zum Besten geben, wenn ein ungeübter Skipper
seine Frau mit Worten traktiert, die verloren
am Bug eines Mega-Kreuzers Dummheiten
ausbaden muss: „Er“ rauscht (mit der
potenzierten Kraft seines Motor-Gashebels)
in den Hafen, „sie“ steht mit einem Plastikfender
hilflos am Steven, ratlos. Unmittelbar
Betroffene auf den anderen längsseits im
Päckchen festgemachten Schiffen beginnen
hektisch zu werden …
Eine Extra-Dummheit zum Schluss, allein
meine, leider. Jetzt kommt die Geschichte.
Das Leben. Ich fange jetzt wirklich an: Während
der Pause zwischen den Wettfahrten vor
Blankenese schossen wir mit unseren Jollen
im frischen Westwind herum, aßen mitgenommene
Brote und versuchten, „trocken“ zu
segeln. Ein böse blauschwarzes Gewitter zog
auf. Mein Kapitän beschloss, angesichts des
feinen Böenkragens, der nun immer besser
herauskam, die kommende Regatta sausen
zu lassen. Wir wollten das alles vor Anker
abwettern. Eine gute Idee, finde ich bis heute.
Über der Wand stand ein schnee-weißer
Amboss. Und unten, über Schweinesand und
den niedrigen Büschen dort, auch südlicher,
über dem Este-Sperrwerk, war nichts helles
– überhaupt nicht. Das dunkle Blauschwarz
reichte ganz runter bis auf die Kimm. Mutmaßlich
kein Entrinnen vor einer starken Bö!
mein Gewicht an Deck der schmalen Jolle,
haute das Boot noch fester in das aufgewühlte
Kabbelwasser des Mühlenberger-Lochs.
Eine Ladung Wasser nach der andren klatschte
mir in den Oelzeugkragen. Ehrgeizig warf
ich, schmiss – ja schleuderte! ich, Conrads
Worten und dem Wetter trotzend, unseren
kleinen Eisendraggen in die schaumig verwehten
Wellen vor Blankenese.
Es gab kein Kommando „Let go!“ oder so. Nur
den brüllenden Kapitän: „Mach auch am Mast
fest, mach das Ende fest!“ Die Fock knatterte
laut schlagend über mir, da
Bernd gute Höhe steuerte, um
Neigung nach Lee zu vermeiden.
Ein umsichtiger Kapitän
– ja! Sonst wär’ ich gleich bestimmt
schon Backbord abgeglitten.
Nein, es lässt sich nicht
leugnen, trotz Knatterfock, ich
hörte sein wiederholtes Mahnen:
„Mach das Ende am Mast
fest!“ er brüllte so heiser und
so oft – das kann man nicht
vergessen.
Auch nicht vergesse ich, wie
mir Stück für Stück die Leine
durch die Finger geht! Die Bö setzt ein, ich
liege da auf meinem Bauch, nur knapp über
dem Wasser. Blicke voraus in jede Welle,
klatsch, klatsch – und dann gleiten mir die
letzten Zentimeter durch die Hände, weit
ausgestreckt, über den Bug hinaus, sind wohl
meine Arme.
Text für Emily, 2012
Und es wehte ohnehin fest aus Nordwest.
Fieberhaft, während das Boot im frischen
Wind in jede Welle stob, Gischt mich eindeckte,
knotete ich unsre lange Leine an den
grauen Klappdraggen. Dann faltete ich den
Anker klar, steckte den kleinen Splint zur
Sicherung in die Bohrung und kontrollierte
meinen schönen Palstek. Ein feiner Knoten.
Bis in die heutigen Tage, seit beinahe vierzig
Jahren nun, wird er halten, bestimmt.
Wo immer auch diese beiden treuen Kameraden
der „Lütt Seemann“, Anker und Leine,
noch herummodern, dieser Knoten gibt nicht
nach, todsicher – und ich habe ihn selbst gemacht!
Es war das andere Ende, wo es zu Versäumnissen
kam.
Bäuchlings robbte ich, überkommenden Wellen
trotzend, mit dem Anker in der Hand, auf
unsrem kleinen dreieckigen Vorschiff zur
Spitze nach ganz da vorn. Durch mich und
Dez 15, 2019 - Ankern oder auf der Tonne 41 [Seite 40 bis 41]
Es fühlt sich gut an
Dez 19, 2019
Symmetrie sei die Kunst der Primitiven, sagt
man das noch? Vielleicht hat sich schon eine
Organisation gebildet, die das Wort als herabwürdigend
brandmarkt. In vielen Kursen bei
Ruths habe ich seine Ästhetik verinnerlicht.
Otto war Maler, die Komposition sein liebstes
Thema. Auch beim Zeichnen. „Wenn ich das
hier zu halte“, meinte er, wenn er anschaulich
machen wollte, wieviel besser unser Bild sein
könnte. Die Armgartstraße, Fachhochschule
für Gestaltung in Hamburg. Unser alter Professor
deckte den Bereich mit der Hand oder
Papier ab, sagte: „So nimmt das Gehirn des
Betrachters an, dass es hier wie dort ist. Wir
können uns vorstellen, wie die Zeichnung
ohne diese Stelle wäre.“
In die Mitte vom Blatt durften wir nichts wichtiges
zeichnen. „Dahin schaut man sowieso“,
fand Otto. Im Prinzip vom „Goldenen Schnitt“
hatte mir schon Gerd Kröger, Zeichenlehrer
an der Realschule in Wedel, Grundsätzliches
beigebracht. (Ohne Kröger wäre mein Leben
vollends misslungen, da bin ich mir ganz sicher).
