VINYLRAUSCH MUSIKMAGZIN NR.1
Das VINYLRAUSCH MUSIKMAGAZIN geht von klassischen Alben der Rock-, Pop- und Jazzgeschichte aus und zeigt an ihnen, wann und wo Ideen, Stile und Techniken zum ersten Mal aufgetreten sind und welchen Weg sie von da aus in der Musikgeschichte genommen haben. In den umfangreichen, detailliert recherchierten Analysen werden neben der Musik auch die Texte und die Cover ernst genommen und so immer wieder spannende und überraschende Bezüge zu aktuellen Veröffentlichungen entdeckt.
Das VINYLRAUSCH MUSIKMAGAZIN geht von klassischen Alben der Rock-, Pop- und Jazzgeschichte aus und zeigt an ihnen, wann und wo Ideen, Stile und Techniken zum ersten Mal aufgetreten sind und welchen Weg sie von da aus in der Musikgeschichte genommen haben. In den umfangreichen, detailliert recherchierten Analysen werden neben der Musik auch die Texte und die Cover ernst genommen und so immer wieder spannende und überraschende Bezüge zu aktuellen Veröffentlichungen entdeckt.
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VINYLRAUSCH
Erste Ausgabe
Musikmagazin
8,60 Euro
+ MUSIKANALYSEN
PLATTENPORTRAITS
LESEPROBE
Klassische und aktuelle Alben
der Rock-, Pop- und Jazzgeschichte
»Der Rausch wird den Aufstand nicht ersetzen;
er kann aber, je besser er verstanden und angeeignet wird,
ein möglicherweise entscheidender Begleiter
des Aufstands sein.«
Daniel Kulla, Leben im Rausch - Evolution, Geschichte, Aufstand, Mainz 2014
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VINYLRAUSCH
Rauschkontrolle
1. Der Vinylrausch wird analog verursacht.
Er hat mit komplett analog produzierten Schallplatten die wenigsten
Nebenwirkungen.
2. Der Vinylrausch huldigt dem Original.
Wir ziehen immer, wenn es möglich ist, eine Originalpressung der
Wiederveröffentlichung vor.
3. Der reine Rausch bedarf mindestens eines Klassikers.
Weil es um analoge Originale und um Musikgeschichte geht, steht
in der Regel ein klassisches Album aus den sechziger oder siebziger
Jahren im Rauschzentrum.
4. Das Kunstwerk hat zwei Seiten.
Bei jedem Vinylrausch wird ein Album des Monats komplett und ohne
Pause gehört. Dazu können ein oder zwei Seiten von anderen Platten
kommen.
5. Der Rückblick zielt nach vorn.
Im Rückblick zeigen uns die Klassiker woher sie gekommen und wohin
sie gegangen sind: im besten Fall versucht der Vinylrausch musikhistorische
Bezüge bis in die Gegenwart hörbar zu machen.
6. Zahlenspiele erleichtern die Auswahl
Um in der Masse würdiger Tonträger geeignete Kandidaten zu finden,
schauen wir zuerst einmal 50, 45 oder 40 Jahre zurück – scheuen
aber auch vor Abweichungen und Sprüngen nicht zurück.
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VINYLRAUSCH
Rauschanleitung
Der Vinylrausch hört genau hin, er hört Klänge und Bezüge, Sounds
und Entwicklungen, Töne und ihren Widerhall in der Musikgeschichte.
Bei jedem Rausch ist ein klassisches Album aus der Rock-, Pop- oder
Jazzgeschichte unsere zentrale Droge, von der aus wir voraus oder
zurückschauen auf zwei weitere Alben, die nach Kriterien wie Einfluss,
Stilentwicklung, beteiligte Musiker, Kontraste usw. ausgesucht werden.
Dabei geht es nicht um eine musikhistorisch abgesicherte, objektivierte
Auswahl, sondern um neue Erfahrungen, neue Hörerlebnisse
und musikalische Inspirationen. Das Album des Monats bekommt beim
Vinylrausch den Status eines Kunstwerks zurück und wird so gehört, wie
es die Musiker damals gemacht, gemeint und selbst gehört haben: auf
einer hervorragenden Hifi-Anlage, laut abgespielt, möglichst von einer
analogen Original-Pressung, komplett und ohne Unterbrechungen.
Dazu projizieren wir beim Vinylrausch die Songtexte, sofern vorhanden,
auf eine Leinwand, so das wir die Musik hören und den gesungenen
Text verstehen können. Zwei weitere Alben zeigen dann, wo die
Musik hergekommen oder hingegangen ist, welchen Weg sie also in
den nun schon gut sechzig Jahren Rockgeschichte zurückgelegt hat.
Die hier vorliegenden Texte sind aus der intensiven Beschäftigung
und Vorbereitung des Vinylrausches entstanden. Es ist eine rein subjektive
Auswahl, die nichts anderes als den Rausch zum Ziel hat, deren
Sinn also manchmal auf der Hand liegt und sich ein andermal erst
nach intensivem Nachhören erschließt – oder auch verschließt, denn
der Vinylrausch ist wie das Leben: hochgradig subjektiv, niemals fertig
und immer auf der Suche.
Viel Spaß bei dem schönsten und ungefährlichsten Rausch dieser Welt!
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Bei jedem
Vinylrausch ist ein klassisches
Album aus der Rock, Pop oder Jazzgeschichte
unsere zentrale Droge – das heißt, mindestens von diesem
Album werden beide Seiten gespielt. Dazu gibt es eine kurze
musikhistorische Einführung und den Rückblick oder Ausblick auf ein
oder zwei andere Alben nach unterschiedlichen und immer wieder neu
gewichteten Kriterien, zu denen die Wirkung auf andere Musiker, stilistische
Einflüsse, Inspirationsquellen oder beteiligte Musiker gehören können. Einige
Regeln haben wir in der Rauschkontrolle auf der vierten Seite zusammengefasst.
Die Veranstaltungen finden regelmäßig einmal im Monat in einem Kino in Berlin
und unregelmäßig auch an anderen Orten statt. Wir spielen die Alben auf einer
hochwertigen Anlage LAUT ab und projizieren die Songtexte parallel zur Musik auf
die Leinwand.
Informationen zu Terminen, Programm und Ort gibt es unter vinylrausch.de
Die hier vorliegenden Texte sind aus der Beschäftigung mit der Musik, dem konzentrierten
Hinhören beim Vinylrausch und den Gesprächen davor und danach entstanden.
Sie sind ein Vorschlag, musikhistorisch interessante Alben wieder oder
neu zu entdecken – und sie sich noch einmal konzentriert und LAUT anzuhören.
Das kann man auch zu Hause allein oder besser noch mit Freunden vor der
eigenen Anlage machen. Wichtig für eine wirkungsvolle Berauschung ist die
volle Konzentration auf die Musik und das vollständige Hören mindestens
eines Albums während einer Sitzung.
Natürlich kann man die Musik auch digital, von CD oder
als Stream hören. Die wenigsten Nebenwirkungen gibt
es nach unseren Erfahrungen aber mit dem rein
analogen Rausch.
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VINYLRAUSCH
Rauschmittel
#01
Frank Zappa and The Mothers of Invention – One Size Fits All 1975 10
George Duke – Interview 2012 16
Captain Beefheart and The Magic Band – Shiny Beast (Bat Chain Puller) 1978 18
Queen – A Night At The Opera 1978 20
#02
Bob Dylan – Blonde on Blonde 1966 24
David Bowie – Hunky Dory 1971 28
Janis Joplin – Pearl 1971 32
#03
Blood, Sweat & Tears – Blood, Sweat & Tears 1968 36
Joni Mitchell – Hejira 1976 40
Valerie June – Pushin‘ Against a Stone 2013 44
Hooffoot – Hooffoot 2015 46
#04
The Beatles – Revolver 1966 52
The Rolling Stones – Sticky Fingers 1971 58
Marvin Gaye – What‘s Going On 1971 64
Laktus – Kurzgeschichte 2016 70
#05
The Jimi Hendrix Experience – Electric Ladyland 1968 74
Stevie Wonder – Songs in the Key of Life 1976 82
Prince and the Revolution – Around the World in a Day 1985 90
Impressum 99
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VINYLRAUSCH #01
Frank Zappa and The Mothers of Invention – One Size Fits All 1975
Captain Beefheart and The Magic Band – Shiny Beast 1978
Queen – A Night At The Opera 1978
Ein würdiger Auftakt zu einem Abenteuer, von dem keiner von uns wusste, wo es
hinführen würde: Frank Zappas ‘One Size Fits All’ war das perfekte erste Album
des Monats beim Vinylrausch #01. Mit seinem Erscheinungsjahr 1975 passte es
schon mal zu unserem Ansatz 40, 45 oder 50 Jahre in der Rockgeschichte zurückzuschauen
und dort Alben zu finden, denen wir durch intensives und lautes Durchhören
den Charakter eines geschlossenen Kunstwerks zurückgeben konnten.
