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CRESCENDO 6&7/20 Dezember 2020–Januar 2021

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Rolando Villazón, Itzhak Perlman, Diana Damrau, Tobias Moretti und András Schiff. Mit Special zum Thema "Art Goes Digital".

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Rolando Villazón, Itzhak Perlman, Diana Damrau, Tobias Moretti und András Schiff. Mit Special zum Thema "Art Goes Digital".

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PREMIUM-AUSGABE | DEZEMBER <strong>20</strong><strong>20</strong> – JANUAR <strong>20</strong>21<br />

WWW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE | 7,90 EURO (D/A)<br />

INKLUSIVE:<br />

Zugang zu<br />

150.000<br />

Klassik-Alben<br />

CODE IM HEFT<br />

HÉLÈNE GRIMAUD<br />

DANIEL BARENBOIM<br />

DIANA DAMRAU<br />

ITZHAK PERLMAN<br />

DOSSIER<br />

ART GOES DIGITAL<br />

Tobias<br />

Moretti<br />

ANZEIGE<br />

ist Beethoven – ein<br />

Spiel zwischen<br />

Identität und Rolle<br />

B47837 Jahrgang 23 06/07_<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Mit Beihefter CLASS: aktuell<br />

und Themenspecial Reise&Kultur<br />

MOZARTWOCHE <strong>20</strong>21<br />

STIFTUNG MOZARTEUM<br />

SALZBURG<br />

21. bis 31. Januar <strong>20</strong>21<br />

„Mozart lebt!“<br />

Intendant:<br />

Rolando Villazón


HAPPY<br />

BIRTHDAY,<br />

BEETHOVEN!<br />

DIE NEUE GESAMTEDITION<br />

SÄMTLICHE KLAVIERSONATEN<br />

DANIEL BARENBOIM<br />

»Der wohl umfangreichste<br />

diskographische Beitrag zum<br />

Beethoven-Jahr mit einer Fülle an<br />

wichtigen und teilweise maßstabsetzenden<br />

Aufnahmen aus über 100 Jahren.« NDR Kultur<br />

»Barenboims Beethoven ist kompromisslos,<br />

voller Abgründe; kontrapunktisch aufwühlend und<br />

gleichwohl hauchzart ‚an die ferne Geliebte‘<br />

schwärmend.« Anne-Sophie Mutter<br />

SINFONIEN 1-9<br />

HERMANN SCHERCHEN<br />

»…bis heute unerreicht,<br />

eine andere Galaxie. Das<br />

Orchester keucht, aber das<br />

Ergebnis ist überwältigend.«<br />

Rheinische Post<br />

»Eine Sternstunde der<br />

Schallplattengeschichte.«<br />

SWR2<br />

OPUS KLASSIK <strong>20</strong><strong>20</strong> für<br />

das Lebenswerk<br />

»Viel besser kann Klavierspiel<br />

nicht sein!«<br />

Rondo<br />

»Rudolf Buchbinder ist<br />

ein Beethovenianer vor<br />

dem Herrn. Sein Spiel<br />

ist zupackend, brillant<br />

und klar.«<br />

Piano News<br />

KLAVIERKONZERT NR.1<br />

RUDOLF BUCHBINDER<br />

TRIPELKONZERT<br />

ANNE-SOPHIE MUTTER, YO-YO MA,<br />

DANIEL BARENBOIM<br />

»Es ist faszinierend, zu erleben, wie brillant,<br />

konzentriert und gleichzeitig entspannt diese<br />

drei Weltstars miteinander musizieren.«<br />

RBB24<br />

Entdecke jetzt noch mehr Beethoven auf beethoven-playon.com


P R O L O G<br />

FOTO TITEL: ARD DEGETO/WDR/ORF/EIKON/MEDIA/TOM TRAMBOW<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

PREMIUM<br />

HÖREN!<br />

Mit der Premium-Ausgabe, die Sie<br />

hier in Händen halten, haben Sie<br />

als Käufer oder Abonnent nicht nur<br />

ein Heft voller Musik und Lebensart<br />

erworben, sondern können auch<br />

150.000 KLASSIK-ALBEN<br />

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Als <strong>CRESCENDO</strong> PREMIUM-Leser<br />

erhalten Sie für die Laufzeit dieser Ausgabe<br />

Vollzugriff auf die „Naxos Music Library“ in<br />

Premium-Sound-Qualität.<br />

So können Sie PREMIUM HÖREN:<br />

Öffnen Sie die Seite<br />

crescendo.de/ premiumhören auf Ihrem<br />

Smartphone und installieren Sie die App<br />

„NML“. Starten Sie die App und geben Sie<br />

die Zugangsdaten ein:<br />

Benutzername/Username: crescendo<br />

Passwort: 11-01-<strong>20</strong>21<br />

Sie können natürlich auch über Ihren PC<br />

zugreifen unter www.naxosmusiclibrary.de<br />

Mit der Verwendung dieser Zugangsdaten akzeptieren<br />

Sie die Nutzungsbedingungen<br />

(nml3.naxosmusiclibrary.com/termsofuse).<br />

Die Zugangsdaten dürfen nicht an Dritte<br />

weitergegeben werden!<br />

LIEBE LESER,<br />

ich hatte mich so gefreut, nach Monaten der Dürre Kunst und Kultur endlich wieder live zu<br />

erleben – und dann: der neue Lockdown. Von wegen „light“. Allein die Formulierung ist<br />

doch ein Schlag ins Gesicht aller Künstler, Veranstalter, Kulturschaffenden und Kulturinteressierten,<br />

bedeutet es doch nichts anderes als „Licht aus“ und Ende!<br />

Dabei sind weder Konzert- noch Theaterhäuser, weder Ballettbühnen noch Museen die Orte,<br />

an denen sich das Virus besonders verbreitet. Nirgends ist es leichter, ein Sicherheitskonzept einzuhalten.<br />

Und nirgends wird das ernsthafter getan. Die Zahlen sprechen für sich. Gleichzeitig<br />

verstehe ich die Politiker – lieber jetzt die Reißleine ziehen als später hören zu müssen: zu lang<br />

gewartet! Ich will nicht in deren Haut stecken, stochern sie doch genauso im Nebel wie wir.<br />

Aber machen wir das Beste draus: Holen wir uns die Kultur nach Hause! Wir hatten Sie ja in<br />

der letzten Ausgabe schon neugierig gemacht, dass wir die Zeit des ersten Shutdown gut genutzt<br />

haben. Denn da uns wie fast allen Opern-, Ballett- und Konzertliebhabern der Überblick fehlte,<br />

wo und wann Live-Übertragungen, Streams oder Klassik im TV stattfinden, hatten wir ständig<br />

das Gefühl, das Beste zu verpassen. Statt aber in Schockstarre zu verfallen, wurden wir kreativ,<br />

erinnerten uns an die gute alte Fernsehzeitschrift – und haben sie in die Moderne gehoben.<br />

Und nun ist es also so weit – Tusch und Taraaa, mit Pauken und Trompeten! We proudly<br />

present: FOYER. Das digitale Kulturportal. Auf www.foyer.de finden Sie über 500<br />

Konzerte, Opern, Tanz, Ballett und Dokumentationen. Darunter das Angebot aller öffentlichrechtlichen<br />

Sender, im Fernsehen und im Stream. Wofür Sie bisher unzählige Webseiten und<br />

Mediatheken durchsuchen mussten, genügt jetzt: FOYER.DE – Kultur auf einen Klick.<br />

Lassen Sie sich auf FOYER informieren und inspirieren. Anhand der übersichtlichen Kachel-<br />

Optik können Sie gezielt suchen, sich auf Kulturreisen begeben oder ein ganzes Themenspektrum<br />

ins Wohnzimmer holen. Wir haben für Sie sortiert und kuratiert. Und ich hoffe,<br />

Sie haben an dem Angebot genauso viel Spaß wie wir. Mehr dazu auf den Seiten 80/81.<br />

Insgesamt aber fanden wir das Thema „Digitalität in der Kultur“ so spannend, dass wir ihm<br />

hier unser Dossier widmen. Und keine Angst vor abgehobenen Techniktexten – „Art Goes<br />

Digital“ klingt abstrakter, als es ist. Es gibt einfach viel zu entdecken: Wie gut komponieren<br />

Computer? Eine junge Komponistin hat das für uns getestet. Wie wird aus Bildern und Fotos<br />

Kunst? Warum werden Musikinstrumente nicht für jeden Musiker individualisiert? Wie<br />

kann man ganze Orchester auf die grüne Wiese holen? Alles ziemlich smart! Übrigens: Auch<br />

der große ITZHAK PERLMAN plaudert über schlechtes WLAN und die Tücken, die im<br />

Online-Unterricht stecken. Klingt nach Kulturrevolution? Ist es vermutlich auch! Lesen Sie<br />

dazu den klugen Essay von Maria Goeth auf den Seiten 78/79.<br />

Daneben wollen wir Sie natürlich weiterhin über Neuerscheinungen und Veranstaltungen<br />

informieren, Sie kulturell und kulinarisch ver- und entführen und Ihnen erzählen, wer die<br />

schönsten und aufregendsten Veröffentlichungen auf den Markt bringt. Das sind in diesem<br />

Fall nicht nur Musiker, sondern auch Schauspieler. Allen voran der wunderbare TOBIAS<br />

MORETTI, der in dem TV-Ereignis „Louis van Beethoven“ (25.12., ARD) fast schon<br />

bedrückend authentisch einen Beethoven darstellt, wie er uns noch nie begegnet ist.<br />

Wir haben außerdem einen gut gelaunten DANIEL BARENBOIM getroffen, eine<br />

nachdenkliche HÉLÈNE GRIMAUD, den ausgesprochen unterhaltsamen ROLANDO<br />

VILLAZÓN, schließlich DIANA DAMRAU, KHATIA BUNIATISHVILI, ANKE<br />

ENGELKE – ein Heft voller großer Namen und Themen.<br />

Falls Sie sich übrigens fragen, ob <strong>CRESCENDO</strong> ein bisschen zugelegt hat: Ja, wir sind<br />

dicker geworden, da wir der Situation geschuldet die letzten beiden Ausgaben des Jahres<br />

zusammengelegt haben. Die nächste erscheint wie üblich im Februar. Einstweilen hoffe ich,<br />

wir machen Ihnen das Zuhausebleiben schöner. Viel Spaß beim Lesen – bleiben Sie gesund!<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21 3


Profil<br />

Edition<br />

Günter<br />

Hänssler<br />

Christian Thielemann & Staatskapelle Dresden<br />

P R O G R A M M<br />

NEU<br />

2 CD PH<strong>20</strong>052<br />

08<br />

KLASSIK IN ZAHLEN<br />

Der Verkauf eines echten<br />

(ganzen) David Hockney rettet<br />

das Royal Opera House über<br />

die Pandemie<br />

24<br />

ROBERT STADLOBER<br />

Der Schauspieler hat sich<br />

intensiv mit Franz Schubert<br />

beschäftigt – und<br />

Gemeinsamkeiten entdeckt<br />

50<br />

RAPHAELA GROMES<br />

Die OPUS-Preisträgerin feiert<br />

Erfolge mit vergessenem<br />

Repertoire – eine romantische<br />

Offenbarung<br />

GIUSEPPE VERDI<br />

Messa da Requiem<br />

PH16075<br />

ANTON BRUCKNER<br />

Symphonie Nr. 7<br />

RICHARD WAGNER<br />

Liebesmahl der Apostel<br />

PH15013<br />

ANTON BRUCKNER<br />

Symphonie Nr. 8<br />

PH10031<br />

3 CD PH<strong>20</strong>059<br />

FERRUCCIO BUSONI<br />

Nocturne Symphonique<br />

op. 43<br />

HANS PFITZNER<br />

Klavierkonzert op. 31<br />

MAX REGER<br />

Romantische Suite op. 125<br />

Tzimon Barto, Klavier<br />

PH1<strong>20</strong>16<br />

STANDARDS<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

Kosmos für Oma: ein<br />

digitales intergalaktisches<br />

Museum der Zukunft<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Klassik in Zahlen<br />

Was hört ...<br />

Gábor Boldoczki?<br />

Mein Beethoven-Moment<br />

Die Lieblingseinspielungen<br />

unserer Autoren<br />

Ein Anruf bei ...<br />

Mathis Nitschke,<br />

Entwickler der App<br />

Inside MPhil<br />

62 RÄTSEL<br />

IMPRESSUM<br />

114 SCHLUSSAKKORD<br />

Ricardo Simian über<br />

individuelle Instrumente<br />

aus dem 3-D-Drucker<br />

KÜNSTLER<br />

12 EIN KAFFEE MIT ...<br />

Anke Engelke<br />

14 TOBIAS MORETTI<br />

Perfektes Rollenspiel<br />

mit Beethoven<br />

<strong>20</strong> KHATIA<br />

BUNIATISHVILI<br />

Von der Polyfonie<br />

der Sinne<br />

24 ROBERT<br />

STADLOBER<br />

Spannende Verbindung<br />

von Musik und Literatur<br />

27 ANDRÁS SCHIFF &<br />

JÖRG WIDMANN<br />

Lieben sie Brahms?<br />

Ja, beide!<br />

30 HÉLÈNE GRIMAUD<br />

... vermisst ihr Publikum<br />

34 DANIEL<br />

BARENBOIM<br />

„Beethoven spielen ist wie<br />

sein Tagebuch lesen“<br />

38 DIANA DAMRAU<br />

Dreimal Königin!<br />

43 ROLANDO<br />

VILLAZÓN<br />

Heimat ist Kunst, Kultur,<br />

Musik und Familie<br />

46 SELINA OTT<br />

Newcomerin auf<br />

der Trompete<br />

HÖREN & SEHEN<br />

47 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

DER REDAKTION<br />

48 FAURÉ QUARTETT<br />

Farbenreiche Harmonie<br />

seit 25 Jahren – eine<br />

Erfolgsgeschichte<br />

50 RAPHAELA GROMES<br />

Weltersteinspielung von<br />

Julius Klengels Drittem<br />

Cellokonzert und viele<br />

andere Preziosen<br />

52 AVI AVITAL<br />

Mandoline, Mandoline ...<br />

erstaunlich vielseitig,<br />

erfreulich virtuos<br />

54 MALTE ARKONA<br />

Mit Malte & Mezzo macht<br />

der Moderator Klassik für<br />

Kinder populär<br />

56 CHRISTIAN<br />

THIELEMANN<br />

Facettenreiches Glück:<br />

Arnold Schönbergs<br />

Gurre-Lieder<br />

60 SERGEI BABAYAN<br />

Hingebungsvolle Hommage<br />

an Rachmaninoff<br />

61 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Jahrhundertdirigenten von<br />

Barbirolli bis Rosbaud<br />

FOTOS: DAVID HOCKNEY; GUIDO WERNER1; SAMMY HART<br />

haensslerprofil.de<br />

Haenssler Alliance Distribution<br />

4 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


WIENERSYMPHONIKER.AT<br />

63<br />

GABRIELE MÜNTER<br />

„Unter freiem Himmel“ – eine<br />

Ausstellung über die Reisen<br />

des Künstlerpaares Kandinski<br />

und Münter<br />

75<br />

ART GOES DIGITAL<br />

Keine Angst vor der Machtübernahme<br />

ominöser KIs<br />

– die Kulturrevolution ist<br />

längst da. Und sie macht Spaß!<br />

100<br />

BASEL<br />

Ein Spaziergang mit dem<br />

Dirigenten Ivor Bolton<br />

durch die kleine große<br />

Schweizer Stadt am Rhein<br />

ERLEBEN<br />

DOSSIER<br />

LEBENSART<br />

FOTOS: GABRIELE MÜNTER- UND JOHANNES EICHNER-STIFTUNG, MÜNCHEN; DEEPART.IO; MYRI ROET / PIXABAY<br />

63 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

64 FRITZ WINTER<br />

990 Werke aus Malerei und<br />

Grafik des documenta-<br />

Künstlers<br />

66 IOAN HOLENDER<br />

Schwere Zeiten<br />

für die Kunst<br />

WRITTEN ON SKIN<br />

George Benjamin greift<br />

einen archaischen Stoff für<br />

seine Dreiecksgeschichte auf<br />

67 BEETHOVEN<br />

IM KINO<br />

Vom Stummfilm bis zur<br />

Avantgarde – der Titan hat<br />

alle Regisseure gereizt<br />

68 SPIEL IM SPIEL<br />

Don Quijote im<br />

Marionettenspiel am<br />

Theater Duisburg<br />

71 ULTRASCHALL<br />

BERLIN<br />

Das Festival für neue Musik<br />

wagt auch interdisziplinäre<br />

Experimente<br />

75 TABELLE<br />

Maschine. Macht. Musik<br />

78 ES LEBE DIE<br />

REVOLUTION I<br />

Eine kulturphilosophische<br />

Reise in die digitale Welt<br />

80 ES LEBE DIE<br />

REVOLUTION II<br />

Das neue Kulturportal<br />

FOYER geht an den Start<br />

82 AUGEN AUF IN<br />

AUGSBURG<br />

Virtuelle Welten zu Hause<br />

und auf der Bühne<br />

86 PLÖTZLICH<br />

WUNDERKIND!<br />

Komponier-Apps im Test<br />

88 TOTAL DIGITAL<br />

Kleine und große digitale<br />

musikalische Erfindungen<br />

90 KOMMENTAR<br />

Axel Brüggemann macht<br />

den ultimativen Digital-<br />

Check für klassische Musik<br />

92 PERLMAN ONLINE<br />

Der große Geiger<br />

dupliziert sich selbst<br />

96 WOHER KOMMT ...<br />

... eigentlich der Drang,<br />

Musik zu automatisieren?<br />

97 PARIS DIGITAL!<br />

3 e Scène, die fabelhafte<br />

Plattform der Pariser Oper<br />

99 KUNST FÜR<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

Aja von Loepers<br />

„Weiße Blätter“:<br />

Kunst für die Seele<br />

100 BASEL<br />

Die Stadt hat ein neues<br />

Stadtcasino samt<br />

sensationellem Konzertsaal.<br />

Und: Sie hat Ivor<br />

Bolton! Ein Spaziergang<br />

104 REISE & KULTUR<br />

Salzburg, Sachsen,<br />

Sahnestückchen – am<br />

Schwarzen Meer und in<br />

Norwegen<br />

110 LIEBLINGSESSEN<br />

Alexander Herrmanns<br />

Kniefall vor Beethoven:<br />

ein Weihnachtsdessert<br />

„Für Elise“<br />

112 PAULA BOSCHS<br />

WEINKOLUMNE<br />

Weine vom Vulkan:<br />

der Beginn einer heißen<br />

Leidenschaft<br />

der nEuE<br />

cHeF-<br />

DiRiGeNT<br />

DEUTSCHLAND-TOUR:<br />

30. NOVEMBER –<br />

6. DEZEMBER <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

5


O U V E R T Ü R E<br />

Babushka in Space<br />

Die junge ukrainische Künstlerin Uli Golub wollte ein<br />

Projekt über die Einsamkeit älterer Menschen schaffen.<br />

Ihre eigene Großmutter ist 85 Jahre alt und kann wegen<br />

unerträglicher Knieschmerzen ihre winzige Wohnung fast<br />

nie verlassen, lebt so isoliert wie auf einer Raumstation.<br />

Golub verfasste deshalb – inspiriert von russischen<br />

Kosmonauten und zusammen mit ihrer Oma – einen Text<br />

über das utopische Leben auf einer solchen Raumstation<br />

und kreierte für die Ars Electronica Moskau dieses<br />

digitale intergalaktische Museum der Zukunft.<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


7<br />

FOTO: ULI GOLUB


O U V E R T Ü R E<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

100<br />

Mitarbeiter der Deutschen Post DHL Group radelten<br />

von Bonn nach Wien, um dem dortigen Beethoven<br />

Museum eine goldene Beethoven-Statue zu überbringen.<br />

Wegen COVID-19 mussten sie kurz vor Wien<br />

haltmachen. Die letzten Kilometer übernahmen die<br />

österreichischen DHL-Kollegen.<br />

12,9 Mio.<br />

Pfund bekam das Royal Opera House<br />

für das Gemälde „Portrait von Sir<br />

David Webster“ von David Hockney.<br />

Damit will es in der Corona-Krise<br />

finanziell über die Runden kommen.<br />

1 Mio.<br />

Menschen sahen auf ARTE<br />

Concert die Highlights der<br />

100. Salzburger Festspiele. Unter<br />

dem Motto „Salzburg für<br />

Jedermann“ streamte ARTE<br />

täglich mehrere Veranstaltungen.<br />

8,3 Mio.<br />

Menschen ab 14 Jahren im deutschsprachigen<br />

Raum gaben laut einer<br />

Umfrage der AWA (Allensbacher<br />

Markt- und Werbeträger-Analyse) an,<br />

dass sie gerne klassische Musik, insbesondere<br />

Sinfonien und Klavierkonzerte<br />

hören. Wie schön!<br />

3<br />

Originalbriefe der Familie Mozart erwarb<br />

die Stiftung Mozarteum Salzburg. Neben<br />

einem Liebesbrief und einem Italienreisebericht<br />

findet sich darunter auch ein Brief<br />

an Papa Leopold, den zum ersten Mal das<br />

Symbol der Freimaurer ziert – danach<br />

hatten Forscher jahrhundertelang gesucht.<br />

FOTOS: ISM; DAVID HOCKNEY<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Was hört …?<br />

GÁBOR BOLDOCZKI<br />

Der ungarische Trompeter verrät uns seine Lieblingsmusik.<br />

François Couperin:<br />

Versailles, Gábor<br />

Boldoczki, Cappella<br />

Gabetta, Andrés<br />

Gabetta (Sony)<br />

1<br />

Andrés Gabetta, Cappella Gabetta: Tango Seasons<br />

Eine sensationelle Einspielung in jeglicher Hinsicht. Die<br />

wunderbare Musik von Vivaldi und Piazzolla lädt mich mit<br />

positiver Energie auf und gibt mir gute Laune. Die Interpretation von<br />

Andrés Gabetta ist spannend und großartig.<br />

2<br />

Iveta Apkalna, Mariss Jansons, BRSO: Orgelwerke<br />

von Saint-Säens und Poulenc<br />

Ich verbinde damit unglaublich schöne und tiefe Erinnerungen<br />

an den großen Maestro Mariss Jansons. Genauso die Musik – die<br />

beiden absoluten Klassiker des Orgel- und Orchesterrepertoires<br />

berühren uns immer. Es ist unfassbar, welche neuen, musikalisch<br />

unvergleichbaren Wege Maestro Jansons hier gegangen ist.<br />

3<br />

Albrecht Mayer, Sinfonia Varsovia: New seasons<br />

Ich höre jede Aufnahme von Albrecht Mayer immer<br />

wieder gerne. Seine Repertoire-Auswahl ist spannend<br />

und einfach wunderbar musiziert.<br />

4<br />

Fazil Say: Mozart Complete Piano Sonatas<br />

Fazil Say verzaubert die Zuhörer durch seine<br />

charismatische Ausstrahlung und ehrliche Interpretation.<br />

Ich liebe auch seine Kompositionen und bin geehrt, dass er mich<br />

mit seinem Trompetenkonzert beschenkt hat.<br />

5<br />

Regula Mühlemann, Kammerorchester Basel:<br />

Mozart Arias II<br />

Wie virtuos man mit einer Stimme umgehen kann, welche<br />

Farbenpracht sich da entfaltet, das zeigt Regula Mühlemann ganz<br />

wunderbar mit ihrem zweiten Mozart-Arien-Album.<br />

MEIN BEETHOVEN-MOMENT<br />

Zum Ende des Jubiläumsjahres noch zwei Lieblingseinspielungen unserer Autoren<br />

Jens Laurson<br />

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich in meinem kleinen Studentenzimmer,<br />

wo das Bett die einzige Sitzgelegenheit war, die CD mit Thomas<br />

Zehetmairs Interpretation von Beethovens Violinkonzert einlegte. Ich war<br />

von den ersten Paukenschlägen hin und weg: als wäre ich wieder ein Kind<br />

und mein Vater würde das Konzert zum ersten Mal für mich abspielen.<br />

Spätestens wenn diese Paukenschläge in der Beethoven-Schneiderhan-<br />

Kadenz wiederkehren, rollen mir dicke Tränen die Wangen herunter.<br />

So bewegend stelle ich mir meinen idealen Beethoven vor.<br />

Stefan Sell<br />

Was einen als Kind begeistert, ist Elixier fürs ganze<br />

Leben. Bei mir war es das Presto aus Beethovens<br />

Siebter Sinfonie. 1969, ich war zehn, als mich<br />

Bernsteins Aufnahme mit den New Yorker<br />

Philharmonikern schier hinwegfegte. So viel<br />

Leidenschaft, Präsenz und Intensität, da<br />

wusste ich: Wenn es so eine Musik gibt, dann<br />

ist in diesem Leben alles möglich.<br />

9


O U V E R T Ü R E<br />

Der begehbare Klang<br />

Ein Anruf bei Mathis Nitschke, Entwickler der App Inside MPhil, mit der man sich auf einer Wiese in<br />

München plötzlich mitten zwischen den Münchner Philharmonikern wiederfinden kann.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Nitschke, wobei störe ich Sie gerade?<br />

Mathis Nitschke: Wir arbeiten an einer Werkstatt-Performance,<br />

bei der ein Schlagzeuger mit einer künstlichen Intelligenz<br />

zusammenspielt. Daran programmiere ich gerade.<br />

Was verbirgt sich hinter Inside MPhil?<br />

Inside MPhil macht den Klang innerhalb eines Orchesters für den<br />

Nichtorchestermusiker erfahrbar. Wir betrachten das Orchester<br />

als Topografie, als Landschaft. Das haben wir ganz buchstäblich<br />

umgesetzt: Wir haben den Klang des<br />

Orchesters in die Landschaft verortet und<br />

ihn mit GPS und Kompass des Smartphones<br />

erforschbar gemacht.<br />

So kann man auf einer Wiese neben der<br />

Münchner St.-Nikolai-Kirche klanglich<br />

durch die Münchner Philharmoniker<br />

schlendern, die den 4. Satz von Robert<br />

Schumanns 1. Sinfonie spielen – mal zu den<br />

Trompeten, mal zur Oboe oder den ersten<br />

Geigen. Wie kam es zu dem Projekt?<br />

Bei der Oper Vergehen, einem musiktheatralen<br />

Spaziergang an der Isar, habe<br />

ich bereits begonnen, mit Apps zu<br />

arbeiten. Das war mein Einstieg, das Smartphone als künstlerisches<br />

Medium zu begreifen und nicht nur als Kommunikationsund<br />

Informationsmedium. Das Smartphone kann auch ein<br />

Gefühl von In-der-Welt-Sein erzeugen, nicht nur eines des<br />

Aus-der-Welt-Seins oder Ablenkens. Diese Vision traf sich mit der<br />

von Gunter Pretzel, frisch pensionierter Bratscher der Münchner<br />

Philharmoniker. Pretzel arbeitet seit Jahrzehnten daran, Erfahrungen<br />

des intimen Instrumentenklangs – so wie er und seine<br />

Kollegen ihn erleben – für Nichtmusiker erfahrbar zu machen.<br />

Er erzählte mir vom Problem, dass der Klang des Orchesters viele<br />

seiner Kollegen und ihn häufig enttäuscht, wenn sie es aus dem<br />

Publikum anhören. Der Klang ist zu weit weg, man ist nicht Teil<br />

des Geschehens. Seit vielen Jahren sucht er nach einem Weg, die<br />

Klangerfahrung des Orchestermusikers Menschen zu vermitteln,<br />

die nicht im Orchester sitzen. So kam es zur Idee, mit dem<br />

Smartphone durch den Klang des Orchesters zu laufen.<br />

Mathis Nitschke schafft mit einfachen Apps<br />

völlig neue Klangerfahrungen<br />

Was gab es dabei für technische Schwierigkeiten?<br />

Um die Illusion zu schaffen, dass ein Klang von rechts hinten oder<br />

links vorne kommt, muss er das eine Ohr anders erreichen als das<br />

andere. Dazu nutzt man die sogenannte binaurale Kopftransferfunktion,<br />

die aber nur unter Laborbedingungen wirklich gut<br />

funktioniert. Dazu müsste man die Instrumente völlig isoliert<br />

voneinander aufnehmen, aber dann entsteht keine Musik mehr!<br />

Um die Signale, die ich dazu brauchte, aus einem ganz normalen<br />

Orchestermitschnitt herzustellen, habe ich<br />

viel experimentiert. Am Ende hatte ich<br />

22 Spuren, die im Smartphone gemischt und<br />

in Raumakustik verwandelt werden. Dabei<br />

den Kompromiss zu finden zwischen best -<br />

möglicher Klangqualität und Kompatibilität<br />

auch mit etwas älteren Smartphones, war ein<br />

langer Weg! Außerdem sind der Kompass<br />

und das GPS sehr ungenaue Gesellen. Es gäbe<br />

Gerätschaften, mit denen man das lösen<br />

kann, aber das Schöne ist ja, dass man kein<br />

zusätzliches Equipment braucht: Ein<br />

Smartphone und Kopfhörer hat fast jeder.<br />

Das habe ich mir auf die Fahne geschrieben:<br />

Die Leute sollen nicht noch mal <strong>20</strong> Lautsprecher kaufen<br />

müssen, sondern unmittelbar Zugang haben.<br />

Was kommt als Nächstes?<br />

Eine der schönsten Erfahrungen, die man mit Inside MPhil<br />

machen kann, ist, von der Wiese wegzulaufen. Man lässt das<br />

Orchester auf der Wiese zurück, es wird immer kleiner und leiser.<br />

Es hat seinen Ort auf dieser Wiese, und man kann zurückkehren<br />

und wieder in den Klang eintauchen. Das wird das Spielprinzip<br />

der nächsten App, die mit den Planeten von Gustav Holst<br />

abendfüllend sein wird. Die Planeten sind im Park verteilt. Mit<br />

einem virtuellen Raumgleiter kann man von Planet zu Planet<br />

fliegen. Das wollen wir in allen Münchner Parks gleichzeitig<br />

rausbringen, es wird also nicht mehr so ortsspezifisch sein. Später<br />

sollen sich die User die App auch weltweit auf einem Park in ihrer<br />

Nähe einrichten können. Sie erscheint vermutlich nächsten März.<br />

Weitere Infos unter mathis-nitschke.com Maria Goeth<br />

Ich kann den Geist der Musik<br />

nicht anders fassen als in Liebe.<br />

Richard Wagner<br />

EIN WALD FÜR BACH<br />

Jährlich begrüßt das Internationale Bachfest über 70.000 Gäste<br />

im Störmthal bei Leipzig. Nun will der Bachfest-Intentant<br />

Michael Maul mit dem Projekt<br />

„Ein Wald für Bach“<br />

ein Zeichen im Kampf gegen<br />

die CO 2<br />

-Emission<br />

setzen: Mit der Pflanzung<br />

von insgesamt 126.000<br />

Bäumen und mehr als<br />

3.600 Sträuchern am<br />

Störmthaler See sollen bis zu 290 Tonnen Kohlen dioxid pro<br />

Jahr gebunden und somit ein Beitrag zu einer verbesserten<br />

Luftqualität geleistet werden.<br />

FOTOS: ASTRID ACKERMANN; FRANZ HANFSTAENGL; PETER H. (PIXABAY)<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


J o h a n n e s B r a h m s<br />

C l a r i n e t S o n a t a s<br />

A n d r á s S c h i f f , J ö r g W i d m a n n<br />

András Schiff<br />

Johannes Brahms Clarinet Sonatas<br />

Jörg Widmann<br />

G e m e i n s a m l o t e n A n d r á s S c h i f f u n d J ö r g W i d m a n n<br />

d i e s p ä t e n K l a r i n e t t e n s o n a t e n v o n J o h a n n e s B r a h m s a u s .<br />

E i n e n h e r b e n , f a s z i n i e r e n d e n K o n t r a s t b i l d e n d i e I n t e r m e z z i f ü r<br />

K l a v i e r v o n J ö r g W i d m a n n , d i e d e m P i a n i s t e n g e w i d m e t s i n d .<br />

E C M N e w S e r i e s 2 6 2 1<br />

C D<br />

e<br />

T i g r a n M a n s u r i a n<br />

C o n a n i m a<br />

A n l ä s s l i c h d e s 8 0 . G e b u r t s t a g s d e s a r m e n i s c h e n K o m p o n i s t e n<br />

n a h m d a s E n s e m b l e u m d e n G e i g e r M o v s e s P o g o s s i a n u n d<br />

d i e B r a t s c h i s t i n K i m K a s h k a s h i a n n e u e r e K a m m e r m u s i k w e r k e<br />

e r s t m a l s a u f .<br />

T i g r a n M a n s u r i a n<br />

C o n a n i m a<br />

E C M N e w S e r i e s 2 6 8 7 C D<br />

E r h ä l t l i c h a b 6 . N o v e m b e r<br />

A n j a L e c h n e r , F r a n ç o i s C o u t u r i e r<br />

L o n t a n o<br />

B e h u t s a m v e r w o b e n i s t d a s n e u e P r o g r a m m d e r C e l l i s t i n<br />

A n j a L e c h n e r u n d d e s P i a n i s t e n F r a n ç o i s C o u t u r i e r ,<br />

d a s z w i s c h e n e i g e n e n K o m p o s i t i o n e n , f r e i e m S p i e l u n d<br />

W e r k e n v e r t r a u t e r K o m p o n i s t e n o s z i l l i e r t .<br />

e<br />

E C M 2 6 8 2<br />

C D / L P<br />

e<br />

Anja Lechner<br />

François Couturier<br />

Lontano<br />

E r k k i - S v e n T ü ü r<br />

L o s t P r a y e r s<br />

F l i r r e n d e K l a n g f l ä c h e n u n d s c h r o f f e G e g e n s ä t z e –<br />

d i e K l a n g s p r a c h e d e s e s t n i s c h e n K o m p o n i s t e n<br />

e n t f a l t e t i n d i e s e r k a m m e r m u s i k a l i s c h e n A u s w a h l<br />

a l l i h r e S o g k r a f t – e i n g e s p i e l t v o m S i g n u m Q u a r t e t t ,<br />

T a n j a T e t z l a f f u n d d e m T a l l i n n T r i o .<br />

E C M N e w S e r i e s 2 6 6 6 C D<br />

E r h ä l t l i c h a b 1 3 . N o v e m b e r<br />

ECM<br />

Erkki-Sven Tüür<br />

Lost Prayers<br />

C y r i l l u s K r e e k<br />

T h e S u s p e n d e d H a r p O f B a b e l<br />

V o x C l a m a n t i s , J a a n - E i k T u l v e<br />

C y r i l l u s K r e e k s c h ö p f t a u s d e n Q u e l l e n d e r V o l k s m u s i k<br />

s e i n e r e s t n i s c h e n H e i m a t . S e i n e P s a l m v e r t o n u n g e n u n d<br />

g e i s t l i c h e n V o l k s l i e d b e a r b e i t u n g e n s i n d g e p r ä g t v o n<br />

i n n i g e r M e l o d i k u n d v o n e v o k a t i v e r K r a f t – i n s t r u m e n t a l e<br />

Z w i s c h e n s p i e l e d e r N y c k e l h a r p a u n d K a n n e l v e r w e b e n<br />

d i e s e z u e i n e m v i e l s c h i c h t i g e n K l a n g g e b i l d e .<br />

„ Ö f f n e t m u s i k a l i s c h e u n d m e t a p h y s i s c h e<br />

R ä u m e , d i e m a n g e r n b e t r i t t .<br />

E i n e h o c h a u r a t i s c h e A u f n a h m e . “<br />

C h r i s t i n e L e m k e - M a t w e y , S W R<br />

e<br />

Cyrillus Kreek<br />

T h e S u s p e n d e d H a r p o f B a b e l<br />

V o x C l a m a n t i s<br />

Jaan_Eik Tulve<br />

E C M N e w S e r i e s 2 6 2 0<br />

C D<br />

www.ecmrecords.com<br />

www.klassikakzente.de / e cm-sounds<br />

e


TKI ÜT NE LS ZT EL IE LRE<br />

Auf einen Kaffee mit ...<br />

ANKE ENGELKE<br />

VON RÜDIGER STURM<br />

FOTO: NETFLIX / TOBIAS SCHULT<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Die reinen Comedy-Zeiten von Anke Engelke scheinen vorüber. In ihrer sechsteiligen<br />

tragikomischen Serie „Das letzte Wort“ (seit September auf Netflix) spielt die 54-Jährige<br />

eine Trauerrednerin, die selbst den Tod ihres Mannes zu verarbeiten hat. Der erste<br />

Eindruck beim persönlichen Treffen trügt nicht: Tatsächlich hinterließ die Arbeit an<br />

solchen Themen eine tiefbleibende Wirkung, wie sie im Interview gesteht. Auch weil ihrer<br />

