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Kai Uwe Schierz Wie Erinnerungen aus Zeiten, unvorstellbar weit … Über die Bildhauerei von Dietrich Klinge

Kai Uwe Schierz
Wie Erinnerungen aus Zeiten, unvorstellbar weit …
Über die Bildhauerei von Dietrich Klinge

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Dietrich Klinge

Vreidäis



Dietrich Klinge

Vreidäis

Mit einem Text

von Kai Uwe Schierz



Inhalt

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Vorspann Junk 282

Kai Uwe Schierz

Wie Erinnerungen aus Zeiten,

unvorstellbar weit …

Über die Bildhauerei von Dietrich Klinge

Der Schrei II

H. 107

Der Schrei II (kleine Variante)

7 tomoé (Autokatalyse VIII)

Fragment 7 tomoé

zeits 7

eRBe 21

Autokatalyse IX

Teiresias II

Fig. 440

Autokatalyse X

K. 345

H. 109/110

Nimm es! (H. 111/112)

H. 113/114

K. 349

K. 351, K. 350

Vreidäis

Autokatalyse XI

Impressum






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Kai Uwe Schierz

Wie Erinnerungen aus Zeiten, unvorstellbar weit …

Über die Bildhauerei von Dietrich Klinge

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Stellen wir uns das einmal vor: Eine Gruppe von Archäologen gräbt 1939 in der Stadel-Höhle

am Hohlenstein im Lonetal, also in der Schwäbischen Alb, nach Zeugnissen des Lebens aus der

Vorgeschichte. Sie bergen allerhand größeres und kleines Material, auch zahlreiche Bruchstücke aus

dem Elfenbein von Mammuts. Wegen des beginnenden Krieges wird die Kampagne abgebrochen. Die

Fundstücke wandern ins Depot, und erst nach dreißig Jahren holt sie jemand hervor, sichtet sie neu

und fügt einige Teile zu einer Figur zusammen. Etwa zwanzig Jahre später wird dieses hypothetische

Kompositum, eine sehr fragmentarisch bleibende Statuette, zum ersten Mal restauriert. Da wichtige

Partien fehlen, sucht man während einer Grabungskampagne 2009 die Fundstelle aus dem Jahr 1939

erneut auf und kann zahlreiche weitere Fragmente aus Elfenbein bergen. Ein mit modernster Technik

und Methodik ausgestattetes Restaurierungsprojekt fügt schließlich in den Jahren 2012/13 über

300 Bruchstücke zusammen, so dass die Elfenbeinfigur nun fast komplett erscheint: der „Löwenmensch“

der Schwäbischen Alb – ein Fabelwesen aus Tier und Mensch, eine archäologische Sensation!

Gemeinsam mit zahlreichen anderen Fundstücken, zum Teil winzigen Tierfiguren und schmalen Flöten

aus den Knochen von Singschwänen, Gänsegeiern und Mammutelfenbein, zählt der „Löwenmensch“

heute mit seinem Alter von 35-40.000 Jahren zu den ältesten Kulturzeugnissen des modernen

Menschen, wird 2017 mit dem Weltkulturerbe-Titel international gewürdigt und ausgezeichnet. Manche

Partien des „Löwenmenschen“ wurden von einem Menschen der Steinzeit naturnah aus dem Material

herausgeschnitten, andere deuten eher summarisch und stilisierend Details einer stehenden Figur an.

Parallele Einkerbungen an einigen Stellen werden als Ornamente gedeutet. In archaischer Statuarik,

Haltung und Blick streng aufrecht und geradeaus, ragt dieses rätselhafte Kunstwerk in unsere Zeit hinein.

Was können wir über den „Löwenmenschen“ aus der Stadel-Höhle wissen, über das zeitgleiche, knapp

vier Zentimeter große Relief mit dem Titel „Adorant vom Geißenklösterle“ oder die 2008 aufgefundene,

etwa sechs Zentimeter hohe „Venus vom Hohle Fels“? Über den geistigen Kosmos, die diese und

andere Objekte bevölkerten? Über ihre Nutzung? Die Rituale an den Lagerfeuern? Wenig bis fast nichts.