Auch der Termin für den Vinylrausch #01 war perfekt: am Vorabend von Frank
Zappas Geburtstag ein so vielfältiges, einfallsreiches und im besten Sinne musikalisches
Album zu spielen, lag natürlich auf der Hand. Dazu kam eine Seite von
Captain Beefhearts beieindruckendem Comeback nach seinem kurzen Ausflug
in den Mainstream: ‘Shiny Beast (Bat Chain Puller)’ lässt einen der radikalsten
Geister der Rockgeschichte in beeindruckender Vielfalt hören.
Auch 1975 erschienen und allein schon durch die Prog-Hymne ‘Bohemian Rhapsody’
ein unsterblicher Klassiker ist ‘A Night At The Opera’ von Queen, die wir
als Abschluß von Vinylrausch #01 gehört haben.
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Frank Zappas Album ‘One Size Fits All’ ist, wie Zappa selbst auf der drei Jahre
später erschienenen Doppel-LP ‘Zappa in New Yorck’ anmerkt, 1975 nur wenig
beachtet worden. Tatsächlich finden sich im Netz nicht allzu viele zeitgenössische
Kritiken zu diesem Album – und wenn, dann sind diese eher verhalten-enttäuscht
als euphorisch. Für viele Fans der ersten Stunde hatte
sich Zappa spätestens mit dem 1973 erschienenen ‘Overnight Sensation’ in
Richtung Mainstream-Rock aufgemacht. Keine Ouvertüren mehr, kein Bühnen-Theater,
kein Jazz-Rock – das war zu wenig für diejenigen, denen Zappa
mit seinen komplexen Soundcollagen, Taktwechseln und gegenläufig arrangierten
Melodielinien die Ohren für Avantgarde in der Rockmusik geöffnet
hatte. Und auch die Kritiker schienen von der Perfektion der Kompositionen,
der musikalischen Fähigkeiten der beteiligten Musiker und dem packenden
Sound der Produktion irgendwie überfordert zu sein: Karl Lippgaus stellt z.B.
im Musikmagazin Sounds fest, »das er [Zappa] zwar weiterhin die unglaublichsten
Dinge komponiert und von hochklassigen Musikern spielen lässt, dass
aber diese Ideen wenig sinnvoll aufgereiht werden. Ein technisches Kabinettstück
jagt das andere, aber es reißt keinen vom Stuhl.« 1
Für die Nachgeborenen, die Zappa Mitte der Siebziger erst entdeckt haben
und auch in der Rückschau sieht das anders aus und darum wundert es nicht,
dass ‘One Size Fits All’ heute in Bestenlisten immer wieder ganz vorne
auftaucht. Das Album zeigt mitreissend verdichtet viel von dem, was den
künstlerischen Kosmos von Frank Zappa insgesamt ausmacht: es ist hervorragend
produziert, mit einer exzellenten, dynamischen Abmischung und einem
Mix aus treibenden Rocksongs, jazzigen Bläserarrangements, drei abwechselnden
Lead-Sängern und Zappas krudem Humor at his best. Auch vierzig
Jahre nach der ersten Veröffentlichung hat diese
Platte nichts an Unmittelbarkeit, Frische und
Überraschungen verloren.
Schon das erste Stück ‘Inca Roads’ ist zu
einem Klassiker geworden. Für den jungen Steve
Vai bedeutete es eine Zeitenwende, für ihn ist
‘Inca Roads’ ein »unerreichtes Meisterwerk, das
mir neuen Lebensmut gegeben hat.« Für mich war
es der Eintritt in das Zappa-Universum, der erste
Song, der mir an der Karstadt-Musiktheke vorgespielt
wurde. Auf jeden Fall ist das Stück ein wunderbares
Beispiel für Zappas Kompositionstechnik,
Musik und Text sind eng verzahnt, Breaks und
Melodiewechsel kommentieren und erweitern den
Text, der selbst wiederum die Musik herauszufordern
scheint. Das legendäre Gitarrensolo Zappas
zeigt hier nicht nur seine hervorragende Spieltechnik
und die enorme emotionale Spannbreite
seines Spiels, sondern auch seine Vorstellungen
von seinem Werk als Gesamtkunstwerk, der sogenannten ›Conceptual Continuity‹:
während der Basistrack des Stückes im KCET TV-Studio aufgenommen
wurde, kommt das Gitarrensolo aus dem später auf ‘You Can’t Do It On Stage
Anymore Vol. 2’ veröffentlichtem Livekonzert in Helsinki – und klingt doch
perfekt integriert. Eine der großen Talente von Zappa war ja gerade sein Gefühl
Frank Zappa and The
Mothers of Invention
One Size Fits All
6. Juni 1975
Seite A
Inca Roads – 8:45
Can’t Afford No Shoes – 2:38
Sofa Now. 1 – 2:39
Po-Jama People – 7:39
Seite B
Florentine Pogen – 5:27
Evelyn, A Modified Dog – 1:04
San Ber’dino – 5:57
Andy – 6:04
Sofa No. 2 – 2:42
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für die richtige Mischung: Stile, Instrumente, Takte, Melodien wurden von ihm
gebrochen, versetzt, gemixt, verkürzt oder auseinander gezogen. »What he
was able to do is make it natural, it wasn’t forced – it all came together. He is a
Master painter of music, he is a Master composer..« So beschreibt es der Leadgitarrist
der Zappa-Coverband Z3, Tim Palmieri.
Die vier Stücke auf der ersten Seite von ‘OSFA’ bieten jedenfalls viel
seltsame Musik und noch seltsamere Texte: von der Parkplatzsuche einiger
Ausserirdischer in den Anden über die fröhliche Depression angesichts
steigender Schuhpreise bis hin zum Sonderangebot flannelhosentragender
Langweiler. Und mittendrin ein Instrumentalstück, das am Ende der zweiten
Einwickeln
und aus dem
Weg rollen
Frank Zappa
guitar, vocals
George Duke
keyboards, vocals, synthesizer
Napoleon Murphy Brock
flute, vocals, tenor saxophone
Ruth Underwood
marimba, vibraphone,
percussion
Chester Thompson
drums, sound effects, voices
Tom Fowler
bass guitar
James ‘Bird Legs’ Youman
bass guitar
Johnny ‘Guitar’ Watson
vocals
Captain Beefheart (as
‘Bloodshot Rollin’ Red’)
harmonica
Seite mit einem unerwarteten Hauptdarsteller
wiederholt wird: da ist es Gott selbst, der
sich in radebrechendem deutsch als Schöpfer
vieler merkwürdiger Dinge wie ›Damast-
Paspeln‹ und ›Chrome-Dinetten‹ auf einem
roten Sofa imaginiert.
Dieses rote Sofa schwebt auch auf dem
Cover des Albums: mitten im Weltall, ohne
den im Text geforderten ›Fußbodenbelag‹
unter den Holzkufen, wird es von Gott selbst
betrachtet und mit einer kleinen Sprechblase,
wiederum auf Deutsch, gefragt: »Divan, Divan... weisst du wer ich bin«.
Das ganze Cover ist aus der Perspektive Gottes gezeichnet, dessen Hand eine
brennende Zigarre hält und die unten rechts ins Bild hineinragt. Links oben
ist in der Art eines mittelalterlichen Kupferstiches ein musikalisches Weltall
abgebildet, das um das Loch in einem Plattenlabel kreist und eine Erde, die als
›Terra del Fuego‹ bis zum Outer Space von den Sphären Mono, Stereo und Quadrophonic
umgeben ist: Ein Kosmos aus scheinbar widersprüchlichen, chaotischen
Tönen, streng geordnet in den Rillen, die das Plattenzentrum umgeben
und mit einem lachenden Herrgott in der Mitte, der mich seine Perspektive
einnehmen ließ. Als ich diese Platte mit 14 Jahren zum ersten Mal gehört habe,
lag vor mir die Verlockung einer völlig neuen, verwirrend komplexen Welt, die
offensichtlich ohne Scheu vor musikalischen, kulturellen oder moralischen
Fehltritten nicht nur Spaß machte, sondern auch etwas zu erzählen hatte.
Ohne es damals schon zu ahnen, hatte ich bei diesen ersten beiden Begegnungen
mit Zappa und seiner Musik einen Blick auf die große Note geworfen:
eben Zappas ›konzeptionelle Kontinuität‹, mit der er den Zusammenhang
zwischen der großen Bandbreite der von ihm praktizierten Musikstile mit
allen anderen medialen Äusserungen als ein GesamtKunstwerk verstanden
haben wollte: »Projekt/Objekt is a term I have used to describe the overall
concept of my work in various mediums. Each project (in whatever realm), or
interview connected to it, is part of a larger object, for which there is no
›technical name‹.«
Noch einmal zurück zu dem ersten Stück der Platte, zu ‘Inca Roads’, denn es
ist wie geschaffen für den Start in einen nachhaltigen Vinylrausch. Es lohnt
sich ungemein, dieses genauso groovige wie abwechslungsreiche Stück wieder
konzentriert und laut durchzuhören, selbst wenn man es schon gut zu kennen
meint. Die Band ist nach einem halben Jahr auf Tour fantastisch eingespielt und
mit Chester Thompson, George Duke und – später auf dem Album – Napoleon
11
Murphy Brock garantieren drei Afroamerikaner das richtige Feeling für den
grundlegenden Groove.