Ansicht nach Kunst und Kultur die Grenzen der Endlichkeit überwinden können.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: In Ihrer Netflix-Serie Das letzte Wort spielen<br />

Sie eine Trauerrednerin, die selbst den Tod ihres Mannes zu<br />

bewältigen hat. Macht das ein bisschen Angst, wenn man so<br />

intensiv in das Thema „Sterben“ eintauchen muss?<br />

Anke Engelke: Total berechtigte Frage. Aber meine Antwort ist:<br />

nein! Obwohl das Thema so schwer ist, war mit der Vorbereitung<br />

und dem Dreh der Serie eine solche Leichtigkeit verbunden. Die<br />

intensive Zusammenarbeit hat mich dem Team nähergebracht,<br />

auch privat. Gestern war ich zum Beispiel mit meiner Co-Darstellerin<br />

Nina Gummich etwas essen und trinken. Das ist normalerweise<br />

nicht der Fall. Durch „Das letzte Wort“ bin ich, glaube ich,<br />

positiver gestimmt: jetzt erst recht das Leben genießen, jetzt erst<br />

recht mit vollem Bewusstsein durch den<br />

Tag latschen, anstatt zu denken „Lohnt<br />

sich nicht, ist eh bald alles vorbei“. Ich<br />

habe offenbar an Zuversicht gewonnen.<br />

Hatten Sie diese Wirkung erwartet?<br />

Das ist vielleicht ein Geschenk in der<br />

Schauspielerei, dass man nicht weiß, wohin<br />

die Reise geht. Ich will es mir auch nicht<br />

vorstellen. Dafür muss man keine Mystery-<br />

Serie mit Drachen oder Krimis, Schießereien und Verfolgungsjagden<br />

drehen. Gefühle allein reichen aus, um die Welt auf den Kopf<br />

zu stellen. Natürlich kannte ich den Inhalt bis auf den letzten<br />

Satz. Ich habe ja die Drehbücher gelesen. Aber die emotionale<br />

Reise stand nicht auf dem Ticket.<br />

Um es plakativ zu formulieren: Sie haben dem Tod ins Auge<br />

geschaut und dadurch das Leben mehr schätzen gelernt.<br />

Wenn Sie es so formulieren, klingt es fast ein bisschen kitschig.<br />

Aber klar, so ist es. Ich möchte nur aufpassen, dass ich nicht in<br />

einen Kalenderspruch-Schnack verfalle (beginnt zu singen):<br />

„Genieße das Leben, du hast nur eins, lass es nicht vorbeizieh’n,<br />

es gibt nämlich keins, das du wiederholen kannst ...“<br />

Was im Grunde sachlich nicht falsch ist ...<br />

Ja, aber man hat so einen Kitschdetektor, und dann macht man<br />

zu. Es gibt Momente bei jedem Menschen, da wird man plötzlich<br />

weich und ist empfänglich für so etwas. Aber eigentlich möchte<br />

man das nicht sein und sagt sich „Das ist mir zu triefig, ich tue<br />

mir so eine Schnulze nicht an“. Andererseits, was ist der Unterschied<br />

zwischen Schlagern und zum Beispiel Lately von Stevie<br />

Wonder oder Sometimes It Snows In April von Prince? Das sind<br />

Lieder, bei denen ich innerlich weine, vielleicht auch manchmal<br />

richtig. Wenn man diese Texte auf Deutsch übersetzt, gibt es aber<br />

vielleicht ein böses Erwachen, und ich merke, „Alter, da ist ganz<br />

viel Pathos und Kitsch drin“. Wenn ich die deutsche Übersetzung<br />

als Poster an die Wand hänge, würden sich Schlagerfans vielleicht<br />

davor auf die Knie werfen.<br />

Welche Musikstücke begleiten Sie Ihr Leben lang?<br />

Das hat oft etwas zu tun mit der musikalischen Sozialisation,<br />

oder? Wann war man das erste Mal auf einem Pop- oder Rockkonzert?<br />

Welche Einflüsse hatten Musiklehrer, Chorleiter,<br />

Elternhaus? Diese Eindrücke bleiben. Jeder, der 40 oder 50 ist,<br />

weiß, dass er von bestimmten Liedern von früher berührt wird,<br />

„MIT DEM TOD IST ES NICHT<br />

AUS UND VORBEI. KEINER<br />

KANN MIR ERZÄHLEN, DASS<br />

SEELEN VERSCHWINDEN“<br />

und er schämt sich dessen nicht mehr. In den 80ern habe ich zu<br />

Sachen getanzt, die ich heute zwar nicht mehr gut finde, aber<br />

die trotzdem noch etwas in mir triggern. Kürzlich habe ich<br />

wieder etwas von dem Funk-Musiker Roger Troutman gehört, der<br />

mit einer sogenannten Talkbox Gesang und Keyboard-Spiel<br />

vermischt hat. Heute klingt das out, aber damals hörte ich zum<br />

ersten Mal eine verfremdete Stimme und dachte mir: wow.<br />

So viel zum Thema Dance Music. Was ist mit trauriger Musik?<br />

Ich war in den 80ern bei einem Konzert von Ryūichi Sakamoto in<br />

der Tonhalle in Düsseldorf, da habe ich Rotz und Wasser geheult.<br />

Bis heute fange ich dabei sofort an zu flennen – ich weiß nicht,<br />

warum. Vielleicht weil ich mich damals in einer bestimmten<br />

Lebensphase befunden habe. Ich liebe die<br />

Pavane für eine tote Prinzessin von Ravel.<br />

Kompositionen von Brahms haben bei mir<br />

einen festen Platz. Und einer meiner<br />

ewigen Favoriten bleibt Prince. Sometimes<br />

It Snows In April habe ich schon erwähnt.<br />

Ich bin traurig, dass er gestorben ist, und<br />

höre das Stück heute anders als vor 35<br />

Jahren. Was mich dann zu seinen<br />

musikalischen Wegbegleiterinnen Wendy & Lisa bringt. Höre ich<br />

ihre Musik, bin ich im Kopf wieder in Kalifornien. Als ihre erste<br />

Platte 1987 herauskam, war ich dort. All diese Impressionen<br />

werden bleiben. Interessanterweise haben die sehr viel mit Jugend<br />

und Adoleszenz zu tun.<br />

Wenn die Wirkung von Kunst und Kultur so lange anhält, ist<br />

das vielleicht ein Zeichen für eine Art von Unsterblichkeit?<br />

Hui, gute Frage, aber das betrifft eher Jahrhundertkünstler, oder?<br />

Aber nicht meine Liga: Was ich mache, ist in 100 Jahren vergessen.<br />

Aber Sie selbst erwähnten die dauerhafte Wirkung von Kultur.<br />

Das stimmt schon. Man geht ins Museum, steht vor einem Bild,<br />

glotzt es an und denkt: Das kann doch nicht wahr sein, dass es<br />

mich so umhaut. Was hat das für eine Kraft? Ich mag zum<br />

Beispiel ganz viele Arbeiten von Louise Bourgeois. Bei einigen<br />

ihrer sehr feministischen Skulpturen und zärtlichen Zeichnungen<br />

denke ich oft: Das muss bitte die ganze Welt sehen. Vielleicht<br />

begreifen wir dann etwas. Also, ja, Kunst kann eine solche Kraft<br />

für die Ewigkeit haben, auch wenn viele Künstler zu Lebzeiten ja<br />

gar nicht wissen konnten, dass sie sich unsterblich machen. Wenn<br />

ich an Malerinnen und Maler denke, die für die Kunst lebten,<br />

aber nichts zu fressen hatten, weil sie alles Geld für Farben<br />

ausgeben mussten. Interessante Vorstellung, wenn man ihnen<br />

hätte sagen können, was aus ihrem Werk wird.<br />

Glauben Sie, dass es etwas jenseits der Grenze des Todes gibt?<br />

Es ist nicht aus und vorbei. Auf keinen Fall. Mir passiert es<br />

regelmäßig, dass ich innehalte und zum Beispiel einen Satz nicht<br />

beende, weil ich irgendetwas gespürt habe. Ich denke mir: Was<br />

war das jetzt? Ich kann es aber nicht erklären. Dabei bin ich nicht<br />

esoterisch oder religiös, höchstens spirituell. Aber da ist ganz viel.<br />

Es kann nicht sein, dass Seelen verschwinden. Das kann mir<br />

keiner erzählen.<br />

Das letzte Wort läuft seit 17. September <strong>20</strong><strong>20</strong> auf Netflix. Weitere Infos: netflix.com<br />

n<br />

13


K Ü N S T L E R<br />

DAS BEGREIFEN<br />

VON LEBEN<br />

UND STERBEN<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


K Ü N S T L E R<br />

15<br />

FOTO: THOMAS KOST


C<br />

K Ü N S T L E R<br />

FOTO: ARD DEGETO/WDR/ORF/EIKON/MEDIA/TOM TRAMBOW<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Ob ihn seine Radikalität so einsam gemacht hat oder<br />

seine Taubheit, wird ein ewiges Geheimnis bleiben. Doch<br />

ist es fast schon gespenstisch, was im TV-Ereignis<br />

Louis van Beethoven zum Abschluss des Jubiläumsjahres gelingt:<br />

Tobias Moretti zeichnet ein Bild des Komponisten, das<br />

Genie und Mensch miteinander verwebt. Ein Psychogramm,<br />

das so verstörend wie faszinierend ist.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

RESCENDO: Auf Beethoven können sich alle<br />

einigen. Er sieht aus wie ein Rockstar, hat wilde<br />

Musik geschrieben, hat radikal seine Meinung gesagt. Wie<br />

entgehen Sie als Darsteller dem allzu Wohlfeilen?<br />

Tobias Moretti: Das ist ein Klischee der 70er-Jahre, als er ein Teil<br />

der Popkultur wurde. Heute ist er zur Dauerattraktion verdammt.<br />

Zugleich ist das, was ihn als politischen Menschen seiner<br />

Zeit ausmacht, total in Vergessenheit geraten. Das hat er nicht<br />

verdient. Insofern ist jede Form von Beschäftigung mit ihm, auch<br />

der Film Louis van Beethoven, entscheidend und wichtig.<br />

Der Film erzählt ganz klassisch Beethovens Leben in einer<br />

Rahmenhandlung mit Rückblenden.<br />

Meine Rolle ist der Beethoven, den wir kennen, in seinen letzten<br />

Lebensmonaten als tauber Mensch. Es geht darum, diesen<br />

vorausschauenden Geist zu begreifen in seiner Radikalität, aber<br />

auch im Scheitern, in der Nichtbewältigung seiner<br />

Lebensumstände.<br />

Der Handlungsabriss liest sich fast wie ein Lexikoneintrag.<br />

Wenn man einen historischen Film macht – ich denke an<br />

Monumentalwerke wie Der Untergang –, suggeriert man damit<br />

nicht unweigerlich: Genau so war’s? Können Sie die Distanz<br />

noch deutlich machen, den hypothetischen Charakter?<br />

Als Schauspieler ist das für mich relativ einfach: Es ist die<br />

Behauptung, so könnte es gewesen sein. Und die Behauptung ist<br />

nachvollziehbar: in der Verzweiflung, auch in der Banalität im<br />

Kampf mit dem alltäglichen Leben. Ein musikalisches Genie,<br />

dessen Schicksal es seit 30 Jahren ist, von der Außenwelt akustisch<br />

abgeschnitten zu sein: Das macht einem sofort einen Weg<br />

frei in seine Innenwelt.<br />

Wo er selbst doch das Gefühl hatte, dass ihn niemand verstand.<br />

Und vermutlich zu Recht.<br />

In seiner politischen Reflexion, in der Gesellschaftsreflexion ist er<br />

ganz klar. Seine Radikalität zeigt sich im Umbruch seiner<br />

kompositorischen Mittel. Aber neben dieser Klarheit nach außen<br />

steht eine völlig andere Wahrnehmung der Innenwelt. Dieser<br />

Widerspruch macht ihn zu einem Menschen, der niemandem<br />

traut, der ständig Aggressionen hegt, den nicht mal die eigenen<br />

Musiker mehr verstehen. In seinem Fortwirken, in seinem Drang,<br />

seinem Druck, seinem Müssen geht er völlig neue Wege. Aber er<br />

muss sie alle mit sich ausmachen, denn er weiß nicht, wie die<br />

Außenwelt sie wahrnimmt. Wir sehen das in der Großen Fuge ...<br />

... die im Film leitmotivischen Charakter hat.<br />

Sie ist etwas so Unglaubliches. Sie hören Alban Berg, Sie hören<br />

Schönberg. Und hören dann, wie die Musik zum Einfachen<br />

zurückfindet, zur Harmonie, wie sie wieder zur Essenz wird.<br />

Das ist eine fast göttliche Vorgabe dessen, was wir als Menschen<br />

können und vermögen. Dass wir Dinge begreifen, die man<br />

eigentlich nicht begreifen kann. Die Rückführung auf ein<br />

einzelnes Wort, auf eine einzelne Melodie, das ist doch das<br />

Begreifen von Leben und Sterben. Genau das macht ein Genie<br />

aus. Genau das macht dieses Genie aus.<br />

Es gibt zu Beethoven sehr viele Zeitzeugnisse, und es gibt sein<br />

Werk. Wie haben Sie ihn von dort aus emotional verstehen<br />

gelernt?<br />

Wie spielt man jemanden, der nichts hört? Zunächst ganz profan.<br />

Ich habe mir Ohrenstöpsel reingetan. So kann ich so eine Figur<br />

natürlich nicht spielen, aber von dort kam ich dann schnell dahin,<br />

mich in einer abgekapselten Innenwelt zu fühlen: Was im Außen<br />

geschieht, nehme ich nicht mehr wirklich wahr. Sondern nur das,<br />

von dem ich mir einbilde, dass es außen vor sich geht.<br />

Und das entfernt Sie von der Welt.<br />

Das entfernt mich. Diese Entfernung befördert das paranoide<br />

Interpretieren, und daraus erwächst eine ständige Irritation.<br />

Boshaftigkeit. Sarkasmus. Zynismus. Misanthropie. Beethoven ist<br />

immer begleitet von Satellitengebilden der eigenen Wahrnehmung.<br />

Das ist schrecklich. Ich habe am dritten Drehtag eine Mandelentzündung<br />

bekommen und habe meiner Ärztin geschrieben. Dann<br />

fragte sie: „Was machst du denn gerade – ah, Beethoven – ja, wie<br />

17


K Ü N S T L E R<br />

geht’s dir denn?“ Ich habe ein privates Foto geschickt. Und sie hat<br />

geantwortet: „Man sieht, dass er nichts hört.“<br />

So weit war die Identifikation fortgeschritten?<br />

So weit hatte sich die Figur eingegraben. Und wenn das gelingt<br />

im Film, dann ist der Grundzustand erreicht, von dem ich<br />

ausgehen kann.<br />

Sie spielen einen Komponisten, der mit dem Komponieren<br />

ringt. Und haben selbst eine Zeit lang Komposition studiert.<br />

Mein Zugang damals war allerdings<br />

ein relativ unbedarfter. Ich hatte eine<br />

sehr naive Vorstellung. Die Pubertät<br />

hievt einen ja in so eine romantische<br />

Sehnsucht. Und dann sitzt man<br />

plötzlich da und ist mit Mathematik<br />

und Physik konfrontiert und denkt<br />

immer: Wo ist meine Musik? Das war<br />

eine schreckliche Erfahrung.<br />

Wie ging es Ihnen denn, als Sie<br />

merkten, Sie würden das nicht<br />

weiterverfolgen?<br />

Das war eine befreiende Erkenntnis. Wenn ich den Schritt nicht<br />

gemacht hätte, wäre ich vielleicht ein verkappter Medienkompositeur<br />

mit klassischem Anspruch geworden und hätte ein kaputtes,<br />

zynisches Leben geführt. Ich habe ein Glück in meinem Leben:<br />

dass ich so ein Überlebenstier bin. Einer, der ein bissl misstrauisch<br />

ist und immer vorm Abgrund Angst hat oder vor der<br />

eigenen Mittelmäßigkeit. Und deswegen hab ich da gedacht<br />

(haut auf den Tisch): Das ist ein anderes Leben.<br />

So ehrlich sich selbst gegenüber muss man erst mal sein.<br />

Das ist kein großes Verdienst, das ist einfach nur ein Muss<br />

gewesen. Das hat mich zuerst natürlich in ein Vakuum geschmissen.<br />

Aber dann habe ich eine andere Form des künstlerischen<br />

Ausdrucks gefunden, und das war Schauspiel.<br />

Ist das zu Ihnen gekommen?<br />

Ich dachte, ich will das mal ausprobieren. Es gab eine Verbindung<br />

zur Falckenberg-Schule in München. Die war angebunden an die<br />

Münchner Kammerspiele, die damals das Theater schlechthin<br />

waren. Ich war viel früher einmal, noch als Hauptschüler, in Wien<br />

im Burgtheater. Da haben die mehr gesungen als gespielt, also<br />

deklamiert, und das fand ich grausam, so künstlich, so befremdend.<br />

(Beschreibt summend einen Bogen:) „Mmmhh!“ Ich habe<br />

das gehasst. Und ein paar Jahre später geh ich in die Kammerspiele<br />

und seh den Felix von Manteuffel und Lisi Mangold in<br />

Ernst Wendts Inszenierung von Kleists Käthchen. Ich bin nur<br />

dagesessen mit offenem Mund und dachte: „Was ist das? Warum<br />

können die so komplizierte Texte sprechen, als würd ich daheim<br />

in der Kuchl sitzen und sagen, bring mir mal den Löffel rüber?<br />

Da wusste ich: So ein Schauspieler will ich werden. Der die<br />

komplexesten Texte und Bedeutungen so vermitteln kann, als<br />

würden sie grad in mir entstehen. Das ist übrigens bis heute<br />

mein Verständnis.<br />

Also nicht die Schönheit der Sprache vermitteln ...<br />

... sondern den Inhalt der Sprache. Die Schönheit ist eine andere<br />

Sache. Da geht es um die Ästhetik, und die gewinnt man im Zuge<br />

des Alterns, des Reifens, des Werdens als Mensch.<br />

Um Artikulation und Deklamation geht es Ihnen offenbar<br />

gar nicht?<br />

Da bleibe ich lieber in der Interpretation. Was will ich damit<br />

erzählen? Wenn wir jetzt bei Beethoven bleiben: Was will er mit<br />

der Großen Fuge?<br />

Aber lassen Sie uns im Zusammenhang mit Beethoven doch<br />

noch ein wenig bei Ihnen bleiben: Sie sind ja Österreicher.<br />

Gelernter, ja. (Menschen, die Land, Leute und Verhältnisse eines<br />

Landes gut kennen, Anm. d. Red.) Das sagt man so bei uns.<br />

„DIE GROSSE FUGE IST EINE FAST<br />

GÖTTLICHE VORGABE DESSEN,<br />

WAS WIR ALS MENSCHEN KÖNNEN<br />

UND VERMÖGEN“<br />

Und? War Beethoven ein Wiener?<br />

(lebhaft) Das glauben nur die Wiener, dass Beethoven ein Wiener<br />

war! Ich bin aber keiner! Deshalb habe ich meinen Beethoven im<br />

Film ja auch rheinisch „jesprochen“.<br />

Aber sehr dezent. An der Stelle habe ich mich gefragt: Hat<br />

Beethoven wirklich so wenig rheinisch gesprochen?<br />

Es sollte nicht zu viel sein. Aber es sollte schon klar werden, dass<br />

er von dort kommt. Die Klangfarbe eines Dialekts ist sehr<br />

wichtig. Das ist auch ein großer<br />

Verlust unserer Zeit. Dass wir die<br />

Klangfarben der Dialekte verlieren,<br />

weil die Dialekte der Ausdruck des<br />

Wesenszuges sind. Des Begreifens.<br />

Bei Goethe heißt es ja nicht umsonst:<br />

„Neische, neische, Schmerzensreische“<br />

– da weiß man, dass er Hesse<br />

war. „Neige, neige, Schmerzensreige“,<br />

das gibt’s nicht. Wenn wir das<br />

ums Eck denken: Goethe hat bei<br />

Gretchen eine ganz klare soziale Zuordnung vor Augen. Sie hat<br />

nur Dialekt gesprochen, weil sie ein einfaches Mädchen war, im<br />

Gegensatz zu Faust. Der Dialekt hat einen großen, wichtigen,<br />

verdammten Sinn. Das zu begreifen, wäre ein wichtiger Schritt<br />

für unsere Deutschpädagogen.<br />

Dazu gibt es in der Musik Parallelen in der Bedeutung der<br />

Volksmusik.<br />

Mit der bin ich aufgewachsen. So wie viele bei uns. Am Land in<br />

Österreich haben wir eine große musikantische Kultur, und das<br />

ist die Basis für die musikalische. Harnoncourt hat oft – gerade<br />

bei Mozart, aber auch bei Haydn – dramatische Zusammenhänge<br />

in der Analyse aus der Volksmusik hergeleitet. Immer wieder.<br />

Welches Instrument haben Sie gespielt?<br />

Klavier und Orgel und in der Kirche, ein bisschen Gitarre, ein<br />

bisschen Klarinette. Nichts richtig natürlich, so wie viele<br />

Kompositionsstudenten, zum Umfassen und Begreifen der<br />

spielbaren Struktur.<br />

Lauter Harmonieinstrumente.<br />

Trompete hat mich immer fasziniert. Aber da mein Zugang als<br />

Schauspieler, der ja zu faul zum Üben ist, mich vom Ansatz her<br />

ausgrenzt, bleibt mir nur Basstrompete zum Dazufarb’ln, also<br />

zweite, dritte Stimmen. Aber das spiel ich aus vollem Herzen und<br />

immer gern.<br />

Eine typisch alpenländische musikalische Sozialisation also?<br />

Das ist ein großes Glück, wenn man in Österreich aufwächst.<br />

Neulich war ich beim Wiener Philharmonikerball. (Das Gespräch<br />

fand bereits im März <strong>20</strong><strong>20</strong> statt, Anm. d. Red.) Eigentlich geh ich<br />

auf keine Bälle mehr, aber der Philharmonikerball ist so was<br />

Besonderes, weil lauter Musiker da sind. So ab ein, zwei Uhr<br />

morgens ergeben sich da manchmal Jamsessions der Volksmusik<br />

aus den Bläsergruppen der Philharmoniker, je nach Promillezustand.<br />

Das muss man sich mal vorstellen, weltweit führende<br />

Bläser, die alle vom Land kommen, sie können natürlich das<br />

Repertoire. Und dann geht’s dahin auf diesem Niveau, da spielt<br />

dann der Soloklarinettist plötzlich irgendwelche Zwiefachen. Und<br />

die Blechbläser sowieso. Herrlich. Dieses Grundpotenzial der<br />

musikalischen Bildung wissen leider viele nicht mehr so zu<br />

schätzen – und die Pädagogen sowieso nicht.<br />

Weil so etwas als volkstümelnd abgetan wird? Kappt man so<br />

nicht die Wurzeln?<br />

Man kappt die Wurzeln. Man kappt das Verständnis.<br />

Und wenn man das Verständnis für die Kultur<br />

kappt, kappt man auch die soziale Kompetenz. n<br />

Der Film „Louis van Beethoven“ läuft am 25.12. um <strong>20</strong>.15 Uhr in der ARD;<br />

die DVD ist ab 28.12. erhältlich (Polyband)<br />

18 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


K Ü N S T L E R<br />

„ES GIBT POLYFONIE IN UNSEREN<br />

GEDANKEN, GEFÜHLEN, ERINNERUNGEN,<br />

TRÄUMEN. ABER AUCH IN DEN SINNEN“<br />

KREATIVITÄT<br />

IST RISIKO<br />

Khatia Buniatishvili<br />

hat ein neues Album aufgenommen:<br />

Labyrinth. Und genau so liest sich<br />

das Komponistenverzeichnis:<br />

Scarlatti, Morricone, Pärt ...<br />

Für die georgische Pianistin ein<br />

musikalisches Kaleidoskop aller Sinne.<br />

Ein fast schon philosophisches<br />

Gespräch über die Spiegel der Seele.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

<strong>20</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21<br />

FOTO: ESTHER HAASE


21


K Ü N S T L E R<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Frau Buniatishvili, was hat es mit dem Titel<br />

Ihres neuen Albums Labyrinth auf sich?<br />

Khatia Buniatishvili: Der menschliche Geist ist doch wie ein<br />

Labyrinth, mit unerwarteten Kurven und Wendungen. Was ich<br />

suche, ist die Essenz des menschlichen Wesens.<br />

Der Mensch, das sind aber dann nicht nur Sie?<br />

Es ist ein sehr persönliches Album. Aber ich glaube ganz allgemein,<br />

dass ein Labyrinth unsere Bestimmung ist. Unser Leben<br />

hat Anfang und Ende. Was<br />

dazwischen passiert, kann man<br />

nicht beeinflussen. Ein Mensch<br />

kann sich aber auch selbst<br />

erfinden. Vorbestimmung und<br />

Kreativität gehen zusammen.<br />

Die Stückauswahl macht dem<br />

Titel alle Ehre: Sie reicht von Morricone bis Scarlatti und von<br />

Pärt bis Chopin. Dazu haben Sie Kurztexte geschrieben, die der<br />

Kombination geradezu Bekenntnischarakter verleihen. Nun<br />

ist die Musik relativ disparat – man liest das Booklet ja nicht<br />

unbedingt, wenn man die Platte auflegt. Wo sehen Sie den<br />

roten Faden?<br />

Die Musik war zuerst da. Ich habe dann zu meinen Emotionen<br />

und Gedanken diese Texte gefunden. Es gibt eine Polyfonie in<br />

unseren Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Träumen, aber auch<br />

in den Sinnen. Ich wollte nicht einen einzelnen Komponisten<br />

nehmen, um das hörbar zu machen.<br />

Sie leben in Paris. Das Album haben Sie im Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> in der<br />

Philharmonie de Paris eingespielt. War das schon länger<br />

geplant oder ein Corona-Ergebnis?<br />

Wir konnten die Produktion nicht so langfristig planen. Ich<br />

wusste nur, dass die Aufnahme im Juni sein sollte. Die Daten<br />

haben sich ein bisschen verschoben, wir mussten improvisieren,<br />

so wie alle. Die Aufnahme in der Philharmonie de Paris hatte<br />

Symbolwert für mich. Das ist ein unglaublich schöner Saal mit<br />

toller Atmosphäre und fabelhafter Akustik.<br />

Auf Ihre Website steht schnörkellos: „There are currently no<br />

dates available.“ Das klingt, als würden Sie zurzeit gar keine<br />

Konzerte spielen?<br />

Doch, ich spiele! Die Konzerte sind immer voll, soweit das unter<br />

den Restriktionen möglich ist. Ich kündige die Termine nicht an,<br />

weil ich mein Publikum respektiere. Ich will nicht, dass jemand<br />

eine Karte kauft, bevor nicht sicher ist, dass das Konzert stattfindet.<br />

Von der preisgekrönten Nachwuchskünstlerin haben Sie sich in<br />

wenigen Jahren in den Kreis der international gefeierten<br />

Pianisten emporgespielt. Wer sind Ihre pianistischen Vorbilder?<br />

Man kann in ethischen Fragen Vorbilder haben, in der Kunst mag<br />

ich das Wort nicht. Kunst ist etwas Unlimitiertes und Freies.<br />

Natürlich kann man von jemandem inspiriert werden. Ich habe<br />

immer Pianisten geliebt, die etwas Einzigartiges waren, wie die<br />

großen des <strong>20</strong>. Jahrhunderts: Richter und Gould, Rubinstein und<br />

Horowitz, Rachmaninow, Cziffra … Alle sehr unterschiedlich.<br />

Aber alle ehrlich, genial, authentisch, und alle haben etwas zu sagen.<br />

Vermissen Sie das bei heutigen Pianisten?<br />

Es gibt natürlich auch heute große Künstler. Aber sehr oft liegt<br />

die Betonung nicht auf der Persönlichkeit, sondern die Spieler<br />

suchen einen Rahmen. In diesem Rahmen versuchen sie, etwas zu<br />

finden, von dem sie denken, es würde in die heutige Zeit passen.<br />

Bei den Wettbewerben wollen viele Teilnehmer vor allem so<br />

spielen, dass die Jury ihnen nicht gefährlich wird.<br />

Werden die Interpretationen uniformer?<br />

Ich finde schon. Das liegt auch am Internet. Dass man dort so<br />

vieles findet, hat große Vorteile. Es hat aber auch Nachteile. Ich<br />

mag es nicht, wenn jemand versucht, eine Interpretation zu<br />

kopieren. Die großen Virtuosen des <strong>20</strong>. Jahrhunderts waren<br />

einfach viel überraschender. Was ich heute beobachte, ist eine<br />

mechanische Einstellung zur Musik. Das heißt, Musik wird nicht<br />

„AUF DER BÜHNE ZEIGT SICH MEINE<br />

VERWUNDBARE SEITE“<br />

im Sinne einer Virtuosität verstanden, die die gesamte künstlerische<br />

Persönlichkeit einbezieht.<br />

Glauben Sie, dass jemand, der eine ausgeprägt individuelle<br />

Stimme hat, sich von dieser Allverfügbarkeit korrumpieren lässt?<br />

Es gibt natürlich Gegenbeispiele. Boris Berezovsky zum Beispiel<br />

geht ungeheure Risiken ein. Er ist ein echter Virtuose. Aber Kunst<br />

und Risikolosigkeit vertragen sich nicht. Etwas ohne Risiko<br />

machen zu wollen, tötet die Kreativität.<br />

Wenn Sie ein Werk einstudieren,<br />

was ist Ihr Ziel?<br />

Am wichtigsten ist mir der Geist<br />

des Komponisten. Ich will sein<br />

Universum verstehen. Verstehen,<br />

was er mit seinen Zeichen sagen<br />

wollte. Jeder Komponist ist so<br />

anders. Ich respektiere seine Individualität und seine Sprache.<br />

Diese Individualität ist stärker als der Stil, stärker als die Bedingungen,<br />

unter denen er das Werk schuf.<br />

Wie wichtig ist Ihnen der Kontext der Entstehung?<br />

Ich betrachte alles. Aber äußere Informationen können trügerisch<br />

sein. Nur die Musik selbst kann nicht falsch sein. Da kann der<br />

Komponist seine Gefühle und Gedanken nicht verstecken. Es ist<br />

alles da. Durch die Noten finde ich die Wahrheit, meine subjektive<br />

Wahrheit. Und nicht durch irgendwelche Geschichten, die<br />

sich um die Entstehung ranken. Die sind ja nie wirklich verbürgt.<br />

Würden Sie für Ihre Interpretation über die Grenze des<br />

Notentexts hinausgehen?<br />

Der Notentext hat keine Grenze. Aber ich habe beim Einstudieren<br />

noch nie etwas gesehen, das ich hätte anders machen wollen, als<br />

es dastand. Der Notentext ist unglaublich reich. Er sagt mir oft<br />

mehr als die Buchstaben. Nehmen wir das Wort „crescendo“, also<br />

wörtlich „Stück für Stück lauter werdend“: Es steht bei jedem<br />

Komponisten. Aber es heißt deswegen nicht bei jedem Komponisten<br />

das Gleiche. Es ist viel reicher.<br />

Welche Rolle spielt für Sie Schönheit als Interpretationsideal?<br />

Sie ist ein Teil, aber nicht alles. So wie die Ästhetik in der<br />

Philosophie ihre Rolle und ihren Platz hat, aber nicht alles<br />

bedeutet, so ist es meiner Ansicht nach auch in der Musik. Oder<br />

in der Kunst. Schönheit gehört zu der Palette unterschiedlicher<br />

Sichtweisen auf ein Stück oder auf das Leben oder auf Menschen.<br />

Und abseits der Musik? Sie sind bekannt dafür, sich bei Ihren<br />

Auftritten extravagant zu kleiden.<br />

Brauche ich eine Erlaubnis von jemandem, wie ich mich kleide?<br />

Wer entscheidet darüber? Oder ist das meine Wahl?<br />

Wonach wählen Sie Ihre Garderobe denn?<br />

Dass ich auf der Bühne Abendkleider trage, liegt auch daran, dass<br />

das eine Tradition ist und ich diese Tradition respektiere. Aber<br />

die Sinnlichkeit, über die man oft spricht, die kommt nicht von<br />

der Kleidung. Die kommt von nackten Emotionen, die ich mit<br />

dem Publikum teile, weil ich nicht anders kann. Wenn ich auf der<br />

Bühne bin und spiele, kann ich meine Emotionen nicht verstecken.<br />

Da zeigt sich meine verwundbare Seite.<br />

Drückt sich in der Wahl der Garderobe Ihre Persönlichkeit aus?<br />

Ich bin eine Frau, und ich schaue jeden Tag mindestens einmal in<br />

den Spiegel. Manchmal sehe ich Schönheit, manchmal sehe ich<br />

Hässlichkeit. Ich habe Zweifel im Leben, ich habe schöne<br />

Momente und Momente, in denen ich mir meiner selbst sehr<br />

sicher bin. Manchmal fühle ich mich sexy und will das auch offen<br />

und großzügig zeigen, und manchmal fühle ich, dass ich für mich<br />

bleiben will. Dann ziehe ich sehr einfache<br />

Sachen an. Das ist ganz unterschiedlich.<br />

Aber natürlich zeigt sich in jedem Fall mein<br />

Verständnis von Ästhetik.<br />

n<br />

„Labyrinth“, Khatia Buniatishvili (Sony)<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