Die Arbeit von Moshe Feldenkrais zeigt,
dass die Symmetrie auch ihre guten Seiten
hat. Das ist ein Training, sich selbst besser zu
verwenden. Da geht es nicht um Kunst. „Auswuchten“,
stand früher auf Plakaten mancher
Autowerkstatt, und man wusste was gemeint
ist. Der Mensch bewegt sich fließender, wenn
er das linke- wie rechte Bein auf den Gehweg
setzt; aber viele sind sich gar nicht bewusst,
dass sie eigentlich humpeln.
Mehr noch als eine Bewegungslehre, ist
„Feldenkrais“ eine Denkschule. Jede Zeit
entwickelt ihre eigenen Worte, die Bausteine
unseres Denkens. Gesundheit bedeutet,
mit ihnen spielen zu können, nicht selbst
zum Spielball der intellektuellen Realität zu
werden. Die Primitiven heißen heute Indigene,
jedenfalls wenn wir korrekt reden: einen
„Schoko“- kuss verspeisen. „Ich soll Afrikaner
oder Schwarzer zu dir sagen?“, frage ich Siaquiyah
– aber er lacht nur und hält seinen
bloßen Arm parallel zu meinem schwarzen
Hemdärmel. „Ist nicht schwarz“, sagt mein
Freund, „ist braun!“ Dann lachen wir. Die
Deutsche Bahn fühlt sich angegriffen, als
Greta Thunberg im überfüllten Zug vom Boden
sitzend postet und kontert, die Aktivistin
hätte „von-bis“ einen Sitzplatz gehabt. In der
folgenden Debatte ruft dies den Datenschutz
auf den Plan (der sich auch noch profilieren
will) die Bahn hätte Reisedaten öffentlich
gemacht? Das Land der Ankläger. Gut ist anders.
„Das starke Selbst“ heißt ein Buch von
Feldenkrais, und es wurde erst nach dem Tod
des Autors veröffentlicht. Darin geht es um
Grundsätzliches. Moshe stellt seine Methode
vor, und „Body and Mature Behavior“ entspricht
dem Manuskript des anderen Buches
in vielem. Feldenkrais hat sein Hauptwerk
zweimal aufgeschrieben und nur eine Fassung
veröffentlicht. Er liebte die Alternative.
Auswählen können, ist Freiheit. Moshe hatte
sein beschädigtes Knie, aber er hatte den
Schaden auf einer Seite und nicht am selben
Tag schon beide Beine kaputt. Das brachte ihn
schließlich auf die Idee, aus seinen Schmerzen
klug zu werden. Er ging die Blessur mit
dem Verstand des Wissenschaftlers an, aber
anders als ein Arzt. Er beschreibt, wie er mit
dem schlechten Bein nach Hause humpelte,
auf einem Ölflecken ausrutschte. Das gab
dem guten Bein, das ja ohnehin schon schwer
arbeiten musste, weil das andere zu einer Art
Hilfsbein degradiert war, den Rest. Mit zwei
geschwollenen Knien kroch der Physiker ins
Bett, zu keiner weiteren Tätigkeit fähig und
froh, die Wohnung überhaupt erreicht zu haben.
Im Buch wird dann erzählt, wie die Sache
weiter ging.
Mir ist gerade
in den letzten
Wochen klar
geworden, wie
genial Moshe
Feldenkrais seinerzeit
dachte,
Schlüsse gezogen
hat; ich
habe einen lädierten
Meniskus
rechts, und
das ist neu für
mich. Das MRT
brachte zu Tage:
„Das haben Sie
wohl schon länger“,
meinte der Arzt. Zusätzlich zum beschädigten
Bereich war gekommen, dass ich den
Meniskus „eingeklemmt“ hatte. „Es ist schon
viel besser geworden“, sagte ich optimistisch,
weil ich nach einigen Tagen kaum Schmerzen
hatte, aber der Arzt entgegnete: „Ein rothaariges
Mädchen, Bassiner. Sie drehen den
Kopf nach ihr um – eine spontane Bewegung
– und dann haben Sie es wieder.“
Nun laufe ich behutsam, vermeide es, die
Rothaarigen anzusehen – und es geht; mal
gut, mal nicht so gut. Manche Tage bin ich
humpelnd unterwegs. An guten Tagen sieht
man es mir kaum an, dass ich ein schlechtes
Bein habe – ein Hilfsbein. Das andere macht
die Arbeit, und wem ich es erzähle: ich werde
gewarnt, es würde nicht gut enden, weil ich
einseitig belaste. Es stimmt schon, das Aua-
Bein ist steif. Ich stehe auf dem anderen. Das
schlechte Bein, ich kann es nicht ganz durchdrücken,
wie früher. Die Wade hält immer etwas
Spannung, damit mir das Bein gerade zu
machen kaum möglich ist. Meine Wade ist ja
nicht beschädigt. Sie hält nur die Wacht. Man
kann nie wissen, ob eine rotharige Studentin
drüben (ganz weit weg) erkennbar ist. Zum
Schneidersitz oder für eine Hocke knicken,
kann ich das Bein ebenfalls nicht.