Das Stück beginnt mit einem von Bass und Xylophon gespielten Motiv, das in
einer Art Loop das Intro tragen wird. Darüber setzt dann eine Synthesizer-Improvisation
von George Duke ein, die an die Sounds aus Science-Fiction Filmen
der sechziger Jahre erinnert – Horror- und Sci-Fi Filme waren ja ein beliebtes
Sujet von Zappa, deren tonale Motive er immer wieder gerne als ironische
Zitate verwendet hat. Auch ‘Inca Roads’ hat ja kein, im rockmusikalischen
Idiom, ›ernstes‹ Thema – es geht weder um die Liebe noch um das Verlassen
werden – sondern ist ein ironischer Kommentar zu der von Autoren wie Erich
von Däniken geschürten Ufo-Begeisterung der damaligen Zeit. Insgesamt
zeigt ‘One Size Fits All’ mit der in mehreren Stücken durchscheinend
distanziert-ironischen Haltung Zappas, warum so viele der
Rockjournalisten und bekannten Kritiker der siebziger
Jahre mit Zappa so wenig anfangen konnten: sein
oftmals sarkastischer Blick auf die Mitmenschen
und gesellschaftlichen Phänomene seiner Zeit
waren häufig entlarvend, aber selten emotional
oder mitfühlend. Wer, wie Lester
Bangs etwa, vor einem Tangerine Dream
Auftritt zwei Flaschen Hustensaft austrinkt,
um in die richtige Stimmung
für diesen »glitschenden Schlamm«
zu kommen, wird von den disziplinierten
Arrangements und der nüchternen
Weltsicht Zappas nur schwer
angefixt werden.
Zappa kennt denn auch mit seinen
eigenen schönsten Melodien keine
Gnade: gerade hat George Duke die tragende
Melodie von ‘Inca Roads’ in den
ersten Versen entwickelt, da wird sie auch
schon wieder brutal durch einen Soundmix aus
Schlagzeugläufen und einzelnen Sprechstimmen
unterbrochen. Als sich Duke einmal über den harten
Schnitt in dieser schönen Melodie beschwert hat, meinte
Zappa dazu nur, sie sei für ihn tatsächlich einfach zu schön
gewesen, um sie unberührt weiterklingen lassen zu können.
Zappas unermüdliches Mitschneiden all seiner Konzerte und sein engagiertes
Veröffentlichen derselben macht es uns heute möglich, die Metamorphosen
dieses Stückes auch aural nachvollziehen zu können: der Basistrack
aus dem Fernsehstudio und das Gitarrensolo aus Helsinki sind im August und
September 74 aufgenommen und in den neunziger Jahren von Zappa in der
Reihe ‘You Can’t Do That On Stage Anymore’ veröffentlicht worden. Wenn
man sie mit der Plattenaufnahme vergleicht, kann man sogar die im Studio
hinzugefügten Overdubs identifizieren. Was auf dem Album also als eine
zwingende Einheit klingt, ist von Zappa, einem der ersten Musiker, der schon
in den sechziger Jahren das Studio als Instrument zum Komponieren genutzt
hat, erst im Studio zusammengefügt und nahtlos verschmolzen worden.
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Das Gitarrensolo macht dann deutlich, welchen Raum Zappa als Live-Musiker
zu füllen in der Lage ist: von sehr sparsamen, zurückhaltend gesetzten Noten,
die sich in eine Art ‹Ambient›-Intro integrieren, als wären sie tatsächlich nur
ein Teil der Rhythmus- und Percussionsektion, arbeitet er sich allmählich zu
immer herausfordernden und komplexeren Läufen vor. Dabei läßt sich Zappa
nicht treiben, sondern gibt dem Stück gerade durch die immer wieder zurückgenommene
Präsenz, durch das Ausbremsen der in dem Spiel zu spürenden
Energie eine ungeheure Intensität. Erst nach zwei Minuten Vorspiel beginnt
das eigentliche Solo, bei dem er mit beeindruckender Fingerfertigkeit und noch
beeindruckenderer Musikalität seine Läufe aus dem Korsett des treibenden
Rhythmus befreit. Sein großes Talent ist es ja gerade, auf einem heterogenen
Rhythmus, der auch Takt und Metrum wechseln kann, improvisierte
Melodieläufe von glasklarer Schönheit zu entwicklen. Selbst
verschobene oder gegenläufige Taktmuster, die ›herkömmliche‹
Gitarristen eher einschüchtern würden, scheinen
ihn erst anzuspornen und diese meditative Konzentration
auf das Instrument zu provozieren,
vor der die Fans mit offenen Ohren staunen
können.
Schwer nachvollziehbar, aber für die
anderen, zu denen auch der globale Rockkritiker
Robert Christgau zählt, bleibt
diese Welt verschlossen: ‘One Size
Fits All’ erhält als Note eine C+ – und
Warren Zevon kann bei Christgau dann
mit einer A-Note den Thron besteigen.
Auf der ersten Seite des Albums
erinnern ‘Can’t Afford No Shoes’ und
das energetische ‘Po-Jama People’
trotz allerlei erklingender Gimmicks und
musikalischer Wechsel noch am ehesten an
klassische Blues-/Rocksongs. ‘San Berdino’
auf der zweiten Seite basiert auf einem kurz
angedeuteten Country & Western-Motiv, das von
einer sich ständig auf- und ab bewegenden Melodielinie
unterbrochen wird. Die Struktur ist ungewöhnlich, Kaspar
Sloots hat in seiner Studie ‘Frank Zappa’s Musical Language’ von
2012 in dem Song vier musikalische Blöcke erkannt, innerhalb derer sich
drei unterschiedliche Instrumental-Passagen und das Hauptthema immer
wieder neu mischen. 2
Ein Beispiel für die von Zappa angestrebte, aber nicht immer ernst gemeinte
Kontinuität ist die Poodle-Routine, die sich auf diesem Album in ‘Evelyn, A
Modified Dog’ manifestiert und von Zappa im Frühjahr 1975 so erläutert wird:
»It’s not actually so much of a Dog Continuity as a Poodle Continuity. It recurs
on each record. It’s an abstract concept, much in the way that Rembrandt
added brown to all his colours. That’s the level. On the next album it will be
conceptually reduced to the word arf.« 3
‘Evelyn’ ist aber auch ein passendes Beispiel für die Übertragung der
Melodie der menschlichen Sprache auf Solo- oder/und Rhythmusinstrumente,
13
Bob Dylan
Blonde on Blonde
20. Juni 1966
Seite A
Rainy Day Women #12 & 35
– 4:33
Pledging my Time – 3:42
Visions of Johanna – 7:27
One of Us Must Know (Sooner
or Later) – 4:53
Seite B
I Want You – 3:06
Stuck Inside of Mobile with the
Memphis Blues Again – 7:04
Leopard-Skin Pill-Box Hat – 3:50
Just Like a Woman – 4:39
Seite C
Most Likely You Go Your Way
And I’ll Go Mine – 3:22
Temporary Like Achilles – 5:03
Absolutely Sweet Marie – 4:46
4th Time Around – 4:26
Obviously 5 Believers – 3:30
Seite D
Sad Eyed Lady of the Lowlands
– 11:23
Auf dem Cover zeigt sich Dylan
seinen Fans – und verbirgt sich
gleichzeitig. Auch wenn es nach
der Erinnerung des Fotografen
Jerry Schatzberg an der Kälte gelegen
hat, kann man sich nicht
wirklich vorstellen, dass während
der Fotosession kein annehmbares
scharfes Foto entstanden
sein soll. Warum also wurde
eine so deutlich verwackelte Aufnahme
verwendet? Dylan hat
es selbst entschieden, er will offensichtlich
erkannt werden,
aber nicht im Fokus stehen.
Er ist es – und ist es nicht. Er
steht – und er liegt. Und auch
sein Name taucht auf dem Cover
nirgends auf ...
24
Bob Dylan
vocals, guitar, harmonica,
piano
Bill Aikins
keyboards
Wayne Butler
trombone
Kenneth Buttrey
drums
Rick Danko or Bill Lee
bass guitar (New York)
Bobby Gregg
drums (New York)
Paul Griffin
piano (New York)
Jerry Kennedy
guitar
Al Kooper
organ, guitar
Charlie McCoy
bass guitar, guitar, harmonica,
trumpet
1965 galt Dylan unter den Folk-Jüngern mit seinem gerade in den Charts
befindlichen Nr. 2 Hit ‘Like a Rolling Stone’ schon als Mainstream. Trotzdem
wurde er von seinen Fans weiterhin als Stimme ihrer Generation, als Kritiker
der Verhältnisse und Sprachrohr eines diffusen Aufbruchs gegen das Establishment,
gegen den Krieg, Stillstand und allerlei Ungerechtigkeiten vereinnahmt.