Das Wenige ergibt sich aus Vergleichen mit rezenten Kulturen, von Völkern, die immer noch als Jäger

und Sammler umherstreiften, als sie moderne Abenteurer und Händler, Geografen und Ethnologen

besuchten und seit dem 19. Jahrhundert auch systematisch zu beschreiben begannen. Man hat

diesen Kulturen das Attribut „archaisch“ angeheftet. Doch was sagt das schon? Die Defizite im Wissen

jedenfalls tun unserem Interesse an diesen Fundstücken keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Obskure,

Offene, nur ansatzweise Deutbare, fordert uns immer wieder neu zur Deutung heraus.


Stellen wir uns weiterhin vor: Nicht weniger als 291 Millionen Jahre ist es her, Fachleute bezeichnen diese

Phase der Erdgeschichte als „unteres Perm“, dass im heutigen Umfeld von Chemnitz der Zeisigwald-

Vulkan ausbrach. Die Wucht der Eruption entwurzelte die Bäume der Umgebung, die nachfolgenden

pyroklastischen Ströme verschütten sie unter riesigen Mengen an vulkanischem Auswurfmaterial. Jede

neue Eruptionsphase begrub die verschütteten Pflanzen und Tiere tiefer. Luftabschluss, hoher Druck

und Kieselsäure in den Auswurfmaterialien sorgten schließlich für die Fossilisation der organischen

Substanzen, so dass diese bis in erstaunliche Details hinein als Form, nicht als Substanz, erhalten

blieben. So entstand der „Versteinerte Wald“ von Chemnitz, dessen Reste bereits Gelehrten der

Renaissancezeit aufgefallen waren und bis heute im Stadtgebiet ausgegraben werden. So barg

man beispielsweise im Rahmen einer zwischen 2008 und 2010 durchgeführten wissenschaftlichen

Grabung aus dem Boden eines Grundstücks an der Frankenberger Straße das petrifizierte Abbild

eines Riesenschachtelhalms Arthropitys bistriata, in einer Größe und mit einer Mehrfachverzweigung,

wie sie bislang unbekannt waren. Die Paläontologische Gesellschaft ehrte das Fundstück, diesen

„größte Schachtelhalm der Welt“, mit der Auszeichnung „Fossil des Jahres 2010“. Gezeigt wird es heute

in der Dauerausstellung des Museums für Naturkunde Chemnitz. Auch hier stehen wir verblüfft vor

dem Zeugnis der Geschichte, nunmehr der Erdgeschichte, sehen ein Detail, gleichsam eine vulkanisch

konservierte Momentaufnahme aus einer unvorstellbar weit zurückreichenden Zeit. Gerade die

petrifizierten Objekte des uralten Waldes mit ihren erstaunlich gut ausgeformten Details stimulieren

unsere Einbildungskraft. Wir wollen mehr wissen über den Wald, wie er lebte, über sein Ökosystem;

wir imaginieren uns hinein in diese Welt, deren Zeitstellung unser Vorstellungsvermögen zugleich

sprengt. Vor diesem Zeitmaß wirkt unsere Welt, unser Leben, unendlich klein. Unsere Reaktion ist

zumeist eine Mischung aus Faszination und Ehrfurcht, ein inneres Erschauern.

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Die Empfindung des Erhabenen, („the sublime“), von Edmund Burke 1757 als „delightful horror“

charakterisiert, eine Mischung aus Faszination und Schrecken, das man mit „Erschauern“ übersetzt

hat, verbunden mit dem Eindruck, dass da etwas viel größer ist als alles menschlich Vorstellbare, diese

Relativierung der Allmacht des menschlichen Maßes und Geistes, überführt die menschliche Neugier in

Zustände der Ehrfurcht, Achtung, der Verbindung von Wahrnehmung, Furcht und Verehrung. Waren es

im 19. Jahrhundert noch Anblicke des scheinbar unendlichen Meeres oder der unzugänglichen Felsen

des Hochgebirges im ewigen Eis, die in den Zeitgenossen erhabene Empfindungen weckten – und

entsprechend von Künstlern in deren Bildern kultiviert wurden – , so ist es heute, in einer Zeit also, in

der pro Saison hunderte Bergsteiger den Mount Everest bezwingen (seit der Erstbesteigung 1953 waren es

schon mehr als 5000 Männer und Frauen), wohl nur noch der Blick zurück in unvorstellbar weit entfernte

Zeiten, der uns so etwas wie das Erhabene empfinden lässt.