Ein Nachbar hat auch Probleme. Seine Frau
hat mir erzählt, er bekäme nun Spritzen. Damit
er nicht mehr so abbeldwatsch ginge,
hätte der Arzt gesagt. Das ist ein Wort, wie
ich es aus der Kindheit kenne. Das wurde
noch nicht verboten. Ich habe eine Erfahrung
gemacht: Wenn ich aus dem Haus gehe,
benötige ich ein wenig Strecke, so etwa bis
zum „Lindos“ – und dann gehe ich ganz gut.
Dasselbe beim Busfahren. Ich nehme einen
Sitzplatz, bei dem ich das Bein nicht so stark
beugen muss. Ich steige aus, indem ich mich
am Handlauf der Tür festhalte wie eine Oma
(korrekt: Seniorin), und dann brauche ich einige
Meter und gehe schließlich gar nicht so
schlecht. Es tut nicht weh, und ich muss nicht
humpeln. An guten Tagen jedenfalls. „Man
kann das operieren“, hat der Arzt gemeint.
„Die Hälfte der Operierten sagt aber, es sei
nicht besser, als vor der Operation“, gestand
er mir anschließend. „Dann warte ich ab“,
habe ich gesagt, und ich kenne nun schon einige
Namen von Fachleuten, die die OP ganz
gut machen können.
Meine neue Erfahrung ist beeindruckend. Ich
versuche zu beschreiben. Ich gehe also los,
und dann humpel’ ich erst einmal. Ich könnte
nun so weiter machen, aber ich habe nachgedacht.
Wenn ich bis zum Griechen gekommen
bin, hatte ich genügend Zeit dafür, um es hinzubekommen.
Ich gehe dann so, wie ich gehen
muss, damit
es nicht weh tut
und ich nicht abbeldwatsch
gehe.
Ich glaube, es
ist etwa so: Zunächst
wird gehumpelt,
weil ich
wohl annehme,
wenn ich wie immer
ginge, würde
es zu Schmerzen
führen. Das ist
vermutlich der
Grund für’s Humpeln.
Schmerzen
sollen vorausschauend
vermieden
werden.
Ein komischer Gang schont das beschädigte
Bein. Das heißt im Klartext, zwei Arten zu gehen
stehen mir zur Verfügung, und ich wähle
anstelle der gewohnten Methode die mutmaßlich
weh tun würde, den abbeldwatschen
Humpelgang.
Übertriebene Schonhaltung, jeder sieht, was
für ein behinderter Krüppel ich bin. Das geht
gar nicht: Ich habe einmal bei der Hängung
gesagt, ein Bild müsste an einen anderen
Platz, denn so sähe das doch „behindert“ aus.
Eine der Frauen dabei (die bei den Mahlzeiten
nicht bemerkt, wann sie genügend Nahrung
zu sich genommen hat, um ihre Ernährung sicherzustellen
und dann offensichtlich weiter
Lebensmittel in sich hinein stopft) hat mich
sofort zurecht gewiesen, das dürfe man nicht
sagen! Sie sei in der Hilfe für Menschen mit
Handikap aktiv und herabwürdigende Äusserungen
gehörten sich einfach nicht. Bessere
Menschen drängen, schauen hin, passen auf.
(Noch nicht einmal ignorieren hilft in so einem
Fall angeblich).
Ich habe nun eine dritte Methode gefunden
zu gehen. Ich kann humpeln. Ich kann nicht
mehr so gehen wie früher, mein gewohnter
Gang wird irgendwie im System-John
unterbunden; aber ich kann ganz hübsch
schmerzfrei gehen ohne zu humpeln. Ich
muss zunächst auf die Hüfte rechts achten.
Dort müssen neue Bewegungen sein, die es
an dieser Stelle bisher nicht gab. Ich wusste
nicht, dass diese Hüfte so dusselig steif
ist! Ich habe nie darauf geachtet. Nun gehe
ich auf die neue Art schon gar nicht mal so
schlecht. Nicht so schnell, aber es fühlt sich
gut an.
Schaun’ wir mal, denke ich: Nach vorn. (Zurück
darf kein Seemann schaun! – Hans Albers).
Und ich meide die Rothaarigen.
:)
Dez 19, 2019 - Es fühlt sich gut an 42 [Seite 42 bis 42]
Die Angst ist ein Tiger
Dez 23, 2019
Als ich Kind war, Jugendlicher und junger Erwachsener,
spielten Dinge in meinem Leben
keine Rolle, die heute Themen für alle (und
damals nicht weniger wichtig für die Gesellschaft
gewesen) sind; an mir ging ganz viel
vorbei. Mir selbst und meiner Umgebung gelang
auszublenden, was heute unübersehbar
ist. Gefühle, Zwischenmenschliches, Sex: Es
wird beklagt, dass junge Menschen zu früh
mit Sexualität konfrontiert würden, und dass
im Internet ein Zerrbild der Realität vermittelt
würde. Ich glaube das nicht.
Der Spiegel schreibt, Zitat: Die
„Umpolung“ von Homosexuellen
soll künftig verboten werden. (…).
Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister:
„Homosexualität ist
keine Krankheit“ (…) „Wir haben
das Verbot noch schärfer gefasst“,
sagte Spahn (…) „Vorher gab es Ausnahmen
für Heranwachsende. Das
wurde gestrichen, denn gerade in
dieser Altersphase finden die meisten
Therapieversuche statt. Daher
wird auch bei 16- bis 18-Jährigen
die Konversionstherapie künftig
verboten.“ (…) Mit Konversionstherapien
sind Methoden gemeint, die
das Ziel haben, Homosexualität zu
„heilen“. Gesundheitsminister Spahn sagte,
mit dem Gesetzesentwurf werde ein gesellschaftliches
Zeichen an alle gesetzt, die mit
ihrer sexuellen Orientierung haderten: „Außerdem
(…) ist (…) Konversionstherapie eine
Gefahr für die Betroffenen. Dadurch entsteht
oft schweres körperliches und seelisches
Leid.“ Jeder Arzt, jede Ärztin, der oder die diese
Therapie anbiete, müsse sich den Vorwurf
der Körperverletzung gefallen lassen.
DPA/Fabian Sommer/Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister:
„Homosexualität ist
keine Krankheit“/Dienstag, 17.12.2019 SPIE-
GEL ONLINE, Politik –
Zitat Ende.
Diese Nachricht hat mich gefreut. (Mir könnte
man die Liebe zum Jazz nicht nehmen. Wenn
ich gezwungen wäre, die Musik von „Heino“
ausschließlich zu hören, weil es die richtige
sei? Ich glaube kaum, dass eine Therapie das
schaffen könnte). Hier spricht sich ein handlungsfähiger
Minister gegen pseudo-wissenschaftlichen
Unfug aus. Das gefällt mir.
Zu meiner Jugend waren Krankenhäuser
staatliche Einrichtungen, und das Telefon
bekamen wir von der Post. Es gab die drei
Schulwege: Hauptschule, Mittel- oder Realschule
und das Gymnasium – es wurde noch
oft Oberschule genannt. Und einige sagten:
„Doofenschule“, wenn von der Hauptschule
die Rede war. Wir kannten drei Fernsehsender,
anfangs ohne Farbe. Dann wurde die Welt
bunter, nicht allen hat es gepasst. Auch in der
Medizin hat das Leistungsprinzip Einzug gehalten.
Es gibt Krankenhäuser, die nur Mainstream-Medizin
anbieten. Mit einer untypischen
Erkrankung ist man nicht willkommen.
Die Ausrichtung am wirtschaftlichen Aspekt
wird auch kritisch gesehen. Wenn Konkurrenz
die Basis ist, gewinnt das stärkere Interesse.
Der Wettbewerb schuf eine umfangreiche
Kommunikationswelt; wer möchte zurück
zur guten alten Post? Es gibt kein Zurück.
Fernsehen wird in vielen Formaten gesendet,
zusätzlich die Streaming-Angebote im
Netz. Info, Unterhaltung, Buchung und Kauf,
Porno und Wissenschaft, Musik – immer neue
Geschäftsideen probieren sich aus. Internet:
rund um die Uhr, weltweit verfügbar. Das moderne
Leben. Wir folgen Stars oder lehnen sie
ab und schreiben Kommentare. Jemand verdient
daran, dass wir die Ströme nutzen.
Die Grünen kritisieren, wie kurzlebig die moderne
Technik ist? Ein wirtschaftlicher Schaden
wird von ihren Ökonomen errechnet,
weil die Waschmaschine von heute kurz nach
der Garantiezeit kaputt geht. Aber unser unverwüstliches
Telefon von damals, wollen sie
nicht smart dabeihaben. Zu unhandlich, das
mit dem Kabel. Niemand möchte einen Funkmast
auf dem Dach. Unser Denken ist nicht
logisch – aber was der Mensch nicht gebrauchen
kann, wird er durch etwas ersetzen, das
besser in die Zeit passt. Wir sind dekadent
aber effizient. Niemand kann ein Geschäft
mit etwas machen das nicht in die Welt passt
oder an falscher Stelle umständlich produziert
und angeboten wird.
Das Bessere kann gewinnen. Wir können
schlechtes Denken durch kluges ersetzen.
Mit dem Verbot unsinniger und menschenverachtender
Pseudomedizin, ist das gerade
getan worden. Wir können dumme Denkweisen
wie Unkraut mit der Wurzel ziehen.
Ein umerzogenes Gehirn von dieser Gehirnwäsche
und der belastenden Orientierungsfindung
zu reinigen, ist viel schwieriger. Unnützes
wird nicht mehr gebraucht, und das
ist auch gut so! Schwierig zu verstehen: Die
Wirtschaft lebt vom Wachstum und dafür
muss einiges zeitnah zu Schrott werden, sogar
das Kriegsgerät. Wir beginnen den Kampf,
um neue Waffen herzustellen, das ist unser
Geschäft. Wenn eine Kaserne mangels Bedarf
geschlossen wird, stöhnt die ganze Region
auf. Die Soldaten waren auch Kunden in der
Nachbarschaft. Was ist wichtig? Natürlich
sind wir mit dem Schulsystem unzufrieden,
aber dass der Apparat bewertet werden kann,
ist ein Vorteil. Die Kontrolle, die Wahlmöglichkeit,
wir können das Bessere nehmen. Das
ist unser Fortschritt.