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K Ü N S T L E R<br />

FOTO: GUIDO WERNER<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


BRÜDER IM GEISTE<br />

Der Schauspieler Robert Stadlober ist tief in die Lebens- und Gefühlswelt Franz Schuberts<br />

eingetaucht. Ein kontrastreiches Porträt – Überraschungen inklusive.<br />

W<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

as wäre gewesen, wenn? Was war Zufall, was Fügung,<br />

was Glück, was Pech? Es gehört zum Faszinierendsten<br />

des Menschseins, dass sich die Auswirkungen von Ereignissen und<br />

Begegnungen auf das weitere Leben meist erst im Rückblick erschließen<br />

lassen. Besonders spannend ist dieses Phänomen bei der Rezeption<br />

von Kunst aus längst vergangenen Tagen zu erleben. Heute als<br />

Meisterwerk für sich betrachtet, entstand doch auch jedes Stück<br />

Musik, jedes Gemälde und jedes Gedicht immer im Kontext seiner<br />

Zeit, inspiriert oder herausgefordert durch gesellschaftliche und<br />

politische Ereignisse, als Widerhall auf persönliche Schicksalsschläge<br />

und eingebettet in die individuelle Lebenssituation und<br />

Gefühlslage seines Schöpfers. Die Hörbiografien, die bereits seit<br />

etlichen Jahren beim Bayerischen Rundfunk erscheinen, setzen<br />

genau hier an. Leben und Wirken eines Komponisten werden in<br />

diesem Format als Collage aus Musikwerken, Dokumenten, Tagebuchnotizen<br />

oder Briefen aufbereitet, wobei es gerade die Widersprüche,<br />

Ambivalenzen und Brüche sind, die im Rückblick aufhorchen<br />

lassen. Nach verschiedenen Veröffentlichungen, unter<br />

anderem zu Robert Schumann und Fanny und Felix Mendelssohn,<br />

ist nun eine Edition zu Franz Schubert mit dem Titel Die Liebe liebt<br />

das Wandern erschienen, gestaltet von Jörg Handstein und eingesprochen<br />

von Udo Wachtveitl als Erzähler und Robert Stadlober in<br />

der Rolle des Schubert.<br />

Für Stadlober glich die Erarbeitung des Skripts einer spannenden<br />

Entdeckungsreise, mitten hinein in die oft schwierige und raue<br />

Lebenswirklichkeit Franz Schuberts auf der stetigen Suche nach<br />

Anerkennung, künstlerischer Selbstverwirklichung und gesicherter<br />

Existenz. Die Aufnahme fand, coronabedingt, in kleinem Kreis an<br />

nur einem Tag in den BR-Studios in München statt. Hinter der<br />

Scheibe lauschten der Regisseur und Autor, im komplett abgedunkelten<br />

Studio saß Robert Stadlober mit Skript und Leselampe am<br />

Mikrofon und füllte den Text mit Leben. „Wir haben intensiv und<br />

sehr frei mit dem Text gespielt und gearbeitet und verschiedene<br />

Formen des Deklamierens ausprobiert, um den richtigen Rhythmus<br />

und die richtige Melodie für den Text finden“, erzählt Stadlober.<br />

„Ich durchwandere den Text und leuchte ihn aus“, sagt der Schauspieler.<br />

So könne das Publikum mit ihm gleichsam durch eine Textlandschaft<br />

gehen und begleitet von ausgewählten Kompositionen<br />

eine tiefergehende Vorstellung vom Menschen und Musiker Schubert<br />

erlangen.<br />

Stadlober selbst hat bei seiner Erkundung der Textfragmente<br />

und Beschreibungen von Franz Schubert einen Menschen entdeckt,<br />

der bei aller Melancholie und Trauer in seiner Musik immer auch<br />

eine riesige Sehnsucht hatte „nach Freude und wildem, intensivem<br />

Leben. Eigentlich war Schubert immer auf der Suche nach dem<br />

Fest“, so Stadlober, und er habe so viele mutige Pläne gehabt, die<br />

dann ein ums andere Mal an den Konventionen gescheitert seien.<br />

Dieser stetigen Enttäuschung habe Schubert mit starker Kraft<br />

getrotzt. „Schubert hat viele Kompromisse verweigert und stattdessen<br />

bedingungslos an das geglaubt, was er getan hat“, so Stadlober.<br />

Das habe ihn sehr beeindruckt. Der österreichische Schauspieler<br />

und Synchronsprecher hat schon sehr früh damit begonnen,<br />

parallel zu seiner Arbeit vor der Kamera oder auf der Bühne auch<br />

Hörbücher einzulesen. „Diese Verbindung von Musik und Literatur<br />

finde ich unglaublich spannend“, sagt Stadlober, und in gewisser<br />

Weise seien die konzentrierte Textarbeit und das Vorlesen „die<br />

purste Form“ seines Handwerks. „Ich erlebe das Körperspiel immer<br />

als sehr anstrengend. Letztlich geht bei mir immer alles erst mal<br />

vom Kopf aus, dann setze ich das um.“<br />

Mit Schubert hatte sich der 38-Jährige bislang nicht intensiver<br />

auseinandergesetzt, die Musik jedoch spielte im Leben von Stadlober<br />

spätestens seit seiner Jugend eine wichtige Rolle. Mit zwölf bekam<br />

er seinen ersten CD-Player, danach hörte er „wie im Rausch“, wie<br />

er erzählt, und verbrachte Stunden im Plattenladen. Als Waldorf-<br />

Schüler lernte er zudem Geige, schwenkte später um auf Gitarre und<br />

brachte sich selbst autodidaktisch das Klavier- und Trompetespielen<br />

bei. „Musik ist für mich die barrierefreieste Kunst überhaupt“, sagt<br />

Stadlober, und diese beglückende Freiheit zelebriert er bis heute in<br />

seinen eigenen Rockbands. Bei Schubert sind es die Lieder, die ihn<br />

am meisten berühren. „Wenn Musik mit Text verbunden wird, ist<br />

mir das am nächsten. Ich gehe auch lieber in die Oper als ins Konzert<br />

und werde gern inhaltlich an der Hand genommen“, sagt Stadlober.<br />

Bei seiner Annäherung an Schubert ist der vielseitige Darsteller auf<br />

überraschend viel Vertrautes gestoßen. „Schubert war ein großer<br />

Zweifler und Haderer – das ist mir sehr nahe“, so Stadlober, und<br />

auch das romantische Gedankengut fasziniere ihn sehr. „Ich habe<br />

eine große Sehnsucht danach, Texte zu finden, die nicht vom deutschen<br />

Übermenschentum berichten und frei sind vom Brustton der<br />

absoluten Überzeugung“, sagt der Künstler. Viel eher finde er sich<br />

in Werken und Texten wieder, die von „Verletzlichkeit, Nachdenklichkeit<br />

und Zweifeln“ geprägt sind. Von eben dieser Größe und<br />

Brüchigkeit zugleich zeugen auch die Werke Franz Schuberts, der<br />

Zeit seines Lebens hin- und hergerissen war zwischen der Suche<br />

nach neuen Wegen und dem Bedienen der konventionellen gesellschaftlichen<br />

Erwartungen. „Dieser innere Zwiespalt ist mir sehr<br />

vertraut“, sagt Stadlober, und es sei tröstlich gewesen zu sehen, dass<br />

sich in mancherlei Hinsicht wenig verändert hat. Die Beschäftigung<br />

mit dem Ringen und Wirken Franz Schuberts war für Stadlober<br />

dabei nicht zuletzt auch eine inspirierende und mutmachende Arbeit<br />

für sein eigenes Leben: „Schubert hat mich darin bestärkt, dass der<br />

sture Weg jenseits der Konventionen zwar vielleicht nicht immer<br />

der glücklichere, aber auf lange Sicht der richtigere ist. Heute sind<br />

alle begeistert von Schuberts Musik. Ich denke, man darf die Menschen<br />

nicht unterschätzen. Man kann ihnen<br />

viel zumuten. Ein Publikum möchte Neues<br />

erfahren und kann wachsen am Inhalt.“ n<br />

„Schubert – Die Liebe liebt das Wandern“: Hörbiografie von<br />

Jörg Handstein (BR Klassik)<br />

25


D<br />

Entspannt<br />

an Ihrer<br />

Seite.<br />

ukw, dab+ und webstreaming


K Ü N S T L E R<br />

ALTE LIEBE<br />

ROSTET NICHT<br />

Es ist ja so mit Jugendlieben: Sie lassen sich nur schwer konservieren. Zeit und<br />

Erfahrung überlagern die einstigen Gefühle. Im besten Fall aber vergisst man nie, was<br />

einen mal angezogen hat, und die Liebe bekommt eine zweite Chance. András Schiff<br />

und Jörg Widmann haben sie ihrer Liebe zu Brahms geschenkt. Was für ein Glück!<br />

VON PATRICK WILDERMANN<br />

András Schiff und<br />

Jörg Widmann<br />

geraten ins<br />

Schwärmen über<br />

ihre junge alte<br />

Liebe: Johannes<br />

Brahms<br />

FOTO: FRITZ ETZOLD / ECM RECORDS<br />

er Klarinettist und Komponist Jörg Widmann<br />

und der Pianist András Schiff waren beide schon<br />

sehr früh für Johannes Brahms entflammt. Widmann erinnert sich<br />

daran, wie sich Schulfreunde und er auf dem Pausenhof gegenseitig<br />

Werke wie das Klarinetten-Quintett vorgespielt haben, jeder einen<br />

Kopfhörer-Stöpsel im Ohr: „Diese Musik hat uns berauscht im<br />

schönsten Sinne.“ In der Folge ist es nie wirklich zum Bruch gekommen.<br />

Aber mit Robert Schumann trat irgendwann ein neuer<br />

Schwarm in sein Leben und löste den alten ab.<br />

Auch Schiff erzählt, dass ihm mit 14, 15 Jahren kein Musiker<br />

näher war als Brahms, sein absoluter Lieblingskomponist. Zu Studienzeiten<br />

in Budapest studierte er unter anderem die Klarinetten-<br />

Sonaten mit seinem Lehrer György Kurág ein, „etwa ein halbes<br />

Jahrhundert her, schwer zu glauben“. Aber auch Schiff gelangte an<br />

den Punkt, wo er zu dieser engen Beziehung Distanz aufbauen<br />

musste: „Es war zu intensiv.“<br />

Zum Glück haben die beiden als längst erwachsene und etablierte<br />

Künstler ihren Brahms wiederentdeckt. Und zu einer neuen<br />

Form von Liebe gefunden, die nicht mehr von jugendlichem Enthusiasmus<br />

befeuert, aber deswegen nicht weniger intensiv ist – ganz<br />

im Gegenteil. „Ich sehe ihn jetzt viel reifer nach so vielen Jahrzehnten“,<br />

sagt Schiff. Und auch Widmann beschreibt, dass sich ihm<br />

– mit einigem Abstand – ein noch viel umfassenderer Brahms-<br />

Kosmos erschlossen hat: „Als würde man auf die Oberfläche eines<br />

Sees schauen und auf einmal realisieren, welche Tiefen darunterliegen.“<br />

Als „schockhaft und beglückend“ zugleich bezeichnet er<br />

27


K Ü N S T L E R<br />

FOTOS: MARCO BORGGREVE / ECM RECORDS; NADIA F. ROMANINI / ECM RECORDS<br />

dieses in jedem Fall große Gefühl.<br />

Vor allem die beiden späten<br />

Klarinettensonaten op. 1<strong>20</strong> haben<br />

Schiff und Widmann in den<br />

vergangenen Jahren oft auf<br />

Konzerten gespielt, hörbar die<br />

Musik eines Komponisten mit<br />

gelebtem Leben. „Ein junger<br />

Mensch übertreibt, nicht wahr?“,<br />

so der ungarische Pianist. „Das ist<br />

auch wunderbar, denn davon<br />

ausgehend kann man später reduzieren.“<br />

Für ihn liegen Welten<br />

zwischen der frühen Klaviersonate<br />

op. 5 – ein kluger Mensch<br />

habe diesen Künstler am Beginn<br />

seiner Karriere mal den „Brahms<br />

ohne Bart“ genannt – und den<br />

„viel ökonomischeren, konzentrierteren“<br />

Klarinetten sonaten.<br />

„Er braucht nicht mehr so viel<br />

Zeit, nicht mehr so viele Noten.“<br />

Nun ist ein Album erschienen,<br />

auf der Widmann und Schiff<br />

die Sonaten in Es-Dur und f‐Moll<br />

zu einem herbstlichen, farbenreichen<br />

Leuchten bringen – verschränkt<br />

mit fünf Intermezzi für<br />

Klavier, die Widmann schon <strong>20</strong>10<br />

eigens für den hochgeschätzten<br />

Kollegen und dessen „erstaunliches<br />

Differenzierungsvermögen“ komponiert hat. Anlass war damals<br />

ein gemeinsamer Auftritt bei den Salzburger Festspielen.<br />

Widmanns Stücke verneigen sich vor Brahms, aber eher aus<br />

der Ferne. Als Hommage, die nie den Eigensinn verliert. Im dritten<br />

Satz zum Beispiel schreibt er sich in eine Ekstase, die eigentlich die<br />

Form des Intermezzos sprengt – und spielt dabei auf die Brahms’sche<br />

Vorliebe an, für Orchester und Klavier eine Quinte oder Sexte tiefer<br />

zu komponieren als die Zeitgenossen. „Das tiefe A – wer verwendet<br />

das schon im 19. Jahrhundert?“, fragt Widmann. Daher auch der<br />

Titel, den er gewählt hat: Mit dunkler Glut.<br />

„Viel Wehmut“, hört Schiff in diesen Kompositionen, „auch<br />

etwas Wienerisches, das ich sehr schätze. Ich bin ja in Budapest<br />

geboren und fühle mich sehr als Kind der K.-u.-k.-Monarchie, da<br />

ist eine Nostalgie in mir wie in einem Roman von Joseph Roth.“<br />

Natürlich, der Klarinettist und der Pianist hätten diese<br />

Brahms-Einspielung nebst Intermezzi schon viel früher herausbringen<br />

können. Aber Schiff findet es wichtig, „dass man ein großes<br />

Werk einstudiert und damit lebt, es immer wieder aufführt – dann<br />

ist die Zeit gekommen, es zu dokumentieren, nicht umgekehrt“.<br />

Das Grandiose an ihrer Aufnahme ist, dass sie den Menschen<br />

Brahms hörbar macht. Den Musiker, der seinem Verleger Fritz<br />

August Simrock sein Streichquintett op. 111 mit der Notiz geschickt<br />

hatte: „Hiermit übersende ich Ihnen mein letztes Stück“, was, so<br />

Widmann, „keine Koketterie war“. Der aber durch die Begegnung<br />

mit dem Klarinettisten Richard Mühlfeld in Meiningen so aufgewühlt<br />

und für das Instrument entzündet wurde, dass er doch noch<br />

einmal zu komponieren anfing. Apropos neu entflammte Liebe.<br />

Man trifft auch den versöhnten Zauderer. Brahms, das weiß<br />

man ja, war ein gnadenlos selbstkritischer Künstler. „Was wir von<br />

WIDMANNS KOMPOSITIONEN VERNEIGEN<br />

SICH VOR BRAHMS – UND SCHIFFS<br />

DIFFERENZIERUNGSVERMÖGEN<br />

ihm kennen, ist nur ein Bruchteil<br />

seiner Kompositionen, so viel landete<br />

im Papierkorb“, so Schiff. In<br />

den späten Werken aber zeigt sich<br />

ein anderer, kühnerer Musiker.<br />

Einer, der so zukunftsweisende<br />

Harmoniefolgen schrieb, dass sie<br />

„Jazz- oder Debussy-Assoziationen<br />

wecken“, findet Widmann. Nicht<br />

von ungefähr habe Schönberg den<br />

berühmten Aufsatz geschrieben<br />

Brahms, the Progressive – Brahms,<br />

der Fortschrittliche.<br />

Sicher, auch gegen Ende seines<br />

Schaffens habe Brahms nicht<br />

alle Zweifel an sich selbst beseitigt,<br />

aber zum Beispiel die f‐Moll-<br />

Sonate: die beginne als eines dieser<br />

charakteristischen Schmerzenswerke,<br />

„O Welt, wenn ich einmal<br />

soll scheiden“ – „und dann endet<br />

sie so heiter. Nicht schenkelklopfend,<br />

sondern Brahms-heiter“,<br />

beschreibt Widmann. „Ich habe<br />

den Eindruck, er lächelt am<br />

Schluss“.<br />

Solche Feinheiten herauszustellen,<br />

das braucht die Erfahrungstiefe<br />

zweier Virtuosen. Der<br />

liebevolle Respekt, den Schiff und<br />

Widmann Brahms entgegenbringen<br />

– er ist auch im Gespräch jederzeit spürbar. Wenn der Klarinettist<br />

etwa die Anekdote vom jungen Schüler erzählt, der in der<br />

riesigen Brahms’schen Bibliothek eine Tannhäuser-Partitur voller<br />

akribischer Anmerkungen auf jeder Seite fand und den Komponisten<br />

schüchtern fragte: „Ich dachte, Sie mögen Wagner überhaupt nicht?“<br />

Woraufhin der entgegnet habe: „Aber man muss doch sehr genau<br />

kennen, was man nicht mag.“<br />

Oder wenn Schiff eher beiläufig die Postkarte erwähnt, die auf<br />

seinem Schreibtisch steht, ein Original von Brahms, gerichtet an<br />

seinen Verleger: „Da schwärmt er von der Erstaufführung der<br />

7. Sinfonie d‐Moll von Dvořák und schlägt ihn Simrock vor.“ Bis heute<br />

nicht selbstverständlich, so viel Kollegialität in der Musikbranche.<br />

Widmann führt das Gespräch auf gepackten Koffern, er reist<br />

zu einem Auftritt nach Schottland (zum Zeitpunkt des Interviews<br />

fanden noch Konzerte statt, Anm. d. Red.). Schiff lebt in Budapest,<br />

wo er, der Sohn von Holocaust-Überlebenden, seit zehn Jahren aus<br />

Protest gegen die Politik der Orbán-Regierung nicht mehr aufgetreten<br />

ist. Auch er konnte zuletzt international noch relativ viel<br />

Konzerte spielen, Alben aufnehmen, „aber ehrlich gesagt: Ich hasse<br />

diese Zeit“, bekennt er.<br />

Wenn man überhaupt etwas Gutes an der Gegenwart finden<br />

will, dann vielleicht das: Sie macht die Menschen, nach beider Erfahrung<br />

auf Konzerten, empfänglicher „für große<br />

Musik, und dazu gehört zweifellos Brahms“.<br />

Fest steht in jedem Fall: Es ist nie die<br />

falsche Zeit, sich zu verlieben.<br />

n<br />

Brahms: Clarinet Sonatas, András Schiff, Jörg Widmann (ECM)<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Herausragende<br />

NEUHEITEN<br />

bei Sony Music<br />

Wiener Philharmoniker<br />

Neujahrskonzert <strong>20</strong>21<br />

Pablo Sáinz-Villegas<br />

Soul of Spanish Guitar<br />

Das Neujahrskonzert der Wiener<br />

Philharmoniker wird <strong>20</strong>21 von<br />

Riccardo Muti geleitet, den eine<br />

langjährige Zusammenarbeit mit<br />

dem Orchester verbindet.<br />

Er verkörpert „die Seele der<br />

spanischen Gitarre“ wie kein<br />

anderer. Auf seinem ersten<br />

Solo Album für Sony Classical<br />

spielt Pablo Sáinz-Villegas<br />

Erhältlich ab 8.1. als Doppel-CD<br />

und digital, ab Ende Januar als<br />

DVD/Blu-ray.<br />

wienerphilharmoniker.at<br />

Cover vorläufig<br />

pablosainzvillegas.com<br />

Werke von Francisco Tárrega,<br />

Gerónimo Giménez und<br />

Isaac Albéniz.<br />

Erhältlich ab <strong>20</strong>.11.<br />

Hinrich Alpers<br />

Beethoven: Sinfonien 1-9<br />

Balthasar-Neumann-Chor<br />

Christmas in Europe<br />

Franz Liszts virtuose<br />

Berührende Weihnachtslieder<br />

Klavierfassungen der neun<br />

aus ganz Europa in 16 Sprachen<br />

Sinfonien Beethovens in einer<br />

mit dem Balthasar-Neumann-Chor<br />

Neueinspielung mit Hinrich<br />

und Ensemble unter Thomas<br />

Alpers. Die 9. Sinfonie in einer<br />

Hengelbrock.<br />

besonderen Fassung mit dem<br />

RIAS Kammerchor und<br />

exzellenten Solisten<br />

balthasar-neumann.com<br />

Lautten Compagney<br />

Time Zones<br />

Dorothee Mields<br />

Handel‘s Tea Time<br />

Auf „Time Zones‟ kombiniert<br />

Dorothee Mields und die<br />

die Lautten Compagney neue<br />

Berner Freitagsakademie<br />

Arrangements ausgewählter<br />

unter Katharina Suske mit<br />

Klavierstücke von Satie mit<br />

einer reizvollen Auswahl von<br />

Instrumentalwerken aus<br />

Vokal- und Instrumentalwerken<br />

bedeutenden Sammlungen von<br />

von Händel.<br />

Samuel Scheidt.<br />

lauttencompagney.de<br />

Corinna Simon<br />

Klavier für Kinder II<br />

Eine echte Schatztruhe, auch<br />

für Erwachsene: Teil 2 des<br />

„Klavier für Kinder“-Projekts<br />

mit selten zu hörenden Werken,<br />

die große Meister für Kinder<br />

und Jugendliche komponiert<br />

haben, wie Bach, Debussy,<br />

Bartók u.a.<br />

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K Ü N S T L E R<br />

FOTO: MAT HENNEK<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FASZINIERENDES<br />

PARADOX<br />

Die Pianistin Hélène Grimaud erkundet zu Hause<br />

in New York neue Partituren, vermisst die<br />

spirituelle Verbindung mit dem Publikum – und<br />

hat unterdessen ein neues Album mit Musik von<br />

Mozart und Silvestrov herausgebracht.<br />

VON WALTER WEIDRINGER<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Mme Grimaud, eigentlich hätten Sie im Herbst<br />

eine Tournee mit der Camerata Salzburg machen sollen …<br />

Hélène Grimaud: Ja, aber die Absage war für mich unvermeidbar. Mittlerweile<br />

erscheint die schmerzliche Entscheidung ja tatsächlich noch vernünftiger<br />

als zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie getroffen habe. Es gab und gibt ja<br />

keine Garantie, dass Termine halten, wenn überall die Infektionszahlen<br />

steigen, die Regeln strenger werden und Städte und ganze Länder auf die<br />

rote Liste kommen. Zusammen mit dem erhöhten Risiko, das sich aus<br />

meiner Krankengeschichte ergibt, war die Sache leider klar – ganz zu<br />

schweigen davon, dass ich seit Langem in den USA lebe und keine Wohnung<br />

mehr in Europa habe, ein Einreiseverbot besteht und ich weder zurück<br />

nach Hause noch irgendwo in eigenen vier Wänden bleiben könnte, sollte<br />

ich krank werden. Aber es ist traurig und frustrierend. Die furchtbare<br />

Unsicherheit wird wohl noch länger dauern.<br />

Körperliche Gesundheit ist wichtig, aber auch die seelische. Hat sich<br />

durch die Pandemie Ihr Verhältnis zur Musik verändert – oder ist das<br />

eine dumme Frage für eine Künstlerin, die schon schwere Krankheiten<br />

überwunden hat?<br />

Die Frage ist gar nicht dumm. Bei all diesen Streaming-Projekten ist mir<br />

eines aufgefallen: So schön sie auch waren, hatten sie doch auch etwas – ich<br />

will nicht sagen Deprimierendes, denn das wäre übertrieben. Schließlich<br />

haben sie auch viel Gutes bewirkt. Aber: Wir blühen und gedeihen erst<br />

durch die Verbundenheit mit einem Publikum. Es gibt einfach keinen<br />

Ersatz für das gemeinsame Erleben von Musik an ein und demselben Ort,<br />

31


K Ü N S T L E R<br />

FOTO: MAT HENNEK<br />

für die spezielle Dringlichkeit, die dabei entsteht, diese Gemeinschaft<br />

zwischen den Menschen auf der Bühne und im Publikum.<br />

Das ist für mich durchaus eine Art von Wunder. Es ändert nicht<br />

das Verhältnis zur Kunstform selbst, aber zu der Art, in der man<br />

sie tagtäglich lebt.<br />

Das Spielen für sich selbst ist eine ganz andere Kategorie?<br />

Die Freude an Musik ist da, die tägliche Arbeit mit den Noten<br />

bleibt; mit manchen Partituren hat man sich schon angefreundet,<br />

mit anderen ist man noch nicht auf du und du. Die Neugier lebt!<br />

Gerade jetzt habe ich Zeit, auch Werke auszuprobieren, die nicht<br />

direkt mit meinem Repertoire der<br />

nächsten Zeit in Verbindung<br />

stehen – aus reinem Vergnügen,<br />

ohne Druck. Das ist alles wertvoll<br />

und für sich genommen schon<br />

auch erfüllend. Aber dennoch<br />

fehlt mir das Entscheidende, diese<br />

spirituelle Dimension. Ich komme<br />

immer wieder auf das englische<br />

Wort „communion“ zurück, die<br />

Gemeinschaft. Ich weiß, dass das<br />

religiös klingt, und ich begreife es<br />

auch mehr allgemein spirituell<br />

– aber das ist der existenzielle<br />

Kern der Sache.<br />

Einen spirituellen Eindruck im<br />

allgemeinen Sinn macht auch Ihr<br />

neues Album mit dem Titel The<br />

Messenger, das Sie mit der schon<br />

erwähnten Camerata Salzburg<br />

aufgenommen haben. Was<br />

zeichnet dieses Orchester aus?<br />

Es gab viele Gründe für meine Vorfreude<br />

auf die nun so schmerzlich<br />

abgesagte Tournee nach den Aufnahmesitzungen Ende Januar in<br />

Salzburg! Ich hatte schon ein paarmal mit der Camerata zusammengearbeitet,<br />

etwa in Aix-en-Provence vor ein paar Jahren. Wir<br />

haben uns von Beginn an bestens verstanden und auch rasch<br />

Pläne geschmiedet. Aber durch unsere vollen Terminkalender hat<br />

es etwas gedauert, bis wir uns wirklich gezielt zusammensetzen<br />

konnten – und das übrigens direkt im Studio. Es gab kein<br />

vorheriges Abklopfen und Zusammenfinden in Konzerten. Wir<br />

haben uns einen Tag vor der ersten Aufnahme zur Probe getroffen,<br />

und das Einverständnis war sofort wieder dasselbe. Man<br />

braucht diesen Gleichklang in Dingen, die nicht erklärt und<br />

besprochen werden können. Die Chemie ist einfach da oder nicht,<br />

sie lässt sich nicht künstlich erzeugen. Ich weiß nicht, ob es am<br />

gemeinsamen Herzschlag liegt, am Atem, am nicht bloßen<br />

Zuhören, sondern am Aufeinanderhören, an der Energie ... Es ist<br />

undefinierbar, aber wenn man es fühlt, ist es großartig. Das liebe<br />

ich so an der Camerata Salzburg: Diese Musikerinnen und<br />

Musiker besitzen diese wunderbare Individualität, sowohl als<br />

Einzelspieler von höchster Qualität als auch als Organismus, als<br />

lebendiger Klangkörper. Das erlebt man nicht alle Tage.<br />

Die Aufnahmen sind ohne Dirigent entstanden – was ist da<br />

leichter, was schwerer?<br />

Ohne Dirigent macht man eher Kammermusik im Großen, jeder<br />

Einzelne wird zum direkten Partner. Das geht tatsächlich leichter<br />

ohne eine zusätzliche Instanz und ist für mich ein Ideal im<br />

Musizieren mit Kammerorchester. Ich habe Mozart-Konzerte mit<br />

verschiedensten Partnern gespielt – besonders gern erinnere ich<br />

mich zum Beispiel an die Zusammenarbeit mit Manfred Honeck<br />

und mit großem Orchester: Das ist auch unschlagbar, aber<br />

zugleich ein ganz anderes Paar Schuhe. Im Kammerorchester-<br />

Format kann man dafür eine viel tiefergehende Dichte und<br />

Intimität erzeugen, die etwas Besonderes ist.<br />

„WIR BLÜHEN UND GEDEIHEN<br />

ERST DURCH DIE VERBUNDENHEIT<br />

MIT EINEM PUBLIKUM“<br />

Ihre Deutung des d‐Moll-Klavierkonzerts KV 466 ist ganz<br />

gewiss das Gegenteil jeder süßen „Mozartkugel“. Vielmehr<br />

ist sie kantig, dramatisch, insistierend, manchmal sogar<br />

auf nuancierte Weise hämmernd – mehr als bei vielen<br />

anderen Interpreten.<br />

All diese Adjektive, die Sie benutzen, stehen für mich untrennbar<br />

mit Mozarts wenigen Stücken in Moll-Tonarten in Verbindung,<br />

die eine besondere persönliche Bedeutung besitzen – die spezielle<br />

Aura einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal. Man könnte<br />

sagen, dass mich solche Stücke besonders anziehen, weil sie mir<br />

pianistisch wie überhaupt<br />

musikalisch gleichermaßen<br />

entgegenkommen. Zugleich denke<br />

ich, dass bei meinen Aufnahmen<br />

zum Beispiel der Konzerte in<br />

A‐Dur KV 488 oder F‐Dur KV 459<br />

sehr wohl auch lyrischere,<br />

sanftere, leichtere Qualitäten<br />

hörbar sind. Aber das d‐Moll-<br />

Konzert und die beiden Fantasien<br />

in d‐Moll und c‐Moll sind mir sehr<br />

nahe, bedeuten mir sehr viel –<br />

und es war meine volle Absicht,<br />

sie so darzustellen, wie Sie es<br />

beschreiben.<br />

Sie spielen die üblichen Kadenzen<br />

von Beethoven ...<br />

Ich habe viel Material durchstöbert<br />

und auch schon selbst<br />

improvisiert, aber letztlich geht es<br />

mir um Qualität, und ich halte<br />

Beethovens Kadenzen für<br />

unerreicht. Es ist kein Zufall,<br />

dass er gerade für dieses Stück<br />

welche geschrieben hat. Im trotzigen Aufbegehren sind sich die<br />

beiden Komponisten so nahe wie nirgendwo sonst.<br />

Die Dramaturgie des Albums durchziehen zwei verschiedene<br />

Arten von Kombinationen oder Gegenüberstellungen: Zum<br />

einen bilden Mozarts Fantasien für Klavier solo ein dramatisches<br />

Vorspiel und eine Art Überleitung zu den Werken für<br />

Klavier und Orchester, zum anderen treffen Mozart und<br />

Valentin Silvestrov, der 1937 in Kiew geboren wurde, aufeinander.<br />

Wie sind Sie darauf gekommen?<br />

Diese Kombination basiert mehr auf Gefühl als auf einem<br />

speziellen Konzept. Silvestrov fasziniert mich schon länger, auf<br />

meinem letzten Album war bereits Musik von ihm vertreten.<br />

Mozart und er haben viel gemeinsam – in der Transparenz und<br />

Klarheit ihrer Texturen. Ich finde diese Parallelen interessant:<br />

die Unbeständigkeit, das Flüchtige.<br />

Der Mozart des d‐Moll-Konzerts ist dramatisch, dunkel,<br />

kämpferisch – weit weg vom immer noch manchmal bemühten<br />

Klischee der Lieblichkeit. Silvestrov hingegen ist zeitgenössische<br />

Musik, die oft generell für schwer zugänglich gehalten<br />

wird, für zu kompliziert und so weiter – aber er klingt tröstlich<br />

und sanft, baut stark auf Tonalität und Gefühl.<br />

Silvestrovs Musik spricht zu uns, als wäre sie ein Echo von etwas<br />

Vergangenem. Zugleich kommt auch Mozart für mich wie aus<br />

einer jenseitigen Welt: Beide überschreiten sie die Grenzen der<br />

unmittelbaren Realität. Das verbindet die beiden. Für mich ist<br />

dabei Mozart eher der Komponist der<br />

Zukunft, Silvestrov jener der Vergangenheit.<br />

Dieses Paradox fasziniert mich. <br />

n<br />

Mozart, Silvestrov: The Messenger, Hélène Grimaud<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


MET<br />

OPERA<br />

IM KINO<br />

2./3. Januar<br />

IL TROVATORE<br />

Giuseppe Verdi<br />

<strong>20</strong>21<br />

16./17. Januar<br />

DIE ZAUBERFLÖTE<br />

Wolfgang Amadeus Mozart<br />

30./31. Januar<br />

ROMÉO ET JULIETTE<br />

Charles Gounod<br />

27./28. Februar<br />

FAUST<br />

Charles Gounod<br />

27./28. März<br />

DON GIOVANNI<br />

Wolfgang Amadeus Mozart<br />

17./18. April<br />

MET STARS IN CONCERT<br />

Jonas Kaufmann/Joyce DiDonato<br />

8./9. Mai<br />

NABUCCO<br />

Giuseppe Verdi<br />

5./6. Juni<br />

LES CONTES D’HOFFMANN<br />

Jaques Offenbach<br />

PHOTO: KEN HOWARD / METROPOLITAN OPERA<br />

Bei allen Opern handelt es sich um Aufzeichnungen aus den Vorjahren.<br />

Änderungen vorbehalten<br />

www.metimkino.de /METimKino /METimKino<br />

Driving Digital Innovation in Arts & Culture


K Ü N S T L E R<br />

FREIHEIT FÜR<br />

BEETHOVEN!<br />

Daniel Barenboims neues Album: 32 Sonaten plus die Diabelli-Variationen<br />

von Beethoven – Gigantonomie im Jubiläumsjahr des Titans? Mitnichten!<br />

Und in diesem Fall besonders spannend. Denn der Dirigent und Pianist<br />

hatte die Sonaten schon einmal als 15-Jähriger aufgenommen. Grund<br />

genug für einen Vergleich, fand unsere Autorin. Und hat mit dem Pianisten<br />

eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft unternommen.<br />

VON MARGARETE ZANDER<br />

Einfach mal ausprobieren: Pathétique, Mondschein,<br />

Hammerklavier, Waldstein, Appassionata opus 111, die<br />

bekanntesten Beethoven-Sonaten also, die Daniel Barenboim als<br />

15-Jähriger beim New Yorker Plattenlabel Westminster eingespielt<br />

hat, mit den aktuellen Aufnahmen aus dem frisch erschienenen<br />

Bonus-Album per Schnittsystem übereinanderlegen und hin und<br />

her switchen – Staunen und Vergnügen könnten schöner nicht sein!<br />

Man wird mitgerissen vom Temperament des jungen Barenboim,<br />

der mit der strahlenden Sicherheit der Jugend die Dynamik auskostet,<br />

rasante Tempi anschlägt und ganz klar die Strukturen der<br />

Sonaten zeichnet. Und die aktuelle Aufnahme? Die macht Vergnügen,<br />

weil die Gestaltung noch differenzierter ist, weil er feinste<br />

Schattierungen malt zwischen glasklaren Verzierungen und musikalischen<br />

Gesten, die wie mit einem Pinselstrich dahingeworfen<br />

sind. Unerhörte Zwischenstimmen machen den Klang plastisch<br />

und lebendig und laden zu Entdeckerreisen in den Kosmos<br />

Beethoven ein.<br />

Mit diesen Eindrücken beginnt das Gespräch mit Daniel<br />

Barenboim. Er hört aufmerksam zu und erwidert auf die Frage, wie<br />

er die Aufnahme des 15-Jährigen finde: Er habe sie gar nicht gehört.<br />

Wie, noch nicht mal jetzt, wo die Deutsche Grammophon sie als<br />

Bonus-CD zu seinen aktuellen Aufnahmen veröffentlicht?<br />

„Nein, ich hatte Angst! (lacht) Angst, dass die Aufnahme von<br />

damals besser ist“, ergänzt er. Natürlich weiß Daniel Barenboim,<br />

dass er klaviertechnisch auch heute noch keine Probleme beim Spielen<br />

hat. Und dass in die aktuelle Aufnahme 60 Jahre Erkenntnisse<br />

und Erfahrungen mit Beethovens Musik eingeflossen sind.<br />

Extreme Tempi wie das im dritten Satz der Mondschein-Sonate<br />

sind schlicht beeindruckend. Die leichtläufige Beweglichkeit seiner<br />

Finger erlaubt Daniel Barenboim, seine Entdeckungen mit allen<br />

Facetten in Musik zu verwandeln, die Figuren für den Moment, wie<br />

er gerne sagt, „lebendig zu machen“. „Ich habe mit Anfang 60 festgestellt,<br />

dass ich mir die Socken nicht mehr auf einem Bein stehend<br />

anziehen kann“, verrät er schmunzelnd, aber dass er sich jung fühle,<br />

wenn er am Klavier sitzt.<br />

„Alles soll sich natürlich entwickeln“, fordert Daniel Barenboim,<br />

und dieses Ziel leitete ihn schon als Jugendlicher. Damals,<br />

1958, war es für ihn keine große Sensation, die bekanntesten Beethoven-Sonaten<br />

in New York aufzunehmen. Seit er neun Jahre alt<br />

war, hatte er sie gespielt, mit zehn Jahren zum ersten Mal öffentlich<br />

FOTO: HARALD HOFFMANN<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


„WENN ICH AM<br />

KLAVIER SITZE,<br />

FÜHLE ICH MICH<br />

JUNG“


K Ü N S T L E R<br />

im Konzert. „Das war sehr spannend für mich, wissen Sie. Ich war<br />

kein sensationelles erfolgreiches Wunderkind wie Menuhin oder<br />

so. Ich hatte guten Erfolg, habe zwischen zehn und 14 in allen Hauptstädten<br />

gespielt. Es war okay, aber eben nicht sensationell.“<br />

Offenbar hatte der Chef von Westminster Records ein besonderes<br />

Gespür für Nachwuchs. Denn diese Schallplatte wurde später<br />

als Geheimtipp gehandelt. „James Grayson war ein sehr netter<br />

Mann. Sein Kopf war eine Musikbibliothek. Er wusste alles, kannte<br />

alles und war sehr gebildet. Ein sehr lieber Mensch, der sich wirklich<br />

um mich gekümmert hat. Und es war für mich absolut natürlich<br />

und normal, in New York im Studio der RCA aufzunehmen.“ Seine<br />

Eltern hatten den Teenager damals begleitet, mental aber fühlte er<br />

sich nicht mehr von ihrer Unterstützung abhängig. Das lag auch an<br />

Arthur Rubinstein, der ihn ein paar Jahre zuvor, da war er zwölf,<br />

nach einer Unterrichtsstunde in Paris<br />

zum Essen eingeladen hatte – ohne<br />

die Eltern. Seitdem fühlte sich der<br />

Pianist ernst genommen und selbst<br />

verantwortlich für das, was er tat. „Ja,<br />

an dieses Gefühl kann ich mich bis<br />

heute sehr gut erinnern“, lacht<br />

Barenboim.<br />

Mit 17 Jahren spielte er dann<br />

den gesamten Zyklus der 32 Sonaten<br />

von Ludwig van Beethoven in Tel<br />

Aviv. Und das kam anders, als man<br />

es sich vielleicht vorstellt: „Die Zeit,<br />

als ich 16, 17 war, war für mich sehr<br />

traurig, denn ich hatte keine Konzerte.<br />

Verstanden habe ich das aber<br />

erst später. Ich hatte keine Konzerte,<br />

weil ich sozusagen nicht mehr Wunderkind,<br />

aber auch noch nicht erwachsen<br />

war. Und laut Kalender hatte ich<br />

eigentlich nichts zu tun. Das klingt<br />

ein bisschen überdramatisch für<br />

einen 16- oder 17-Jährigen, aber ich<br />

war eben gewöhnt, immer zu spielen.<br />

Und plötzlich war das Einzige, was<br />

ich machen konnte, meine Schule<br />

und das Abitur. Habe ich dann ja<br />

auch. Als man mir schließlich angeboten<br />

hat, in Tel Aviv alle Beethoven-<br />

Sonaten zu spielen, war das für mich<br />

eine großes Fest!“ Einmal pro Woche<br />

spielte er also Beethoven-Sonaten, in<br />

der gleichen Zeit machte er das Abitur.<br />

„Es war nicht in einem Konzertsaal, sondern im Journalistenhaus,<br />

das bis heute existiert. Der Mann, der das damals geleitet hat,<br />

war ein großer Musikliebhaber. Ich traf ihn per Zufall, und er hat<br />

gefragt: ‚Wie geht’s dir, was machst du?‘ Ich war in einer großen<br />

jugendlichen Depression. Und ich hatte Vertrauen zu ihm und habe<br />

gesagt: ‚Nicht gut. Wissen Sie, ich habe keine Konzerte, ich kann<br />

nirgendwo spielen!‘ Und er erwiderte: ‚Ich leite jetzt dieses Journalistenhaus,<br />

wenn du willst, kannst du dort spielen, so viel du willst!‘“<br />

Auf den Konzertzyklus mit den Beethoven-Sonaten folgte einer<br />

mit sämtlichen Mozart-Sonaten, und schließlich stiegen die Buchungen<br />

für Konzerte international stetig an. Die Beethoven-Sonaten<br />

aber wurden eine Konstante in seinem Leben – ein Ratgeber. „Ich<br />

habe von Beethoven für das Leben gelernt!“, formuliert Daniel<br />

Barenboim gern. Etliche Male hat er die Sonaten in Konzerten<br />

gespielt, oft als Gesamtzyklus. Viermal wurden sie auf Schallplatte<br />

bzw. CD veröffentlicht: in den 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren.<br />