Radiohits zu schreiben hatte also nicht gereicht, er musste zu härteren
Maßnahmen greifen, um zu beweisen, das Ich ein Anderer ist.
Ich ist
ein Anderer
Wayne Moss
guitar, vocals
Hargus "Pig" Robbins
piano, keyboards
Robbie Robertson
guitar, vocals
Henry Strzelecki
bass guitar
Joe South
bass guitar, guitar
In Newport hat er dann ja bekanntlich die Rock-
Maschine angeworfen und seine Fans mit elektrisch
verstärkten Instrumenten und Rocksounds weiter verwirrt.
Waren bis dahin Konzerte mit 25 Watt Verstärkern
ausgekommen, gab es bei ihm von jetzt an richtig
auf die Ohren: für die legendäre Tour 1966 hat er mit
den Hawks eine im Kneipenkampf erprobte Rockabilly-
Band engagiert, die diszipliniert zulangen konnte. Ohrenzeugen bezeichneten
dann auch das Klanggewitter, das jeweils nach der Pause auf die Folk
gewohnten Ohren einprasselte, als die Geburt von etwas ganz anderem: »It
was heavy metal, it was trash metal, it was death metal, it was everything
that’s come since then.« 1 So hat es jedenfalls Dr. CP Lee gehört, der mit 16
Jahren damals Ohrenzeuge in der Manchester Free Trade Hall bei dem legendären
›Judas‹-Konzert war.
Man mag von Dylan halten was man will, aber er ist vermutlich der einzige
Rock-Star, der sich wirklich seine ganze, nun schon sechzig Jahre andauernde
Karriere lang treu geblieben ist und seine Fans dabei immer wieder herrlich
vor den Kopf gestoßen hat. Der Mann der vielen Gesichter ist vom Heavy
Metal-Wegbereiter zum Country-Barden mutiert, hat seine Masken in einer
Tingel-Tangel Band Mitte der 70er hinter Background-Sängerinnen und Big-
Band-Sounds versteckt, dem Herren ein Pony namens Luzifer angedichtet und
ist auch vor dem Elektrobeat der 80er Jahre nicht weggerannt. Der ständige
Wandel ist das einzig Beständige an seiner Musik. Und darum wundert es gar
nicht, dass er auch im hohen Alter noch moderne ›Judas‹-Rufe provozieren
kann: ich selbst war Ohrenzeuge, wie in einer billigen Kopie des Manchester
Free Trade Hall-Konzerts jemand in der Braunschweiger Volkswagenhalle
während Dylans Frank-Sinatra-Tour in einer ruhigen Passage laut und deutlich
»langweilig« durch die Halle brunste. Ja, was hat er denn erwartet? Etwa,
das Dylan seinen Erwartungen entspricht? Da hat jemand die letzten sechzig
Jahre nicht aufgepasst, die fremdbestimmte Mitarbeit auf Maggie’s oder sonst
einer anderen Farm ist nie Dylans Ding gewesen: »Well, I try my best / To be
just like I am / But everybody wants you / to be just like them« Damit benennt
Dylan wohl ein grundsätzliches Problem der menschlichen Kommunikation,
die ja in der Regel eher als selbstverliebtes Dozententum, denn als emphatischer
Versuch des Begreifens einer anderen Meinung daherkommt.
‘Blonde on Blonde’ gibt sich im Titel verrätselt: was soll das heißen? Hat ihn
das Theaterspektakel Brecht on Brecht, an dem seine ehemalige Freundin Suze
Rotolo beteiligt war, dazu inspiriert? Ist es ein Akronym seines Namens BOB,
oder sind tatsächlich Brian Jones und Anita Pallenberg damit gemeint, zwei
Blonde mit einer damals überaus populären Affäre?
Die Ungewissheit um den Namen des Albums gibt den Tenor der Texte vor.
Schon im ersten Stück, in ‘Rainy Day Women’ bleibt unentschieden, ob Dylan
25
»Man sollte sich Dylan nicht
von seinen Fans vermiesen
lassen. 2 «
tatsächlich die Steinigung als Symbol für die ungerechte
Beurteilung individueller Handlungen durch
die Gesellschaft benutzt – oder ob das Ganze einfach
ein Drogensong ist, der beschreibt, was dir alles passieren
kann, wenn du stoned bist und dich unheilbar
einsam fühlst, weil du mal wieder von der Unmöglichkeit
der Kommunikation frustriert bist.
Die häufig auch drogeninduzierte Entwicklung
der Rockmusik zu einem immer komplexeren Wall of
Sound hatte Dylan Mitte der sechziger Jahre mit seinen
Songtexten nachvollzogen und sie zu großen Textund
Bedeutungsgemälden ausgedehnt. Seine ultralangen
Textdichtungen engten die Musik zwar auf eine
begleitende Funktion ein, das meist nicht sonderlich
überraschende Folk- und Folk-Rock Gerüst gab aber
wiederum den Texten den nötigen Raum, um sich als
eine Art Wall of Words in die Köpfe der Teenagern zu
schrauben. Dort wirkten sie dann irgendwie bewusstseinserweiternd,
wenn auch nicht wirklich erhellend,
denn meist ließen sie mehr Fragen offen, als sie beantworteten.
Dieses Markenzeichen von Dylan hat nicht
unwesentlich zur Zementierung seines Status als
Ikone der Rockmusik beigetragen, denn der Strom aus
plastisch geschilderten Szenen, religiösen Phrasen,
Aphorismen und subjektiven Perspektivwechseln
amalgamiert je nach Zustand des eigenen Bewusstseins
zu immer neuen Bedeutungszusammenhängen.
Immerhin hat er mit dieser Strategie nicht nur
das Leben von Millionen Teenagern beeinflusst –
Miss Pamela, die Ende der Sechziger Groupie vieler
Rockstars und Kindermädchen bei Frank Zappa werden
sollte, fühlte sich nach dem ersten Hören von ‘Like A
Rolling Stone’ »wie von einem Bus angefahren« – sondern
der Song hat auch eine nicht enden wollende
Dylan-Exegese in Gang gesetzt, die vor gestandenen
Universitätsprofessoren nicht zurückschreckt und seinerzeit
in Frankfurt sogar zu
einem Bob Dylan-Kongress
geführt hat.
Entscheidend für die unmittelbare
Wirkung auf die
Zeitzeugen war in erster Linie
das Offene und Unbestimmte
der Texte, das adoleszenzgeplagten
Teenagern viel Raum
bot, um ihn mit eigenen
Sehnsüchten und Zweifeln zu
füllen. Es war eine der großen
Entdeckungen von Dylan, dass
er den Teenager-Popsong aus
dem Korsett von Stereotypen
befreit hat, deren bis dahin
größte Geheimnisse in versteckten sexuellen Andeutungen
lagen. Viele Eltern haben in den fünfziger und
sechziger Jahren natürlich geahnt, das ihre Kinder von
den anzüglichen Tanzbewegungen des Rock’n’Roll
verdorben werden - auch ohne zu wissen, dass schon
allein dieser Gattungsbegriff neben der Bewegung
auch eine aus der Afro-Amerikanischen Community
übernommene, explizit sexuelle Bedeutung hatte.
26
Dylan hat die Rockmusik mit seinen interpretationsoffenen Texten in eine
neue Sphäre gehoben und zu etwas veredelt, das man tatsächlich Kunst
nennen könnte. Diese Zeitenwende kann man im Grunde an ‘Like A Rolling
Stone’ festmachen, dessen unbändiger Energie man sich auch heute noch
kaum entziehen kann – und dessen poetische Kraft darin lag, zum ersten Mal
eine Geschichte so offen zu erzählen, dass die Hörer sich darin individuell wiedererkennen
und von der immer anders aussehenden, für jeden Einzelnen aber
unmittelbar und persönlich erscheinenden ›Wahrheit‹ des Songs gefangengenommen
werden konnten.
Für dieses Stück hat er mit Hilfe des schwarzen Musikproduzenten Tom
Wilson und Al Koopers flächiger Orgel einen Stil gefunden, den er auf ‘Blonde
on Blonde’ zu einem «dünnen, wilden, quecksilbrigen Sound» weiterentwickeln
wollte. Als er Ende 1965 ins Studio geht, liegen die ersten Live-Auftritte
dieser legendären Welttournee gerade hinter ihm. Wie in Newport spielt Dylan
jeweils den ersten Set akustisch, so wie die Fans das von ihm erwarten. Nach
der Pause wird es dann aber laut, wenn die Mitglieder der Hawks um Robbie
Robertson auf die Bühne kommen und ihn begleiten – mit den oben geschilderten
Folgen. Der erste Versuch mit dieser Live-Band in New Yorck ins Studio
zu gehen, geht schief, Dylan muss sich erst noch an das ungewohnte Zusammenspiel
mit einer Backing-Band gewöhnen.