„Ärztepfusch“ ist ein Schlagwort. Wir haben
Angst davor. Auch deswegen wollen wir uns
vergewissern, ob wir eine gute Behandlung
bekommen. Schon damals, meine Eltern erzählten:
Ein Bekannter, mit dramatischer
Blinddarmentzündung auf dem Weg in den
OP, bemerkt, dass der Arzt im Begriff ist,
sein Bein zu amputieren. Eine Verwechslung.
„Nicht das Bein!“, soll er gerufen haben –
dann ist es gut ausgegangen. Eine Geschichte
meiner Jugend. Wir haben gelernt: Wir wissen
heute, dass Ärzte bezahlt werden und nicht
vom lieben Gott an den OP-Tisch gestellt
wurden oder von Kaiser Wilhelm.
Der Lehrerberuf ist kein Fluchtort für welche
die meinen, mit Kindern zu arbeiten sei
einfacher, weil sie klein sind und gehorchen
müssen. Die Unterhaltungsbranche kämpft
um Kunden, sendet ununterbrochen. Die gute
Versorgung mit Nachrichten muss gewährleistet
sein, damit eine Demokratie funktioniert,
und Nachrichten sind auch eine Ware.
Die Qualität der Leistung zu prüfen, ist eine
Verbesserung zur Wahrheit. Darum ist es so
gekommen. Der Kommunismus in der Sowjetunion
kam zu Fall, weil die „bessere“ Demokratie
die Planwirtschaft besiegte. Die
Freiheit der einzelnen, erbrachte die Gesamtleistung
der westlichen Staaten und zwang
das schlechtere System, sich zu ändern. Die
Welt ist nicht stehen geblieben. Etwas zu
schaffen, nach Verbesserung zu streben und
sich anschließend zu erholen, ist Leben.
Die kraftvollen Jahre der jungen Bundesrepublik,
die Begeisterung meiner Eltern für das
Wirtschaftswunder und die engagierten Lehrer
meiner Jugend, machten mich zum überzeugten
Demokraten. Heute bin ich frustriert,
in der Entzauberung meiner Werte, habe den
Glauben an die Politik verloren! Eine bedenkliche
Entwicklung: Die Sehnsucht nach Führung.
Altersgemäßer Pessimismus? Es war
früher nicht besser. Keine Institution hält,
was sie verspricht. Eine Partei mit sozialem
Anspruch muss Gutes bewirken. Es ist offensichtlich,
dass sie ohne Anführer gut gemeinte
Ideen nicht umsetzen kann.
Eine Regierung, die einzelnen Härten abverlangt,
hat das Ganze im Blick. Wer sozial umverteilen
möchte wird unehrlich, wenn wir
später bezahlen müssen, was als Geschenk
deklariert wird. Die gute neue Zeit: Insofern
eine Verbesserung, dass sich Lehrer, Politiker
und Ärzte an ihrer Leistung messen lassen.
Einige aktuelle Behandlungsfehler in der
Medizin statistisch: (MDK) – 31 Prozent aller
Vorwürfe beziehen sich auf Orthopädie und
Unfallchirurgie, 13 Prozent auf Innere und
Allgemeinmedizin und jeweils 9 Prozent auf
die allgemeine Chirurgie und die Frauenheilkunde
– Zahlen aus der nahen Vergangenheit
illustrieren: kritisiert wird, was kritisiert werden
kann.
Die Psychologen und psychiatrischen Krankenhäuser
kann man nur im Ganzen kritisieren.
Den einzelnen Arzt stellt höchstens die
Presse zur Rede, wenn eine Sexualstraftat im
Nachhinein als vorhersehbar eingestuft wird.
Das Problem der Therapie ist grundsätzlich:
Ihre Wirksamkeit kann nicht gemessen werden.
In der Liste der Behandlungsfehler klagt
kein Geisteskranker, dass ihm nicht geholfen
wurde.
Im Verbot der speziellen Konversionstherapie,
kann der erforderliche Schritt über die
Qualität therapeutischer Arbeit allgemein
neu nachzudenken, einen Anfang finden.
Ein erfolgreicher Manager mit sattem Einkommen
bricht im Burn-Out unerwartet zusammen
und muss pausieren? Natürlich ist
so jemand krank, und man kann ihm helfen.
Ein noch mehr erfolgreicher und vermögender
Mann, der seinen Freunden Sexpartys
mit Minderjährigen anbietet, ist nicht krank.
Kein psychisch kranker Mann steigt in der
Gesellschaft auf, diese Menschen nutzen
ihre Machtposition. Sie sind Menschen, die
Dez 23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger 43 [Seite 43 bis 44]
andere abhängig machen und manipulieren
können. Wenn es kein Milliardär mit Macht
und Einfluss ist, sondern ein Lehrer, der sich
an seinen Schülern vergeht oder ein Pfarrer
an den anvertrauten Kindern, nehmen wir an,
diese Männer seien krank: Weil sie ein „normales“
Einkommen haben, sind sie krank? So
fragt man nicht. Wie kommen wir überhaupt
darauf, dass sexuelle Unterdrückung krank
ist? Für die misshandelten jungen Menschen
spielt das keine Rolle. Für so jemand ist es
nur scheiße.