Ich konnte mir also gar nicht vorstellen, dass es heute noch Interesse<br />

an einer neuen Aufnahme geben würde!“, erklärt Daniel Barenboim<br />

und versteckt dabei seine Freude und das ungläubige Staunen über<br />

die spontane Anfrage der Deutschen Grammophon in keinster Weise.<br />

Weil ihm aber – wie vielen anderen Künstlern auch – der coronabedingte<br />

Stopp des Konzertbetriebes plötzlich viel Zeit schenkte<br />

und er schon angefangen hatte, die 32 Beethoven-Sonaten für eine<br />

Gesamtaufführung in Berlin und Wien neu zu erkunden, beschloss<br />

er dranzubleiben. „Ich habe das alles aufgenommen, ohne darüber<br />

nachzudenken, wofür. Ende Mai fing ich an – aber ich wollte das<br />

für mich machen! Ich habe sie nicht aufgenommen, um sie zu<br />

veröffentlichen.“<br />

Das Üben habe ihm Spaß gemacht, schwärmt er, vor allem an<br />

dem Flügel, der für ihn gebaut wurde. Dieser Steinway-Flügel (es ist<br />

bereits der zweite) des belgischen Instrumentenbauers Chris Maene<br />

biete ein unerschöpfliches Meer von<br />

Klangnuancen, von den warmen<br />

durchklingenden Bässen bis zum<br />

gesanglichen Spiel im Diskant.<br />

Mit „jungfräulichem Blick“<br />

schaue er jedes Mal die Noten an,<br />

erzählt Barenboim weiter. Aber wie<br />

kann das gehen, wo die Finger doch<br />

auch ein haptisches Gedächtnis<br />

haben und sich ein gewisser Automatismus<br />

kaum vermeiden lässt?<br />

„Routine ist der größte Feind von<br />

Musik“, sagt Daniel Barenboim. „Ich<br />

beschäftige mich mit so viel Musik<br />

– Klavier solo, Kammermusik,<br />

Orchester, Sinfonien, Oper –, und<br />

von jedem Stück habe ich etwas<br />

gelernt. Deswegen habe ich eine<br />

große Auswahl von Assoziationen.<br />

Zum Beispiel: Das erinnert mich an<br />

Fidelio – da ist es so, und hier es ist<br />

anders.“<br />

Je tiefer Daniel Barenboim in<br />

Beethovens musikalischen Gesamtkosmos<br />

eindringt, umso mehr<br />

Freude macht es ihm, am Klavier die<br />

inneren Verbindungen zu entdecken.<br />

Im Vergleich macht Daniel Barenboim<br />

deutlich, was er meint: „Sie<br />

„ICH HABE VON BEETHOVEN<br />

kennen das lateinische Alphabet,<br />

FÜR DAS LEBEN GELERNT“<br />

sprechen englisch, deutsch oder<br />

sonst eine Sprache. Jetzt gebe ich<br />

Ihnen einen Text auf Dänisch. Sie<br />

können das lesen, aber Sie verstehen kein Wort, und so wird leider<br />

oft musiziert. Dieses Verstehen aber ist etwas, das sich bei mir das<br />

ganze Leben über entwickelt hat. Ich sage oft zu den Studenten in<br />

der Akademie: ‚Ihr spielt Musik, als würdet ihr das Alphabet kennen,<br />

aber ihr sprecht die Sprache nicht.‘ Denn die Sprache sprechen heißt,<br />

den Ausdruck zu verstehen. Man kann den Ausdruck in der Musik<br />

nicht mit Worten erklären, sonst wäre es unnötig zu musizieren.<br />

Aber die Verbindungen, die muss man meiner Meinung nach immer<br />

neu denken! Und das habe ich vom Orchester gelernt!“<br />

Die stetig wachsende Fülle an Details, auf die er die Musiker<br />

als Dirigent gestoßen hat, ist im Laufe der Jahre immer dichter<br />

geworden, nicht zuletzt im Programm „Beethoven für alle“ mit dem<br />

West-Eastern Divan Orchestra und der aktuellen Arbeit an den<br />

neun Beethoven-Sinfonien mit der Staatskapelle Berlin.<br />

Auf Unerwartetes stieß ihn im letzten Jahr auch die Begegnung<br />

mit Beethovens Klaviertrios im Pierre Boulez Saal, gemeinsam mit<br />

Michael Barenboim, Violine, und Kian Soltani am Violoncello. „Oft<br />

FOTO: HARALD HOFFMANN<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


kam etwas Überraschendes von einem der beiden. Wenn ich dann<br />

gefragt habe, warum der eine das so und der andere das so macht,<br />

war die Antwort: ‚Weil so, so und so ...‘ Auf diese Weise bekomme<br />

ich auch neue Ideen. Wenn ich nur bedingt zustimme, schlage ich<br />

vor‚ die Idee umzusetzen, weil sie an sich gut ist, dass man aber auch<br />

ein bisschen da- oder dorthingehend ändern könnte.“ Das Fazit,<br />

das Barenboim aus dieser Arbeit zieht, ist bestechend: „Diese Arbeit<br />

bereichert das Leben, denn man ist in permanentem Kontakt mit<br />

der Musik. Und das ist wirklich eine privilegierte Existenz!“<br />

Das Geheimnis, warum man in diesen Aufnahmen plötzlich<br />

auch in den bekannten Beethoven-Sonaten so viel mehr Details hört,<br />

liegt in der Sorgfalt und neu gewonnenen Freude beim Üben: „Meist<br />

übt man so, dass die Hauptstimme ein bisschen kräftiger und die<br />

Nebenstimmen leiser zu hören sind. Aber nicht alle Nebenstimmen<br />

sind gleich. Es gibt einige, die zum Beispiel harmonisch viel wichtiger<br />

sind als die anderen. Auch das habe ich vom Orchester gelernt.“<br />

Besonders fasziniert haben Daniel Barenboim dieses Mal die<br />

Stellen, in denen Beethoven crescendo und dann subito piano<br />

schreibt. „Wie lang geht das crescendo, wie plötzlich ist das subito<br />

piano? Das ist eine Eigenart von Beethoven. Vor dem subito piano<br />

muss man das Gefühl haben, man ist bis zum Äußersten gegangen.<br />

Und dann plötzlich hört es auf, und man ist da, ohne zu fallen. Es<br />

fühlt sich an wie auf einem Berg: Sie gehen bis ganz zur Kante, aber<br />

Sie fallen nicht runter. Das ist sehr schwer, denn es braucht unglaublich<br />

viel Mut. Nicht weniger als auf dem Berg. Und das ist es, was<br />

ich wirklich faszinierend finde.“<br />

Und noch eine weitere Beobachtung wird Daniel Barenboim<br />

beim Studium der Sonaten fortan begleiten: Er möchte auch in<br />

Zukunft die Sonaten in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung<br />

spielen. Auf diese Weise wird Beethovens Entdeckerlust<br />

für ihn zum Kompass.<br />

Dieses Neue zu entdecken, empfindet Daniel Barenboim umso<br />

schöner, als Beethovens Sonaten sehr intim sind. Für ihn fühlt es<br />

sich an, als würde er sein Tagebuch lesen. Dabei geht es ihm nicht<br />

um emotionale Befindlichkeiten aus Beethovens Alltag. Biografisches<br />

interessiert ihn im Zusammenhang mit dem Ausloten der<br />

Innenspannungen nicht, und das Wort „Interpretation“ lehnt er für<br />

seinen Vortrag am Klavier rigoros ab. Barenboims Fazit: „Wer die<br />

Sonaten und Streichquartette wirklich kennt, kennt im tiefsten<br />

Sinne des Wortes alles. Was sie bedeuten, kann man nicht mit Worten<br />

beschreiben. Es sind Impulse, es sind musikalische Gedanken,<br />

harmonische Spannungen und rhythmische Energien.“ Die Reflexion<br />

der musikalischen Lebensspur in Tönen.<br />

„Jedes Mal, wenn man ein Stück spielt, lernt man etwas Neues.<br />

Vielleicht ist es nur ein kleines Detail, aber es heißt, am Tag danach<br />

wissen wir mehr. Aber wir müssen am nächsten Tag nach wie vor<br />

bei null anfangen, denn der Klang ist ja weg. Das ist, was ich ein<br />

privilegiertes Leben nenne. Da gibt es keinen Platz für Routine und<br />

keinen Platz für Langeweile.“<br />

Der absolute Höhepunkt der aktuellen Veröffentlichung sind<br />

für Barenboim Beethovens Diabelli-Variationen. „Das ist, als hätte<br />

sich Beethoven nach 32 Sonaten frei gefühlt von diesen strukturellen<br />

Dingen, die ein sehr organischer Teil seiner musikalischen Persönlichkeit<br />

waren. Und zwar völlig frei. Er hat die Fenster aufgemacht,<br />

und die Luft war anders. Ich liebe das Stück wirklich! Ich habe auch<br />

mehrmals die letzten drei Sonaten gespielt, und auch das ist ein<br />

Universum. Wenn man gut in Form ist, ein einmaliger Genuss!<br />

Aber die Freiheit in den Diabelli-Variationen,<br />

die ist wirklich einmalig!“<br />

n<br />

Ludwig van Beethoven: Complete Sonatas, Diabelli-Variationen,<br />

Daniel Barenboim (Deutsche Grammophon)<br />

WIR<br />

ZIEH‘N<br />

DURCH<br />

Tickets (0331) 28 888 28 . www.musikfestspiele-potsdam.de<br />

37


K Ü N S T L E R<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


K Ü N S T L E R<br />

QUEEN<br />

DIANA<br />

Man bleibt unter sich: Diana Damrau, die Königin<br />

des Koloratursoprans, hat sich dem Werk des<br />

Belcanto-Komponisten Gaetano Donizetti unter<br />

einem ganz besonderen Aspekt gewidmet und<br />

schlüpft für ihr neues Album Tudor Queens in das<br />

Korsett dreier tragischer Figuren: Maria Stuarda,<br />

Anna Bolena und Elisabetta aus Roberto Devereux.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

FOTO: CHRIS SINGER / PARLOPHONE RECORDS LTD<br />

Liederabend in Hamburg, Diana Damrau und der Harfenist<br />

Xavier de Maistre. Der Sopranistin unterläuft bei<br />

den französischen Zeilen ein winziger Textdreher. Backstage sagt sie<br />

kichernd: „Ich hab gedichtet!“ Damrau kichert gern, und sie tut es oft.<br />

Das wirkt erfrischend unverstellt – und so ist dieses ganze Bündel<br />

Energie insgesamt. Kein Brimborium, nirgends. Dabei gehört Damrau<br />

seit vielen Jahren zur Weltspitze der Koloratursopranistinnen.<br />

Der Anruf für das <strong>CRESCENDO</strong> Interview erreicht die Primadonna<br />

in der Küche ihres Ferienhauses in der Provence, wo sie gerade<br />

für die Familie Pasta zubereitet. Und auch hier kichert sie hin und<br />

wieder, wenn etwas überkocht.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Wo und wie haben Sie den Lockdown überstanden,<br />

Frau Damrau?<br />

Diana Damrau: Hier in Südfrankreich. Wir hatten ja über Nacht<br />

nichts mehr zu singen und schlagartig einen anderen Beruf:<br />

Grundschullehrer. Da ist man den ganzen Tag im Einsatz! Aber so<br />

konnten wir hier auch mal den Frühling erleben und uns intensiv<br />

um den Garten kümmern. Das war schon eine besondere Zeit.<br />

Wie ist es Ihnen denn mit dem plötzlichen Stillstand gegangen?<br />

Ich bin erst mal in Schockstarre verfallen. Und dann habe ich<br />

39


K Ü N S T L E R<br />

angefangen, Oratorienarien und etwas<br />

freudigeres Repertoire zu singen. Und<br />

zu meditieren. Zudem kümmere ich<br />

mich um meine Stimme. Das ist die<br />

Gelegenheit, den Flieger, der dauernd<br />

im Einsatz ist, in den Hangar zu<br />

stellen und zum TÜV zu bringen.<br />

Ausprobieren, reflektieren, an<br />

Stellschrauben drehen, wieder<br />

ausprobieren.<br />

Klingt fast beneidenswert. Andere<br />

bangen derweil, ob sie überhaupt<br />

noch im Geschäft sein werden.<br />

Wir versuchen zu unterstützen und zu<br />

helfen, wo es geht, gerade jungen<br />

Sängern. Das muss man doch tun in<br />

der Position, die man als namhafter<br />

Künstler hat. Es ist erschütternd, wie<br />

die Kultur oftmals behandelt beziehungsweise<br />

nicht behandelt wird. Es<br />

wird wahrscheinlich eine Generation<br />

von jungen Künstlern verloren gehen,<br />

einfach wegbrechen. Manche können<br />

ihren Beruf nicht mehr ausüben. Mit<br />

großem Aufwand und viel Kreativität<br />

kann man tatsächlich einiges verwirklichen.<br />

Aber wenn man dann sieht,<br />

was teilweise in anderen Bereichen möglich ist, fragt man sich,<br />

weshalb Oper in reduzierter Form oder kleine Konzert formate<br />

nicht möglich sind.<br />

Sie haben immerhin im September in Zürich Donizettis<br />

Maria Stuarda gesungen, eine der drei Heldinnen Ihres neuen<br />

Albums Tudor Queens.<br />

Für ein Bühnentier sind das die tollsten Stücke. Die sind stimmlich<br />

und theatralisch eine Riesenfreude. Da kann man mit der<br />

Stimme spielen und hat gestandene Frauen vor sich mit allem,<br />

was man gestalterisch, stimmlich zeigen kann und darf.<br />

Bei diesen wahnsinnigen Donizetti-Frauen kommt einem<br />

unweigerlich Edita Gruberova in den Kopf ...<br />

Immer, wenn ich sie irgendwo erleben konnte, bin ich hingegangen!<br />

Und dachte: So möchte ich auch gern mal singen.<br />

Und nun singen Sie genauso erfolgreich, aber ganz anders.<br />

Das ist ja das Tolle am Belcanto, dass man sich an der eigenen<br />

Stimme orientieren muss. Man hat die Möglichkeit zu entscheiden,<br />

wie man die Kadenzen ausziert und wie man die Stimme<br />

einsetzt, ob man in höheren oder tieferen Lagen singt. Manche<br />

wollen einen dramatischen, andere einen lyrischen Koloratursopran.<br />

Es ist sehr individuell. Man kann auch umgestalten, das<br />

Tempo variieren und Fermaten einbauen. Man muss den<br />

entsprechenden Subtext finden. Es ist natürlich Vokalakrobatik,<br />

aber es soll immer mit der Figur verbunden bleiben.<br />

Donizetti zeigt die Königinnen, die ihre Empfindungen tagein,<br />

tagaus panzern mussten, gleichsam von innen. Das emotionale<br />

Spektrum ist riesig. Spielt der königliche Hintergrund überhaupt<br />

eine Rolle für Ihre Interpretation?<br />

Die Frauen stecken im Korsett ihres Rangs. Sie waren dauernd in<br />

Todesgefahr, sie konnten vor nichts und niemandem sicher sein.<br />

Schon das verleiht den Figuren Dringlichkeit. Donizetti schildert<br />

sie mit allen Problemen, an denen sie zerbrechen. Wenn sie trotz<br />

ihres Korsetts implodieren oder explodieren, hat das nichts<br />

Königliches an sich. Das ist urmenschlich, urfraulich.<br />

Die drei Opern entstanden zur Zeit des Risorgimento, der<br />

großen Einigungsbewegung Italiens. Hat Donizetti sich seine<br />

„WENN FRAUEN TROTZ IHRES<br />

KORSETTS IMPLODIEREN ODER<br />

EXPLODIEREN IST DAS<br />

URMENSCHLICH, URFRAULICH“<br />

FOTO: CHRIS SINGER / PARLOPHONE RECORDS LTD<br />

Sujets aus politischen Motiven<br />

ausgesucht?<br />

Ganz bestimmt. Um zu zeigen, was<br />

ein absolutistischer Staat für Auswirkungen<br />

haben kann. Es war ein Mittel,<br />

die Leute aufzurütteln, zu schockieren<br />

und zu Diskussionen anzuregen.<br />

Natürlich muss man das immer im<br />

Kontext der Entstehungszeit begreifen.<br />

Wir würden die Themen, die Donizetti<br />

behandelt, heute aus einem<br />

anderen Blickwinkel sehen, etwa unter<br />

dem Aspekt der Emanzipation. Bei<br />

Donizetti ist die Frau Opfer von<br />

Zwängen. Die Krone und die Verantwortung<br />

wurden ihr aufgeladen. Er<br />

schildert die Unfreiheit, gegen die der<br />

Mensch sich auflehnt, revoltiert oder<br />

wahnsinnig wird. Die Sopranstimme<br />

dient ihm zur Darstellung für diese<br />

Pathologie.<br />

Wie man bei Anna Bolena erleben<br />

kann, wenn sie im Gefängnis von<br />

einem geschmückten Altar fantasiert<br />

und die Blumen mit Koloraturen<br />

in die Luft zeichnet. Diese<br />

Belcanto-Koloraturen sind Ihr<br />

Revier. Aber jede Stimme entwickelt sich. In welche Richtung<br />

geht es bei Ihnen zurzeit?<br />

Meine Stimme ist und bleibt ein Koloratursopran. Früher war es<br />

ein leichterer, jetzt wird es ein etwas schwererer, fraulicherer, ein<br />

dramatischer Koloratursopran. Das bedeutet, ich habe die<br />

absoluten Höhen, aber auch eine etwas größere Mittellage und<br />

Tiefe. Wenn ich lyrischere Rollen singe, dann behält meine<br />

Stimme trotzdem ihre Farben und Eigenheiten. Ich habe nur ein<br />

Instrument.<br />

Verändert sich die Kondition über die Jahre?<br />

Ich muss schauen, dass ich meine Stimme pflege und mir die<br />

nötige Zeit gönne. Ab 40 stellt einem der Körper schon Fragen.<br />

Was früher selbstverständlich ging, fällt nicht mehr so leicht.<br />

Dem muss man dann auf den Grund gehen. Die Arbeit an der<br />

eigenen Stimme endet nie.<br />

Welches Repertoire würden Sie sich gerne erschließen?<br />

Ich hatte eine Zeit der großen Primadonnenrollen. Jetzt möchte<br />

ich mehr Konversationsstil, die Feinheiten, die ich in meiner<br />

Muttersprache singen kann. Ich hoffe, dass ich Capriccio in Paris<br />

wie geplant interpretieren darf. Und die Figaro-Gräfin. Strauss<br />

und Mozart.<br />

Wie sieht Ihr vokales Trainingsprogramm aus?<br />

Die „angry crazy woman“ habe ich während der Auszeit etwas<br />

zur Seite gelegt. Aber die Arbeit geht natürlich weiter. Üben ist<br />

wie Zähneputzen. Vokalisen, Läufe, hohe Töne, Staccati, alles,<br />

was man so braucht zum Belcanto, das volle Programm. Zurzeit<br />

mit etwas mehr Muße und Entspanntheit. Das tut gut.<br />

Ihre Söhne sind sieben und neun Jahre alt. Die fragen vermutlich<br />

nicht danach, ob die Mutter sich schonen muss. Denken<br />

Sie im Familienalltag an Ihre Stimme als<br />

Instrument?<br />

Nein. Ich werde auch nicht zur tobenden<br />

Königin der Nacht. Aber klar, unser<br />

Instrument ist im Dauereinsatz.<br />

Gaetano Donizetti: „Tudor Queens“ (Warner Classics)<br />

n<br />

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K Ü N S T L E R<br />

KUNST IST<br />

ESSENZIELL!<br />

Rolando Villazón begeistert nicht nur als<br />

Sänger, sondern auch als Moderator,<br />

Schriftsteller, Cartoonist und Intendant der<br />

Mozartwoche Salzburg. Wir sprachen mit ihm<br />

über Heimat, die Suche nach Identität und<br />

Totenschädel aus Zucker.<br />

VON MARIA GOETH<br />

Crescendo:<br />

Sombrero, Tequila, Nachos – das verbinden<br />

die meisten Deutschen mit Mexiko. Wie würden Sie den echten<br />

Kern Ihrer Heimatkultur beschreiben?<br />

Rolando Villazón: Sombrero, Tequila und Nachos sind tatsächlich<br />

eine Seite der mexikanischen Kultur – vielleicht eine oberflächliche,<br />

aber keine schlechte. Ich mag sie, weil sie über Freude spricht. Tief<br />

in unserer Kultur steckt die Zeit vor der spanischen Kolonialisierung:<br />

die Azteken, die Olmeken, die Tolteken und so weiter, reiche<br />

prähistorische Hochkulturen ähnlich den alten Ägyptern, die sich<br />

dann mit den Spaniern mischten. Wichtig ist, dass die Spanier nicht<br />

einfach alles ausradiert haben. Das war in Brasilien unter den<br />

Portugiesen anders. Mexiko ist aus dem Schock des Zusammenpralls<br />

der prähistorischen Hochkulturen mit den Spaniern geboren!<br />

Der Kampf um die eigene Identität prägt Mexiko bis heute?<br />

Wir sind Nachbarn der USA, die unglaubliche Macht haben. Wir<br />

wurden zwar von den Spaniern erobert, aber kulturell haben die<br />

USA die ganze Welt erobert – Hollywood, Netflix, McDonald’s und<br />

Starbucks. Ob Kultur, Sport oder Werbung, die USA sind Modell<br />

und Strukturgeber. Auf der Suche nach der eigenen Identität gibt es<br />

Mexikaner, die alles wie die USA machen wollen, und die, die gegen<br />

diesen Einfluss kämpfen und versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren.<br />

Aber was sind diese Wurzeln? Wenn man sagt „Die<br />

Spanier haben UNS erobert“, stimmt das nicht, wir sind bereits die<br />

Konsequenz dieser Mischung. Der Name „Villazón“ kommt zum<br />

Beispiel aus Asturien. Es gibt ein wunderschönes Buch unseres<br />

einzigen Nobelpreisträgers Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit,<br />

das diese Identitätssuche beschreibt.<br />

Kompensiert man das über Nationalismus?<br />

Ich glaube nicht an Nationalismus. Es gibt eine große „¡Viva<br />

México!“-Bewegung, das finde ich gefährlich. Es ist ein Unfall, wo<br />

wir geboren sind! Es kann ein wunderbarer Unfall sein – wie für<br />

mich! –, aber es ist nichts, das wir entscheiden. In Europa zu leben<br />

– ich lebe ja inzwischen in Frankreich und habe auch einen<br />

französischen Pass –, das war eine Entscheidung.<br />

FOTO: JULIEN BENHAMOU<br />

43


K Ü N S T L E R<br />

Was ist für Sie Heimat?<br />

Kunst! Kultur, Musik und meine Familie.<br />

Ist Frankreich nun auch eine Heimat geworden?<br />

Seit acht Jahren war ich nicht in Mexiko. Ich liebe es, in Frankreich<br />

zu wohnen, liebte schon immer die französische Literatur. Die<br />

Werke des lateinamerikanischen Schriftstellers Julio Cortázar<br />

spielen fast alle in Paris, deshalb wollte ich hier leben. Ich wollte<br />

eine Buchseite bei Julio Cortázar sein! Ich liebe aber auch Orte wie<br />

Berlin, Salzburg, Menorca – und ich passe mich sehr schnell an.<br />

Gleichzeitig bin ich überall fremd. Inzwischen auch in Mexiko.<br />

Sie waren schon als Kind unheimlich aktiv, haben neben dem<br />

Gesang auch getanzt, gezeichnet, geschrieben. Waren Sie in der<br />

Schule eher erste Bank oder letzte Reihe?<br />

Letzte Reihe! Ich war immer der Klassenclown. Ich war nicht so gut<br />

in der Schule. Es war eine deutsche Schule, deshalb fühlte ich mich<br />

etwas fremd, weil die meisten Schüler deutsche Eltern hatten. Lustig<br />

zu sein, gab mir einen Platz in dieser Gesellschaft. Ich war immer<br />

kulturell interessiert, habe unheimlich viel gelesen, aber nie die<br />

Bücher, die ich lesen sollte.<br />

Stimmt es, dass Sie beim Singen<br />

unter der Dusche entdeckt worden<br />

sind?<br />

Ich habe immer unter der Dusche<br />

gesungen. Das hörte eines Tages<br />

mein späterer Gesangslehrer, der<br />

Bariton Arturo Nieto, der ein Freund<br />

unserer Nachbarn war. Er war<br />

begeistert.<br />

Auf Ihrem aktuellen Album<br />

Serenata Latina sind lateinamerikanische<br />

Lieder in Arrangements<br />

für Harfe und Gesang zu hören.<br />

Wie kam es zur Zusammenarbeit<br />

mit dem Star-Harfenisten Xavier<br />

de Maistre?<br />

<strong>20</strong>05 sang ich La Traviata in<br />

Salzburg. Die einzige Stelle für Harfe<br />

ist die Serenade des Alfredo. Das war<br />

damals Xavier de Maistre, der<br />

Soloharfenist bei den Wiener<br />

Philharmonikern war. Wir blieben in Kontakt. Als er mich mit dem<br />

Vorschlag anrief, lateinamerikanische Lieder mit Harfe einzuspielen,<br />

sagte ich sofort Ja. Bei lateinamerikanischen Liedern denkt man<br />

ja schnell an La Cucaracha und Co., aber es gibt dieses ganze<br />

Repertoire von Komponisten, die auch mit Mahler und Schubert<br />

bekannt waren und die von der Volksmusik beeinflusste, aber<br />

anspruchsvolle Werke schrieben – Ginastera und Guastavino sind<br />

die bekanntesten unter ihnen. Ich wollte ein Album mit Liedern<br />

machen, die aus Liebe zur lateinamerikanischen Volksmusik<br />

entstanden sind. Es gibt Kunstlieder, aber auch echte Volkslieder<br />

wie Alfonsina y el mar und La Ilorona auf dem Album – wichtig war<br />

uns, dass man keinen Unterschied hört.<br />

Passt die Kombination aus Harfe und Gesang da besonders gut?<br />

Ja. Viele der Lieder sind ursprünglich für Klavier und Gesang<br />

geschrieben, wurden aber inspiriert durch folkloristische Lieder für<br />

Gitarre und Stimme. Harfe hat wenig zu tun mit Gitarre oder dem<br />

eher perkussiv geprägten Klavier. Sie ist eine Welt in sich selbst. Wir<br />

haben aus einem riesigen Repertoire – viel davon habe ich von<br />

Musikwissenschaftlern auf einer Argentinienreise mit Barenboim<br />

bekommen – gezielt Lieder ausgesucht, die zu diesem Klanguniversum<br />

passen. Die Harfe vereint perfekt das Folkloristische der<br />

Gitarre mit der Vornehmheit der klassischen Musik. Sie vereint das<br />

Beste aus beiden Welten. Und dann braucht man noch einen<br />

Künstler wie Xavier de Maistre: Er versteht die Liedwelt sehr gut,<br />

die Stimme, das Timing, das Atmen der Sänger. Und er hat die<br />

Originalbegleitungen eins zu eins von den Klavierstimmen<br />

„DIE HARFE VEREINT DAS BESTE<br />

AUS ZWEI WELTEN: FOLKLORE UND<br />

KLASSISCHE MUSIK“<br />

übernommen. Das liebe ich. Er macht nicht auf Walt Disney,<br />

sondern arrangiert mit großem Respekt vor den Werken.<br />

Beschreiben Sie bitte die Stimmung dieser lateinamerikanischen<br />

Lieder.<br />

Eine Mischung aus Freude, Melancholie und der damit verbundenen<br />

Präsenz von Liebe und Tod. Wir Lateinamerikaner haben eine<br />

sehr enge, fast erotische Beziehung zum Tod. Das kommt vermutlich<br />

noch aus der Zeit vor der spanischen Kolonalisierung. Wir<br />

haben eine Art Bewunderung für den Tod, die stärker ist als die<br />

Angst davor. Die Spanier versuchten, uns Gott und Christus<br />

nahezubringen, aber neben den Kirchen gab es immer noch die<br />

ganze Mythologie der Azteken, Inkas und Mayas. Es hat also mit<br />

der Geschichte zu tun, aber auch mit den täglichen Tragödien, wie<br />

wir sie in Lateinamerika erleben. Früher war der Tod auch in<br />

Europa präsenter. So schreibt Mozart kurz vor dessen Tod an seinen<br />

Vater: „Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich<br />

vielleicht, so jung als ich bin, den anderen Tag nicht mehr sein<br />

werde, und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen,<br />

sagen können, dass ich im Umgange<br />

mürrisch oder traurig wäre.“ Diese<br />

Mischung aus Sorge, Traurigkeit und<br />

Freude ist typisch für Lateinamerika.<br />

Wir tanzen mit dem Tod, machen<br />

Witze über ihn. Am zweiten<br />

November, dem Tag der Toten,<br />

schreiben wir kleine lustige Gedichte<br />

darüber, wie unsere Freunde und<br />

Verwandten sterben werden und<br />

schenken sie ihnen – mit personalisierten<br />

Totenschädeln aus Zucker.<br />

Meine Schüler in Mexiko haben mir<br />

zum Beispiel ein Gedicht geschrieben,<br />

wie ich unter der Dusche singe<br />

und dann der Teufel kommt und<br />

sagt „Jetzt reicht’s“ und mich<br />

mitnimmt. Dann macht man<br />

Picknick auf dem Friedhof und<br />

bringt den Toten das, was sie im<br />

Leben gerne mochten, zum Beispiel<br />

Tequila oder Tamales.<br />

Zurück zu den Lebendigen: Unser Heft hat den Schwerpunkt<br />

„Art goes digital“. Durch COVID-19 beschleunigt, haben viele<br />

Opern- und Konzerthäuser spannende Digitalangebote schaffen.<br />

Sie haben nicht mal ein Smartphone?<br />

(Villazón zückt sein analoges Nokia-Telefon und lacht) Es hat nicht<br />

mal eine Kamera! Aber ich muss auch keine Fotos machen. Ich<br />

kann telefonieren und SMS schreiben, das genügt mir. Auch mein<br />

Computer ist uralt. Ich nenne ihn „Mad Max“-Computer. Die<br />

Tastatur ist kaputt und ich muss eine externe anschließen. Meine<br />

E‐Mails beantworte ich alle paar Tage, das ist fast wie früher beim<br />

Briefeschreiben. Ich liebe auch das echte Briefeschreiben – Handschrift<br />

ist so etwas Persönliches! Ich bin nicht gegen alle diese<br />

digitalen Instrumente, sie sind fantastisch. Ich sehe es bei meinen<br />

Kindern, die damit spielen und sich austauschen. Sie haben ein<br />

Leben draußen und eines in der Digitalwelt. Aber ich selbst bin zu<br />

spät in die Zukunft gekommen. Ich bin glücklich, kein Smartphone<br />

zu haben, denn dann habe ich mehr Zeit zum Lesen. Ich versuche,<br />

ein Buch pro Woche zu lesen, höre Radio. Ich interessiere mich<br />

nicht dafür, was andere Leute auf Facebook posten, kaufe nicht bei<br />

Amazon ein. Ich liebe es, in einen Buchladen zu gehen und mit<br />

Menschen zu sprechen, die sich mit ihrem Sortiment auskennen.<br />

Algorithmen können sehr schön sein, aber sie nehmen viel Talent<br />

weg – nicht die großen Talente, aber diese kleinen Gaben, die uns<br />

voneinander unterscheiden. Für die Kunst ist es schön, dass die<br />

Leute eine Oper im Internet schauen können. Aber das ist nicht<br />

wirklich Oper, denn die muss man im Theater anschauen.<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Und Kunst, die speziell für die Digitalwelt geschaffen wird?<br />

Ich finde solche neuen Wege gut. Aber man muss sie auch bezahlen.<br />

Im Lockdown gab es so viel kostenlos. Auch im Lockdown habe ich<br />

keinen Kaffee umsonst bekommen. Ich hasse diese Umsonst-Mentalität.<br />

Ich weiß als Künstlerischer Leiter der Mozartwoche, wie<br />

schwierig es ist, ein Budget zu machen und Kunst zu unterstützen.<br />

Jede Karte ist so wichtig! Es müssen ja keine Riesenbeträge sein,<br />

aber wenigstens sollte man einen Euro für jedes Streaming von<br />

Covent Garden oder der Bayerischen Staatsoper zahlen. Kunst ist<br />

kein Accessoire! Kunst ist essenziell! Und nicht nur seichte<br />

Unterhaltung. Das haben wir in dieser Zeit besonders gemerkt. Ich<br />

freue mich, dass Bücher wie Die Pest von Albert Camus oder<br />

Robinson Crusoe von Daniel Defoe während des Lockdowns wieder<br />

mehr verkauft wurden. Es gibt ein kleines Buch von 1790, das<br />

Voyage autour de ma chambre, zu deutsch Die Reise um mein<br />

Zimmer heißt. Lustigerweise heißt der Autor auch Xavier de<br />

Maistre. Es ist zwar keine Weltliteratur, aber sehr charmant. Es geht<br />

um jemanden, der 42 Tage in seinem Zimmer bleiben musste, nicht<br />

wegen eines Virus, sondern aufgrund von Hausarrest. Er beschreibt,<br />

wie schön die Reise durch ein Zimmer sein kann.<br />

Besteht nicht umgekehrt die Gefahr, dass die Menschen im<br />

Lockdown bemerkt haben, dass man auch ohne Hochkultur<br />

auskommen kann?<br />

Ich hoffe nicht! Mein Wunsch ist, dass wir kämpfen. Heute ist keine<br />

Zeit für Egoismus. Wir Künstler müssen nicht für uns kämpfen,<br />

sondern für die Kunst. Einige müssen aktuell natürlich für sich<br />

selbst kämpfen, viele Musiker, die kein Geld mehr einnehmen. Ich<br />

bin in der glücklichen Situation, genug Rücklagen zu haben. Leute<br />

wie ich dürfen sich nicht beschweren. Ich bin viel eher in der<br />

Verantwortung zu unterstützen, und das mache ich gerne. Ich tue<br />

das privat und über Barbara Hannigans Stiftung Momentum. Man<br />

sollte offen sagen, wenn man Hilfe braucht. Es gibt Künstler, die<br />

jetzt für Amazon Pakete austragen. Das kann es nicht sein! Auch als<br />

Künstlerischer Leiter der Mozartwoche ist es meine Verpflichtung<br />

zu sagen: Ich behalte alle, auch wenn mein Budget halbiert wird. Ich<br />

bin in engem Gespräch mit jedem Musiker, Orchester, Sänger und<br />

Agenten, damit wir gute Lösungen finden. Wenn kein weiterer<br />

Lockdown mehr kommt, wird die Mozartwoche wie geplant<br />

stattfinden. Jetzt haben wir schon viel Erfahrung aus Salzburg, aus<br />

Luxemburg usw. Anfangs tappten wir im Dunkeln. Zu viele<br />

Festivals haben zu früh abgesagt. Natürlich gibt es ein Risiko. Aber<br />

das gibt es auch, wenn man einen Zug nimmt. Jetzt kann man<br />

kalkulieren, Abstände halten.<br />

Ihr Wunsch, wie es weitergeht?<br />

Dass es kein Corona mehr gibt! Und: dass die Politiker in die<br />

Konzerte kommen und sehen, wie gut das funktioniert. Wenn man<br />

zum Flughafen geht, wird überall Distanz gehalten, aber dann wird<br />

man 15 Minuten in einen Bus gepfercht – ohne Luft! Der eine<br />

hustet, der andere schnieft. Im Konzert haben wir Distanz, das ist<br />

gut. Wir haben Masken und bewegen uns nicht. Es gibt keine Pause.<br />

Ich will, dass die Politiker sehen, dass das besser funktioniert als<br />

jeder Flughafen. Noch einmal: Kunst ist keine Nebensache! Kunst<br />

zeigt, wer oder was wir sind, fordert, dass wir tief in uns selbst<br />

gehen. Sie stellt Fragen und gibt keine Antworten. Das ist das Leben<br />

im philosophischen Sinn: antworten müssen und nicht nur<br />

reagieren. Reagieren kann jedes Tier. Für Antworten muss man<br />

denken und einen Grund haben. Die Elemente, die wir brauchen,<br />

um das große Buch des Lebens zu schreiben,<br />

sind Bildung und Kunst. Zusammen machen<br />

sie die besten Menschen. <br />

n<br />

„Serenata Latina“, Rolando Villazón, Xavier de Maistre<br />

(Deutsche Grammophon)