Für die nächsten Versuche schlägt Bob Johnston, der mittlerweile Tom
Wilson als Produzent abgelöst hatte, vor, nach Memphis zu gehen, also in
das südliche Country & Western-Zentrum des Landes. Über die Studiotage
dort gibt es minutiöse Protokolle, die anhand der Session-Tapes jeden Tag,
oder besser jede Nacht, genau nachzeichnen können. Johnston hatte eine gut
eingespielte Gruppe von Sessionmusikern engagiert, die von Al Kooper und
Robbie Robertson ergänzt wurden.
Diese Mischung aus Country & Western Profis, dem Folk-Barden und den
jungen, wilden Rockern zündet. Auf der Basis von Orgel, Piano, akustischer
und elektrischer Gitarre und Mundharmonika wurden die Songs entwickelt
und von der diszipliniert wartenden Backing-Band dann mit einem zwingenden
Groove unterlegt. Dylan hat die Stücke direkt im Studio oder tagsüber
im Hotelzimmer am Piano geschrieben. Am Abend ist Robbie Robertson dann
mit den Songs ins Studio gefahren, um sie mit der Band einzuüben. So konnte
Dylan weiterdichten und später dann gleich mit der Feinarbeit beginnen.
Auf der Suche nach dem richtigen Sound und den richtigen Textzeilen vergingen
Stunden, in denen die Band nichts tat außer Warten. Die meisten Songs
wurden tatsächlich irgendwann zwischen ein und fünf Uhr morgens eingespielt.
Al Kooper sagte später dazu »nichts hat jemals den Sound von drei Uhr
morgens besser eingefangen, als dieses Album. Niemand, nicht einmal Sinatra,
hat das so gut hinbekommen.« 3
Entscheidend für den Sound war neben den routinierten Südstaaten-Musikern
sicher auch das Entfernen der schallschluckenden Wände zwischen den
Instrumentengruppen. So entstand im Studio ein offener Raum, der genauso
ideal war für den polternd-groovenden New-Orleans Sound wie den rumpelnden
Chicago-Blues. Auf jeden Fall hat Dylan dort diesen besonderen,
offenen und vielleicht auch ›quecksilbrigen‹ Sound gefunden, der ‘Blonde on
Blonde’ eine Strahlkraft beschert hat, die für uns auch beim Vinylrausch #2
noch geleuchtet hat.
Tom Wilson ist einer der
wenigen afroamerikanischen
Pro du zenten, die die Frühzeit
der Rockmusik mit geprägt
haben.
Ein ungewöhnlicher Mann,
der im Jahr 1966 fast gleichzeitig
zwei Alben produziert
hat, die für die unterschiedlich
en musikalischen An sätze
der Ost- und Westküste Amerikas
stehen wie keine anderen:
die Debüt-Alben von
Velvet Underground und von
den Mothers of Invention.
Auch die Fotos auf dem Innencover
hat Jerry Schatzberg
gemacht. Oben steht
Dylan wohl sein Manager Albert
Grossman gegenüber.
Unten versucht eine junge
Frau ein Interview mit Dylan
zu machen. Aber mit der Einstiegsfrage
‘Now that you’re
famous, how much money
do you want to make?‘ hatte
sie es sich schwer gemacht.
Dylans Antwort: ‘All of it.‘
Und so ging es weiter: ‘Do
you believe in nature?‘ beantwortete
er mit: ‘No, I
don‘t believe in any drugs.‘
Auf der Erstpressung von
1966 gab es rechts statt
Dylan ein großes Foto von
Claudia Cardinale, sie verschwand
dort schon 1968. 4
1 https://www.bbc.com/news/
entertainment-arts-36211789
2 Zitat nach Uwe Schütte, Basis-
Diskothek Rock und Pop,
Reclam 2011
3 Al Kooper: The Making of Bob
Dylans Blonde on Blonde,
youtube.com/
watch?v=01IE0vVN08c, ca.
Minute 32:00
4 siehe dazu ausführlich:
searchingforagem.com/1960s/
blonde.htm
27
28
David Bowie
Hunky Dory
17. Dezember 1971
Seite A
Changes – 3:37
Oh! You Pretty Things – 3:12
Eight Line Poem – 2:55
Life on Mars? – 3:43
Kooks – 2:53
Quicksand – 5:08
Seite B
Fill Your Heart – 3:07
Andy Warhol – 3:56
Song for Bob Dylan – 4:12
Queen Bitch – 3:18
The Bewlay Brothers – 5:22
David Bowie
vocals, guitar, alto and tenor saxophone, piano
Mick Ronson
guitar, vocals, Mellotron, arrangements
Trevor Bolder
bass guitar, trumpet
Mick Woodmansey
drums
Rick Wakeman
piano
auf der Suche
nach dem Ich
Fünf Jahre später wendet sich ein englischer Pantomime in
einem Song an Robert Zimmerman und bittet ihn, seinem
»guten Freund« Dylan weiterzusagen, das wir den Zugang
zu seinen Gedichten verloren
haben. Das scheint mehr zu sein,
als die Verortung der eigenen
Existenz zwischen der künstlichen
Avantgarde eines Andy
Warhol und der vielfach verspiegelten
Identität des ehemaligen
Protestsängers. In den Songs ‘Andy Warhol’ und ‘Song
for Bob Dylan’ erklärt David Bowie die beiden prägenden
Artisten der gerade vergangenen sechziger Jahre für überholt
– mit der unverhohlenen Absicht, sich an deren Stelle
zu setzen.
Natürlich ist Dylan auch für David Bowie als Songschreiber
wichtig, mehr aber noch als Rollenmodel für den
unabhängigen Star, der sich von seinen Fans nicht festlegen
läßt, sondern selber vorgeben möchte, wer er für
sich und für andere sein will. Auch Bowie war zeitlebens
auf der Suche nach sich selbst, seine Rollenwechsel aber
waren Versuche der Selbstversicherung und im Gegensatz
zu Dylan nicht unabhängig von dem, was von ihm erwartet
wurde. Während Bowie seine Masken ausprobieren wird,
um diejenige zu finden, die sein Inneres widerspiegeln
könnte, braucht Dylan die Masken um seine Innenwelt
gegen die Ansprüche von aussen abzuschotten und seinen
Fans die eigenen Erwartungen zurückzuspiegeln.
Auf dem Cover von ‘The Man Who Sold The World’
nimmt Bowie einen dieser, bei ihm noch mehrfach wiederkehrenden
Rollenwechsel vor und drapiert sich in Frauenkleidern
auf einem antiken Chaiselongue – der Performer
Bowie ist vom pantomimischen Mod zu einem androgynen
Lifestyle-Wesen mutiert, das sich nicht festlegen
will, oder kann. Das Cover von ‘Hunky Dory’ dagegen will
nicht zuviel verraten: Der Blick des Künstlers ist offen,
aber scheint nicht wirklich etwas zu sehen, sondern nach
Innen gerichtet zu sein. Bowie streicht die lange Mähne
fest an den Kopf, als wolle er sich zusammenreissen und
mit diesem Album seine Karriere endlich voran bringen.
Das Kokettieren mit Rollenmustern, Kleidern und
Liedstrich auch für männliche Musiker war nichts wirklich
neues, es hat die Rockmusik schon lange begleitet.
Little Richard war einer der ersten bekannten Rock’n’Roll
Entertainer, der sich in seiner sexuellen Orientierung
nicht eindeutig festgelegt hat, was ihn, seine Posen
und Selbstinszenierungen bis hin zu seinem Bühnenoutfit
zu einem großen Vorbild für Prince 1 machte.
Schon Mitte der fünfziger Jahren hat Richard seine
29
Hooffoot
Hooffoot
22. Februar 2015
Seite A
1st Communique: Last Flight Of The Ratite – 18:31
Seite B
2nd Communique: Take Five, Seven, Six, Eight, And Nine – 16:01
Pär Hallgren
bass
Jacob Hamilton
drums, percussion
Mikael Ödesjö
lead guitar
Ola Eriksson
organ, synthesizer
Bengt Wahlgren
fender Rhodes, clavinet
Jocke Jönsson
rhythm guitar
46
Während Blood,Sweat & Tears mit ihrem poppigen Brass-Rock einen der ersten
Wege zur Fusion von Rock und Jazzmusik betreten haben, steht die schwedische
Band Hooffoot für ausgereiften zeitgenössischen, aber unzweifelhaft tief
in den siebziger Jahren gründenden Jazz-Rock.