Therapie, die das Sexualverhalten ändern
möchte, ist immer fragwürdig: Funktioniert
das überhaupt? Wenn wir ehrlich wären,
die Porno-Flut zeigt es doch, jede Milf-Oma
möchte optisch mit kleinen Mädchen mithalten
und ist unten shaved, weil das irgendwie
besser ankommt. Männer wollen junge
Frauen, das ist nicht krank. Nicht neu. Frauen
müssen auf sich aufpassen. Wer vergewaltigt,
ist ein Verbrecher im Sinne des Bösen, nicht
krank.
Beziehungen von älteren Männern zu jungen
Frauen werden von der Gesellschaft nicht
deswegen angefeindet, weil diese Männer
krank sind, sondern weil Neid eine Rolle
spielt. Die Häme, mit der das Scheitern solcher
Beziehungen einhergeht, spricht Bände.
Und dass diese Beziehungen scheitern, ist
nicht unwahrscheinlich. Ganz viele Beziehungen
halten ja nicht, auch dann, wenn
die Partner gleich alt sind. Die Beziehungen
scheitern gar nicht primär am auseinanderliegenden
Alter. Wir wollen das so sehen, um
lästern zu können und uns über die anderen
erheben. Wenn Minderjährige ausgenutzt
werden, in dem Moment, wo viel Geld im
Spiel ist, reden wir von Machtmissbrauch und
sind noch neidisch auf die Millionen obendrein.
Wenn es der böse Onkel im asozialen
Wohnwagencamp war, nennen wir den krank.
Ich halte das für Quatsch. Auf einen unauffälligen
Nachbarn schauen wir herab, den
Milliardär beneiden wir insgeheim, so kommt
das. Genau so wenig, wie wir Homosexualität
heilen werden, versagen wir beim Therapieren
der anderen sexuellen Abnormitäten.
Oft zahlen wir drauf, wenn der vermeintliche
Therapie-Erfolg ein Trick des „Kranken“ war,
alles von Neuem beginnt.
Psychische Krankheit ist nicht fassbar wie die
Masern. Wir hofieren einen Berufsstand, der
nur zu oft gar nicht weiß, was er tut. Das psychiatrische
Gutachten an sich, ist eine äusserst
fragwürdige Expertise. Wir arbeiten nur
damit, weil es uns wie den alten Seefahrern
mit ihren schlechten Karten geht, den unterentwickelten
Navigationsinstrumenten. Zeit,
besser zu werden!
Ich habe nie damit hinter den Berg gehalten,
dass ich nach meiner Ausbildung an der
Fachhochschule nicht klar gekommen bin
und viel Zeit mit Therapeuten verbrachte,
weil es nicht anders ging. Für mich war Therapie
keine Laune, sondern die Hoffnung auf
Besserung. Heute: Ohne Arzt, ohne Therapie
und ohne Medikamente, ist mein Leben befriedigend,
dass ich überzeugt sage: Ich bin
gesund.
Von einer psychischen Erkrankung wird
niemand geheilt. Das kann man umgangssprachlich
machen, aber fachtheoretisch von
Heilung zu reden, finde ich bedenklich. Bei
einem Knochenbruch mag es noch angehen,
bei einer Grippe ist es nachvollziehbar, weil
die Krankheit so greifbar ist. Die Definition
der psychischen Erkrankungen ist diffus und
der dynamische Prozess der Besserung wird
mit dem Wort Heilung auf eine Art fixiert,
die eine Entwicklung der Betroffenen nicht
darstellt. Wir bemühen dafür das Wort „Heilungsprozess“,
und das geht in die richtige
Richtung.
Die Psychiater, Psychologen und die Pharma
haben seit Freud Fortschritte gemacht. Wer
vor allem dazulernen muss, ist der normale
Mensch: unser direkter Nachbar. Die Gesellschaft
muss sich ihrer stigmatisierenden
Doofheit bewusst werden. Warum? Weil jeder
so krank werden kann, dass es ihn selbst
betrifft oder ein nahes Familienmitglied und
wir uns Unwissen schlicht nicht leisten können.
Soziale Probleme beherrschen uns mehr.
Wir können nicht wegschauen. Psychische
Erkrankungen bedrohen die Gesellschaft wie
die Klimakatastrophe. Der Grund ist derselbe.
Ein Freund sagt lapidar: „Das ist ja auch viel
zu voll hier.“ Die Erde, er meint das Ganze.
Eine Therapie für das Gehirn? Es ist so abwegig,
an eine Heilung psychisch kranker
Menschen zu glauben, wie anzunehmen,
ein bestimmter Arzt könne gut Siamesische
Zwillinge trennen, weil es ihm mal bei zweien
gelungen ist, deren Füße verbunden waren.
Das kommt wohl darauf an, wo genau
die beiden zusammenhängen. Eine Therapie
operiert nicht das Gehirn. Es wird geredet,
was heißt das schon? Der Psychologe macht
nichts heil. Er möchte auf das Verhalten des
Menschen einwirken, den er Patient nennt.