K Ü N S T L E R<br />

JAZZ IST INSPIRATION<br />

Sie muss noch nicht mal laut spielen, um die Musikwelt aufzurütteln. Gerade mal 22-jährig<br />

hat sich die Trompeterin Selina Ott für ihr Debüt-Album schweren Stoff ausgesucht. Und<br />

wird dafür gefeiert. Sie bleibt gelassen. Weil sie mehr als nur die eine Leidenschaft kennt …<br />

VON STEFAN SELL<br />

FOTO: NANCY HOROWITZ<br />

Irrsinnig schön!“ Dieses Prädikat<br />

ist im Gespräch mit der<br />

Trompeten-Virtuosin Selina Ott oft zu<br />

hören, egal, ob es um ihre Trompete geht<br />

– oder um ihre Pferde. Und vielleicht ist<br />

das eines der wenigen Indizien für ihre<br />

Jugend. Treffender ließen sich auch ihr<br />

Spiel, ihr Ton, ihre Musikalität und ihr<br />

natürlicher Flow nicht beschreiben. Auf<br />

der Bühne strahlt sie eine unglaubliche<br />

Natürlichkeit aus. Und fast ist man versucht<br />

zu glauben, sie selbst wüsste gar<br />

nicht, wie gut sie ist. Preisverwöhnt<br />

gewann sie in ihrem Fach mit <strong>20</strong> Jahren<br />

als erste Frau den ersten Preis des ARD-<br />

Musikwettbewerbs. Seither reißen die Anfragen führender Orchester<br />

und Festivals nicht ab.<br />

Die nun 22-Jährige stammt aus Krems an der Donau. Ihre<br />

Eltern, beide Musiklehrer, unterrichten sie von klein an, die Mutter<br />

in Flöte und Klavier, der Vater in Trompete – er selbst war bereits<br />

mit sechs Jahren Schüler seines Vaters gewesen. Mit 13 wird sie an<br />

der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien in den<br />

Kreis der Hochbegabten aufgenommen, studiert dann an der Musikhochschule<br />

Karlsruhe und hat dieses Jahr ihr Studium mit Auszeichnung<br />

an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien<br />

abgeschlossen. Zählt man die Meisterkurse dazu, ist das ein rasanter<br />

Aufstieg.<br />

Und wie fühlt sich ein derart steiler Karrierestart an? „Es war<br />

überwältigend nach dem ARD-Wettbewerb, aber jetzt, in Zeiten<br />

von Corona, ist fast schon wieder ein halbes Jahr Pause.“ Anfang<br />

Oktober erschien ihr Debüt-Album Trumpet concertos. Die Repertoireauswahl:<br />

mutig. Arutjunjan, Wladimir Peskin, dazu ihr „Lieblingsstück“,<br />

das Trompetenkonzert Incantation, Thrène et Danse<br />

von Alfred Desenclos – eine echte Herausforderung.<br />

„Bei der Trompete muss man den Ton mit den Lippen fassen.<br />

Das ist sehr tagesabhängig – mal sehr gut, mal aber schlecht. Dann<br />

kämpft man mit dem Instrument. Man kann ja nicht unendlich viel<br />

üben – irgendwann sind die Lippen einfach durch. Da gilt es, die<br />

Balance zu finden zwischen genug und nicht zu viel üben, um für<br />

die Konzerte fit zu sein. Balance braucht es auch, mental vorbereitet<br />

zu sein, zu wissen, dass man die Stücke gut draufhat.“<br />

Und unabhängig von Spielen und Üben: Was macht eine gute<br />

Trompetenstimme aus? „Für mich ist der Klang ganz wichtig. Mir<br />

gefällt, wenn sie ganz klar ist. Es gibt ein paar wenige, die haben<br />

einen irrsinnig guten Klang und große Musikalität – da muss die<br />

Technik passen. Es ist ein Zusammenspiel aus allem.“<br />

Das Konzert von Desenclos, ein Werk der französischen<br />

Moderne, ist widersprüchlich, sperrig, mit romantischen Kantilenen,<br />

mit extremen Tonspitzen nicht<br />

leicht zu fassen. Ott weiß es filigran, zart<br />

und farbenreich zu spielen, so virtuos<br />

wie temperamentvoll, offen, klar und<br />

hell, dem Credo Desenclos folgend:<br />

„Musik sollte Emotion, Expansion sein.“<br />

Warum aber gerade dieses Stück? „Das<br />

war das erste, das ich beim ARD-Wettbewerb<br />

gespielt habe. Zum ersten Mal<br />

gehört habe ich es mit 14 während einer<br />

Masterclass. ,Wow!‘, schoss mir damals<br />

durch den Kopf, das klingt schwer, ist so<br />

hoch und virtuos – irgendwann will ich<br />

das spielen können! Dann lag es als eine<br />

der Möglichkeiten beim Wettbewerb<br />

vor. Schicksal, dachte ich – das muss ich spielen. Eine echte Herausforderung,<br />

technisch anspruchsvoll, irrsinnig anstrengend. Dafür<br />

braucht man viel Kraft. Aber ich fand’s richtig cool und fetzig – und<br />

es wird so selten gespielt!“<br />

Wer all diesen Anforderungen gerecht wird, braucht Ausgleich.<br />

Da lacht Selina Ott: „Mein größter Ausgleich sind meine zwei<br />

Pferde.“ Und ebenso leidenschaftlich wie von ihrem Spiel erzählt sie<br />

von ihren Tieren. Und dass das eine ohne das andere nicht denkbar<br />

sei. Vielleicht liegt hier ihr Geheimnis. Sie ist geerdet, weiß, dass die<br />

Kommunikation zwischen Mensch und Pferd hohe Achtsamkeit<br />

und Aufmerksamkeit erfordert, also genau das, was die feinen Nuancen<br />

ihres Trompetenspiels ausmacht. „Ja, Pferde sind sehr sensibel.<br />

Hätte ich sie nicht, könnte ich all das gar nicht absolvieren.“<br />

Ausgleich hat sie also. Was aber ist mit Inspiration? „Ich war<br />

gerade im ,Zwe‘ in Wien, einem Mini-Jazzclub“, erzählt sie, und<br />

dass sie dort zum ersten Mal ein Freejazz-Konzert gehört habe. „Die<br />

spielen minutenlang über ein paar Akkorde. Ich habe meine Noten<br />

– das war’s. Ein Jazztrompeter meinte, mit Noten fühle er sich so<br />

eingeengt. Bei mir ist es umgekehrt: Ich habe ein vorgegebenes<br />

System. Aber die Musik darin, die kann sich frei entfalten. Was mich<br />

aber am Jazz inspiriert, ist die Lockerheit, der Flow.“<br />

Braucht man diesen Flow in der Klassik nicht genauso? „Bei<br />

der letzten Probe mit meinem Pianisten ging es genau darum“,<br />

bestätigt sie. „Wir spielen zusammen, der Rhythmus muss passen,<br />

die Musikalität stimmen. Aber man muss Gleichzeitigkeit finden,<br />

gemeinsam, nicht stur nach Metronom. Das wird in der Klassik<br />

vernachlässigt.“ Und schließlich lacht sie: „Im Auto höre ich immer<br />

Michael Bublé. Ich find’s super! Schöne leichte<br />

Musik – das ist Ausgleich und Inspiration<br />

zugleich!“<br />

n<br />

Arutjunjan, Peskin, Desenclos: Trumpet Concertos,<br />

Selina Ott (Orfeo)<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


HÖREN & SEHEN<br />

Die besten CDs, DVDs & Bücher von Oper über Kammermusik bis Jazz<br />

Musik von Herz zu Herz: Sergei Babayans neues Album – eine Liebeserklärung an Rachmaninoff (Seite 60)<br />

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knapp 150.000 Alben auf der Naxos Music Library. Alle Infos unter <strong>CRESCENDO</strong>.DE/PREMIUMHÖREN<br />

Lars Eidinger<br />

Entgrenztes Spiel<br />

Richard hat einen Buckel und humpelt. Doch nicht nur sein Körper ist deformiert. Auch<br />

psychisch ist er abnorm. Von Machthunger getrieben, instrumentalisiert er andere Menschen<br />

und geht grausam über Leichen. So erreicht er zwar das Ziel, als Nachfolger seines Bruders<br />

König von England zu werden. Doch selbst dieser Gipfel des Erfolgs ist ihm nicht genug. Als<br />

Protagonist von Thomas Ostermeiers Inszenierung Richard III. verkörpert Lars Eidinger diese<br />

Entwicklung mit vollem Einsatz inmitten einer zerrütteten Machtelite. Abwechselnd ist er<br />

eloquent-einschmeichelnd, elend oder ein Ekel – und die Kamera immer dabei. Aus verschiedenen<br />

Perspektiven zeigt sie Eidingers zunehmend entgrenztes Spiel bei der<br />

Aufzeichnung von Shakespeares Königsdrama auf dem Festival d’Avignon<br />

<strong>20</strong>15. Ins Hier und Jetzt holen das Historiendrama die Prosa-Übersetzung<br />

von Marius von Mayenburg, ein Mix aus Live-Percussion sowie elektronischer<br />

Musik und der Einsatz von Videoprojektionen. ASK<br />

William Shakespeare: Richard III., Lars Eidinger, Schaubühne Berlin (Theater Edition)<br />

FOTO: ARNO DECLAIR<br />

47


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

FOTO: TIM KLÖCKER<br />

Seit 25 Jahren gibt es das Fauré Quartett, und bis heute spielt es in<br />

unveränderter Besetzung. Die Musiker feiern diese Erfolgsgeschichte<br />

mit einem Album, das sie ihrem Namensgeber, Gabriel Fauré,<br />

widmen. Im Zentrum stehen die Klavierquartette op. 15 und op. 45, in<br />

denen Fauré die einzelnen Stimmen meisterhaft miteinander verflicht<br />

und in einen fließenden Dialog treten lässt. Energiegeladen, nach<br />

vorne drängend und von großer Frische im Grundcharakter, ziehen<br />

die beiden Schlüsselwerke in der packenden Interpretation des<br />

Fauré Quartett<br />

In allen Farben<br />

Quartetts unmittelbar in Bann. Ergänzt werden die beiden Quartette<br />

durch fünf Lieder, darunter Notre amour, Les berceaux, Après un<br />

rêve, Clair de lune und Mandoline, die Dietrich Zöllner arrangiert hat<br />

und die mit subtilen harmonischen Wechseln, anmutigen Melodien<br />

und schwelgerischen Phrasen betören. So lässt das Ensemble die<br />

Musik in all ihren Farben eindrucksvoll lebendig werden. DW<br />

Gabriel Fauré: Quartet No 1 & 2, Songs, Fauré Quartett (Berlin Classics)<br />

Howard Arman<br />

Anders hören<br />

Auf den ersten Blick ist es eine physische Überraschung: Mozarts Requiem, Dauer<br />

in der Regel rund 45 Minuten, auf einer Doppel-CD. Auf den zweiten Blick zeigt<br />

sich: Der Zuhörer wird zum Besucher eines digitalen Konzerts, das nicht nur aus<br />

der Musik besteht (CD 1), sondern auch wie mittlerweile üblich aus einer<br />

Werkeinführung (CD 2). Ein Konzept, das aufgeht – gerade bei diesem Stück.<br />

Mozart hinterließ sein Requiem unvollendet. Die von Franz Xaver Süßmayr<br />

vervollständigte Musik ist akustischer Konsens, aber bis heute immer wieder<br />

Anlass für Komponisten und Dirigenten, nach anderen Lösungen zu suchen. So<br />

auch Howard Arman, der mit dem BR-Chor und der Akademie für Alte Musik<br />

Berlin zwar Süßmayer treu bleibt, sich aber auch selbst auf die Suche nach „mehr<br />

Mozart“ macht. Die Änderungen mögen subtil, fast unscheinbar beim Hören in<br />

Erscheinung treten. Die Werkeinführung lädt dazu ein,<br />

genauer und anders hinzuhören. Und was wollte man<br />

einem bekannten Werk wie diesem und auch den Musikern<br />

mehr wünschen als frisch geschärfte Ohren. UH<br />

Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem d‐Moll KV 626, Chor des Bayerischen<br />

Rundfunks, Akademie für Alte Musik Berlin, Howard Arman (BR Klassik)<br />

Fazıl Say<br />

Vielschichtige Klangwelten<br />

Der Pianist und Komponist Fazıl Say saugt Einflüsse<br />

verschiedener Kulturen auf und formt daraus seinen<br />

eigenen musikalischen Kosmos. Seine zunächst für<br />

Solo-Piano komponierten drei Balladen op. 12 erklingen in<br />

einem Arrangement für Klavierquintett. Er kombiniert sie<br />

mit seiner hochexpressiven Quintett-Komposition Das<br />

verschobene Haus op. 72 b, die den Gründer der türkischen<br />

Republik, Kemal Atatürk, als Naturfreund zeigt,<br />

und Schumanns Klavierquintett op. 44 in Es-Dur. Mit dem<br />

fabelhaften casalQuartett, das durch Musizierfreude und<br />

Frische ebenso begeistert wie durch Präzision in der<br />

farblichen Detailgestaltung,<br />

bewegt sich Say souverän und<br />

voller Leidenschaft durch diese<br />

vielschichtigen Klangwelten. MV<br />

Ballads & Quintets, Fazıl Say & casalQuartett<br />

(Solo Musica)<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Nicolas Mahler<br />

Gezeichnete Sinfonie<br />

Nicolas Mahler ist ein Meister in der Kunst des<br />

Weglassens, Zuspitzens; phänomenal sein Gespür<br />

für das eine, bändesprechende Detail. Sieben Jahre<br />

nach Musils Mann ohne Eigenschaften hat der<br />

Wiener Künstler sich einen weiteren dickleibigen<br />

Klassiker aus der „Bibliothek der ungelesenen<br />

Bücher“ vorgenommen und in einen Comic<br />

transformiert – erneut mit höchster Treffsicherheit.<br />

Dass er James Joyces Ulysses von Dublin nach Wien<br />

versetzt und sein Leopold Wurmb (statt Bloom) den<br />

16. Juni 1904 mit äußeren und inneren Irrgängen in<br />

der Donaumetropole zubringt (auf über 280 Seiten,<br />

etwa dem doppelten Umfang von Mahlers Musil-<br />

Adaption!), entpuppt sich als Kunstgriff von spezieller<br />

Würze. Kuriose, virtuos collagierte Anzeigenund<br />

sonstige Fragmente aus dem „Neuigkeits-Welt-Blatt“<br />

dieses Datums machen die<br />

humorvoll-tiefsinnige Umtopfung perfekt.<br />

Und wieder gilt: Mahlers Graphic Novels<br />

verlocken uns, die Originale (erneut) zur<br />

Hand zu nehmen und herauszufinden, was<br />

und wie er diese durchleuchtet, verknappt<br />

und schärft. WW<br />

James Joyce: Ulysses, neu übersetzt, stark gekürzt,<br />

erweitert und gezeichnet von Mahler (Suhrkamp)<br />

John Andrews<br />

Zweideutiges Opernvergnügen<br />

Warum kommen manche Trouvaillen erst so spät auf die Silberscheibe?<br />

Ihre posthume Uraufführung erlebte die Opernkomödie The Dancing<br />

Master des Brücke-am-Kwai-Komponisten Malcolm Arnold <strong>20</strong>12 bei einem<br />

Festival in seinem Heimatort Northampton. Zu Arnolds Lebzeiten gab es<br />

nur eine Laienaufführung mit Klavier und eine Studioaufnahme. Diese<br />

späte Wiedergutmachung geschah auf Initiative des Dirigenten John<br />

Andrews. Das BBC Concert Orchestra und die Sänger lassen die<br />

melodiöse Partitur zu einem Hörvergnügen werden.<br />

Die für Filme des mittleren <strong>20</strong>. Jahrhunderts unverzichtbare Begabung<br />

des gestischen Komponierens besaß Arnold. So kann man seine Partitur<br />

ohne Weiteres als annähernd ebenbürtig zu Nino Rotas souverän in den<br />

Spuren des 19. Jahrhunderts wandelndem Florentiner Strohhut betrachten.<br />

Nur war Arnolds Stoffwahl den prüden Jahren um 1960 viel zu weit<br />

voraus. Mit der Geschmeidigkeit seines Timings orientierte sich Arnold an<br />

Verdis Falstaff, musikalisch agiert er in etwa gleichem Abstand zu<br />

Bernstein und Britten. Seine Musik hat weder englisches noch spanisches<br />

Kolorit, manchmal spricht aus den Strophen- und Kavatinen-Gebilden<br />

eine Vorliebe für die italienische Gesangsschule. Also nichts Neues für die<br />

musikalischen Gewohnheiten der britischen Inseln. Mit dieser Oper hätte<br />

sich Arnold zu Lebzeiten als der Richtige für die Vertonung einer<br />

Gesellschaftskomödie Oscar Wildes empfohlen. Sexuelle Energie kleidet<br />

und verschleiert er mit einer melodischen, eleganten und dabei burlesken<br />

Tonsprache. Das Ensemble dieser Einspielung ist dafür goldrichtig:<br />

jugendliche Stimmen mit jener Gleichgültigkeit<br />

gegenüber Zweideutigkeiten, die diese erst recht<br />

komisch macht. DIP<br />

Malcolm Arnold: The Dancing Master, Eleanor Dennis,<br />

Catherine Carby, Fiona Kimm, BBC Concert Orchestra,<br />

John Andrews (Resonus)<br />

Konzertreise zum<br />

BACHFEST<br />

LEIPZIG<br />

11.–14. JunI <strong>20</strong>21<br />

• 3 x Übernachtung inkl. Frühstück<br />

in einem 4* Innenstadthotel<br />

• Eintrittskarte für das Bachfest-Eröffnungskonzert<br />

mit dem Thomanerchor<br />

• touristisches Rahmenprogramm vor Ort<br />

Preis pro Person im DZ ab 475,- €<br />

Informationen und Buchung unter<br />

www.leipzig.travel/reiseangebote oder incoming@ltm-leipzig.de<br />

MUSIKSTADT :LEIPZIG<br />

49


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

Raphaela Gromes<br />

Romantische<br />

Leichtigkeit<br />

Nicht nur ist Raphaela Gromes eine gefeierte,<br />

junge Cellistin – gerade wurde sie mit ihrem<br />

Duopartner Julian Riem mit dem Opus Klassik<br />

gewürdigt –, sie setzt sich auch für vergessenes<br />

Repertoire ein. Auf ihrem Album ist die Weltersteinspielung<br />

des Dritten Cellokonzerts von Julius<br />

Klengel zu hören, einem Spätromantiker aus<br />

Leipzig und seinerzeit selbst europaweit<br />

gefeiertes Cello-Wunderkind und geschätzter<br />

Komponist. Klengels Konzert, das sich irgendwo<br />

zwischen Mendelssohn und Wagner bewegt, am<br />

Ende sogar mit rauschend ungarisch anmutendem<br />

Feuer tanzt, kann sich neben den großen<br />

Romantikern durchaus hören lassen. Und<br />

Gromes interpretiert mit Leichtigkeit, Virtuosität<br />

und warmem Klang von wohltuender Unmittelbarkeit,<br />

wozu ihr das Rundfunk-Sinfonieorchester<br />

Berlin unter Nicholas Carter ein Partner auf<br />

Augenhöhe ist. Auf das Klengel-Konzert folgt –<br />

nach einer hörenswerten frühen Orchesterromanze<br />

von Richard Strauss – mit Schumanns<br />

Cellokonzert a-Moll der Inbegriff des romantischen<br />

Cellokonzerts schlechthin, das Gromes innig und<br />

klangschön musiziert. Gut löst sich die Idee ein,<br />

die Orchesterwerke am Ende um ein paar<br />

Kammermusik-Preziosen von Robert und Clara<br />

Schumann sowie Johannes Brahms zu<br />

bereichern. Am Klavier sitzt dabei natürlich<br />

Duopartner Julian Riem. MG<br />

Romantic Cello Concertos, Raphaela Gromes, Rundfunk-<br />

Sinfonieorchester Berlin, Nicholas Carter (Sony)<br />

Ivan Repušić<br />

Spirituell<br />

Ende Juni <strong>20</strong><strong>20</strong>, bereits unter erschwerten Bedingungen, entstand<br />

eine Aufnahme, die besser nicht in ihre Zeit passen könnte. In reiner<br />

Streicherbesetzung und unter strengen Auflagen spielten die Musiker<br />

des Münchner Rundfunkorchesters unter der Leitung von Ivan<br />

Repušić Kompositionen des lettischen Komponisten Pēteris Vasks.<br />

Das Ergebnis ist berührend. Über den Abstand hinweg und durch<br />

die Plexiglaswände hindurch verschmilzt das Ensemble zu einer<br />

mitreißenden Einheit. Vasks Musik hat etwas Spirituelles, steckt<br />

voller Emotionen – von der tiefsten Verzweiflung hin zur glücklichsten<br />

Hoffnung. „Warum komponieren, wenn es keine Hoffnung gibt?“,<br />

sagte er einmal. Zudem bezeichnete sich der in der sowjetischen<br />

Unterdrückung aufgewachsene Sohn eines Pfarrers kürzlich als<br />

„trauriger Optimist“. Mit der außergewöhnlichen Kraft seiner<br />

Kompositionen erschafft er sphärische Momente, in denen man<br />

kaum wagt zu atmen – mitreißende folkloristische Rhythmen oder<br />

größtes, aufwühlendes Chaos. Für Vasks geht es um Glaube, Liebe,<br />

Ideale und Hoffnung. Wie sein Vater predigt<br />

er – in der mächtigen Sprache der Musik. SK<br />

Pēteris Vasks: Viatore, Tālā gaisma, Erste Sinfonie,<br />

Stanco Madić, Münchner Rundfunkorchester, Ivan Repušić<br />

(BR Klassik)<br />

Florian Uhlig<br />

Ungeahnte Nuancen<br />

Kurz vor der Zielgeraden befindet<br />

sich Florian Uhlig mit seiner<br />

Gesamteinspielung aller zweihändigen<br />

Klavierwerke von Robert<br />

Schumann. Die Folge 14 von 15 ist<br />

den Variationen vorbehalten,<br />

darunter ein paar echte Preziosen<br />

und Ersteinspielungen, etwa zwei<br />

verschiedene Variationen über Themen von Beethoven<br />

und weitere über ein Thema von Paganini. Eine Aufnahme,<br />

die in jedem Fall lohnt, da manche der hier eingespielten<br />

Zyklen zwar nicht zum ersten Mal, aber dennoch selten<br />

genug zu hören sind. Insgesamt ist der Eindruck in jeder<br />

Hinsicht exzellent: das kenntnisreiche Booklet, die<br />

Aufnahme und natürlich die Musik selbst. Florian Uhlig<br />

spielt Schumann technisch perfekt, entlockt dem Steinway<br />

ungeahnte Nuancen und entdeckt dabei Facetten, die man<br />

nicht zu kennen glaubte. Mit seinem Projekt leistet er<br />

Großartiges, musikalisch wie editorisch. GK<br />

Robert Schumann: Variationen, Florian Uhlig (Hänssler Classic)<br />

FOTO: SAMMY HART<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


BRAHMS, WIE MAN IHN<br />

NOCH NIE GEHÖRT HAT<br />

Tabea Zimmermann<br />

Temperament und Feinsinn<br />

Die Bratschisten bedauern bis heute, dass Johann Sebastian Bach ihrem Instrument keine<br />

Originalwerke zugedacht hat. Zum Glück gibt es da die berühmten Cello-Suiten, die sich leicht<br />

auf die Viola übertragen lassen. Bereits vor zehn Jahren hat Tabea Zimmermann die ersten<br />

beiden Suiten für das Label Myrios aufgenommen, nun hat sie Nummer drei und vier einer<br />

Auswahl von sechs Stücken aus der Sammlung Signs, Games and Messages des ungarischen<br />

Komponisten György Kurtág gegenübergestellt. Die Künstlerin versteht es wie nur wenige ihrer<br />

Kollegen, die oft etwas spröde tönende Bratsche zum Klingen zu bringen. Mit wunderbar<br />

sonorem Ton und anmutig tänzerischem Schwung meistert sie die Bach’schen Sätze, dabei verrät<br />

ihr sparsamer Vibrato-Einsatz eine intensive Auseinandersetzung mit der<br />

historischen Aufführungspraxis. Auch Kurtágs Miniaturen weiß sie<br />

farbenreich mit Temperament und Feinsinn zu profilieren. MV<br />

Tabea Zimmermann plays Bach & Kurtág (myrios classics)<br />

Brahms liebte Klavier zu vier Händen. Inspiriert<br />

von dieser Liebe arrangierte der<br />

vielseitige österreichische Komponist Richard<br />

Dünser Brahms‘ Klavierquartett op.<br />

25 für Streichorchester und Klavier zu vier<br />

Händen und widmete es seinem langjährig<br />

befreundeten Klavierduo Silver-Garburg.<br />

Daraus entstand eine einzigartige Aufnahme<br />

gemeinsam mit den Wiener Symphonikern<br />

unter Florian Krumpöck. Wie aus den Schatten<br />

der Vergangenheit wird ein neues Werk zutage<br />

geführt, das man so noch nie gehört hat.<br />

Simone Dinnerstein<br />

Meditativ<br />

Homerecording im Homeoffice: Die Pianistin Simone Dinnerstein hat aus der Not eine Tugend<br />

gemacht und im heimischen Studio in Brooklyn nicht nur geübt, sondern auch aufgenommen,<br />

eine Aufnahme „al fresco“ gewissermaßen: frisch aus der Situation heraus entstanden und<br />

konserviert für die Ewigkeit. Passend zur Stimmung in der Krise ist die CD A Character of Quiet<br />

betitelt. Und ruhig, um nicht zu sagen surreal war es in der Zeit des Lockdowns ja durchaus.<br />

Drei Etüden von Philip Glass und Franz Schuberts B‐Dur-Sonate (D 960) sind Dinnersteins<br />

Soundtrack der Stille. Im Falle von Glass’ ebenso meditativer wie dramatischer Musik ist das<br />

durchaus sinnig, im Hinblick auf Schuberts visionäre Musik nicht weniger<br />

stimmig. Das ist auch Dinnersteins Deutung. Die musikalische Tiefe hat<br />

in der Krise jedenfalls nicht gelitten – im Gegenteil. Glass fasziniert mit<br />

fesselnder Gleichförmigkeit, Schubert mit expressivem Gestus. GK<br />

A Character of Quiet, Simone Dinnerstein (Orange Mountain Music)<br />

Calefax<br />

Klangliche Ausweitung<br />

Das Rohrblattquintett Calefax lässt mit seinem neuen Album Bach’s Musical Offerings nicht nur<br />

die Herzen zahlreicher Bach-Fans höherschlagen. Anlässlich seines 35. Jubiläums spielt es<br />

ausgewählte Werke Johann Sebastian Bachs nach einem ausgeklügelten Arrangement des<br />

Saxofonisten Raaf Hekkema – ein komplexer kompositorischer Hörgenuss, der mit seiner<br />

Dynamik und den sanften Klangkombinationen den Zuhörer in Trance versetzt und ihn in diese<br />

einzigartige Fülle der Klangwelten eintauchen lässt. Verstärkt wird die klangliche Ausweitung<br />

durch Arthur Klaassens’ musikalische Unterstützung auf dem Lupophon und dem Englischhorn,<br />

wodurch das Musikalische Opfer BWV 1079 und die 14 Kanons aus BWV 1087 an musikalischer<br />

Intensität gewinnen. Neun verschiedene Variationen über Vom Himmel<br />

hoch laden zu einer besinnlichen, vorweihnachtlichen Stimmung ein. GT<br />

Johannes Brahms<br />

Konzert für Klavier zu vier Händen<br />

und Streichorchester g-Moll<br />

KLAVIERDUO SILVER-GARBURG<br />

WIENER SYMPHONIKER<br />

FLORIAN KRUMPÖCK<br />

Bach’s Musical Offerings, Calefax (Pentatone)<br />

Beethoven Quiz<br />

100 Fragen<br />

Welche von Beethovens Sinfonien ist die kürzeste? Wie viele Haarlocken gibt es im Bonner<br />

Beethoven-Haus zu sehen? Warum schrieb das Musikgenie nur eine einzige Oper? Und wie viele<br />

Kaffeebohnen zählte der Komponist jeden Morgen ab? Das sind nur vier von insgesamt 100<br />

Fragen, mit denen das „Beethoven Quiz“ im kleinen schwarzen Kästchen Liebhaber und Kenner<br />

des Komponisten auf die Probe stellt. Dabei sind die einzelnen Kärtchen ebenso musikwissenschaftlich<br />

fundiert wie unterhaltsam aufbereitet und spannen in ihren<br />

Themen einen weiten Bogen von Beethovens Lebzeiten bis hin zu seiner<br />

Rezeption in der Gegenwart. Gespielt werden kann mit zwei oder auch<br />

mehreren Spielern, wer die Antwort weiß, erhält die Karte, am Ende<br />

gewinnt der Beethoven-Experte mit dem größten Kärtchenstapel und<br />

den meisten Anekdoten in der Hand. DW<br />

Beethoven Quiz (Grupello Verlag)<br />

51


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

Till Brönner und Bob James<br />

Elysischer Traum<br />

Es wirkt auf den ersten<br />

Blick zynisch, ein Album<br />

mit dem dreisten Titel<br />

On Vacation in Zeiten<br />

zu veröffentlichen, da<br />

Urlaub unter strengem<br />

Risikoverdacht steht.<br />

Man könnte Till<br />

Brönners neues Unterfangen freilich<br />

auch als subversiv bezeichnen. Denn mit<br />

den 13 im September <strong>20</strong>19 in Südfrankreich<br />

eingespielten Stücken setzt er eine<br />

Gegenvision des leger-harmonischen<br />

Idylls zu einer Stimmung der Bedrückung.<br />

Mit Grammy-Gewinner Bob<br />

James am Piano entfaltet er sanfte<br />

Jazzmelodien, meist Eigenkompositionen,<br />

manchmal aufreizend verspielt,<br />

manchmal ins Melancholische abdriftend,<br />

aber immer mit einer entspannten<br />

Grundschwingung – die freilich dank der<br />

klaren Linien der Trompete und der<br />

präzise gespielten Klavierakkorde<br />

immer auch stringente Energie statt<br />

Lethargie vermittelt. Gleichzeitig<br />

entlocken die beiden Stücke anderer<br />

Komponisten, etwa Neil Diamonds und<br />

Gilbert Bécauds September Morn, feine<br />

poetische Nuancen. In dem groovigen<br />

Lemonde singt Til Brönner: „We’ll leave<br />

the year behind and wander yonder.“<br />

In diesen elysischen Traum möchte man<br />

gerne folgen. RS<br />

On Vacation, Till Brönner, Bob James (Masterworks)<br />

FOTO: CHRISTOPH KOESTLIN<br />

Avi Avital<br />

Ungeahnte Vielfalt<br />

Avi Avital: The Art<br />

of Mandolin<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

Wie breit gefächert das Repertoire für die Mandoline ist, zeigt uns Avi Avital auf seinem<br />

neuen Album. Es sind keine Transkriptionen, sondern ausschließlich Originalwerke zu hören.<br />

Wer hätte gedacht, dass sogar Beethoven für das bauchige Zupfinstrument komponierte? Mit<br />

dem zart melodischen Adagio ma non troppo wollte er eine junge Gräfin umgarnen. Avitals<br />

Duopartnerin ist die belgische Harfenistin Anneleen Lenaerts. Antonio Vivaldis beschwingtes<br />

Konzert für zwei Mandolinen bestreitet er mit seinem Kollegen Alon Sariel und dem Venice<br />

Baroque Orchestra. Dass Domenico Scarlattis Sonate d‐Moll KV 86 für Mandoline statt für<br />

Klavier geschrieben wurde, ist nicht belegt, erscheint aber höchst plausibel. Überraschend ist<br />

auch das große Spektrum zeitgenössischer Werke. In Hans Werner Henzes Carillon, Récitatif,<br />

Masque treffen Mandoline, Gitarre und Harfe auf neue harmonische Strukturen. David Bruce<br />

bietet mit Death is a Friend of Ours dem Tod fröhlich die Stirn. Und Paul Ben-Haim verbindet<br />

in seiner Sonate barocke mit orientalischen Klängen. CK<br />

Martin Geck<br />

Stimmen zu Beethoven<br />

Mythos Ludwig van: Romantiker, Revoluzzer, Prometheus der<br />

Musik. Doch wie „sah die Welt Beethoven“ wirklich, fragte<br />

sich Martin Geck gegen Ende seines Lebens in seinem<br />

Büchlein mit Momentaufnahmen aus zweieinhalb Jahrhunderten.<br />

Unterschiedliche Menschen kommen zu Wort: vom<br />

Bäckermeister Gottfried Fischer aus Bonn, der den jungen<br />

Beethoven in seiner „grünen, kurzen Hos“ in Erinnerung<br />

behielt, bis hin zum Kitsch einer „vom süßen Schwanken der<br />

Töne die durch den Busen wühlen“ ‚trunkenen‘ Bettine von<br />

Arnim. Von Beethovens Neffen Karl, der meinte, er sei<br />

„schlechter geworden, weil mich mein Onkel besser haben<br />

wollte“ bis hin zur Stilisierung Robert Schumanns, der<br />

schrieb: „Bald darauf tritt der junge Beethoven herein,<br />

athemlos, verlegen und verstört, mit unordentlich herumhängenden<br />

Haaren, Brust und Stirne frei<br />

wie Hamlet“. Georges Auric wiederum<br />

fiel zum 100. Todestag Beethovens 1927<br />

nur das ein: „Denn er geht mich gar<br />

nichts an und ich glaube, auch die<br />

Jungen nach Stravinsky nicht mehr.“<br />

Schönes Buch! TPR<br />

Martin Geck: So sah die Welt Beethoven<br />

(Olms Verlag)<br />

Pervez Mody<br />

Zärtliches Erzählen<br />

Bei Alexander Skrjabin – der Person sowie seiner Musik –<br />

schwingt immer ein Faible fürs Dramatische mit. Und das von<br />

Geburt an, die am (julianischen) Weihnachten stattfand. Eine<br />

Blutvergiftung zog den nur 43-Jährigen 1915 ins frühe Grab. Alles<br />

in seiner Klaviermusik verlangt nach farbenreichem Spiel: von<br />

den Anfängen eines fast epigonalen Chopins via die mittlere, vage<br />

an Rachmaninoff erinnernde Phase bis hin zu urmessiaenesken<br />

Spätklängen. Im Spätwerk allerdings ist dies nicht nur hilfreich,<br />

sondern unentbehrlich. Pervez Modys Aufnahme, nominell der<br />

sechste Teil seiner Gesamteinspielung der Skrjabin’schen<br />

Klavierwerke, ist auch singulär attraktiv, bietet sie doch ein<br />

ordentliches Spektrum von ebendieser großen Bandbreite in<br />

feinfühligen Interpretationen. Im Zentrum steht die Sechste<br />

Sonate (1911), die subtil-zurückhaltend erklingt, ohne dabei an die<br />

Farbenpracht (oder den präsenten Klang) von Håkon Austbø<br />

oder Varduhi Yeritsyan heranzukommen. In der Prélude op. 25/4<br />

derweil zeichnet sich Mody nicht nur<br />

durch rundes, schönes Spiel aus, sondern<br />

zeigt zugleich, wie zärtlich man am<br />

Klavier erzählen kann, ohne zu soft zu<br />

wirken. JFL<br />

Pervez Mody plays Scriabin vol. 6 (Thorofon)<br />

52 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Thomas Christian Ensemble<br />