Es ist deshalb auch kein Wunder, dass die erste Begegnung mit dieser Band auf
dem Burg Herzberg Festival stattfand. Dort treffen sich nun schon über fünfzig
Jahre lang alte und junge Hippies, um neben viel anderer guter Musik besonders
den progressiven Rock zu feiern. Für Freunde der heftigen Orchestermusik
ist dort seit Jahren die Freak-Stage das bevorzugte Ziel.Und dort sind es wiederum
die Bands des legendären DJ’s und Freak-Show-Festival Veranstalters
Die Geburt eines
musikalischen Monsters
Charlie
Heidenreich,
die ausnahmslos aufregende
und meist fantastische
Musik anzubieten
haben.
Eines der schönsten
Erlebnisse vor der kleinen Freak- Stage war dann auch der Auftritt der schwedischen
Band Hooffoot im Jahr 2015. Als sie auf die Bühne kamen hatte der
Bassist und Bandleader Pär Hallgren sogleich angekündigt, dass er sich
erst in zwanzig Minuten wieder melden wird, so lange würde näm lich das
erste live vorgetragene Stück dauern, das dann auch das einzige auf der ersten
Seite ihrer Debüt-LP ist.
Der Label-Name könnte das Motto dieser Musik sein: Paura Di Niente – Vor nichts Angst.
Nicht nur die ersten zwanzig Minuten des denkwürdigen Konzerts, auch die
Vinylfassung dieser Musik, die wir beim Vinylrausch #03 gehört haben, sind
unvergessliche
Erinnerungen
für Liebhaber
von gleichzeitig vorwärts
und rückwärts gewandter
Rockmusik.
Das sorgfältig komplett
analog produzierte
Debütalbum der sechsköpfigen,
für die Plattenaufnahmen
sogar noch
um zwei Bläser ergänzten
Band, gehört zu den klanglich
bestechendsten Hörerlebnissen
der bisherigen
Vinylrausch-Staffeln und
ist mittlerweile unser
Referenz album geworden.
Die Band betont auf ihrer Webseite, das keinerlei digitale Komponenten
während der Aufnahme genutzt wurden, das Album also unbeeinflusst von
Bits und Bytes auf analoge Tapes aufgenommen und von diesem Band dann
auf das Vinyl-Master im Kopierwerk übertragen wurde. Ob es nun an diesem
ebenso konsequenten, wie ambitionierten Produktionsweg gelegen hat, lässt
sich mangels Vergleichsmöglichkeiten nicht wirklich sagen, aber das Ergebnis
ist auf jeden Fall erstaunlich: selten schafft es ein Album einen so voluminösen
Stereoraum zu erzeugen, in dem nicht nur die Instrumente brillant
47
50
VINYLRAUSCH #04
The Beatles – Revolver 1966
The Rolling Stones – Sticky Fingers 1971
Marvin Gaye – What’s Going On 1971
Wenn man sich mit der Rock-Geschichte beschäftigt, dann fallen tatsächlich
die beiden Jahre 1966 und 1971 immer wieder ins Auge: ‘66
markierte in vielerlei Hinsicht einen frühen Höhepunkt der Rockmusik
und gleichzeitig einen Aufbruch in bis dahin noch völlig unbekannte
Stile und musikalische Ideen.
‘71 verblüfft durch eine ungeheure Dichte an herausragenden Platten,
von denen man aus heutiger Sicht tatsächlich kaum begreifen kann,
dass sie alle parallel entstanden und gehört worden sind. Wann hat
es so ein ergiebiges Jahr noch einmal gegeben? Natürlich war es
für viele Bands auch ein Jahr des Umschwungs, der Neuorientierung,
nachdem man sich Ende der 60er Jahre in einem von allerlei
bewusstseinserweiternden Substanzen angefeuerten Rausch von Ideen
verausgabt hatte.
Beim Vinylrausch #04 haben wir drei echte Klassiker gehört: Die
Beatles haben auf ‘Revolver’ neue Sounds und Aufnahmetechniken
entdeckt, die Stones haben auf ‘Sticky Fingers’ den Blues-Rock mit
Soul veredelt und Marvin Gaye hat auf ‘What’s Going On’ damit
begonnen, wichtige Fragen zu stellen.
51
52
Das ikonografische Cover von Klaus Voormann scheint
die überbordenen Ideen widerzuspiegeln, um die die vier
Pilzköpfe auf Revolver leidenschaftlich gerungen haben.
Nach Meinung von Manager Brian Epstein baut die Collage
den Fans eine Brücke, es bereitet sie auf die musikalischen
Herausforderungen des Albums vor. Stilistisch
könnte Voormann von den filigranen Jugendstil – Zeichnung
von Aubrey Beardsley beeinflusst sein, der im
Sommer 1966 eine große Ausstellung in London hatte.
The Beatles
Revolver
05. August 1966
Seite A
Taxman – 2:39
Eleanor Rigby – 2:06
I’m Only Sleeping – 3:00
Love You To – 2:59
Here, There and Everywhere – 2:25
Yellow Submarine – 2:41
She Said She Said – 2:37
Seite B
Good Day Sunshine – 2:08
And Your Bird Can Sing – 2:00
For No One – 2:00
Doctor Robert – 2:14
I Want to Tell You – 2:29
Got to Get You into My Life – 2:29
Tomorrow Never Knows – 2:57
John Lennon
vocals, guitars, organ, harmonium,
loops
Paul McCartney
vocals, bass, guitars, piano, clavichord,
loops
George Harrison
vocals, guitars, sitar, tambura, loops
Ringo Starr
drums, tambourine, maracas, vocals
George Martin
producer, piano, organ, loops
Geoff Emerick
recording and mixing engineer, loops
Laßt mich in Ruhe, Ich bin
weit weg von hier
Vermutlich sind die Beatles eines der am
besten beschriebenen Phänomene in der
modernen Rockmusik. Ihr evolutionärer Input
war entscheidend, ist aber wohl, wie Musik
überhaupt, schwer in Worte zu fassen. Warum sonst gibt es hunderte von Analysen,
Wiedererzählungen und Einordnungen – und tausende von Wiederholungen
in Artikeln, Blogs und Büchern? Im besten Fall ordnen die beschreibenden
und analysierenden Texte die vorliegenden Text-Akkorde neu, geben
ihnen einen anderen Rhythmus oder synkopieren die herausgearbeiteten
Zusammenhänge so ungewöhnlich, dass auch die bekannten Melodien neu
zusammengesetzt scheinen.
Genau so haben auch die Beatles angefangen und versucht, als eine der vielen
mittelenglischen Skiffel-Bands die Kraft, Lautstärke und Energie des amerikanischen
Rhythm & Blues nach Europa zu importieren und hier mit Melodik
und Rhythmen englischer Populärmusik zu verbinden. Während Anfang der
sechziger Jahre die amerikanischen Charts von einem weichgespülten und
für das weiße Mittelklasse-Publikum annehmbaren Pop’n’Roll dominiert war
– auch Elvis hatte sich nach seiner Bewährung während der Militärzeit zum
charttauglichen Schmuserocker zähmen lassen – gelang es den vier Engländern,
den fremden, aber energetischen Rockabilly mit ausgefeilten Akkordwechseln
und reicher Harmonik zu einer eigenen musikalischen Sprache zu
entwickeln, die nicht vordergründig vom Blues dominiert wurde.
53
Marvin Gaye
vocals, piano, mellotron, box
drum
Funk Brothers:
Eli Fontaine
alto saxophone
Wild Bill Moore
tenor saxophone
Johnny Griffith
celeste, keyboards
Earl Van Dyke
keyboards
Jack Brokensha
vibraphone, percussion
Joe Messina, Robert White
electric guitars
James Jamerson
bass guitar (nur Seite A)
Bob Babbitt
bass guitar
Chet Forest
drums
Jack Ashford
tambourine, percussion
Eddie ’Bongo‘ Brown
bongos, congas
Earl DeRouen
bongos, congas
add. background-singer
add. brass, woodwind &
strings
Marvin Gaye
What‘s Going On
21. Mai 1971
Seite A
What’s Going On – 3:53
What’s Happening Brother – 2:43
Flyin’ High (In the Friendly Sky) – 3:49
Save the Children – 4:03
God Is Love – 1:41
Mercy Mercy Me (The Ecology) – 3:16
Seite B
Right On – 7:31
Wholy Holy – 3:08
Inner City Blues (Make Me Wanna Holler) – 5:26
64
Ein Cover voller Botschaften:
Vorne der Blick mutig in die Zukunft,
auf der Rückseite nachdenklich
zu Boden gerichtet.
Das Frontfoto war eines der
letzten, das der Fotograf Jim
Hendin aufgenommen hatte
und es wurde zunächst aufgrund
der Untersicht und dem
damit verbundenen Blick in
die Nasenflügel abgelehnt.
Gaye beharrte aber darauf.