Was hat all das mit der Bildhauerei von Dietrich Klinge zu tun? Wenig nur auf den ersten Blick, auf die

nachfolgenden Blicke recht viel.


22 Der Schrei II

(eRBe 20)

2019, Eisen,

H. 229,5 cm, 6 Ex.


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H. 107 25

2018, Bronze,

H. 56 cm, 6 Ex.


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Der Schrei II

(eRBe 20)

2019, Eisen,

H. 229,5 cm, 6 Ex.


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Der Schrei II

(kleine Variante)

2020, Bronze,

H. 33 cm, 6 Ex.

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30 7 tomoé

(Autokatalyse VII)

2019, Eisen,

H. 103 cm, 6 Ex.


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32 Fragment 7 tomoé

2019/2020, Bronze,

H. 99 cm, 6 Ex.


33


34 Fragment 7 tomoé

2019/2020, Bronze,

H. 99 cm, 6 Ex.


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zeits 7

2020, Bronze,

H. 56,5 cm, 9 Ex.


eRBe 21

2019, Eisen/Bronze,

H. 49,7 cm, 6 Ex.

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38

Denn auch die Kunst von Dietrich Klinge führt uns in scheinbar unvorstellbar weit zurückliegende Zeiten,

Ereignisse und Figuren zurück, in mythisches Gelände. Und nicht nur das. Er zeigt uns seine Figuren auch

so, als hätte er sie in einem petrifizierten Zustand aufgefunden, ausgegraben und nun für sich und uns

zusammengesetzt. Schließlich spielt der Begriff des Archaischen eine wichtige Rolle in seiner Arbeit am

Menschenbild, dem der Bildhauer mit großer Konsequenz über die Jahrzehnte seines Schaffens verpflichtet

blieb. Das Archaische bezeichnet, abgeleitet vom altgriechischen Attribut ἀρχαῖος (arkhaîos), das den

Stamm ἀρχή (arkhḗ) = „Beginn“ enthält, so viel wie „das Anfängliche, Ursprüngliche betreffend“, „zum

Anfang, Ursprung gehörend“; im übertragenen Sinne wurde es mit „altertümlich“ oder „antik“ übersetzt.

Entsprechend steht die Archaik als Kunstepoche in der klassischen Archäologie und Kunstgeschichte am

Anfang der Entwicklung der griechischen bildkünstlerischen Kultur. Das Archaische kann das anfänglich

noch Undifferenzierte und Unentwickelte meinen, das Primitive also, in einem pejorativen Sinn das

hoffnungslos Alte und Überkommene oder in einer emphatischen Perspektive das allursprüngliche,

noch durch keine Zivilisation und deren Entfremdungsmechanik überformte und entstellte menschlichnatürliche

Sein. Diese letzte Bedeutung des Begriffs, in der Lesart einer noch unverdorbenen, naiven

Kindheit der Menschheit, wie sie Jean-Jacques Rousseau wirkmächtig imaginierte, befruchtete die

künstlerische Avantgarde in Europa nach 1900 maßgeblich. Sie korrespondiert mit der Figur des Edlen

Wilden, dem in der kolonialen Konfrontation zwischen „Zivilisation“ und „Naturgesellschaft“ zahlreiche

europäische Intellektuelle den Part des „Guten“ zuwiesen – von Montaigne über den Baron de Lahontan

bis zu Louis Antoine de Bougainville und Denis Diderot – , des „Guten“ und doch tragisch Unterlegenen.