Unheimlich aktuell<br />

Es ist keine Neuheit,<br />

die hier in Form einer<br />

Doppel-CD präsentiert<br />

wird. Die<br />

Aufnahmen stammen<br />

aus dem Jahr <strong>20</strong>04<br />

und haben damit<br />

immerhin bereits<br />

16 Jährchen auf dem Buckel. Dennoch: Fast<br />

unheimlich mutet die Aktualität dieser<br />

Einspielung an, in Zeiten, in denen auch die<br />

Konzertprogramme nach Regeln der Pandemiebekämpfung<br />

gestaltet werden. Die Arrangements<br />

aus verschiedener Hand von Anton<br />

Bruckners Siebter und Gustav Mahlers Vierter<br />

Sinfonie für Kammermusikensemble entstanden<br />

schon vor 100 Jahren für eine Aufführung im<br />

exklusiven Kreis und sind beileibe nicht nur<br />

Notlösung für schwierige Zeiten. Das Thomas<br />

Christian Ensemble beweist mit der Sopranistin<br />

Christiane Oelze, dass die Größe der Musik im<br />

Kleinen steckt. Die oft gelobten sogenannten<br />

kammermusikalischen Qualitäten der Werke<br />

kommen geradezu blank zum Vorschein. Direkt<br />

und ungeschminkt wirkt der Klang, jede<br />

Stimme heischt um Aufmerksamkeit. Wer sich<br />

nach Nähe in der Distanz sehnt, der findet sie<br />

hier. UH<br />

Anton Bruckner, Gustav Mahler: Christiane Oelze, Thomas<br />

Christian Ensemble (MDG)<br />

Friedrich Cerha<br />

Grandios zwiespältig<br />

Ein Verdienst um die österreichisch-deutsche<br />

Moderne: die Wiederveröffentlichung der Weltersteinspielung<br />

von 1995 eines nach der Uraufführung<br />

im April 1926 in Köln und einer Reprise<br />

in Magdeburg 1927 kaum gespielten „kultischen<br />

Dramas für Tanz, Sologesang und Chor“ des<br />

Schönberg-Schülers Egon Wellesz. Friedrich<br />

Cerha fächert das Werk auf und befeuert die<br />

expressionistischen Übersteigerungen der<br />

erweitert tonalen Partitur.<br />

In Die Opferung des Gefangenen, ein fast bizarrer<br />

Mittelpunkt im Dreieck von Schönbergs Gurreliedern,<br />

Strawinskys Sacre und Orffs Carmina Burana,<br />

werden dem besiegten Prinzen, der sterben soll, in<br />

Tänzen noch einmal die Schönheiten des Lebens<br />

dargeboten: Rausch, Frauen, Hymnen. Dazu singen<br />

Hofstaat, Feldherr (damals im Zenit: Wolfgang<br />

Koch), Schildträger des Verurteilten (Robert<br />

Brooks) und monumentale Chormassen – ein Abgesang<br />

auf die alte aristokratische Welt vor 1914.<br />

Insofern gehört das personalintensive Hybridstück<br />

durchaus in die Werkreihe zwischen Elektra und<br />

Turandot. Das macht Friedrich Cerha in dieser<br />

grandios zwiespältigen Einspielung hörbar. DIP<br />

Egon Wellesz: Die Opferung des<br />

Gefangenen, Wolfgang Koch,<br />

Robert Brooks, Wiener<br />

Konzertchor, ORF Radio-Symphonieorchester<br />

Wien, Friedrich<br />

Cerha (Capriccio)<br />

Chris Hopkins<br />

Swinging Jazz<br />

Eine elegante<br />

Hotelbar, ein<br />

wunderbar torfiges<br />

Glas Whiskey und<br />

dazu eine Musik, die<br />

sofort die Fußspitzen<br />

zum Wippen<br />

bringt ... Für sein<br />

neues Album hat sich der in Bochum<br />

aufgewachsene amerikanische Jazz-Pianist<br />

Chris Hopkins mit drei preisgekrönten<br />

Solisten aus Australien zusammengetan<br />

– den Jazz Kangaroos. Das sind Jazzgeiger<br />

und Sänger George Washingmachine, der<br />

ganz in der Tradition von Frank Sinatra bis<br />

Nat King Cole steht, der vielseitige<br />

Gitarrist David Blenkhorn und Mark Elton,<br />

einer der führenden Kontrabassisten von<br />

Down Under. Ergebnis der Zusammenkunft<br />

dieses Quartetts ist ein Sound mit<br />

Gute-Laune-Garantie, der eingängig,<br />

entspannt, packend und zeitlos ist.<br />

Interpretiert werden Songs aus dem Great<br />

American Songbook von Ellington bis<br />

Gershwin, von Can’t we be friends? bis<br />

Moonlight in Vermont. Swingt und macht<br />

wie gesagt: einfach gute Laune! MG<br />

Chris Hopkins meets the Jazz Kangaroos Vol. I,<br />

George Washingmachine, David Blenkhorn, Mark Elton<br />

(Echos of Swing Productions)<br />

Anja Lechner und François Couturier<br />

Freiheit<br />

Jenseits aller Epochen, weit weg von jeglicher Zuordnung schweben<br />

die Cellistin Anja Lechner und der Pianist François Couturier in dem<br />

für sie so charakteristischen Klangbild – Musik, die in keine Schublade<br />

passt, einfach exzellent. Denn ja, die beiden sind seit Langem ein<br />

Dream-Team. Lontano ist ein weiterer Höhenflug ihres Zusammenspiels.<br />

Sie sind so aufeinander eingestimmt, dass vieles, was improvisiert,<br />

ertastet und erahnt ist, wohl durchkomponiert wirkt. Jeder<br />

Ton greift präzise in den vorherigen. Wie aus<br />

dem Nichts sind immer wieder Referenzen zu<br />

hören, zwanglos, als würden sie dem Duo auf<br />

der Reise durch ihren Kosmos einfach<br />

entgegenleuchten, es flüchtig berühren. Ein<br />

Beispiel ist Memory of a Melody, das mit<br />

sphärisch avantgardistischen Schichten<br />

beginnt, aus denen dann zaghaft und<br />

wohlbehütet die Melodie der Bachkantate Wie zittern und wanken der<br />

Sünder Gedanken schlüpft. „Es gibt keine alte oder neue Musik. Sie<br />

liegt in der Atmosphäre, überall, die ganze Zeit“, sagt Lechner. Wenn<br />

in Lontano die Klaviermusik Frederic Mompous aufblitzt, in Hymne die<br />

Musik von Gurdjieff funkelt, dann ist das „vielleicht, weil wir diese<br />

Musik so vollkommen eingesogen haben“. Und immer wieder singt<br />

Lechners Cello einfach bezaubernd schön, wie es schon auf ihrer<br />

Schubert-CD Die Nacht zu hören war. In dem Zamba Alfonsina y el<br />

mar von Ariel Ramírez erklingt es, innig berührend, wie einst die<br />

Stimme Mercedes Sosas, die das Lied 1969 zum ersten Mal sang. Das<br />

letzte Stück, Postludium, entlässt den Hörer mit dem warmherzigen<br />

Gefühl zu wissen, wie schön Freiheit ist. SELL<br />

Lontano, Anja Lechner, François Couturier (ECM)<br />

LA BOHÈME OPER<br />

GIACCOMO PUCCINI<br />

30. Juli bis 21. August<br />

CABARET MUSICAL<br />

JOHN KANDER (Musik)<br />

18. Juni bis 22. August<br />

Natur erleben<br />

Kultur genießen<br />

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53


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

SCHLAUFUCHS, NERVENSÄGE<br />

UND KNUTSCHKUGEL<br />

Malte Arkona ist Sprecher der neuen Hörbuchserie<br />

Malte & Mezzo – Die Klassik entdecker. Im Dialog mit der für die Serie entwickelten<br />

Figur erzählt er Geschichten aus der Welt der klassischen Musik.<br />

VON GEORGIA TSONIS<br />

FOTO: BEN WOLF / GRAFIK: DIRK RUDOLPH<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Arkona, Sie arbeiten ja immer wieder mit<br />

Kindern zusammen. Sieht aus, als könnte man Ihren Beruf<br />

eher als Berufung bezeichnen ...<br />

Malte Arkona: Unbedingt! Man muss es mögen, spontan zu sein<br />

und sich nicht vom Ideenreichtum der Kinder aus der Bahn werfen<br />

zu lassen. Kinder sagen das, was ihnen gerade durch den Kopf geht.<br />

Strikte Drehbücher sind daher eher nicht vonnöten: Denn sobald<br />

Kinder anwesend sind, verläuft eine Sendung ohnehin anders als<br />

gedacht.Und das ist auch gut so! Ich finde es furchtbar, wenn man<br />

Kinder in irgendwelche Text-Korsette zwängt.<br />

Nehmen Kinder Musik und Geschichten anders wahr?<br />

Kinder gehen grundsätzlich offener durch die Welt! Als<br />

Kind konnte ich mich ohne große Probleme in Pumuckls Welt<br />

hineinversetzen. Der Gedanke, dass es sich dabei um eine<br />

Produktion des Bayerischen Rundfunks handelt, kam in mir<br />

nicht auf. Es entstanden Bilder in meinem Kopf, die mir bis heute<br />

im Gedächtnis geblieben sind.<br />

Was würden Sie Eltern entgegnen, die klassische Musik für ihre<br />

Kinder als altmodisch ansehen?<br />

Wenn man sich mit der Struktur und Wirkung klassischer Musik<br />

beschäftigt, setzt man sich automatisch auch mit sich selbst<br />

auseinander. Eltern sind bestimmt daran interessiert, dass ihre<br />

Kinder zu großartigen Persönlichkeiten heranwachsen – zu<br />

fantasievollen, geduldigen und achtsamen sozialen Wesen.<br />

Fühlten Sie sich durch Ihre musikalisch geprägte Kindheit<br />

dazu inspiriert, die Hörbuchserie Malte & Mezzo – Die<br />

Klassikentdecker aufzunehmen?<br />

Ja klar! Ich konnte nicht genug von<br />

Karlheinz Böhms Hörspielen<br />

kriegen, in denen er das Leben und<br />

Schaffen bekannter Komponisten<br />

auf unglaublich faszinierende Art<br />

und Weise darstellte. Ich habe<br />

seine Kassetten so oft gehört, dass<br />

sie schon anfingen zu leiern.<br />

Auch ohne Selfie und Insta gram-<br />

Account hat er es geschafft, zu meinem wichtigsten Klassik-<br />

Influencer zu werden.<br />

Wie verlief der Produktionsprozess von Malte & Mezzo?<br />

Mein Autorenteam und ich kamen bei mir zu Hause in Berlin<br />

zusammen. Wir trafen eine Musikauswahl und schrieben einfach<br />

drauflos. Ich hatte jeweils eine Grundidee, die wir weiter ausfeilten,<br />

um unsere Geschichten zum Leben zu erwecken. Da wir im<br />

Jahre <strong>20</strong><strong>20</strong> leben, war es mir ein großes Anliegen, die Auseinandersetzung<br />

mit der klassischen Musik und den Komponisten<br />

alltagstauglich und ganz selbstverständlich darzustellen.<br />

Ihr Begleiter in der Serie trägt den Namen Mezzoforte Diminuendo<br />

Crescendo di Stracciatella ...<br />

Der Name sollte italienisch klingen, damit Mezzo ab und zu auch<br />

damit angeben kann. Wir wollten eine Leitfigur schaffen, die<br />

Schlaufuchs, Nervensäge und Knutschkugel zugleich ist und<br />

ehrliche und freche Fragen stellt, die in diesem Moment auch<br />

unseren kleinen Zuhörern auf dem Herzen liegen könnten.<br />

Wie hat es sich für Sie angefühlt, zwei Rollen zu spielen – zum<br />

einen die des Mezzo und zum anderen die des Malte?<br />

Es hat mir viel Spaß bereitet, mir ständig selbst ins Wort zu<br />

fallen. Das haben sich immer alle sehnlichst gewünscht.<br />

Denken Sie, dass Sie Kinder dazu bewegen können, selbst zu<br />

kleinen Komponisten zu werden?<br />

Wichtiger ist mir, dass wir Kinder dazu inspirieren, Fragen zu<br />

stellen und Konzertbesuche als etwas Schönes zu betrachten.<br />

Wenn sie zusätzlich verstehen, warum man<br />

während einer Aufführung eine Stunde lang<br />

keinen Laut von sich gibt, haben<br />

wir mit unserem Hörspiel schon<br />

viel erreicht.<br />

Die Hörbuchserie Malte & Mezzo – Die<br />

Klassikentdecker: Eine Party mit Beethoven,<br />

Gruselige Bilder einer Ausstellung, Auf Tour mit<br />

Mozart und Keine Nöte mit der Zauberflöte,<br />

Malte Arkona (Edel Kultur)<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Giovanni Antonini<br />

Pittoreske<br />

Naturschilderungen<br />

Als willkommenes<br />

Nebenprodukt der<br />

Gesamtaufführung und<br />

‐einspielung der<br />

Haydn-Sinfonien bis<br />

zum Jubiläumsjahr<br />

<strong>20</strong>32 legt Giovanni<br />

Antonini mit dem<br />

Ensemble Il Giardino Armonico sowie als<br />

besonderem Asset dem Chor des Bayerischen<br />

Rundfunks eine Aufnahme der Schöpfung vor.<br />

Monumentalität, Gewicht und Pathos<br />

traditionellen Zuschnitts geht Antonini –<br />

zumindest jenseits der dramatisch-verstörenden<br />

„Vorstellung des Chaos“ – wo immer<br />

möglich aus dem Wege, hält die Tempi alert<br />

und frisch sowie den Tonfall, trotz oft<br />

attackierender Tongebung im Orchester,<br />

insgesamt leicht. Dafür erfreut er sich vor<br />

allem an den vielen pittoresken Naturschilderungen,<br />

nicht bloß in den aufzählenden<br />

Accompagnato-Passagen (bei denen er auf<br />

Harnoncourts strikt trennende Generalpausen<br />

verzichtet), sondern auch in Arien und<br />

Ensembles. Unter den Solisten mit der etwas<br />

durchdringend jubelnden Anna Lucia Richter<br />

und dem nasalen Maximilian Schmitt dominiert<br />

nach bester Harnoncourt-Schule Florian<br />

Boesch mit seiner exemplarisch detaillierten,<br />

immer plastischen Textausdeutung, die<br />

fallweise auch überdeutlich-humoristische<br />

Effekte nicht ausschließt. WW<br />

Joseph Haydn: Die Schöpfung, Anna Lucia Richter,<br />

Maximilian Schmitt, Florian Boesch, Il Giardino Armonico,<br />

Giovanni Antonini (Alpha)<br />

Christoph Koncz<br />

Auf Mozarts Geige<br />

Eine neue Einspielung der Violinkonzerte<br />

Mozarts sollte heutzutage, zumindest<br />

aus Marketingsicht, schon einen<br />

besonderen Aufhänger haben. Insbesondere<br />

wenn man vom Solisten außerhalb<br />

Wiens, wo er Konzertmeisterdienst<br />

bei den Philharmonikern schiebt, noch<br />

nie etwas gehört hat. Hier ist es das<br />

Instrument, das der Star sein soll:<br />

Mozarts eigene Konzertgeige, vom<br />

Museumsstaub befreit und wieder<br />

fitgefiedelt. Nicht, dass es auf das<br />

Instrument jenseits der PR ankäme,<br />

selbst wenn es die schönstklingende<br />

Guarneri wäre. Gott sei Dank aber<br />

wird hier viel mehr geboten als eine<br />

unscheinbare Barockgeige mit einem<br />

berühmten toten Vorbesitzer: nämlich<br />

Unterhaltung! Die Musiciens du Louvre<br />

bilden die flott-federnde, graziöse, aber<br />

weder preziöse noch hastende Grundlage<br />

zum Erfolg. Christoph Koncz spielt<br />

die musikalisch sehr, technisch weniger<br />

anspruchsvollen Konzerte erfrischend<br />

attitüdenfrei, ohne Glacéhandschuhe<br />

und mit unauffällig-eleganten Kadenzen<br />

eigener Hand. Neben Frank Peter<br />

Zimmermanns seligmachend-stimmiger<br />

und Henning Kraggeruds hochvirtuoser<br />

Einspielung ist das wohl eine der<br />

gelungensten Interpretationen der<br />

letzten Jahre. JFL<br />

Mozart’s Violin,<br />

Christoph Koncz, Les<br />

Musiciens du Louvre<br />

(Sony)<br />

Reininghaus, Kemp, Ziane<br />

Zum Schmökern<br />

Musik ist eine hochgradig<br />

soziale Angelegenheit.<br />

Tief verstrickt ist sie in<br />

die Ökonomie, Politik,<br />

Technik und Gesellschaft<br />

ihrer Zeit, in Fragen nach<br />

Ästhetik, Innovation,<br />

Prestige und Lebensglück.<br />

Diesen Verstrickungen<br />

wollten die Herausgeber<br />

von „Musik und Gesellschaft. Marktplätze,<br />

Kampfzonen und Elysium“ nachspüren und<br />

luden über 100 Autoren ein, sich von den<br />

verschiedenen Seiten mit den letzten 1.000<br />

Jahren europäischer Musikgeschichte – inklusive<br />

interkontinentaler Ausflüge – auseinanderzusetzen.<br />

Das Ergebnis ist eine gewichtige<br />

Anthologie in zwei Bänden mit 421 chronologisch<br />

angeordneten Essays auf rund 1.400<br />

Seiten. Von der Tanzlust und Tanzwut im<br />

Mittelalter über Opiumkonsum im Programm<br />

der Symphonie fantastique oder die Vielfalt der<br />

Katzenmusik bis hin zu Musik und Fußball,<br />

Rappen im gesellschaftlichen Bewusstsein<br />

oder den prekären Verhältnissen im aktuellen<br />

Kunstbetrieb – die Bände sind ein für<br />

jedermann verständliches Füllhorn spannender<br />

Einblicke in die wichtigsten Ereignisse, Werke<br />

und Leistungen der Musikgeschichte. Jedem<br />

Artikel sind zeitgeschichtliche Daten<br />

vorangestellt, die einzelnen Abschnitte reich<br />

bebildert. Ein inspirierendes Werk zum<br />

Schmökern und Entdecken. MG<br />

Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hrsg.):<br />

Musik und Gesellschaft. Marktplätze – Kampfzonen –<br />

Elysium (Königshausen & Neumann)<br />

Gabriel Schwabe<br />

Abgründig<br />

Nicht nur, wenn die tiefen Cello-Saiten knarzen, tun sich<br />

Abgründe auf. Im besten Sinne freilich: Es wird auf so<br />

beseelte Weise musiziert, dass sich Höllenpforten öffnen.<br />

Gabriel Schwabe entfesselt Urgewalten: abgründig,<br />

eindringlich, durchdrungen von einem heftig lodernden<br />

inneren Feuer, das auch Zuhörer unmittelbar entflammt.<br />

Schwabes Darstellung der Solosonaten von Ligeti und<br />

Kodály ist bei all ihrer Unterschiedlichkeit schlichtweg<br />

atemberaubend, spieltechnisch brillant und von unmittelbar<br />

für die Musik einnehmender Intensität. In Kodálys fast<br />

halbstündigem Duo op. 7 steht ihm seine Partnerin Hellen<br />

Weiß nicht im geringsten nach. Diese Musik fesselt vom<br />

ersten bis zum letzten Ton, auch wenn man mit Solo-<br />

Streichern unter Umständen nicht viel anzufangen vermag.<br />

Nach dem Hören dieser herausragenden<br />

CD sollte sich das ändern. GK<br />

Zoltán Kodály, György Ligeti: Gabriel Schwabe,<br />

Hellen Weiß (Naxos)<br />

FOTO: STUDIO MONBIJOU<br />

55


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

FOTO: KAUPO KIKKAS / SONY CLASSICAL<br />

Niklas Liepe<br />

Tanz um Bach<br />

Es wimmelt nur so von Goldberg-Variationen in allen Formen und<br />

Besetzungen. Um da herauszustechen, braucht es schon etwas<br />

Besonderes. Das liefert Niklas Liepe. Es fängt damit an, dass der<br />

30-jährige Musiker Geige spielt und nicht etwa ein Tasteninstrument<br />

(oder Harfe, Akkordeon oder Marimba, die üblichen Transkriptionsverdächtigen<br />

bzgl. der Goldberg-Variationen). Und des Weiteren, dass<br />

er nicht einfach Andreas Tarkmanns Arrangement der Variationen für<br />

Geige bzw. Streichtrio, Streichorchester und Cembalo spielt – quasi<br />

als groß aufgelegte Variante der Sitkovetsky-Streichtrio-Version –,<br />

sondern in die 13 ausgesuchten Variationen (nebst der beiden Arien) elf<br />

kleine, neu komponierte Halbedelsteinchen einstreut, die Bachs Licht<br />

brechen, färben und zurück auf die Variationen werfen. Von Rolf<br />

Rudin über u. a. Dominik Dieterle, Moritz Eggert, Friedrich Heinrich<br />

Kern und Stephan Koncz zum feinen Epilog von Konstantia Gourzi hin<br />

gibt es da Intermezzi, die auf ihre – hier in sich gekehrte, dort<br />

extrovertierte – Art um Bach tanzen, mal jazzig, mal im Stil von<br />

Piazzolla oder Schnittke. Die Bach’schen Goldberg-Variationen selbst<br />

werden derweil zu neobarocken Suiten und kommen den Neukompositionen<br />

ein Stück entgegen. Für Bach-Liebhaber mit<br />

offenen Ohren sind diese #GoldbergReflections ein wahrer<br />

Schmaus der vom Initiator und Solisten und den<br />

Streichern der NDR Radiophilharmonie blitzsauber<br />

hingelegt wird. JFL<br />

#GoldbergReflections, Niklas Liepe, NDR Radiophilhamonie,<br />

Jamie Phillips (Sony)<br />

Alex Esposito und Christiane Karg<br />

Ein toller Tag<br />

La folle journée heißt Mozarts Le nozze di Figaro in der Vorlage von<br />

Beaumarchais. Und das sieht man in David Böschs Inszenierung aus dem<br />

Jahr <strong>20</strong>16 in Amsterdam auch, denn das Feuerwerk an stets zündenden<br />

Gags schreit nach Brandpolizei. Ob Graf, der seine Wut am Hometrainer<br />

strampelnd in den Griff zu bekommen sucht, oder Marzellina, die<br />

Susanna den Brautschleier mit dem Bügeleisen verbrennt; ob Schraubenzieher,<br />

Bohrmaschine, Axt oder Gewehr, die hier als durchaus komische<br />

Waffen ihre Wirkung nicht verfehlen, oder ein Schlafzimmer, dessen<br />

gigantischer Kleiderschrank seine vielen Türen mal mit Fernbedienung,<br />

mal magisch öffnet (Bühne: Patrick Bannwart). Wenn man zu Mozarts<br />

genialer Musik, die in allen Schattierungen lachen, weinen oder wütend<br />

sein kann, singenden Erzkomödianten so viel Futter gibt, dann ist das<br />

Ergebnis beglückend. Alex Esposito hat als Figaro Hummeln im Hintern<br />

und singt mit Pfeffer, Stéphane Degout ist als Graf ein geiler eitler Depp<br />

und doch auch attraktiver Bassbariton. Getoppt werden beide von<br />

einem Jüngling in Gestalt Marianne Crebassas, die den pubertierenden,<br />

hyperaktiven Cherubino perfekt als Knaben mit verlegen schlackernden<br />

Gliedern mimt, der partout nicht weiß wohin mit seinem wild aufflackernden<br />

Begehren. Zu dessen Erfüllung hilft sein traumhaft schönes<br />

Singen aber mächtig. Christiane Karg verkörpert eine herb-süße<br />

Susanna, die einer Gräfin dient, die in Gestalt von Eleonora Buratto die<br />

Inkarnation reifer Liebe ist. Zwar trauert sie in zwei großen Arien<br />

intensiv um die erkaltende Zuneigung des geliebten Manns, der sich<br />

buchstäblich als Schürzenjäger blamiert. Am Ende verzeiht sie ihm<br />

jedoch alles, auch wenn sie ihn gerne erschießen<br />

würde. Ivor Bolton feuert das Niederländische<br />

Kammerorchester nicht minder heftig an und legt<br />

schäumende Tempi vor, lässt an vielen Stellen die<br />

Musik aber auch strahlend erblühen. KLK<br />

Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro, Alex Esposito,<br />

Christiane Karg, Marianne Crebassa, Netherlands Chamber<br />

Orchestra, Ivor Bolton, David Bösch (Arthaus)<br />

Christian Thielemann<br />

Rares Glück<br />

Man muss sich das Datum dieses<br />

Mitschnitts der Gurre-Lieder des<br />

27-jährigen Arnold Schönberg, die<br />

einen achtstimmigen gemischten Chor,<br />

drei vierstimmige Männerchöre und<br />

150 Orchestermusiker erfordern, auf<br />

der Zunge zergehen lassen: 10. März<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>. Allen Beteiligten ist anzuhören,<br />

dass sie die Tragweite und das rare Glück des vorläufig letzten<br />

Konzerts dieser Größenordnung erahnten. So wird der<br />

Zwitter aus Liederzyklus und Oratorium, der von der Liebe<br />

eines Königs zu einem Mädchen, ihrem gewaltsamen Tod,<br />

seiner Auflehnung gegen Gott und dem gespenstischen Ritt<br />

mit seinen Mannen als Untoter handelt und in einer Apotheose<br />

der Natur kulminiert, zum denkwürdigen Dokument,<br />

das zunächst nur zu Archivzwecken mitgeschnitten wurde.<br />

Leider trübt der trotz Stimmgewalt immer leicht heiser und<br />

schwerfällig klingende Heldentenor Stephen Gould als<br />

Waldemar die hohe Qualität dieser 100 Minuten etwas.<br />

Camilla Nylund und Christa Mayer, die das berühmte Lied der<br />

Waldtaube zur Perle macht, gebührt dafür umso größerer<br />

Dank wie auch dem schillernden Charaktertenor Wolfgang<br />

Ablinger-Sperrhacke und dem 83-jährigen Franz Grundheber<br />

als expressiv artikulierendem „Sprecher“. MDR-Rundfunkchor,<br />

Sächsischer Staatsopernchor und die fulminant aufspielende<br />

Sächsische Staatskapelle Dresden mit Mitgliedern des Gustav<br />

Mahler Jugendorchesters lassen das Werk unter Christian<br />

Thielemann in allen Facetten leuchten, das der nun zehn Jahre<br />

ältere Schönberg am Ende weitaus moderner und durchsichtiger<br />

instrumentiert als die erste Hälfte. KLK<br />

Arnold Schönberg: Gurre-Lieder, Sächsische Staatskapelle Dresden,<br />

Christian Thielemann (Hänssler)<br />

56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


H Ö R EHN ÖT & IRST EEN HL& EZSN EE| I HAL EN NZ E I G E<br />

HAPPY BIRTHDAY SWR CLASSIC!<br />

Seit <strong>20</strong> Jahren bringt das Label SWR Classic die Aufnahmen der wichtigsten<br />

Orchester, Ensembles und Festivals des Südwestrundfunks heraus – mit Künstlern<br />

von Fritz Wunderlich bis Michael Gielen.<br />

Herausragende Klangkörper brauchen ein herausragendes<br />

Label! So wollten im Jahr <strong>20</strong>00 auch die Orchester und<br />

Ensembles des Südwestrundfunks ihren Klang optimal<br />

einfangen und ihr künstlerisches Schaffen dokumentieren<br />

– das Label SWR music wurde geboren und <strong>20</strong>17<br />

schließlich in SWR Classic umbenannt. Ob große Orchesterstücke,<br />

A-cappella-Werke, Kammermusik oder Jazz-Produktion: Qualität<br />

zählt und mit ihr konnte sich SWR Classic seinen festen Platz auf<br />

dem heiß umkämpften Tonträgermarkt sichern und zahlreiche<br />

Preise und Auszeichnungen gewinnen.<br />

So vielfältig das Repertoire, so vielfältig und renommiert auch<br />

die durch das Label präsentierten Klangkörper: Da wäre das SWR<br />

Symphonieorchester, das <strong>20</strong>16 aus der Fusion des SWR Sinfonieorchesters<br />

Baden-Baden und Freiburg mit dem Radio-Sinfonieorchester<br />

Stuttgart des SWR hervorging und mit seinen Chefdirigenten<br />

wie Hans Rosbaud, Sir Roger Norrington, Michael Gielen oder<br />

aktuell Theodor Currentzis vor allem in der großen Sinfonik Maßstäbe<br />

setzte und setzt. Dann das SWR Vokalensemble Stuttgart –<br />

einer der besten A-cappella-Chöre unserer Zeit, mit denen SWR<br />

Classic dieses Jahr eine Alben-Reihe zu Chormusik aus verschiedenen<br />

Ländern und Regionen der Welt vollendete – zum Abschied des<br />

langjährigen Chorleiters Marcus Creed; die Deutsche Radio Philharmonie<br />

Saarbrücken Kaiserlauten, die unter ihrem Chefdirigenten<br />

Pietari Inkinen derzeit für die meisten Neuproduktionen von SWR<br />

Classic sorgt – aktuell mit den Einspielungen der Prokofjew-Sinfonien;<br />

außerdem die SWR Big Band, eine der besten Big Bands der<br />

Welt und last but not least die SWR Schwetzinger Festspiele, das<br />

bedeutende internationale Klassikfestival im Barockschloss<br />

Schwetzingen.<br />

Neben den Neuproduktionen hat sich SWR Classic auf das<br />

Remastering von historischen Aufnahmen berühmter Musiker und<br />

Dirigenten spezialisiert. Dieses Jahr erschien zum Beispiel bereits<br />

die neunte Box der Michael Gielen Edition. Die Fritz Wunderlich<br />

Edition wird im kommenden Jahr abgeschlossen, nachdem zwischen<br />

<strong>20</strong>16 und <strong>20</strong><strong>20</strong> insgesamt zehn Alben herauskamen. Und die aufwendig<br />

und hochwertig gestalteten Boxen zum großen Dirigenten<br />

Hans Rosbaud wurden dieses Jahr mit einer Beethoven- und einer<br />

Mahlerbox fortgesetzt – Ziel ist die umfassendste Dokumentation<br />

von Rosbauds Schaffen überhaupt! Brandneu ist eine Serie zu Friedrich<br />

Gulda, die am Ende alle Aufnahmen enthalten soll, die der<br />

Pianist jemals für den SWR aufnahm. Neben der bestmöglichen<br />

Aufnahmequalität ist es dabei für SWR Classic selbstverständlich,<br />

die Tonträger mit detaillierten und aus dem Archivschatz reich bebilderten<br />

Beiheften mit Artikeln führender Musikwissenschaftler zu<br />

ergänzen.<br />

Und dann wäre da noch die Liste der großen Künstlerpersönlichkeiten,<br />

die den Katalog von SWR Classic bereichern und die sich<br />

wie ein Who’s who der klassischen Musik des <strong>20</strong>. Jahrhunderts liest:<br />

Swjatoslaw Richter, Claudio Arrau, Clara Haskil und Ida Haendel<br />

sind dort ebenso vertreten wie Carl Schuricht – eine 30-CD-Box<br />

erschien diesen August –, Carlos Kleiber und Dirigenten jüngerer<br />

Generation wie François-Xavier Roth, Letzterer etwa mit einem<br />

kompletten Strauss-Zyklus. Außerdem lässt sich Ensembles wie dem<br />

Tokio String Quartett, dem Alban Berg Quartett, dem Melos oder<br />

dem La Salle Quartett lauschen.<br />

Die Liste wird sich hoffentlich auch in der Zukunft noch lange<br />

fortsetzen, und wir sind gespannt und freuen uns auf die nächsten<br />

Veröffentlichungen von SWR Classic.<br />

n<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Ulrich Noethen<br />

Cleverness und Güte<br />

In unserer digitalisierten Welt lassen sich Heldentaten im Handumdrehen per Twitter verbreiten.<br />

In der Märchenwelt der Gebrüder Grimm stickt das „tapfere Schneiderlein“ seine<br />

Erfolgsmeldung „Sieben auf einen Streich!“ analog auf einen Gürtel und trägt sie zu Fuß in die<br />

Welt hinaus. Wie viel uns eine so alte Geschichte heute noch zu sagen hat, zeigen Ute Kleeberg<br />

und Uwe Stoffel mit ihrer Märchen-CD – wobei in dieser Fassung der Abenteuerlust, dem<br />

Selbstvertrauen und der Cleverness des Schneiders auch eine Portion Güte hinzugefügt wird.<br />

Schauspieler und Hörbuchsprecher Ulrich Noethen, der nicht umsonst bereits an einer Vielzahl<br />

von Produktionen für Kinder mitgewirkt hat, lässt all das lebendig werden. Zwischen den<br />

Textabschnitten erklingt – wie es für die Hörbücher der seit über 25 Jahren erfolgreichen<br />

Edition See-Igel typisch ist – klassische Musik. Diesmal geben Kompositionen von Mozart, Pleyel<br />

und Koechlin Gelegenheit, den im Kopf entstandenen Bildern nachzuträumen. Wunderschön<br />

musiziert werden die Stücke von Uwe Stoffel und Kurt Berger (Klarinette)<br />

sowie Albrecht Holder (Fagott). Eine rundum charmante CD für<br />

Kinder und Erwachsene, die unweigerlich Appetit auf Pflaumenmus<br />

macht – zum Glück enthält das Booklet ein entsprechendes Rezept. JH<br />

Gebrüder Grimm: Das tapfere Schneiderlein, Ulrich Noethen, Uwe Stoffel, Ute Kleeberg<br />

(Edition See-Igel)<br />

Sophy Roberts<br />

Trost in den Weiten Sibiriens<br />

„Ich unternahm Abstecher in Territorien, von denen ich nicht annahm, dass<br />

mich Klaviere dahin führen würden, reiste von meinem Heim in England aus<br />

weiter und weiter auf der Jagd nach einem Instrument, das ich nicht einmal<br />

spiele“, beschreibt Sophy Roberts ihre Fahrten durch Sibirien in eigenem<br />

Erstaunen darüber, wie sehr ihr Vorhaben sie packt. Ein deutscher Freund<br />

im Orchon-Tal gab ihr die Idee ein. „Wir müssen eines der vergessenen<br />

Klaviere für sie finden“, flüsterte er ihr nach einem Konzert der mongolischen<br />

Pianistin Odgerel Sampilnorow zu. Damit begann Roberts’ dreijährige<br />

Suche und ihre wachsende Begeisterung für das Land, seine Menschen<br />

und ihre Geschichten. Auf abenteuerlichen Wegen kamen Klaviere in die<br />

Weiten Sibiriens. Roberts sichtet Zollpapiere im staatlichen russischen Marinearchiv von<br />

St. Petersburg und stößt auf ein Clavichord, das im 18. Jahrhundert auf Schlitten, Booten und<br />

Pferden quer durch Sibirien geschafft wurde. Ihr Buch berührt viele Aspekte und ist auch eine<br />

politische Geschichte, die an dunkle Vergangenheiten erinnert. Von der Strafexilierung im<br />

17. Jahrhundert über die Verbannung bis zu den sowjetischen Gulags spannt sich der Bogen.<br />

„Wie solche Instrumente überhaupt in diese verschneite Wildnis kamen, das sind Geschichten<br />

über die innere Stärke von Gouverneuren, Verbannten und Abenteurern“, resümiert sie.<br />

„Dass sie überlebt haben, ist Zeugnis des Bedürfnisses nach Trost im menschlichen Geist.“ RRR<br />

Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere (Zsolnay Verlag)<br />

Christiane Karg<br />

Bittersüße Sehnsucht<br />

Der Vortrag von Christiane Karg und dem Pianisten Malcolm Martineau ist so klar, transparent<br />

und konturenstark, wie man ihn von der gemeinsamen Strauss-CD gewohnt ist. Nun hat sich<br />

das Duo Lieder des großen Antipoden Mahler vorgenommen und eine durchaus ungewöhnliche<br />

Interpretation eingespielt. Karg singt auch Mahler mit quellfrischer Stimme, jugendlichem<br />

Schmelz und Schalk und viel lyrischer Innigkeit; die Düsternis, Zerrissenheit und aufbegehrende<br />

Melancholie des Komponisten ist nicht zu erleben. Stattdessen betont Karg in Liedauswahl und<br />

Vortrag die zuweilen verborgenen Schönheiten der Musik und verzaubert vor allem in den<br />

Liedern aus der Jugendzeit mit silbrig-leuchtendem Glanz und bittersüßem Sehnsuchtston.<br />

Dieser prägt auch die Fünf Rückert-Lieder, die man selten so verinnerlicht und fragil gehört hat<br />

wie hier. Mit großer Leichtigkeit und vokaler Eloquenz meistern Sängerin und Pianist die<br />