Die Szene im Regen, der offene
Blick gegen den, über einer geschundenen
Erde weinenden
Himmel gerichtet, passte perfekt
zu den aufrüttelnden
Themen seiner Songs.
Stattgefunden hat die Fotosession
im Garten von Gaye´s
Haus, zwischen den liegengebliebenen
Spielzeugen seiner
Kinder. Gegen den Regen hatte
sich Gaye den heute ikonischen
Lackmantel übergeworfen. Das
starke Bild zeigt einen ernsthaften
Grübler, der erkannt hat,
dass wir in einer maßlosen Welt
unsere Unschuld verloren haben.
Noch einmal 1971 und noch einmal ein großes Soul-Studio: Hitsville U.S.A.,
das legendäre Motown-Studio in dem seit 1962 unter der unerbittlichen Regie
von Berry Gordy unzählige R&B-Hits produziert wurden. Gordy war durch und
durch Geschäftsmann, der die Fließbandproduktion aus der Autoindustrie auf
sein Studio übertragen hatte und junge Soulmusiker mit einem Rundumpaket
aus musikalischer Ausbildung, Tanzkursen und persönlicher Betreuung auf
ein Leben als SoulsängerIn vorbereitete. Während er zu Anfang die Hits auch
noch selbst schrieb – sein erster großer Erfolg war tatsächlich der programmatische
Titel ‘Money (That’s what I want)’ – hat Gordy später seine angestellten
Songschreiber durch harte Auslese zum Hitschreiben verdammt.
Der Soul ist von Ray Charles Mitte der fünfziger Jahre als Mischung des
kirchlichen Gospel mit dem stampfenden Beat des Shout 1 entwickelt worden.
Dabei hat er die christliche Formel der Gottesanrufung einfach durch die
Geliebte ersetzt und aus ›My Lord‹ nun ›My Baby‹ gemacht. Damals wurde das
noch Rythm’n’Blues genannt und damit als afroamerikanische Musik gekennzeichnet.
Auf dem Weg in die Pop-Charts ist der Beat dann schwerer geworden
und aus den christlichen Beschwörungen wurden Texte, die sich um reale und
eingebildete Nöte zweifelnder Teenager drehten. Damit ging ein neuerlicher
Begriffswandel einher und der ›Soul‹ war geboren. Er blieb zunächst weiter
die Musik der Afroamerikaner, denn der Begriff ›Soul‹ spiegelte in den sechziger
Jahre das wachsende Selbstbewusstsein dieses Bevölkerungsteils
wieder, der gerade dabei war, neue Freiheiten
für sich zu erkämpfen. Nachdem Berry Gordy im Laufe der
60er Jahre mit dem Motown-Sound wesentlich dazu beigetragen
hatte, dass der Soul seine Ecken und Kanten immer
weicher spülte, mit dem erklärten Ziel, so auch Weiße Käuferschichten
erreichen zu können, manifestierte sich die
wachsende Selbstsicherheit der Afroamerikaner gegen Ende
des Jahrzehnts zunehmend in dem körperbetonten Funk von
Sly Stone und den deutlichen Botschaften von James Brown:
»I’m black and I’m proud«.
Gordy hat das Genre Soul mit dem Sound seines Labels
Motown wesentlich geprägt: Für ihn war der Soul Popmusik
und hatte sich an den Charts zu orientieren. Gefragt waren
hauptsächlich Sängerinnen oder Vokalgruppen, ein guter
Groove und ein Soundteppich aus Bläsern und / oder Streichern
im Hintergrund. Die weltweit erfolgreiche Produktion
von Motown war seit Ende der 50er Jahre, wie in den
anderen Studios damals auch, arbeitsteilig organisiert und zwischen Songschreibern
/ Produzenten, den Interpreten und den Backing-Bands aufgeteilt.
Während aber sowohl die Ideenlieferanten und Songschreiber, als auch
die vielen Vokalgruppen- und Sänger leicht ausgetauscht werden konnten,
haben die Backing-Bands die Musik der Studios geprägt und waren deshalb
unverzichtbar: bei Stax war das Booker T. mit einer gemischtrassigen Band,
in den Muscle-Shoals Studios spielten weiße Südstaatler für schwarze Sänger
wie Wilson Pickett und bei Motown waren es die Funk-Brothers, die fast ausschließlich
aus afroamerikanischen Musikern bestanden.
In dieser Backing-Band hat Marvin Gaye Anfang der Sechziger als Schlagzeuger
angefangen und u.a. auf Hits von Smokey Robinson & The Miracles
65
72
VINYLRAUSCH #05
The Jimi Hendrix Experience – Electric Ladyland 1968
Stevie Wonder – Songs In The Key Of Life 1976
Prince and The Revolution – Around The World In A Day 1985
2016 war ein merkwürdiges Jahr in dem eine überraschende Todesnachricht
nach der anderen eintraf. Nun war also auch Prince gestorben, ebenso
völlig unerwartet wie David Bowie ein paar Wochen zuvor. Für uns war das
der Anlass, in Gedenken an Prince zum ersten Mal eine Platte aus den achtziger
Jahren zum zentralen Album beim Vinylrausch zu machen.
‘Around The World In A Day’ ist ein komplexes und stilistisch vielseitiges
Werk, das seine Wurzeln eindeutig in den sechziger Jahren hat. Robert
Palmer nannte es in einer zeitgenössischen Kritik dann auch Around Great
60‘s Rock in a Day. Prince schlägt mit diesem Konzeptalbum den großen
Bogen vom Rock’n’Roll Little Richards über die Beatles der ‘Sgt. Pepper’-Zeit
bis hin zu Jimi Hendrix’s frei fließenden Gitarrenriffs.
Auf ‘Electric Ladyland’ haben wir uns dann auch als Vorbereitung in die
Traumwelt eines der beeindruckendsten Künstlers der Rockmusik hineingehört.
Rund um den zentralen Songs des Albums ‘1983’ sind wir in dieses von
Göttern geschaffene und von Liebe erfüllte Meisterwerk eingetaucht.
Um den Zustand der Liebe sorgt sich mit Stevie Wonder ein weiteres Vorbild
von Prince. Mit ‘Songs In The Key Of Life’ hat er 1976 ein beeindruckend
diverses Album geschaffen, dessen berstende Grooves überall in Prince’s
Werk nachklingen.
73
Jimi Hendrix nimmt eine besondere Stellung in der
Rockmusik ein. Er ist einer der wenigen, vielleicht
sogar der einzige Rockmusiker, der einhellig als wegweisender
Innovator betrachtet wird. Sein Auftauchen
in England 1966 markiert eine Zeitenwende, niemand
vor ihm hat die elektrische Gitarre emotional so zwingend
herausgefordert, niemand hat sie so unmittelbarer
zum Sprechen gebracht wie er. Hendrix hat die
elektroakustischen Möglichkeiten der E-Gitarre in
neue, bis dahin unbekannte Richtungen ausgelotet
und in bis dahin ungehörte Musik verwandelt. Er hat
furchtlos mit Feedback und Wah-Wah-Pedal experimentiert
und die Zuhörer damit in ein für sie neues
Gestrüpp aus ineinander
verwobenen Sounds verstrickt.
»The sound of his
music is extremely symbolic:
orgasmic grunts,
tortured squeals, lascivious
moans, electric
disasters and innumerable
other audial curiosities are delivered to the sense
mechanisms of the audience at an extremely high
decibel level.« 1
‘Electric Ladyland’ beginnt mit zwei Donnerschlägen,
die uns als Zeichen der Götter in eine
andere, von unmittelbaren Emotionen und purer Leidenschaft
geprägte Welt mitnehmen wollen. Seltsame
Geräusche, wabernde Sounds und Stimmen aus der
Tiefe oder der Höhe, jedenfalls aus einer unverständlich
fremden Welt begrüßen uns in dem Opener ‘And
the Gods Made Love’. Es sind Tönen dabei, die aus dem
Land stammen könnten, das wenige Jahre zuvor von
den Beatles mit ‘Tomorrow never Knows’ zum ersten
Mal betretenen worden ist. Ihre Experimente mit
Tape-Loops, verlangsamten oder beschleunigten Tonbändern
und elektronisch modifizierten Sounds haben
dem psychedelischen Rock, in den uns Hendrix auf
diesem Album entführen will, den Weg geebnet.
Das Foto auf dem Innencover scheint zu dieser Götter-Symbolik
bestens zu passen: der bunt geschmückte
Prophet einer neuen Welt ist entweder wie der Phönix
aus der noch rauchenden Asche gestiegen, um uns zu
retten, oder es umspielt ihn schon der feuchte Nebel
der Unterwasser-Welt, in die er uns auf diesem Album
führen möchte und die auf der dritten Seite des Albums
in dem monumentalen ‘1983’ dann die Zuflucht für die
Abgesandten einer gescheiterten Spezies werden wird.