Therapie betrifft den Menschen, nicht nur
das Gehirn. Wenn wir das Gehirn umprogrammieren
möchten, müssen wir auch prüfen, ob
es gelingt. Bevor inflationär mit dem Begriff
Krankheit in unterschiedlichster Form argumentiert
wird, die Zuständigkeit eines passenden
Arztes vernünftig erscheint, darf nie
vergessen werden, wie unscharf jede psychologische
Behandlung (gemessen am Erfolg)
bleibt. Wenn es gelänge, den direkten Nachweis
vom Hilfeansatz im Verhältnis zur erfolgten
Leistung zu belegen, wären wir auf dem
richtigen Weg. Eine gute Behandlung spricht
sich rum. Jeder kennt einen guten Urologen,
Augenarzt oder Chirurg. Solange die Rolle
des Psychiaters im Film treffend mit einem
Sonderling, der selbst seine Probleme nicht
in den Griff bekommt, besetzt wird, hat die
Welt kaum einen Fortschritt gemacht. Einen
„Heiler“, der wirklich etwas wieder gut macht,
würden wir liken. Den würden alle kennen.
Spätestens bei der Diagnose, dem Namen der
psychischen Erkrankung, muss man aufhorchen.
Das ist der Moment, wo etwas wie ein
greifbares Ding erscheint das abgetrennt gar
nicht existiert. Es gibt keine „Depression“. Was
ist ein Minderwertigkeitskomplex? Das kann
eine kleine Titte links oder ein unbedeutender
Penis sein; ein Mann oder eine Frau ist
unglücklich und das diagnostizierte Problem
nicht austauschbar. Es gibt viele Menschen,
die mit ähnlichen Problemen kommen und
behandelt werden, als hätten sie dieselbe
Jacke gekauft. Es werden Menschen behandelt,
nicht Begriffe. Eine Jacke kann ich in die
Hand nehmen, heil machen oder mir eine
neue mit einer anderen Farbe kaufen. Es ist
möglich, dass der Psychologe das weiß und
qualifiziert denkt; der Patient kann das in der
Regel nicht verstehen.
„Die Angst ist ein Tiger, und den musst du
reiten.“ Die Probleme sind altbekannt, auch
wenn die Palette der Diagnosen immer vielfältiger
wird. Ich habe viel gemalt, das hilft.
Ich bekomme mein Leben nicht zurück. Wie
das Mädchen ohne Beine im Rollstuhl, das ich
wirklich gesehen habe, bei „Junge“ in Wedel.
Darum habe ich das gemalt. Einige Sekunden
nur, ein kurzer Film für mich, unauslöschlich.
Ein Stich in mein Herz und eine Träne
in meinem Auge, als ich begriff; dann waren
sie vorbei. Was ist geblieben? Eine Person in
meinem Bild. Wer Beine hat, der nutze sie.
Lauft weg! Ich reite den Tiger – und er frisst
mich nicht.
Weihnachten, die Erinnerung an einen Geburtstag
–
Dez 23, 2019 - Die Angst ist ein Tiger 44 [Seite 43 bis 44]
Obama hat die Hand gewechselt
Dez 31, 2019
Das Bild der Lemminge, die sich in den Abgrund
stürzen: So ist der Mensch, der nicht
für sich allein entscheidet. In den Abgrund
fallen auch Menschen, die integriert sind.
Gemeint ist ein emotionaler Abgrund. Der
simple Glaube, nur wie die anderen handeln
zu müssen, damit alles richtig sei: Job, Partner,
Auto und Urlaub wie man einen macht
– das ist der Weg der Normalen. Dass Ehen
scheitern, einige Menschen den bösen Krebs
bekommen, der Job verloren gehen kann und
viele Befürchtungen mehr; sie werden ausgeblendet.
Dass das Übel einen selbst trifft?
Die Angst wird dadurch in Schach gehalten,
dass der eigene Weg normal
(und deswegen korrekt) ist.
Dabei ist die Chance, dass ein
normales Leben gelingt rechnerisch
so groß nicht? Ausblenden.
Ein individuelles und damit
weniger normales Ego, scheint
noch schwieriger zu sein.
Das Leben fordert seinen Preis.
Der Mensch hat keinen Knopf
hinter dem Ohr, den wir, genug
vom Leben, einfach drücken
könnten: uns für immer abschalten.
Die Szene im Kino, Gewalt-
Attacke, Selbstmord – im Film
entsteht ein Bild der Welt, eine
eigene Logik. Kaum jemandem
scheint klar zu sein, dass es in
der Realität nicht mal so eben verfügbar ist:
der Schlag in das Gesicht des Widersachers
oder der Sprung vom Dach in den eigenen
Tod. Manche konsumieren Serienkrimis wie
Schokolade, für sie bleibt alles der Film da
draußen. Konsequent über die Kreativität ins
Selbst zu gehen, wird dazu führen, in diese
Handlung einzutreten. Es heißt, von nun an
aufzupassen. Die Abgründe in den Geschichten
werden reale Löcher in das unergründliche
Nichts.