Wunderhorn-Lieder, eine Prise Ironiegewürz mag man allerdings vermissen. Ein zuweilen<br />

sicherlich gewöhnungsbedürftiges, aber individuelles Album mit viel<br />

Ausdruck und klanggestalterischer Imagination. FS<br />

Gustav Mahler: Lieder, Christiane Karg, Malcolm Martineau (Harmonia Mundi)<br />

CD 900192<br />

MARISS JANSONS<br />

HIS LAST CONCERT<br />

LIVE AT CARNEGIE HALL<br />

Mariss Jansons’ letztes Konzert<br />

mit Werken von Brahms und<br />

Strauss in einer Liveaufnahme<br />

vom 8. November <strong>20</strong>19 in der<br />

New Yorker Carnegie Hall mit<br />

seinem Symphonieorchester des<br />

Bayerischen Rundfunks.<br />

MARISS JANSONS<br />

HIS LAST CONCERT<br />

LIVE AT CARNEGIE HALL<br />

STRAUSS · BRAHMS<br />

SYMPHONIEORCHESTER<br />

DES BAYERISCHEN RUNDFUNKS<br />

RICHARD STRAUSS<br />

Vier symphonische<br />

Zwischenspiele aus „Intermezzo“<br />

JOHANNES BRAHMS<br />

Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98<br />

Ungarischer Tanz Nr. 5<br />

SYMPHONIEORCHESTER<br />

DES BAYERISCHEN<br />

RUNDFUNKS<br />

59<br />

Im Vertrieb von Naxos Deutschland<br />

br-klassik.de/label · Erhältlich im Handel und im BRshop: br-shop.de


H ÖT IRTEEN L& ZSEEI HL E N<br />

Adam Bałdych, Vincent Courtois, Rogier Telderman<br />

Vielgestaltig<br />

Zart, zerfedert, imposant, dramatisch – Wolken können die<br />

unterschiedlichsten Formen haben und sich schnell verändern,<br />

wenn Wind weht. Ähnlich vielgestaltig sind die elf Titel auf dem<br />

Album Clouds. Ihre Bandbreite reicht von impressionistisch-melodisch<br />

bis zu klassischen oder auch experimentellen Anklängen,<br />

immer gespielt auf den Instrumenten Klavier, Geige und Cello.<br />

Dass sie in einer unkonventionellen Konstellation gemeinsame<br />

Sache machen, beruht auf einer Zufallsbegegnung von Rogier Telderman, Adam Bałdych<br />

und Vincent Courtois. Beim Sounds of Europa-Festival <strong>20</strong>18 in Breda lernten der<br />

Niederländer, der Pole und der Franzose einander kennen und begeisterten Publikum<br />

und Presse mit einem spontanen gemeinsamen Auftritt. Zwei Jahre später folgte die<br />

Fortsetzung mit einem ersten Album als Trio, zu dem alle drei eigene Kompositionen<br />

beisteuerten. Rogier Teldermann – mit 28 Jahren der Jüngste in der Runde – übernahm<br />

zusätzlich die Rolle des Produzenten. Resultat ist ein Debüt als Dialog zwischen drei<br />

virtuosen Solitären und Welten. ASK<br />

Clouds, Adam Bałdych, Vincent Courtois, Rogier Telderman (ACT)<br />

Sergei Babayan<br />

Dankbare Liebeserklärung<br />

Sergei Babayan trifft auf Sergei Rachmaninoff. Der armenische Pianist widmet<br />

diese Soloaufnahme seinem Namensvetter – und dem Komponisten, dem er<br />

wahrscheinlich seine Karriere zu verdanken hat. Als ihn in Teenagerjahren die<br />

Lust am Klavierspiel verließ, er mit dem Üben haderte und sogar schon ans<br />

Aufhören dachte, schenkte sein Vater ihm eine Aufnahme mit Rachmaninoffs<br />

Zweitem Klavierkonzert – die Taktik ging auf. Babayan vertiefte sich sofort<br />

immer hingebungsvoller in die weiten Klangwelten des großen russischen<br />

Komponisten und ließ sich voller Leidenschaft wieder auf sein Instrument ein.<br />

Heute kann er auf eine erfolgreiche Laufbahn zurückblicken. Der mehrfach<br />

ausgezeichnete Pianist zählt zu den Besten seines Fachs. „Wenn Rachmaninoff<br />

davon spricht, dass Musik Liebe ist, die von Herz zu Herz geht, dann kann<br />

man das wahrer gar nicht ausdrücken“, so Babayan im Booklet des Albums.<br />

„Es wäre vergeblich, die ganze heilende Kraft seiner Musik verständlich<br />

machen zu wollen – sie ist ein Frühlingsgarten der neuen Hoffnung und<br />

Wiedergeburt, der Inspiration und des Neuanfangs für die vom Weg<br />

Abgekommenen und alle, die ihren Glauben verloren haben.“ In ausgewählten<br />

Préludes, Études-Tableaux und Moments musicaux schafft Babayan eine<br />

Hommage an sein Idol. Die feinsinnig und virtuos gespielten Werke sind<br />

Porträt und dankbare Liebeserklärung zugleich. SK<br />

Sergei Rachmaninoff: Préludes, Études-Tableaux, Moments musicaux,<br />

Sergei Babayan (Deutsche Grammophon)<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

Dorothee Mields<br />

Bei Händel zum Tee<br />

Wenn das Berner Barockensemble<br />

Die Freitagsakademie<br />

mit der deutschen<br />

Sopranistin Dorothee Mields<br />

einladen zu Handel’s Tea Time<br />

(englische Schreibweise), heißt<br />

das: Hier geht’s um Händels<br />

Britishness. Also beginnt das Album mit seiner wohl<br />

ersten Komposition in englischer Sprache: Venus und<br />

Adonis. Dorothee Mields’ erprobter Barock-Sopran<br />

ist weich und stark in der Höhe der Koloraturen, und<br />

sie meistert den Ausdruck im ironisch-weinseligen<br />

„Falschsingen“ in Bacchus, als der Weingott schon<br />

nicht mehr so sicher steht. Die typische Schäferlyrik,<br />

die im Barock europaweit schwer angesagt war, das<br />

bukolische Idyll einiger Textvorlagen ruft geradezu<br />

nach flötendem Fließen, und es trifft sich also<br />

ausgezeichnet, dass Katharina Suske seit 1993 die<br />

Freitagsakademie leitet. Als Oboistin spielt sie<br />

Händels Leib- und Magen instrument, neben dem<br />

Cembalo, das Sebastian Wienandt virtuos durch<br />

Air & Five Variations aus der E‐Dur-Suite stürzt – den<br />

populären Beinamen „Der Harmonische Grobschmied“<br />

bekam das Werk nicht umsonst. Ein<br />

bisschen sparsam geht das Booklet mit Dorothee<br />

Mields um – neben den Fotos dürfte man über diesen<br />

Sopran gern ein bisschen mehr verraten. PH<br />

Handel’s Tea Time, Dorothee Mields, Die Freitagsakademie (dhm)<br />

Katharina Bäuml<br />

Mystische Erde<br />

Die vier Elemente haben das<br />

Berliner Alte-Musik-Ensemble<br />

Capella de la Torre zu einer<br />

faszinierenden CD-Serie<br />

inspiriert. Nach Wasser,<br />

Feuer und Luft ist das letzte<br />

Album den Geheimnissen der<br />

Erde gewidmet. Unter Leitung<br />

der Oboistin und Schalmei-Spielerin Katharina Bäuml<br />

erkunden die Musiker mit Mitgliedern des RIAS<br />

Kammerchores die Entstehung der Erde. Sie dringen<br />

in die Tiefen vor, entdecken sie als Ernährerin und<br />

spüren ihrer Melancholie nach. Dazu erklingen<br />

Vokal- und Instrumentalwerke einer Vielzahl von<br />

Renaissance- und Barockkomponisten wie etwa<br />

Giovanni Gabrieli, William Byrd, Francesco Cavalli,<br />

Heinrich Schütz oder Michael Praetorius. Der von<br />

Estêvão de Brito vertonte Hymnus Lucis Creator<br />

Optime preist Gott als Schöpfer der Welt und des<br />

Lichtes. Dagegen ist Guillaume de Costeleys Trinklied<br />

La terre les eaux va buvant mitten aus dem irdischen<br />

Leben gegriffen, ebenso wie die schwungvolle Pavane<br />

Mille ducas von Tielman Susato. Ein hörenswertes<br />

Album, das auch dazu anregt, über die Gefährdung<br />

der Natur in unserer Gegenwart nachzudenken. CK<br />

Earth Music, Capella de la Torre, Katharina Bäuml (dhm)<br />

60 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

JAHRHUNDERT-DIRIGENTEN<br />

VON BARBIROLLI BIS ROSBAUD<br />

Maßstäbesetzende Einspielungen klassischer und selten gespielter Werke.<br />

Als 1936 das New York Philharmonic Orchestra John<br />

Barbirolli zu seinem neuen Chefdirigenten – und damit<br />

zum Nachfolger von Toscanini – ernannte, war die<br />

Sensation groß. Freilich verstand es die New Yorker<br />

Presse, über sieben Jahre den hochbegabten Italo-Engländer<br />

so effizient zu diffamieren, dass er mitten im Krieg das Angebot,<br />

das zugrunde gerichtete Hallé Orchestra im heimischen Manchester<br />

wiederaufzubauen, annahm. Barbirolli machte es zu einem<br />

der unverwechselbarsten europäischen Klangkörper und dirigierte<br />

dort bis zu seinem Tode am 29. Juli 1970.<br />

Zu Barbirollis 50. Todesjahr haben nun sowohl Warner Classics<br />

als auch Sony ihre Bestände kompiliert: Sony mit einer Box aus sechs<br />

Alben sämtlicher kommerzieller New Yorker Aufnahmen, Warner<br />

mit dem 109 CDs umfassenden Rest, weit überwiegend vom Hallé<br />

Orchestra gespielt, aber auch von den Berliner (Mahlers Neunte)<br />

und Wiener (Brahms’ Erste bis Vierte) Philharmonikern. Die Warner-Anthologie<br />

ist das umfassende Porträt eines großen Jahrhundertdirigenten,<br />

und wer maßstäbesetzende Einspielungen von Sibelius,<br />

Elgar, Vaughan Williams, Mahler, Delius oder Bax sucht,<br />

kommt um die Anschaffung nicht herum. Barbirolli hat noch unter<br />

Elgar gespielt, und mit einer innigeren Verbindung von Wärme,<br />

Kraft und Würde ist diese Musik nirgends zu hören. Der Barbirolli-<br />

Stil ist stets leidenschaftlich zupackend, gut geerdet,<br />

das Sangliche hervorhebend, doch nicht in Süße und<br />

Kitsch abgleitend. Es ist ein immer intensives, dichtes,<br />

sprachmächtiges Musizieren, bedingungslos in der<br />

Charakterzeichnung. Natürlich sind auch die zentralen<br />

Meister Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert,<br />

Tschaikowsky usw. dabei. Und dann sind da<br />

unter den frühen Dokumenten unglaublich<br />

faszinierende Aufnahmen mit großen Sängern<br />

wie Dusolina Giannini, Feodor Schaljapin,<br />

Benjamino Gigli usw., die auch zeigen,<br />

was für ein fesselnd präsenter Begleiter Barbirolli<br />

war. Nicht zu vergessen die legendären<br />

Aufnahmen mit Jacqueline du Pré bzw.<br />

Daniel Barenboim und großartige Chormusik<br />

von den Totenmessen Mozarts und Verdis bis zu<br />

Elgars Dream of Gerontius. Diese Box gehört zum<br />

Wunderbarsten seit langer Zeit.<br />

Nachdem Sony schon die RCA-Aufnahmen Fritz Reiners mit<br />

seinem Chicago Symphony Orchestra veröffentlicht hatte, folgen<br />

nun Reiners frühere Columbia-Aufnahmen auf 14 CDs, überwiegend<br />

mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra. Natürlich ist hier<br />

ein echter Meister am Werk, besonders im sinfonischen Arrangement<br />

von Gershwins Porgy and Bess von Robert Russell Bennett<br />

oder der heimischen ungarischen Musik. Aber man spürt auch seine<br />

harte Hand. Und Decca veröffentlicht gleichfalls in einer 14-CD-Box<br />

den Großteil der Aufnahmen, die Charles Munch nicht in Boston<br />

(davon gibt’s die RCA-Sony-Box) gemacht hat, von sperrigen Raritäten<br />

wie Henry Barrauds Dritter Sinfonie bis zur Spritzigkeit von<br />

Bizet oder Offenbach. Beide Sammlungen präsentieren Wiederauflagen<br />

einst weltweit verbreiteter Referenzeinspielungen.<br />

Anders die Rundfunkaufnahmen zweier großer Männer des<br />

deutschsprachigen Raums, die der SWR auf SWR Classic nun (teilweise<br />

unter Mithilfe des WDR) vorlegt. Da ist zum einen auf 30 CDs<br />

die Wiederauflage der ausgewählten Mitschnitte Carl Schurichts,<br />

des großen Beethoven‐, Bruckner- und Reger-Dirigenten, der hier<br />

auch mit so Seltenem wie den Violinkonzerten von Hermann Goetz<br />

und Robert Oboussier und Werken von Robert Volkmann oder<br />

Günter Raphael zu hören ist – zu einem absolut<br />

fairen Preis. Und dann natürlich die Fortsetzung<br />

der Hans Rosbaud Edition, diesmal auf acht CDs<br />

mit Sinfonien (außer Nr. 2, 3, 8 und 10) und dem<br />

Lied von der Erde von Gustav Mahler, vieles<br />

davon erstmals auf CD. Da ich die Cover-Texte<br />

geschrieben habe, steht mir die Beurteilung des<br />

Drum und Dran nicht an, doch möchte ich bemerken,<br />

dass dies meines Erachtens die großartigsten<br />

Darstellungen dieser so komplexen wie vielfältigen<br />

Werke sind. <br />

n<br />

The Complete RCA and Columbia Album Collection,<br />

New York Philharmonic, John Barbirolli (Sony)<br />

The Complete Warner Recordings, Sir John Barbirolli (Warner)<br />

The Complete Columbia Album Collection, Fritz Reiner (Sony)<br />

The Complete Decca Recordings, Charles Munch (Decca)<br />

The Collection, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart,<br />

Carl Schuricht (SWR Classic)<br />

Hans Rosbaud dirigiert Mahler (SWR Classic)<br />

61


R Ä T S E L<br />

GEWINNSPIEL<br />

Was verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

„Moderne Musik ist Instrumentenstimmen nach Noten“<br />

Grenzenlos, bewegt und neu: Das waren nicht nur meine Kompositionen,<br />

sondern auch mein Leben. Schon in meiner Kindheit<br />

musste ich mir ein dickes Fell zulegen: In einem wohlhabenden,<br />

musikalisch-kultivierten Haushalt aufzuwachsen, in dem Leistung<br />

und Disziplin großgeschrieben wurden, war gar nicht so einfach.<br />

Auch wenn ich dem Wunsch meiner Eltern nachgegangen bin, eine<br />

juristische Ausbildung zu beginnen, blieb mein Kompositionstalent<br />

nicht lange unentdeckt. Ein bekannter russischer Komponist nahm<br />

mich unter seine Fittiche und inspirierte mich, tiefer in die Welt<br />

der Komposition und Instrumentation einzutauchen. Er ermöglichte<br />

mir, musikalisch experimentierfreudig zu sein; dennoch<br />

schränkte mich meine konservative und introvertierte Heimat in<br />

meinem Schaffensprozess ein.<br />

Ein Telegramm aus Paris wurde zu meiner musikalischen<br />

Rettung: So konnte ich den Einschränkungen meines Vaterlandes<br />

entkommen. Mein kompositorischer Publikumsschocker, dessen<br />

Uraufführung im Pariser Théâtre des Champs-Elysées stattfand,<br />

machte mich über Nacht berühmt. Die stählernen Rhythmen, messerscharfen<br />

Einzeltöne und beißenden Akzente meiner Komposition<br />

lösten sogar Schlägereien im Publikum aus. Ein Skandal, der in die<br />

Musikgeschichte einging!<br />

Neben meiner kurzen Affäre mit Coco Chanel ließ ich mit der<br />

Zeit auch meinen spätromantischen-impressionistischen Kompositionsstil<br />

in Frankreich zurück und wagte mich ins Land der unbegrenzten<br />

Möglichkeiten – nach Amerika. Dort tobte ich mich musikalisch<br />

aus: Die Polytonalität oder die serielle Musik haben mir<br />

ermöglicht, meinen unverwechselbaren Musikstil weiterzuentwickeln.<br />

Manchmal sind Wagnisse im Leben lohnend – mich machten<br />

sie zum Wegbereiter der modernen Musik!<br />

RÄTSEL LÖSEN UND EINE VON<br />

DREI CD-BOXEN GEWINNEN!<br />

Wer oder was ist hier gesucht? Wenn Sie die<br />

Antwort kennen, dann nehmen Sie an der Verlosung<br />

teil unter www.crescendo.de/mitmachen.<br />

Gleich dreimal gibt es folgende CD-Box zu gewinnen: Dimensionen.<br />

Mensch & Lied, Marlis Petersen (Solo Musica). Einsendeschluss ist<br />

der 06.01.<strong>20</strong>21. Gewinnerin unseres letzten Gewinnspiels ist<br />

Juliane Linke aus Dresden. Die Lösung war: Notenschlüssel.<br />

FOTO: EWA KRASUCKA, ARCH. TEATRU WIELKIEGO-OPERY NARODOWEJ<br />

IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11, info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz | steitz@crescendo.de<br />

CHEFREDAKTEURIN<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

LEITENDE REDAKTEURIN<br />

Dr. Maria Goeth (MG) | goeth@crescendo.de<br />

RESSORTS „HÖREN & SEHEN“ UND „ERLEBEN“<br />

Dr. Ruth Renée Reif (RRR) | reif@crescendo.de<br />

RESSORTS „KÜNSTLER“ UND „LEBENSART“<br />

Barbara Schulz (BS) | schulz@crescendo.de<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

Axel Brüggemann, Paula Bosch, Ioan Holender,<br />

Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL), Ricardo Simian<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Roland H. Dippel (DIP), Verena Fischer-Zernin, Ute Elena Hamm (UH),<br />

Julia Hartel (JH), Alexander Herrmann, Philipp Hontschik (PH), Carlotta Rabea Joachim,<br />

Klaus Kalchschmid (KLK), Sina Kleinedler (SK), Corina Kolbe (CK),<br />

Guido Krawinkel (GK), Jens F. Laurson (JFL), Teresa Pieschacón Raphael (TPR),<br />

Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Stefan Sell (SELL), Fabian Stallknecht (FS),<br />

Rüdiger Sturm (RS), Georgia Tsonis (GT), Mario Felix Vogt, Dorothea Walchshäusl (DW),<br />

Walter Weidringer (WW), Patrick Wildermann, Margarete Zander<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe & Touristik: Dr. Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

Stefanie Greißinger | greissinger@portmedia.de<br />

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE<br />

Nr. 23 vom 01.09.<strong>20</strong>19<br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 2<strong>20</strong>41 Hamburg, www.pressup.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

<strong>CRESCENDO</strong> ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im<br />

Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge<br />

bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des<br />

Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung,<br />

auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

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Verbreitete Auflage:<br />

65.434 (lt. IVW-Meldung 1/<strong>20</strong><strong>20</strong>)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

CLASS: aktuell, Leipzig Tourismus<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 19. FEBRUAR <strong>20</strong>21.<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

unterstützt<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen bis Januar <strong>20</strong>21 im Überblick (Änderungen vorbehalten)<br />

Schwere Zeiten für die Kunst: Die Ioan-Holender-Kolumne (Seite 66)<br />

Beethoven im Blick: Der Titan hat seit jeher auch Filmemacher inspiriert – die schönsten Kino-Juwelen (Seite 67)<br />

München, bis 6. Juni <strong>20</strong>21<br />

Leichtes Gepäck<br />

Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, die<br />

zentralen Figuren der Künstlerformation Der<br />

Blaue Reiter, verband bereits vor dieser Zeit eine<br />

enge künstlerische Verbindung. Die Ausstellung<br />

„Unter freiem Himmel“ begleitet die beiden auf<br />

ihren gemeinsamen Wegen und Reisen in den<br />

Jahren von 1902 bis 1908, wo sie „mit leichtem<br />

Gepäck“ Kallmünz, Rotterdam, Tunis, Rapallo,<br />

Paris und mehr Orte besuchten. Ölskizzen,<br />

Fotografien und Zeichnungen, die direkt vor den<br />

Motiven entstanden, zeigen eine heitere<br />

Unmittelbarkeit wie hier Kandinskis Bleistiftstudie<br />

des Hafens in Amsterdam mit Booten und<br />

Häusern aus dem Jahr 1904.<br />

1902 hatten sie ihre erste gemeinsame Reise<br />

nach Kochel angetreten, Kandinski hatte seine<br />

Schülerin Münter dazu eingeladen. Sie waren<br />

ausgerüstet mit Kamera, Paletten, Malpappen,<br />

faltbarer Staffelei und Farbtuben und entdeckten<br />

per Fahrrad das Voralpenland. Den zweiten<br />

Malsommer der Klasse Kandinskys 1903<br />

verbrachten sie in Kallmünz, nun schon als Paar.<br />

Mobilität bestimmte in dieser Zeit ihr Privatleben<br />

sowie ihre künstlerische Arbeit, die<br />

miteinander korrespondierte, was sie während<br />

ihrer kommenden Reisen fortführen sollten: Sie<br />

widmeten sich einem Motiv – vorwiegend<br />

Landschaften und Architekturen der<br />

gewählten Zielorte – gingen aber mit verschiedenen<br />

Techniken an sie heran, verwendeten<br />

unterwegs entstandene Fotografien auch als<br />

Vorlage für Zeichnungen, Holzschnitte und<br />

Gemälde. Die Ausstellung mit überwiegend<br />

kleinen und intimen Formaten legt nahe, dass<br />

einer der Höhepunkte dieser modernen<br />

Künstlerbeziehung sicher die Gespräche über<br />

ihre jeweilige individuelle künstlerische Weiterentwicklung<br />

waren.<br />

München, Lenbachhaus, www.lenbachhaus.de<br />

FOTO: LENBACHHAUS / ERNST JANK<br />

63


E R L E B E N<br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

bis Januar <strong>20</strong>21<br />

bis 21. Februar, Kassel<br />

Der Weg in die innere Wirklichkeit<br />

Fritz Winter war Maler der ersten Stunde der documenta in<br />

Kassel. Die von Arnold Bode initiierte Ausstellung im<br />

Fridericianum war nach dem Ersten Weltkrieg die erste große<br />

Kunstausstellung moderner Kunst in Westdeutschland. Bode<br />

wollte jenen Künstlern Bekanntheit vermitteln, die während<br />

des Nationalsozialismus verfemt waren. So stand die<br />

abstrakte Kunst der 19<strong>20</strong>er- und 1930er-Jahre im Mittelpunkt.<br />

Fritz Winters Arbeiten wurden in den ersten drei Ausstellungen<br />

1955, 1959 und 1964 gezeigt. 1905 in Altenbögge geboren,<br />

kam Winter 1927 ans Bauhaus. Angeregt von der Lehre Paul<br />

Klees und Wassily Kandinskys, fand er zu den naturmythischen<br />

Ideen der Künstlergruppe Blauer Reiter in München.<br />

Bestimmend für diese Künstler war die Vorstellung eines<br />

allumgreifenden Seins als Ursprung der Bilder. Winter fand im<br />

Ungegenständlichen einen Weg, sich der inneren Wirklichkeit<br />

anzunähern. Der Nationalsozialismus unterbrach seine Arbeit.<br />

1937 wurden seine Bilder aus den Museen entfernt und<br />

enteignet. Zwei Jahre darauf wurde Winter zum Kriegsdienst<br />

Fritz Winter:<br />

Gelber Klang,<br />

1950<br />

einberufen. Erst 1949 kehrte er aus russischer Kriegsgefangenschaft<br />

nach Deutschland zurück. Die Kriegserlebnisse<br />

gaben seinem Schaffen noch einmal einen bedeutsamen<br />

Impuls. In schwingenden Kraftfeldern, energetischen<br />

Spannungen und kristallinen Strukturen verlieh er seinen<br />

Erlebnissen Ausdruck und bahnte sich einen Weg, um zu<br />

jenem fernen Punkt vorzudringen, an dem alles zur Deckung<br />

kommt. Der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der die dritte<br />

documenta mitkuratierte, verwies auf das abstrakte Bild als<br />

„das Rettende“ zur Bewältigung einer abstrakt gewordenen<br />

Welt. Auf Initiative der Fritz-Winter-Stiftung und der<br />

Bayerischen Staatsgemäldesammlungen rekonstruiert die<br />

Museumslandschaft Hessen Kassel die zentralen Beiträge<br />

Fritz Winters zu den ersten drei documenta-Ausstellungen.<br />

Gezeigt werden rund 990 Werke aus Malerei, Grafik und<br />

Bildwirkerei.<br />

Neue Galerie, Museumslandschaft Hessen Kassel,<br />

www.museum-kassel.de<br />

FOTO: BAYERISCHE STAATSGEMÄLDESAMMLUNGEN, MÜNCHEN, FRITZ-WINTER-STIFTUNG<br />

64 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FOTOS: MINDO CIKANAVIČIUS; NANDA HAGEMAARS; PETER ADAMIK; KERSTIN KUEHNE; BENNO HUNZIKER; FELIX BROEDE; CHARLES LIMA; HANS SCHERHAUFER; HARALD KRICHEL; MORLIER; CHRISTIAN MAI; WDR/CRISTIAN MĂCELARU; PIACLODI<br />

BIS 16. MÄRZ<br />

FESTSPIELE MECKLENBURG-VORPOMMERN<br />

Stille Seen, endlose Alleen und Küsten mit hell<br />

leuchtenden Kreidefelsen – das ist Mecklenburg-<br />

Vorpommern. Den ganzen Winter hindurch bis<br />

zum Beginn des Frühlings führen die Festspiele<br />

zu den schönsten Orten des Landes. Im<br />

Landstädtchen Klütz, wo sich die größte<br />

barocke Schlossanlage von Mecklenburg-Vorpommern<br />

befindet, versammelt sich die junge Elite zum Kammermusikfest.<br />

In Grabow mit seinen Fachwerkhäusern kann man sich nicht nur<br />

„Küsschen“ (Schaumküsse, Anm. d. Red.) holen, sondern auch einen Abend<br />

mit dem Akkordeonisten Martynas Levickis (Foto) genießen. Mit Werken<br />

von Bach, Vivaldi, Rossini u. a. beginnt er seine Tournee, die ihn bis nach<br />

Rostock und zum Seebad Sellin auf der Insel Rügen führt. Die Organistin<br />

Iveta Apkalna und der Trompeter Gábor Boldoczki gastieren in Neubrandenburg,<br />

der Stadt des Volksdichters Fritz Reuter. Der Musikstadt Wien<br />

ist eine Reihe mit Werken von Komponisten gewidmet, die zeitweilig in<br />

Wien lebten wie Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms und Schubert. Auch<br />

eine Uraufführung steht auf dem Programm. Die Ausführenden des<br />

neuen Klavierquintetts von Georg Breinschmid sind der Geiger Emmanuel<br />

Tjeknavorian, der Bratschist Benedict Mitterbauer, der Cellist Jeremias<br />

Fiedl, der Bassist Dominik Wagner und der Pianist Maximilian Kromer.<br />

Und zum Abschluss kommt ein Musiker, dem Wien ebenfalls zur Heimat<br />

wurde: Rudolf Buchbinder. In der Konzertkirche von Neubrandenburg<br />

spielt er Beethoven.<br />

Verschiedene Spielorte, festspiele-mv.de<br />

5. UND 6. FEBRUAR<br />

KÖLN AUFERSTEHUNGSSINFONIE<br />

Wie ein Blitz habe es ihn getroffen, bekundete<br />

Gustav Mahler, als er auf der Totenfeier zu<br />

Hans von Bülow den Choral Auferstehn! von<br />

Friedrich Klopstock hörte. Damit hatte er das<br />

Finale seiner Zweiten Sinfonie gefunden. Mit<br />

gewaltigem Chor-, Orgel- und Glockenklang<br />

gestaltete er dieses Finale zum „großen Appell“<br />

aus dem Jenseits. Cristian Măcelaru (Foto), der Chefdirigent des WDR<br />

Sinfonieorchesters, leitet die Aufführung der riesigen Sinfonie. Zu den<br />

weiteren Mitwirkenden gehören die Sopranistin Christina Landshamer,<br />

die Altistin Wiebke Lehmkuhl, der WDR Rundfunkchor und der Chor<br />

des Bayerischen Rundfunks.<br />

Köln, Philharmonie, www.wdr.de/orchester-und-chor<br />

19. UND <strong>20</strong>. DEZEMBER<br />

STUTTGART DIE VERZAUBERTE WELT<br />

Der Geist der Kindheit durchweht die<br />

Kompositionen von Maurice Ravel. Einige<br />

schrieb er auch explizit für Kinder wie etwa<br />

die Suite Ma mère l’oye (Meine Mutter Gans),<br />

die er 1908 auf der Grundlage von Märchen<br />

komponierte und seinen immerwährenden<br />

Freunden, den Kindern, widmete. Auch die<br />

Oper L’enfant et les sortilèges (Das Kind und der Zauberspuk) wendet<br />

sich an Kinder. Das Libretto dazu stammt von Colette, Ravels<br />

Nachbarin im Künstlerort Montfort-l’Armaury am Rande des Waldes<br />

von Rambouillet bei Paris. Die Dichterin schätzte den „unnahbaren<br />

kleinen Mann mit den feinen Händen“ und zählte zu den frühen<br />

Verfechtern seiner Musik. Jahrelang saß Ravel an der Partitur, in die<br />

er Rhythmen einarbeitete, wie sie damals modern waren. So lässt er<br />

die Teekanne einen Ragtime tanzen und zwei Katzen im Duett miauen.<br />

Der Regisseur und Sänger Schorsch Kamerun, der herausfinden<br />

möchte, wie junge Menschen heute in die Zukunft blicken, was sie<br />

in Wut bringt und wobei sie nicht mehr mitmachen wollen, entwickelt<br />

unter dem Titel Die verzauberte Welt mit dem Dirigenten Dennis<br />

Russell Davies aus den beiden Werken Ravels und eigenen Liedern<br />

einen Opernabend.<br />

Stuttgart, Oper, www.staatsoper-stuttgart.de<br />

TIROLER <strong>20</strong>/21<br />

FESTSPIELE<br />

ERL WINTER<br />

26. DEZ<br />

—<br />

06. JAN<br />

Info · Karten<br />

T +43 (0)5373 81000-<strong>20</strong><br />

karten@tiroler-festspiele.at<br />

www.tiroler-festspiele.at<br />

OPER<br />

PIETRO<br />

MASCAGNI<br />

L’AMICO FRITZ<br />

Musikalische Leitung<br />

Francesco Lanzillotta<br />

Regie Ute M. Engelhardt<br />

26. DEZ / 02. JAN / 04. JAN<br />

OPER<br />

GAETANO<br />

DONIZETTI<br />

DON PASQUALE<br />

Musikalische Leitung<br />

Simone di Felice<br />

Regie Caterina Panti Liberovici<br />

27. DEZ / 30. DEZ / 05. JAN<br />

SPECIAL<br />

MUSICBANDA<br />

FRANUI<br />

MISCHMASCH<br />

29. DEZ<br />

KONZERT<br />

SILVESTER- /<br />

NEUJAHRS-<br />

KONZERT<br />

31. DEZ / 01. JAN<br />

SPECIAL<br />

FRANZ HACKLS<br />

„WINTERREISE“<br />

FEATURING<br />

LEO GENOVESE<br />

UND DAS WIENER<br />

POSAUNEN-<br />

ENSEMBLE<br />

03. JAN<br />

KONZERT<br />

FAMILIEN-<br />

KONZERT<br />

EDVARD GRIEG —<br />

PEER GYNT<br />

28. DEZ<br />

65


E R L E B E N<br />

Ioan-Holender-Kolumne<br />

SCHWERE ZEITEN<br />

FÜR DIE KUNST<br />

Mitte März wurden plötzlich von heute auf morgen<br />

Opern- und Theatervorstellungen abgesagt, und<br />

man stand vor geschlossenen Türen in den Konzerthäusern.<br />

Viele Monate fanden keinerlei Darbietungen mit<br />

oder für die Kunst statt, Museen waren zu. Die Wiener<br />

Staatsoper war zum ersten Mal seit der Wiedereröffnung<br />

im Jahr 1955 länger geschlossen. Im Zweiten Weltkrieg hat<br />

sie kürzere Zeit nicht gespielt als in diesem Jahr. Damals<br />

herrschte Angst vor den Bomben, jetzt lähmt die Angst vor<br />

dem Corona-Virus alle und alles.<br />

Seit einem Monat wird in den Theater- und Opernhäusern<br />

in Europa mit teilweise radikalen Einschränkungen und<br />

störenden Maßnahmen gespielt, mit schmerzvollen Auflagen,<br />

die leider auch eine negative Auswirkung auf die künstlerische<br />

Qualität des Dargebotenen haben. An manchen Orten<br />

werden nur Aufführungen ohne Pause gespielt, die Stücke<br />

werden gekürzt dargeboten, die Künstler dürfen sich auf<br />

der Bühne nicht näherkommen, Chöre sind unsichtbar und<br />

werden nur akustisch übertragen oder ganz gestrichen, die<br />

ursprüngliche Inszenierung wird radikal in eine sogenannte<br />

Corona-Inszenierung abgeändert. Eine Mahler-Sinfonie wird<br />

mit reduzierten Instrumenten musiziert!<br />

Das Traurigste ist jedoch, dass das reduzierte Kartenangebot<br />

meistens nicht ausgenutzt wird. Oft bleibt ein Großteil<br />

der angebotenen Karten unverkauft. Das Streaming<br />

bietet keine Alternative zum lebendigen Hör- und Seherlebnis.<br />

Das Schlimmste wird folgen, wenn der Zugang – hoffentlich<br />

bald – wieder ganz zugelassen wird und es trotzdem<br />

lange dauern wird, bis das Publikum wie vorher die Häuser<br />

wieder füllen wird. Die Menschen gewöhnen es sich ab, ins<br />

Theater zu gehen, Abonnements wurden notgedrungen<br />

aufgelöst, deren Inhaber gingen verloren und kommen kaum<br />

zurück. Die Angst vor der Pandemie wird diese selbst noch<br />

überleben. Je mehr jetzt geschieht, je mehr Publikum jetzt<br />

kommt, umso mehr wird auch später wiederkommen. Was<br />

man in dieser eingeschränkten Zeit anbietet, darf die künstlerische<br />

Qualität unter keinen Umständen verlieren. Sonst<br />

haben wir auch die Zukunft fast schon verloren.<br />

„kulTOUR Holender“ auf<br />

ServusTV Deutschland:<br />

13.11., 23:35 Uhr und 15.11., 9 Uhr:<br />

Bern – die verkannte Hauptstadt<br />

22.11., 9 Uhr: Palermo – Wiedergeburt einer Kulturstadt<br />

29.11., 9 Uhr: Genf – Im Spiegel der Hugenotten<br />

Weitere Informationen unter: www.servustv.com<br />

AB DEZEMBER<br />

KÖLN WRITTEN ON SKIN<br />

Eine verstörende Oper bringt der Regisseur<br />

Benjamin Lazar auf die Bühne. George<br />

Benjamin, dessen Kompositionen von visuellen<br />

und literarischen Eindrücken geprägt sind, ließ<br />

sich ein Libretto von dem Dramatiker Martin<br />

Crimp schreiben. Crimps Dramen zeichnen<br />

sich durch einen pessimistischen Zug aus. Für<br />

Written on Skin griff er auf Le cœur mangé (Das verspeiste Herz) des<br />

okzitanischen Troubadours Guilhem de Cabestanh zurück. Dieser fasst<br />

darin eine seit Jahrhunderten erzählte Dreiecksgeschichte in Verse, in<br />

der der Liebhaber am Ende getötet wird und der Ehemann seine Frau<br />

das Herz des Verstorbenen essen lässt. Etwas Archaisches ist dem Stoff<br />

eigen, das vorkulturelle Schichten im Menschen berührt und gleichermaßen<br />

abstößt wie fasziniert. Benjamin bringt das Mythische auch in<br />

seiner Musik zum Ausdruck. So schreibt er nicht nur eine Glasharmonika,<br />

sondern für die Rolle des Engels, der in das Leben des Ehepaars<br />

eingreift, auch einen Countertenor vor, dessen hoher Gesang etwas<br />

Übernatürliches hat. Die Rolle übernimmt Cameron Shahbazi (Foto).<br />

Das Ehepaar wird von Robin Adams und Jenny Daviet verkörpert. Die<br />

musikalische Leitung liegt von den Händen von François-Xavier Roth.<br />

Köln, Oper, 1., 3., 5. und 9.12., www.oper.koeln/de<br />

31. JANUAR UND 1. FEBRUAR<br />

BERLIN MÁ VLAST<br />

In einem Akt ungeheurer Willensanstrengung<br />

und nationaler Aufbruchstimmung nahm<br />

Bedřich Smetana zehn Jahre vor seinem Tod<br />

den sinfonischen Zyklus Má Vlast (Mein<br />

Vaterland) in Angriff. Er litt damals bereits<br />

schwer an den Symptomen seiner unbehandelten<br />

Syphilis. In seinen Tagebüchern schreibt er<br />

von quälendem Ohrensausen, Schwindel und der raschen Abnahme des<br />

Hörvermögens, Symptome, die in Sprachstörungen, zunehmender<br />

Verwirrung und schwerer Abmagerung mündeten und 1884 zu seinem<br />

Tod führten. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin bringt den<br />

gesamten Zyklus zur Aufführung – vom frühen Glanz der Königsburg<br />

Vyšehrad über die Sage von der Maid Šárka, die allen Männern Rache<br />

für die Untreue ihres Geliebten schwört, und der Unerschrockenheit<br />

der Gotteskämpfer bis zum Aufmarsch des ganzen Volkes. Am Pult<br />

steht Ingo Metzmacher.<br />

Berlin, Philharmonie, www.dso-berlin.de<br />

AB JANUAR<br />

FRANKFURT AM MAIN, FEDORA<br />

Umberto Gordano gilt als der letzte Verist.<br />

Nach Leoncavallo, Puccini und Mascagni wurde<br />

er zum Vertreter jener „jungen italienischen<br />

Schule“, die Wahrheit statt Schönheit auf der<br />

Opernbühne forderte. 1896 ließ ihn der<br />

glanzvolle Erfolg seines musikalischen Dramas<br />

André Chénier an der Mailänder Scala schlagartig<br />

berühmt werden. Ihm folgte zwei Jahre darauf am Teatro Lirico in<br />

Mailand mit ebensolchem Erfolg das Melodram Fedora, das zurückführt<br />

ins St. Petersburg der 1880er-Jahre. Das Libretto von Arturo Colau<br />

basierte auf einem historischen Drama von Victorien Sardou, bei dem<br />

sich auch Camille Saint-Saëns und Jacques Offenbach ihre Stoffe holten.<br />

Enrico Caruso, der an der Seite von Gemma Bellincioni die Rolle von<br />

Loris Ipanow verkörperte, bescherte das Werk mit der Arie Amor ti<br />

victa den Aufstieg zum international gefeierten Tenor. In der Folge<br />

geriet es jedoch weitgehend in Vergessenheit. In einer konzertanten<br />

Aufführung kommt es, musikalisch geleitet von Carlo Montanaro, mit<br />

Olesya Golovneva (Foto) in der Partie der Fürstin Fedora Romanow<br />

und Andrea Carè erneut auf die Bühne.<br />

Frankfurt am Main, Oper, 17.1. (Premiere) sowie 7., 12., <strong>20</strong>. und 26.2.,<br />

www.oper-frankfurt.de<br />

66 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FOTOS: MINDO CIKANAVIČIUS; NANDA HAGEMAARS; PETER ADAMIK; KERSTIN KUEHNE; BENNO HUNZIKER; FELIX BROEDE; CHARLES LIMA; HANS SCHERHAUFER; HARALD KRICHEL; MORLIER; CHRISTIAN MAI; ROBERTO MASOTTI; PIACLODI; ZEUGHAUSKINO<br />