The Jimi Hendrix Experience
Electric Ladyland
16. Oktober 1968
Seite A
And the Gods Made Love – 1:21
Have You Ever Been (To Electric Ladyland) – 2:11
Crosstown Traffic – 2:25
Voodoo Chile – 15:00
Wenn die ‘elektrische
Liebe‘ den Himmel
befruchtet
Seite B
Little Miss Strange – 2:52
Long Hot Summer Night – 3:27
Come On (Part I) – 4:09
Gypsy Eyes – 3:43
Burning of the Midnight Lamp – 3:39
Seite C
Rainy Day, Dream Away – 3:42
1983 (A Merman I Should Turn to Be) – 13:39
Moon, Turn the Tides ... Gently Gently Away – 1:02
Seite D
Still Raining, Still Dreaming – 4:25
House Burning Down – 4:33
All Along the Watchtower – 4:01
Voodoo Child (Slight Return) – 5:12
The Jimi Hendrix Experience:
Jimi Hendrix
vocals, guitars, piano, percussion,
electric harpischord, bass guitar
Noel Reddings
backing vocals, bass
and acoustic guitar
Mitch Mitchell
drums, percussion, vocals
74
Chris Wood
flute on ›1983 (A Merman I
Should Turn to Be)‹
Freddie Smith
tenor saxophone on ‘Rainy
Day, Dream Away‘ and ‘Still
Raining, Still Dreaming‘
Steve Winwood
Hammond organ on ‘Voodoo
Chile‘
Mike Finnigan
organ on ‘Rainy Day, Dream
Away‘and ‘Still Raining, Still
Dreaming‘
Al Kooper
piano on ‘Long Hot Summer
Night‘
Dave Mason
twelve-string guitar, backing
vocals on ‘Crosstown Traffic‘
and ‘All Along the Watchtower‘
Jack Casady
bass guitar on ‘Voodoo Chile‘
Buddy Miles
drums on ‘Rainy Day, Dream
Away‘ and ‘Still Raining, Still
Dreaming‘
Larry Faucette
congas on ‘Rainy Day, Dream
Away‘ and ‘Still Raining, Still
Dreaming‘
Brian Jones
percussion on ‘All Along the
Watchtower‘
The Sweet Inspirations
backing vocals on ‘Burning of
the Midnight Lamp‘
75
Der unerwartete Tod von Prince war der traurige Anlass, uns zum ersten
Mal an ein Album aus den achtziger Jahren zu wagen. Mittlerweile ist es ja
Usus dieses problematische Jahrzehnt über seine vielen Probleme zu definieren
– und zu denen zählen zweifellos Ronald Reagan, der Walkman und
der Drum-Computer. Tatsächlich haben alle drei Probleme auch etwas mit der
Musik dieses Jahrzehnts zu tun. Beim Drum-Computer liegt es auf der Hand,
oder eben gerade nicht: sein präziser Schlag hat den Sound der Achtziger
nachhaltig geprägt und ist bis heute als elektronischer Puls aus der modernen
Pop- und Tanzmusik nicht mehr weg zu denken. Der Drum-Computer war ein
weiterer Schritt der populären Musik hin zur Dominanz des Beats, zur Vereinfachung,
zur Reduktion des Songs auf den Rhythmus. Ein erster Vorbote
dieser Entwicklung, die in den neunziger und zweitausender Jahren zu Techno,
House und den vielen Spielarten dieser von Rhythmus und Loop dominierten
Musik geführt hat, ist Ende der Achtziger der von Prince vehement abgelehnte
Hip-Hop. Der Hip-Hop hat die noch verwickelten rhythmischen Breaks des
Rap vereinfacht und mit einem Sprechgesang verbunden, der in uferloser Wiederholung
die immer gleichen Wortbetonungen aneinanderreihte. Dabei ist
der Gesang zunehmend degradiert worden, von einem melodieführenden zu
einem vorrangig dem Rhythmus dienenden Musikelement.
Der Walkman war für viele Jugendliche zunächst ein Segen, er hat das
Musikhören aus dem häuslichen Umfeld befreit und damit der elterlichen
Kontrolle entzogen. Diese neue Freiheit war aber mit einem entscheidenden
Prince
lead vocals, guitars,
assorted instruments,
all instruments on (3+5)
Brown Mark
bass guitar, background vocals
Wendy Melvoin
guitars, background vocals
Lisa Coleman
keyboards, background vocals
Dr. Fink
keyboards
Bobby Z.
drums and percussion on
David Coleman
cello, oud, fingercymbals, darbuka,
background vocals (1)
Jonathan Melvoin
tambourine and background
vocals
Susannah Melvoin
background vocals
Novi Novog
violin
Brad Marsh
tambourine
Sheila E.
drums (7)
Eddie M.
saxophone
Suzie Katayama
cello
Sid Page
violin (8)
90
Prince and The
Revolution
Around the World
in a Day
22. April 1985
Seite A
Around the World
in a Day – 3:27
Paisley Park – 4:40
Condition of the Heart
– 6:48
Raspberry Beret – 3:31
Tamborine – 2:46
Seite B
America – 3:42
Pop Life – 3:41
The Ladder – 5:26
Temptation – 8:18
Ein Tripp um die Welt
und durch die ZeiT
Manko verbunden: es war die Freiheit des Einzelnen und widersprach
damit dem adoleszen ten Ziel, in der Interaktion mit alters- oder stilmäßig
kohärenten Gruppenmitgliedern den Graben zwischen dem Ich und den
Anderen zu überwinden. Wer alleine hört, ist auf sich gestellt. Er oder sie
hört etwas anderes als die anderen, etwas
über das man zwar erzählen kann, über
das man sich austauschen kann, das aber
keine Gruppenerfahrung mehr ist. Der
Walkman war damit das Muster für die
heute oft verstörend und manchmal sogar
lächerlich wirkende Auto-Kommunikation
von Individuen in Gruppen, aber an technischen Geräten. Das zusammen
im Konzert, am Esstisch oder in der Kinovorstellung Gesehene oder Gehörte
wird nicht mehr als eine Gemeinschaftserfahrung mit den real Anwesenden
erlebt, sondern erst dann relevant, wenn es mit dem Smartphone individuell
digitalisiert, und mit den abwesenden, im Moment des Erlebens also tatsächlich
nur virtuellen Kontakten, geteilt ist. Die Bevorzugung der Repräsentanz vor
der Erfahrung degradiert in der digitalen Kommunikation das Ereignis damit
auf den Moment der Aufzeichnung.
Die neuen Möglichkeiten individueller Musikkonsumption allein oder
innerhalb von ähnlich ausgestatteten Gruppen sind in den achtziger Jahren
ein Zeichen der Zeit, die sich daran macht, gesellschaftlich homogene Gruppen
91
Der Vinylrausch ist der Musik unseres Lebens auf der Spur,
er hilft uns zu verstehen, warum wir sie ausgesucht haben
– und wie sie unser Leben verändert hat.
Musik formt unser Leben, einzelne Alben, Musikgenres, Musiker oder
Bands beschäftigen und berühren uns, oft ein Leben lang.
Der Vinylrausch zieht bekannte und übersehene Alben wieder aus dem Regal,
findet sie in der unendlichen Masse an vergangener und neuer Musik und
präsentiert sie als Kunstwerke: mit zwei Seiten, mit Texten und Cover als Einheit.
Wir hören genau hin, suchen und finden Bezüge,
die klassische Alben aus der Rock-, Pop- und Jazzgeschichte
miteinander und mit aktuellen Veröffentlichungen verbinden.
Frank Zappa
and The Mothers of Invention
One Size Fits All
Captain Beefheart
and The Magic Band
Shiny Beast
Queen
A Night at the Opera
Bob Dylan
Blonde on Blonde
David Bowie
Hunky Dory
Janis Joplin
Pearl
Blood, Sweat & Tears
Blood, Sweat & Tears
Joni Mitchell
Hejira
Valerie June
Pushin‘ Against a Stone
Hooffoot
Hooffoot
The Beatles
Revolver
»Sauber recherchierte und
spannende Musikgeschichte.«
Thomas, Vinylrausch-Besucher
»Der Bezug zur damaligen Zeit ist gelungen und durch die
Beschreibung der einzelnen Titel weiß ich jetzt auch als
Nicht-Musiker, warum ich die Lieder mag.«
Stephan, Stones-Fan
»Im Prinzip die perfekte Veranstaltung…«
Georg, Vinylrausch-Besucher
The Rolling Stones
Sticky Fingers
Marvin Gaye
What‘s Going On
The Jimi Hendrix Experience
Electric Ladyland
Stevie Wonder
Songs in the Key of Life
Prince and The Revolution
Around the World in a Day
»Den Rausch entfalten und ihn nutzen gehört zusammen;
er kann erst richtig genutzt werden,
wenn er sich entfalten kann und verstanden wird.«
Daniel Kulla in: Leben im Rausch, Evolution, Geschichte, Aufstand