An diese Erzählung knüpfte wiederum Picasso an, der 1907 als junger Mann das Pariser Musée du

Trocadéro besuchte, wo hunderte Objekte aus Afrika und Ozeanien seit der Weltausstellung von 1878

mehr schlecht gelagert als würdig präsentiert wurden. Der Künstler war so ergriffen von den Masken

und Skulpturen, welche ihm fremde Menschen in der magischen Absicht gefertigt hatten, durch deren

Hilfe mit freundlichen oder feindlichen Geistern und Ahnen zu korrespondieren, aber auch die eigene

Furcht zu überwinden, „indem sie ihnen Farbe und Form gaben“, dass er von diesem Zeitpunkt an selbst

derartige Objekte kaufte und im Atelier versammelte, ihre kraftvoll „primitiven“, kubisch akzentuierten

Formen als Anregung begriff und in seine Bildsprache übersetzte. Von den deutschen Brücke-Künstlern

und ihrer Rezeption der beschnitzten und bemalten Balken aus einem Männerhaus von den Palau-Inseln,

die sie 1909 im Dresdener Museum für Völkerkunde kennenlernten, könnte man Ähnliches berichten.

Den Avantgarden der Künste kam das Ursprüngliche, das Archaische dieser Objekte gerade recht, denn

sie bildeten starke Gegenbilder zu jener bürgerlichen Kultur, in der sie zwar lebten, die sie jedoch

verachteten. Mit Hilfe des Archaischen als Ideal projizierten sie ihre Vorstellungen von einem freien,

spontanen und ausdrucksstarken Leben jenseits der allseits prägenden bürgerlichen Konventionen, die

ihre kreativen Energien reglementierten und einschnürten. Das Unbehagen an der eigenen Zivilisation

spielte auch in Sigmund Freuds Schriften eine wichtige Rolle und wurde von den Pariser Surrealisten

thematisiert. In all diesen Künstlerkreisen waren „archaisch“ und „primitiv“ keine abwertenden Attribute,

sondern Zauberwörter, deren wiederholtes Aussprechen den Bannkreis, den das gesellschaftlich

konforme „Über-Ich“ um das moderne Subjekt gezogen hatte, durchbrechen helfen sollte. Spannend


an der Haltung der europäischen Kunstavantgarden jener Zeit war, dass sie die eigene, verbürgerlichte

Tradition bis zur Epoche der Renaissance zum Teil rigoros ablehnten, dafür aber älteste bzw. früheste,

also möglichst ursprüngliche Kultur- und Kunsttraditionen, die unverständlich blieben, als Ideale

etablierten, an denen entlang sie ihre Werte entwickelten. Je weiter entfernt von der eigenen, ungeliebten

Wirklichkeit, umso besser.

Das Unverständliche, also intellektuell Unverfügbare des Ursprünglichen – Archaischen – als

Gegenentwurf zur selbsterlebten Wirklichkeit zu etablieren, die alles nach den Gesetzen des Marktes

und der Gewinnmaximierung vereinnahmt, berechnet und „optimiert“, selbst die Sehnsucht nach dem

ursprünglichen und einfachen Leben, kann man als ein zentrales Bewegungsmotiv in der Kunst auch von

Dietrich Klinge bezeichnen. Insofern tritt er in seiner künstlerischen Praxis das Erbe der romantischen,

expressionistischen, surrealistischen Künstler und ihrer Nachfolger wie der CoBrA-Künstler an. Doch

gibt es einen bedeutsamen Unterschied. Während die Genannten das Ursprünglich-Archaische jener

„primitiven Kulturen“ oder anderer „Outsider“ der bürgerlichen Gesellschaft noch intuitiv zu verstehen

vorgaben, formt Klinge gerade das Inkommensurable dieses Ideals. Seine Skulpturen kennzeichnet die

Würde des Fremden, des uns nicht Verfügbaren.