Wer sich aus dem Verbund der Lemminge
gelöst hat, den normalen Weg verlassen hat,
dem geht es wie Mose und seinen Leuten in
der Wüste. Es ist die Suche nach einer besseren
Welt und wenn diese ganz weit weg
ist; ein gelobtes Land. Das Verlassen der
Konventionen ist der Weg in ein unwirtliches
Terrain. Eine Gegend, in der vertraute Beziehungen
nicht funktionieren, und hier muss
der Mensch kämpfen, sich behaupten oder
tatsächlich aufgeben. Das eigene Selbst zu
suchen, bedeutet Teil des Films zu werden,
Schauspieler einer eigenen Rolle, über entsprechend
starke Motivation zu verfügen. Der
Zuschauer ist überrascht, was passiert! Der
Mensch kann nun tun, was ein Mensch tun
kann, wenn er sich nicht an normales Verhalten
gebunden empfindet.
Das ist der Beginn der inneren Freiheit. Und
ein Leben mit Risiken. Der Preis ist hoch. Da
ist kein Halt mehr an vertrauten Landmarken.
Das neue Ideal ist ein zukunftsloses Leben, es
findet in der Gegenwart statt. Wer weiß, was
morgen ist? Wenn wir die Normalität verlassen,
betreten wir die reale Welt. Und niemand
weiß, wie diese beschaffen ist. Unser Ideal ist
nun die feste Überzeugung, dass das Leben
der anderen eins hinter der Maske ist. Dazu
dürfen wir annehmen, dass viele sich dieser
Tarnung nicht bewusst sind. Wir benötigen
keinen Sonntags-Mord mit Kommissar Soundso
oder Soko-Dingsbums im TV – wir
fürchten den realen Kommissar genauso wie
den leibhaftigen Einbrecher. In der echten
Welt können wir ihnen jederzeit begegnen.
Und wir wissen nicht, welche Rolle wir in
ihren Augen spielen. Die Normalität ist die
Normalität der anderen.
Ich glaube, dass es keine Normalität gibt und
insofern die Menschen der Gesellschaft auch
keine Lemminge sind, die geschlossen dekadent
in den Abgrund gehen. Für mich sieht es
nur so aus. Ich halte das für meinen subjektiven
Eindruck, gebe mich dem in deprimierenden
Augenblicken auch ganz hin. Meine
Vermutung ist trotzdem, dass die anderen Leben
ihre Höhen und Tiefen haben wie meins
auch. Insofern ist der Begriff der Normalität
ein eng beschränkendes Wort und keinesfalls
die breite Wirklichkeit dessen, was die meisten
von uns tun oder sind. Normalität kann
die Fessel sein, die ich mir auferlege, wenn
ich mich schäme oder ein schlechtes Gewissen
habe: Das darf man nicht. Normalität
kann verbales Kampfargument sein: Das tut
man nicht!
Kreatives Leben befreit vom Zwang, einer
Norm zu folgen, die es in Wahrheit gar nicht
gibt. Wir sind so uniform nicht, als dass wir
geschlossen untergehen. Angepasst an das
imaginär Normale verkümmert man auf seine
Art, im Glauben, wie alle anderen handeln zu
müssen. Aber „alle anderen“ – das gibt es so
gar nicht. Ein Selbstbeschiss. Er wird genährt
durch das, was wir lesen, ansehen oder mit
den Freunden teilen, die doch nicht so sind
wie wir selbst. Wir reden uns das nur ein. Um
einen sicheren Rahmen zu schaffen, suchen
wir die Ordnung unserer Gruppe.
Wer gehört zu wem oder bleibt außen vor
und was gehört sich, was nicht? Ich spreche
eine junge Frau in einer Bar an, die ich
wiedererkenne. Ich habe sie vor einem Jahr
schon einmal dort gesehen, mich ein wenig
mit ihr unterhalten (sie ist sehr hübsch). Mir
ist aufgefallen, dass sie im Jahr davor dort
gekellnert hat. Inzwischen ist sie Gast und
redet mit Freunden; jünger, es könnten Kinder
von mir sein. Ich kann es nun nicht lassen,
quatsche sie an und versuche einen Anfang
zu finden. Ich erinnere mich dran, dass sie
Linkshänder ist.
Ich zähle Persönlichkeiten auf: Chaplin, Leonardo
da Vinci, Barack Obama. Um mich
beliebt zu machen, finde ich eine Reihe von
sympathischen Prominenten, die alle Linkshänder
sind. Da kommt es zum Missverständnis:
„Obama nicht“, sagt sie. Für mich klingt
das, was sie nun sagt, als wäre der ehemalige
Präsident mit einem Mal kein Linkshänder
mehr – weil er bei ihr und ihren Freunden
gerade aussortiert wurde, als einer, der nicht
authentisch sei? Wir reden aneinander vorbei:
Obama. Man hätte ja gedacht, dass – er
habe aber zuletzt wiederholt enttäuscht. Sie
erzählt auf meine Nachfrage, dass sie singt
und eine CD produziert hat, die ab der nächsten
Woche zu kaufen ist – und ich verpasse
es, diesem Gespräch noch eine gute Wendung
zu geben.
Geblieben ist dieser skurrile Moment: Wir folgen
Obama nicht mehr. Wir waren Linkshänder
– und er ist nun bei den anderen? Klar,
das war ein Missverständnis, dem Geräuschpegel
der Umgebung geschuldet, und was
habe ich auch eine Studentin anzuquatschen.
Peinlich genug ist es ja.
Obama hat die Hand gewechselt.
:)
Jahreswechsel, und ich denke: Jeden Tag beginnt
eine neue Welt.
Dez 31, 2019 - Obama hat die Hand gewechselt © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg
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