Das verwundert einerseits, denn Klinge ist und bleibt in seinem Schaffen nahe an der menschlichen

Figur, an menschlichen Bewegungen und Gesten, am menschlichen Ausdruck. Doch akzentuiert er in

seinen anthropomorphen Figuren zugleich Zeichen des Fremd- und Entrückt-Seins, der Distanz. Man

könnte es die Distanz des Heiligen gegenüber dem Profanen nennen. Aber es ist mehr. Es ist eine nicht zu

überbrückende Distanz der Zeit und des Verstehens. Als deutliches Indiz dafür können bereits die Werktitel

angesehen werden. Der Bildhauer bevorzugt Titel, die einen historisch fernen, gleichsam mythischen

Klang haben, die Anmutungen von fremden Sprachen transportieren, doch tendenziell unübersetzbar

bleiben. „Vreidäis“ ist ein solcher Titel, auch „Oiphe“, selbst wenn wir versuchten, dieses Kunstwort

mit dem griechischen εὐφημία (euphēmía) zu assoziieren. Wir wissen vielleicht, dass „Tomoé“ der

Name einer weiblichen Samurai sein könnte oder jenes japanische Symbol und Clanwappen bezeichnet,

das dem Yin-Yang-Symbol und dem Fischblasen- oder Schneuß-Ornament der europäischen Spätgotik

ähnelt. Wir wissen vielleicht auch, wer „Daphne“ war, was das griechische Kompositum „Autokatalyse“

bedeutet und, dass der Name „Teiresias“ seit Homer in der europäischen Literatur für den blinden

Seher schlechthin steht. Aber das alles unterstützt uns wenig bei der Deutung der einzelnen, konkreten

Skulpturen, zumal Klinge derartige Titel für ganze Zyklen über die Jahrzehnte immer wieder verwendet

hat. Sie klingen vor allem fremd und schön, aber sie übermitteln darüber hinaus keine konkrete Botschaft,

sind wohl am besten musikalisch zu rezipieren.

Viele der Figuren von Dietrich Klinge sind Fragmente und Komposit-Objekte. Das heißt, einzelne Teile

wirken wie zusammengesetzt, nicht wie organisch miteinander und auseinander hervor gewachsen.

So, als hätte jemand verschiedene Objekte in einer tief gelegenen Erdschicht gefunden und würde sie

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40Autokatalyse IX

2020, Bronze,

H. 248 cm, 6 Ex.


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42Autokatalyse IX

2020, Bronze,

H. 248 cm, 6 Ex.



44 Teiresias II

2020, Bronze,

H. 177 cm, 6 Ex.


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nun zu Figuren, stets neu variiert, zusammensetzen. Ein weiteres, schnell sichtbares Merkmal dieser

Skulpturen ist, dass sie Abformungen sind: von Hölzern, gegossen in Bronze und Eisen. Das Fragment

eines Baumstamms, Fragmente von Ästen und Zweigen wurden ebenso präzise abgeformt und in

Metall gegossen wie behauene und mit der Kettensäge geschnittene Hölzer, aus denen die Formen

von menschlichen Händen, Gliedmaßen, Rümpfen und Köpfen hervorgingen. Manche Körperteile

sind naturnah geformt, Lippen oder Brüste beispielsweise, andere sind grob oder hinreichend fein

geschnitten, zeigen die Spuren der Werkzeuge ebenso deutlich wie die Indizien ihres pflanzlichen

Wachstums – Fasern, Jahresringe, Astansätze, Borke. Die detailreich geformten Oberflächen der Bronzeund

Eisengüsse sind dem Holz einerseits sehr ähnlich, anderseits entfremden Rost und Patina sie ihrem

materiellen Ursprung, entrücken sie in eine Zeit, fern dem Kontext, in dem diese Kunstwerke nun gezeigt

werden, in dem wir sie wahrnehmen können.

Diese Werke muten an, als wären es versteinerte Abbilder von Wesen aus einer anderen, sehr frühen,

uns fremd gewordenen Zeit, Grabungsstücke mit Patina oder gänzlich versteinert im Verlauf der

Jahrtausende, die geschickte Archäologen und Paläontologen aus uralten Schichten geborgen und nun –

hypothetisch – rekonstruiert haben. Denn sie wissen nicht genau, wie es wirklich war, das Authentische,

Ursprüngliche, das Archaische. Aber sie haben eine Vorstellung davon, eine Idee, und sie variieren die

Fundstücke und legen sie immer neu zusammen, bis es für uns heute einen Sinn ergeben könnte.

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Da wurde etwas geborgen, aus unvorstellbar weit entfernt liegenden Tagen und Nächten, Zyklen des

Lebens, so weit entfernt wie der Ursprung aller Ursprünge, in dem Menschsein und Natursein noch nicht

geschieden waren, aus einer mythischen Traumzeit. Was diese Figuren genau bedeuten, muss offen

bleiben, darf offen bleiben. Manche wirken hoheitlich, würdevoll, reserviert, vielleicht sogar göttlich, als

hätten sie einstmals im Zentrum unbekannter Rituale gestanden. Andere wirken menschlich, in der Geste

einer Hinneigung oder Zuneigung erstarrt im pyroklastischen Sturm der Zeit.

Aus Heinrich von Kleists wunderbarem Text „Über das Marionettentheater“ kennen wir den berühmten

Satz des Tänzers: „das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die

Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwie wieder offen ist.“ Worauf der Ich-Erzähler

viel später und „ein wenig zerstreut“ fragt: „… müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen,

um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“ „Allerdings“, lässt der freigeistige Kleist seinen Tänzer

schlussendlich parlieren: „das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“

Folgen wir Dietrich Klinge und dem Narrativ seiner Kunst, dann bleibt das „letzte Kapitel von der

Geschichte der Welt“, unser Rückfall in den Stand der Unschuld, für immer unaufgeschlagen, weil wir

denkende, selbstreflektierende Wesen sind. Doch lebt das Ideal wie eine Erinnerung, fern und vage, im

Körper wie im Geist fort: Dass es da, in unvorstellbar weit zurückliegender Zeit, etwas gegeben haben

könnte, dessen Nachhall von Einheit und Erhabenheit wir noch zu empfinden meinen. Etwas, vor dem wir

uns verneigen würden. Vielleicht auch nur vor der immerwährenden Sehnsucht danach.


Fig. 440 47

2020, Bronze,

H. 34,5 cm, 9 Ex.


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Autokatalyse X

2020, Bronze,

H. 187,5 cm, 6 Ex.



53

Autokatalyse X

2020, Bronze,

H. 187,5 cm, 6 Ex.


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K. 345

2019/2020, Bronze,

H. 30 cm, 9 Ex.


H. 109/110

2020, Bronze,

H. 36,5 cm, 9 Ex.

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Nimm es!

(H. 111/112)

2020, Eisen/Alu,

H. 65 cm, Unikat



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H. 113/114

2020, Bronze,

H. 32,8 cm, Unikat


K. 349

2020, Alu patiniert,

H. 13,6 cm, 6 Ex.

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60

K. 349

2020, Alu patiniert,

H. 13,6 cm, 6 Ex.


61

K. 351

2020, Bronze,

H. 7,9 cm, 6 Ex.

K. 350 (rechts)

2020, Bronze,

H. 8,3 cm, 9 Ex.


62


Vreidäis 63

2020, Eisen,

H. 160 cm, 6 Ex.


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Autokatalyse XI

2020, Bronze,

H. 54 x 224 x 124 cm, 6 Ex.


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69


70


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Impressum

© 2020

Freshup! publishing, Kai Uwe Schierz, Dietrich Klinge

Vorspann Junk 282, 2020

Frontispitz K. 352, 2020

Text

Kai Uwe Schierz

Fotografie

Dietrich Klinge

Typographie, Gestaltung,

Reproduktion

Dietrich Klinge, Rica Bock, Martin Frischauf

Schwabenrepro GmbH

Druck

Würth Druck GmbH & Co. KG

ISBN

978-3-96697-007-5

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