1 bis 5. <strong>Dezember</strong>, Berlin<br />

Beethoven im Kino<br />

„Beethoven – Tage aus einem<br />

Leben“: Donatas Banionis<br />

Der Film stürzte sich von Beginn an auf Beethoven. Bereits 1917<br />

kam mit Fritz Kortner als Beethoven die Stummfilmbiografie Der<br />

Märtyrer seines Herzens von Emil Justitz heraus. Zehn Jahre darauf<br />

stand Kortner in dem Stummfilm Beethoven von Hans Otto<br />

Löwenstein abermals vor der Kamera. 1936 zeigte Abel Gance in<br />

Un grand amour de Beethoven (Beethovens große Liebe) mit<br />

Harry Baur in der Hauptrolle eine melodramatische Geschichte<br />

von Beethovens Ertaubung. Und 1949 spielte Ewald Balser in<br />

Walter Kalm-Veltées Film Eroica Schicksalsszenen Beethovens aus<br />

den Jahren zwischen der Fünften und Neunten Sinfonie. „Vom<br />

Klang bewegt. Das Kino und Ludwig van Beethoven“ lautet der<br />

Titel einer von dem Filmwissenschaftler Stephan Ahrens kuratierten<br />

Retrospektive von Beethoven-Filmen. Vielfältig sind jene<br />

Filme, in denen Beethoven und seine Musik eingesetzt wurden,<br />

um andere Themen zu verhandeln. So weckte etwa der britische<br />

Dokumentarfilmer Humphrey Jennings in The Heart of Britain<br />

1941 mit Beethoven Hoffnung auf ein Ende des Krieges. 1950<br />

setzte Ingmar Bergman in seinem filmischen Künstlerdrama Till<br />

glädje (An die Freude) Beethovens Neunte Sinfonie im läuternden<br />

Ende einer zerstörerischen Beziehungsschlacht ein. Und 1976<br />

brachte der DEFA-Film aus der DDR Beethoven – Tage aus einem<br />

Leben von dem Dichter Günter Kunert und dem Regisseur Horst<br />

Seemann den Komponisten als zeitgenössische Identifikationsfigur<br />

auf die Leinwand. Auch in den Avantgarde-Film fand Beethoven<br />

Eingang. Werner Schroeter stellte 1968 in seinem experimentellen<br />

Film Paula – Je reviens eine Cembalosonate Antonio Solers<br />

gegen eine Violinsonate Beethovens. Begleitend zur Filmreihe gibt<br />

Ahrens einen gleichnamigen Sammelband heraus.<br />

Berlin, Zeughauskino, www.dhm.de/zeughauskino<br />

FOTO: GÄRTNERPLATZTHEATER<br />

Opernreise nach Leipzig<br />

FRÜhwERkE vOn<br />

rIcharD<br />

Wagner<br />

18.–21. JunI <strong>20</strong>21<br />

• 3 x Übernachtung inkl. Frühstück in einem<br />

4* Innenstadthotel<br />

• je 1 Eintrittskarte für folgende Aufführungen:<br />

»Die Feen«, »Rienzi«, »Das Liebesverbot«<br />

• touristisches Rahmenprogramm vor Ort<br />

Preis pro Person im DZ ab 749,- €<br />

Informationen und Buchung unter<br />

www.leipzig.travel/reiseangebote oder incoming@ltm-leipzig.de<br />

SCHLOSS<br />

FEST<br />

SPIELE<br />

6. MAI–<br />

11. JULI<br />

<strong>20</strong>21<br />

MUSIKSTaDT :LeIPZIg<br />

LUDWIGSBURGER SCHLOSSFESTSPIELE<br />

INTERNATIONALE FESTSPIELE BADEN-WÜRTTEMBERG<br />

LUDWIGS<br />

BURG<br />

FESTIVAL<br />

KARTEN & INFO<br />

SCHLOSSFESTSPIELE.DE<br />

07141 939 636<br />

67


E R L E B E N<br />

ab <strong>Dezember</strong>, Duisburg<br />

Spiel im Spiel<br />

Ein Marionettentheater im Haus seines Freundes, des Dichters<br />

Federico García Lorca, regte Manuel de Falla zu seinem Operneinakter<br />

El retablo de Maese Pedro an. Den Auftrag erhielt er von<br />

der Pariser Prinzessin Edmond de Polignac, die das Stück in ihrem<br />

Salon aufführen lassen wollte. De Falla, der in seiner Komposition<br />

volksmusikalische Elemente mit Klängen und Rhythmen verwebt,<br />

schrieb auch das Libretto. Er wählte eine Episode aus Miguel de<br />

Cervantes’ Roman Don Quijote und gestaltete daraus ein Spiel im<br />

Spiel. Don Quijote ist Zuschauer eines Puppenspiels, das Meister<br />

Pedro mit seinen Marionetten gibt. Die Handlung sagt ein kleiner<br />

Junge im psalmodierenden Ton spanischer Geschichtenerzähler an.<br />

Sie dreht sich um die Tochter Karls des Großen, die schöne<br />

Melisendra, die im Morgenland gefangen ist und deren Gatte<br />

Gayferos sich aufmacht, sie zu befreien. Don Quijote aber vermag<br />

Spiel und Wirklichkeit nicht zu trennen. Er fühlt den Ritter in sich<br />

angesprochen und fällt mit gezücktem Schwert über die Marionetten<br />

her. Pedro ist verzweifelt über seine geköpften Marionetten.<br />

Aber Don Quijote ist zufrieden über die Rettung des Paares und<br />

widmet seinen Sieg der schönen Dulcinea. Die Regisseurin Ilaria<br />

Lanzino, der Filmemacher Torge Möller sowie das Düsseldorfer<br />

Marionetten-Theater, das in seinen Spielplänen auch Musiktheaterstücke<br />

zeigt, setzen die Oper mit Sängern und dem Orchester des<br />

Düsseldorfer Opernhauses in Szene. Die musikalische Leitung liegt<br />

in den Händen von Ralf Lange. Als Vorspiel gibt es Ausschnitte aus<br />

den Danses concertantes von Igor Strawinsky, der bei der Uraufführung<br />

der Oper 1923 mit Picasso im Publikum saß. Pedros Puppentheater<br />

ist als Wagenbühne konzipiert. Gespielt wird „halboffen“,<br />

das heißt, die Spieler der Marionetten stehen hinter den Kulissen,<br />

sodass ihre Hände, die die Fäden führen, sichtbar sind. Möller filmt<br />

das Marionettenspiel sowie die Reaktionen Don Quijotes und zeigt<br />

den Zusammenschnitt auf einer Leinwand.<br />

Duisburg, Theater, 4., 5., 13. und 25.12., www.theater-duisburg.de<br />

Karl der Große,<br />

der Vater der<br />

schönen Melisendra<br />

FOTO: DÜSSELDORFER MARIONETTEN-THEATER<br />

16. JANUAR<br />

DORTMUND, FRÉDÉGONDE<br />

Mit einem Kuriosum beginnen die Feierlichkeiten<br />

zum 100. Todestag von Camille Saint-Saëns.<br />

Erstmals kommt die Oper Frédégonde in<br />

Deutschland auf die Bühne. 1895 übernahmen<br />

Saint-Saëns und Paul Dukas die Aufgabe, die<br />

Oper ihres über der Arbeit verstorbenen<br />

Komponistenfreundes Ernest Guiraud zu<br />

vollenden. Die Oper basiert auf dem literarisch-historischen Werk<br />

Récits des temps mérovingiens (Erzählungen über die Merowingerzeit)<br />

<strong>20</strong>.8. – 10.9.<strong>20</strong>21<br />

VORVERKAUF AB<br />

30. NOVEMBER<br />

www.beethovenfest.de | Tickets +49(0) 228 - 50 <strong>20</strong> 13 13<br />

des Schriftstellers Auguste Thierry, einer Szenenfolge des blutigen<br />

Zusammenstoßes zwischen dem Barbarentum und der sterbenden<br />

antiken Kultur mit ausführlichen Schilderungen der Hoffeste, Bruderzwiste<br />

und Sitten des Adels. Das Libretto von Louis Gallet stützt sich<br />

auf die Ereignisse und Intrigen, die nach dem Tode Chlotars I. das<br />

Merowingerreich infolge der Aufteilung unter Chilperich, Sigebert,<br />

Gunthram und Charibert erschütterten. Chilperich, der als perfide und<br />

gewalttätig beschrieben wird und in wehmütigen Gedanken dem<br />

Zusammenbruch der alten Kultur nachhängt, lässt auf Drängen seiner<br />

Konkubine Fredegunde seine Frau Galswintha ermorden. Dessen<br />

Schwester Brunhild fordert daraufhin ihren Gemahl Sigebert zur Rache<br />

auf. Doch Fredegunde gelingt es, Sigebert und auch den zweiten Mann<br />

Brunhilds zu beseitigen. Als Guiraud starb, lagen nur die ersten drei<br />

Akte vor. Dukas übernahm ihre Orchestrierung, und Saint-Saëns<br />

komponierte die letzten beiden Akte. Am 18. <strong>Dezember</strong> 1895 wurde<br />

Frédégonde an der Pariser Oper uraufgeführt. Es kam jedoch nur zu acht<br />

weiteren Aufführungen. Dann verschwand die Oper vom Spielplan.<br />

Gallet hatte in seinem Libretto die archaisierende Sprache Thierrys<br />

übernommen, und die Musik wurde als uneinheitlich und dem Stil<br />

Guirauds, der bekannt war für seine orchestralen Rezitative zu Bizets<br />

Carmen und Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, fremd empfunden. Die<br />

Oper Dortmund bringt das Werk in Zusammenarbeit mit dem<br />

Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française in<br />

Venedig, das auch die Partituren herausgab, auf die Bühne. Marie-Eve<br />

Signeyrole setzt sie mit Marie Karall / Hyona Kim als Frédégonde,<br />

Mandla Mndebele als Hilpéric, Anna Sohn als Brunhilda, Pene Pati als<br />

Mérowig und Gabriel Feltz am Pult in Szene.<br />

Dortmund, Theater, 16. (Premiere) und 23.1., 13.2., 28.3., 16.4. sowie<br />

13. und 27.5., www.theaterdo.de<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21<br />

crescendo_Dez_<strong>20</strong>.indd 1 <strong>20</strong>.10.<strong>20</strong><strong>20</strong> 10:52:54


12. UND 13. FEBRUAR<br />

BADEN-BADEN SÃO PAULO DANCE<br />

COMPANY<br />

FOTOS: MINDO CIKANAVIČIUS; NANDA HAGEMAARS; PETER ADAMIK; KERSTIN KUEHNE; BENNO HUNZIKER; FELIX BROEDE; CHARLES LIMA; HANS SCHERHAUFER; HARALD KRICHEL; MORLIER; CHRISTIAN MAI; ROBERTO MASOTTI; PIACLODI<br />

Dem Erfahren von Zeit in ihren verschiedenen<br />

Bedeutungen widmet sich Cassi Abranches in<br />

ihrer Choreografie Agora (Jetzt). Mit afro-brasilianischen<br />

Perkussionrhythmen von Sebastian<br />

Piracés gestaltet sie Aspekte des Vergehens<br />

und Werdens wie Erinnerungen und Erwartungen.<br />

Das kurze, helle Aufleuchten eines Sterns<br />

vor seinem Erlöschen inspirierte Martin Goecke zu choreografischen<br />

Reflexionen über Leben und Tod. Supernova zur Musik der Band Antony<br />

and the Johnsons um die Sängerin und Pianistin Anohni zeigt Leben und<br />

Tod als Kontrast von Licht und Dunkel, Auftauchen und Verschwinden.<br />

Anthem (Hymne, Foto), die Choreografie von Goyo Montero, reflektiert<br />

den Prozess des Aufbaus und Abbaus kollektiver Identitäten. Seine<br />

Arbeit versteht er als Mahnung an den immer gleichen Fehler der<br />

Menschen, zu denken, wir seien voneinander getrennt und verschieden,<br />

während wir doch in Wahrheit eine einzige Gruppe sind, die Menschheit.<br />

„Sobald wir diese Einheit verlieren, beginnen die Probleme“,<br />

betont er. Owen Belton, mit dem Montero bereits mehrere Arbeiten<br />

realisierte, schuf ein Lied für ihn. Dabei greift er zurück auf Lieder, die<br />

zu Hymnen wurden. Montero setzt ihnen die menschliche Stimme<br />

entgegen: „Die menschliche Stimme wird zum Lied, und dieses Lied<br />

wird etwas, mit dem wir uns identifizieren.“<br />

Baden-Baden, Festspielhaus, www.festspielhaus.de<br />

10. UND 12. FEBRUAR<br />

BERLIN DER SILBERSEE<br />

An gleich drei Theatern, dem Alten Theater in<br />

Leipzig, dem Städtischen Theater in Magdeburg<br />

und dem Stadttheater in Erfurt, fand am 18.<br />

Februar 1933 die Uraufführung von Kurt Weills<br />

Musiktheater Silbersee statt. Zweieinhalb<br />

Wochen davor hatte Hitler die Macht ergriffen.<br />

Vier Tage nach der Uraufführung flüchtete<br />

Weill nach Frankreich. Der Silbersee wurde verboten. Der Reichstagsbrand<br />

zehn Tage darauf markierte das Ende der Weimarer Republik.<br />

Der Dramatiker Georg Kaiser hatte das Stück über Freundschaft,<br />

Staatsgewalt und Privatbesitz extra für Weill geschrieben. Die Ballade<br />

Césars Tod wurde als satirische Attacke auf Hitler gewertet. Die<br />

Komische Oper entreißt das Stück mit Schauspielern des Berliner<br />

Ensembles und dem Vocalconsort Berlin dem Vergessen. Die musikalische<br />

Leitung übernimmt HK Gruber, und die szenische Einrichtung<br />

besorgt Tilo Nest.<br />

Berlin, Komische Oper, www.komische-oper-berlin.de<br />

9. DEZEMBER<br />

FRANKFURT AM MAIN 40 GESCHENKE<br />

Mit 40 Kurzkompositionen rund um das Thema<br />

„Winter – Weihnachten – Zeremonie“ feiert das<br />

Ensemble Modern das 40. Jubiläum seines<br />

Bestehens. Um das Ideal einer demokratischen<br />

Arbeitsweise zu verwirklichen, fanden sich 1980<br />

Studenten der Jungen Deutschen Philharmonie<br />

zusammen. Bis heute werden alle Projekte<br />

basisdemokratisch entschieden und umgesetzt. Zur besonderen<br />

Arbeitsweise des Ensembles gehört der intensive Austausch mit<br />

Komponisten. Zahllose Werke brachten die Musiker im Laufe der Jahre<br />

zur Uraufführung. „Los, einfach machen!“, lautete dabei das Credo. Zu<br />

den Gratulanten im Jubiläumskonzert gehören u. a. Mark Andre, Brian<br />

Ferneyhough, Georg Friedrich Haas, Enno Poppe, Olga Neuwirth, Steve<br />

Reich, Johannes Maria Staud und Salvatore Sciarrino. Als musikalischen<br />

Leiter haben die Musiker Ingo Metzmacher eingeladen. Die Moderation<br />

übernimmt der Schriftsteller Ilija Trojanow (Foto). Und mit den 40<br />

Kompositionen bringt das Ensemble auf dem hauseigenen Label, das in<br />

diesem Jahr sein <strong>20</strong>. Jubiläum begeht, auch ein Album heraus.<br />

Frankfurt am Main, Alte Oper, www.ensemble-modern.com<br />

MAX<br />

KLINGER<br />

und das Kunstwerk<br />

der Zukunft<br />

bis 31. Januar <strong>20</strong>21 in Bonn<br />

Kunst- und Ausstellungshalle<br />

der Bundesrepublik Deutschland<br />

www.bundeskunsthalle.de<br />

In Kooperation mit<br />

100 JAHRE<br />

SALZBURGER FESTSPIELE<br />

IM KINO<br />

Fidelio<br />

21./22.11.<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

die zauberflöte<br />

05./06.12.<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

erstmalig im kino!<br />

Jetzt tickets sichern unter<br />

www.salzburgimkino.de<br />

WWW.SALZBURGIMKINO.DE<br />

Max Klinger Beethoven (Ausschnitt), 1902, Museum der bildenden Künste Leipzig, Foto: © InGestalt/Michael Ehritt<br />

69


E R L E B E N | A N Z E I G E N<br />

13. – 15.05.<strong>20</strong>21<br />

30. INTERNATIONALES<br />

LÜBECKER<br />

KAMMERMUSIKFEST<br />

Freunde der Kammermusik<br />

können sich auf musikalische<br />

Leckerbissen mit international<br />

bekannten Interpreten wie dem<br />

Klavierduo Trenkner & Speidel,<br />

den Cello-Virtuosen Quattrocelli,<br />

dem Vogler-Quartett, dem<br />

Lübecker Trio ClariNoir von der<br />

Lübecker Musikhochschule, Maria<br />

Kliegel & Oliver Triendl sowie den<br />

Ausnahme-Pianisten Haiou Zhang<br />

freuen. Als Besonderheit ist<br />

anlässlich des dänisch-deutschen<br />

Kulturjahres der Freundschaft<br />

auch das Morten-Kargaard-Septett<br />

dabei.<br />

+49-(0)451-642 64<br />

ETrenkner@aol.com<br />

www.scharwenka.de<br />

01. – 09.05.<strong>20</strong>21<br />

BRAHMS-FESTIVAL<br />

LÜBECK<br />

„Ganz Ohr!“ Selbstverständlich<br />

scheint es zu sein, das Hören.<br />

Dabei ist es so erstaunlich! Wie<br />

existenziell es werden kann, zeigt<br />

das Beispiel Beethoven. Seine<br />

Musik steht <strong>20</strong><strong>20</strong> im Mittelpunkt<br />

des Brahms-Festivals der<br />

Musikhochschule Lübeck. Hören<br />

Sie hin. Hören Sie neu. Seien Sie<br />

ganz Ohr!<br />

Sinfoniekonzert in der MuK /<br />

Themenkonzerte am Abend /<br />

Hören am Nachmittag / Lunchtime-Concerts<br />

/ Matineen &<br />

Impulse am Morgen / Nacht der<br />

Wahrnehmung / Musik im<br />

öffentlichen Raum / Edu!cation:<br />

Workshops zum Mitmachen.<br />

+49-(0)451-150 50<br />

brahmsfestival@mh-luebeck.de<br />

www.brahms-festival.de<br />

25.06. – 04.07.<strong>20</strong>21<br />

10. UNERHÖRTES<br />

MITTEL-<br />

DEUTSCHLAND<br />

Schirmherr ist Ministerpräsident<br />

Dr. Reiner Haseloff. Bei 14<br />

Konzerten an musikhistorisch<br />

bedeutsamen Orten erklingen<br />

Werke überwiegend unbekannter<br />

Komponisten, interpretiert von<br />

exzellenten Solisten, Kammerensembles,<br />

Organisten und Chören.<br />

+49-(0)1577-23 81 236<br />

info@strassedermusik.de<br />

www.strassedermusik.de<br />

12.12.<strong>20</strong><strong>20</strong> – 06.01.<strong>20</strong>21<br />

TIROLER FESTSPIELE ERL<br />

Im Zentrum der Winterfestspiele<br />

steht die Neuinszenierung von<br />

Gaetano Donizettis Don Pasquale.<br />

+43-(0)5373-810 00 <strong>20</strong><br />

karten@tiroler-festspiele.at<br />

www.tiroler-festspiele.at<br />

18.06. – 10.07.<strong>20</strong>21<br />

FESTSPIELE IM<br />

SCHLOSSGARTEN<br />

NEUSTRELITZ<br />

Carmen, die Opéra comique von<br />

Georges Bizet, fasziniert uns bis<br />

heute. Der angepasste Sergeant<br />

Don José trifft auf die schöne<br />

Zigeunerin Carmen. Wie kein<br />

anderes Stück bietet Carmen die<br />

Möglichkeit für aufregendes und<br />

unterhaltsames Theater unter<br />

freiem Himmel im Schlossgarten<br />

Neustrelitz mit großem Ensemble.<br />

Mit den Solisten des Musiktheaters<br />

und dem Opern- und<br />

Extrachor der TOG sowie der<br />

Deutschen Tanzkompanie und der<br />

Neubrandenburger Philharmonie.<br />

+49-(0)3981-<strong>20</strong> 64 00<br />

serviceNZ@tog.de<br />

www.tog.de<br />

Musik im Wormser Lutherjahr <strong>20</strong>21<br />

Die Stadt Worms und die Evangelische Kirche in Hessen und<br />

Nassau haben anlässlich der 500. Wiederkehr von Luthers Widerrufsverweigerung<br />

auf dem Wormser Reichstag von 1521 ein<br />

umfangreiches und vielfältiges Gesamtprogramm von April bis<br />

Oktober <strong>20</strong>21 geplant. Es beinhaltet über 80 Einzelveranstaltungen,<br />

darunter auch mehrtägige wie die Nibelungen-Festspiele mit<br />

der Uraufführung eines Lutherstücks aus der Feder von Lukas<br />

Bärfuss und die Landesausstellung Hier stehe ich. Gewissen und<br />

Protest – 1521 bis <strong>20</strong>21, die von April bis Oktober im Städtischen<br />

Museum im Andreasstift gezeigt wird. Ein Programmheft, das<br />

unter www.worms-luther.de fortlaufend ergänzt wird, stellt die<br />

Veranstaltungen nach den Sparten Konzerte, Theater, Ausstellungen,<br />

Kino, Vorträge, Kirche und Führungen vor.<br />

Zwischen April und Oktober wird auch zu zahlreichen Konzerten<br />

eingeladen, darunter Der Scheiterhaufen des Phönix, eine Koproduktion<br />

mit der Wormser Partnerstadt Parma, die am<br />

9. Juli ausgehend von Giordano Bruno das Thema „Gewissen und<br />

Protest“ bearbeitet, und mit dem Oratorium Worms 1521 von<br />

Hartwig Lehr am 29. und 30. Oktober auch zwei Uraufführungen.<br />

Das umfangreiche Konzertprogramm reicht von Jazz mit dem<br />

Oscar Peterson Trio am 22. April und Musik vom Kaiserhof Karls<br />

V. mit der Capella Lutherana am 29. April über die Komposition<br />

Verley uns Frieden mit dem Landesjugendchor und dem Landes-<br />

JugendJazzOrchester am 22. Mai bis zu Konzerten der israelischen<br />

Sängerin Yael Deckelbaum am 18. September und des<br />

Ensembles Gothic Voices im Rahmen des Festivals wunderhoeren<br />

am 10. Oktober.<br />

LUTHER-JAHR<br />

<strong>20</strong>21<br />

Hier stehe ich.<br />

Landesausstellung<br />

17.4. - 31.10.<strong>20</strong>21<br />

Museum der Stadt Worms im Andreasstift<br />

Luther<br />

Nibelungen-Festspiele Worms<br />

16.7. - 1.8.<strong>20</strong>21<br />

Uraufführung vor dem Wormser Dom<br />

Der Luther-Moment<br />

Multimedia-Inszenierung<br />

17.4.<strong>20</strong>21, 23 Uhr<br />

Marktplatz Worms & per Übertragung<br />

> www.luther-worms.de<br />

70 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FOTOS: MINDO CIKANAVIČIUS; NANDA HAGEMAARS; PETER ADAMIK; KERSTIN KUEHNE; BENNO HUNZIKER; FELIX BROEDE; CHARLES LIMA; HANS SCHERHAUFER; HARALD KRICHEL; MORLIER; CHRISTIAN MAI; ASTRID ACKERMANN; PIACLODI<br />

AB DEZEMBER<br />

FRANKFURT AM MAIN LE VIN HERBÉ<br />

1938 erhielt Frank Martin vom Züricher<br />

Madrigalchor einen Kompositionsauftrag.<br />

Martin sah darin die Chance, seine lange<br />

gehegten Pläne zu verwirklichen, ein Kapitel<br />

aus Le roman de Tristan et Iseut des Romanisten<br />

und Mittelalterforschers Joseph Bédier zu<br />

vertonen. Sein Vorsatz war es, Le vin herbé<br />

nicht dramatisch, sondern episch-lyrisch anzulegen. Auch beschränkte<br />

er sich auf ein kleines Ensemble von zwölf Sängern sowie sieben<br />

Streichern und einen Pianisten und verzichtete auf groß angelegte<br />

Effekte. In 18 Bildern gestaltete er die Geschichte von der Überfahrt<br />

Tristans und Isoldes nach Cornwall, wo Isolde gegen ihren Willen König<br />

Marke heiraten soll, bis zu beider Tod und fand damit zu seiner<br />

individuellen Musiksprache. Unter der musikalischen Leitung von<br />

Markus Poschner setzt Tilmann Köhler das Oratorium mit Ian Koziara<br />

und Eleonore Marguerre (Foto) sowie Marvic Monreal in Szene.<br />

Frankfurt am Main, Oper, 3., 5. und 11.12. sowie 14., 22. und 31.1.,<br />

www.oper-frankfurt.de<br />

<strong>20</strong>. BIS 24. JANUAR<br />

BERLIN ULTRASCHALL BERLIN<br />

„Ich bin seit 17 Jahren, 36 Monaten und 2 Tagen<br />

schwanger. Ich schlafe mit dem Himmel. Ich<br />

erwarte ein Himmelsbalg ...“ Die Gedichte und<br />

die Stimme des aus dem Kongo stammenden<br />

Autors Fiston Mwanza Mujila dienen Yiran Zhao<br />

als Material für ihre Komposition oder Ekel<br />

kommt vor Essenz. Das Deutsche Symphonie-<br />

Orchester Berlin unter Karen Kamensek eröffnet damit das Festival<br />

Ultraschall Berlin. Kuratiert von Rainer Pollmann und Andreas Göbel,<br />

sucht es nach Strömungen im zeitgenössischen Musikschaffen. Sergej<br />

Newskis 18 Episoden mit Zuspielungen von Stadtklängen, gegen die die<br />

Musik sich durchsetzen muss und damit den Charakter von Straßenmusik<br />

gewinnt, stehen auf dem Programm des Rundfunk-Sinfonieorchesters<br />

Berlin unter Bas Wiegers. Solistin im Klavierkonzert von Christian<br />

Winther Christensen, das die Stille des Universums zu begreifen sucht,<br />

ist Rei Nakamura. Im Abschlusskonzert, das ebenfalls vom Deutschen<br />

Symphonie-Orchester Berlin gestaltet wird, erklingen Burr, zu denen Arne<br />

Gieshoff sich von jenen Holzpuzzles inspirieren ließ, die sich zu ineinandergreifenden<br />

Formen zusammenfügen lassen, Brunnen, Carola Bauckholts<br />

Hommage an Jean Paul, Liza Lims Orchesterfanfare Flying Banner sowie<br />

Quicksilver von Milica Djordjević (Foto). Das Werk spielt mit den Eigenschaften<br />

des Elements, seinem silbrigen Glanz und seiner Giftigkeit.<br />

Schimmernde Klanggebilde verdichten sich, bis es zum Ausbruch kommt.<br />

Berlin, verschiedene Spielorte, ultraschallberlin.de<br />

19. DEZEMBER<br />

DÜSSELDORF ROMEO UND JULIA<br />

In einer schwierigen Zeit komponierte Boris<br />

Blacher seine Kammeroper Romeo und Julia.<br />

1943 lebte er in Berlin, wo er als sogenannter<br />

Vierteljude gerade noch geduldet war, und<br />

seine Tuberkulose, mit der er sich bei einer<br />

russischen Tänzerin angesteckt hatte, brach<br />

wieder aus. Umso beeindruckender ist die<br />

„leichte Hand“, die seine Komposition auszeichnet. Seinem „style<br />

dépouillé“ (enthäuteten Stil) lag die Devise zugrunde, mit einem<br />

Minimum an Anstrengung ein Maximum an Effekt zu erreichen.<br />

Shakespeares Tragödie verdichtete er auf das Schicksal der beiden<br />

Liebenden. Dabei kommt dem Solistenchor, dessen unterschiedliche<br />

Stimmen das Liebesleiden sowie das Scheitern der großen Liebe<br />

humorvoll und untergangstrunken kommentieren, eine wichtige Rolle<br />

zu. Manuel Schmitt setzt die Kammeroper unter der musikalischen<br />

Leitung von Christoph Stöcker mit Cornel Frey als Romeo und Lavinia<br />

Dames (Foto) als Julia in Szene.<br />

Düsseldorf, Oper, 19. (Premiere), 26. und 28.12., www.operamrhein.de<br />

Konzerte an Pfingsten:<br />

21. Mai <strong>20</strong>21<br />

Kammermusik mit<br />

dem Aris Quartett<br />

22. Mai <strong>20</strong>21<br />

Poetische Reise in die<br />

Welt des Maurice Ravel<br />

23. Mai <strong>20</strong>21<br />

Lied-Matinée mit Werken von<br />

Fauré, Wolf, Debussy und Strauss<br />

u.a. mit<br />

Christiane Karg (Sopran)<br />

Simon Lepper (Klavier)<br />

Dominique Horwitz (Rezitation)<br />

und dem Aris Quartett<br />

www.kunstklang-feuchtwangen.de<br />

Kartentelefon 09852 904-44<br />

Sehnsuchtsorte<br />

Die großen Bühnen,<br />

die einsame Hütte in den Bergen,<br />

Paris, Hollywood oder Wien –<br />

Momente der Sehnsucht<br />

im Leben von 53 MusikerInnen.<br />

60 Bl./54 Fotos/€ 22,–/ISBN 978-3-0360-3021-0<br />

Musiker und ihre<br />

Sehnsuchtsorte<br />

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DER<br />

MUSIK<br />

KALENDER <strong>20</strong>21<br />

Foto: Gisela Schenker<br />

www.edition-momente.com<br />

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raabe + vitali<br />

71


E R L E B E N | A N Z E I G E<br />

GROSSE GEFÜHLE<br />

IN MOLL<br />

Die Mozartwoche Salzburg <strong>20</strong>21 feiert Mozart, dessen Geburtstag am 27. Januar zum<br />

265. Mal wiederkehrt, als Musikdramatiker. „Musico drammatico“ gibt der Intendant<br />

Rolando Villazón als Motto aus. VON RUTH RENÉE REIF<br />

„Es fliegen 2999 und ½ bussel von mir, die aufs aufschnappen warten“<br />

– liebevoll und leidenschaftlich schrieb Wolfgang Amadeus<br />

Mozart in seinen letzten beiden Lebensjahren an seine Ehefrau<br />

Constanze. Shane Woodborne und Reginaldo Oliveira greifen mit<br />

der szenischen Produktion Ewig Dein Dich Liebender ... des Salzburger<br />

Landestheaters und der Camerata Salzburg die in Variationen<br />

stets wiederkehrende Schlussformel der Briefe auf. Magdalena<br />

Kožená trifft eine Auswahl an Liedern und Arien zum Thema Liebe,<br />

während Woodborne, der auch den grausamen<br />

Widerstand Leopold Mozarts gegen die<br />

Eheschließung seines Sohnes in den Blick<br />

nimmt, als Kontrapunkt zwei späte Klavierwerke<br />

voll emotionaler Düsternis wählt. All<br />

die Gefühle, mit denen Mozarts Genie die<br />

MOZARTWOCHE SALZBURG<br />

21. bis 31. Januar <strong>20</strong>21<br />

Tel.: +43-(0) 662-87 31 54<br />

tickers@mozarteum.at<br />

www.mozarteum.at<br />

Menschen bewegt, bringt zudem tänzerisch die Choreografie von<br />

Reginaldo Oliveira zum Ausdruck.<br />

„Musico drammatico“ hat Rolando Villazón das Programm<br />

überschrieben – „Was für ein passendes Festival-Motto in diesen<br />

dramatischen Zeiten!“ Angesichts der Corona-Pandemie musste er<br />

eine Adaption des Programms vornehmen. „Kunst, Musik und<br />

Kultur können in Corona-Zeiten stattfinden!“, bekräftigt Villazón.<br />

„Die Mozartwoche verfügt über ein ausgeklügeltes Schutz- und<br />

Hygienekonzept. Deshalb stehen wir mit<br />

großer Vorfreude, aber mit Bedacht vor einer<br />

besonderen Mozartwoche.“ Elf Tage lang<br />

wird Mozart als Musikdramatiker gefeiert.<br />

„In all seinen Werken war Mozart ein Meister<br />

der Dramatik und der menschlichen<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


E R L E B E N | A N Z E I G E<br />

Der Sitz der Stiftung Mozarteum Salzburg, die alljährlich die Mozartwoche veranstaltet, <strong>20</strong>21 u. a. mit Marianne Crebassa,<br />

dem Dirigenten Alain Altinoglu, Regula Mühlemann sowie dem Duo Daniel Barenboim und Martha Argerich<br />

Geschichten – in seinen Opern, Sinfonien und Konzerten.“ Ein<br />

Schwerpunkt des Programms, das auch die dramatischen Ereignisse<br />

in Mozarts Leben einbezieht, liegt auf Werken in Moll, weil bei<br />

diesen die dramatische Wirkung unmittelbar spürbar werde.<br />

Einem Werk unterschwelliger Dramatik, die in plötzlichen<br />

Ausbrüchen kulminiert, widmet sich Mitsuko Uchida mit dem<br />

Klavierkonzert KV 467 als Solistin des Mahler Chamber Orchestra.<br />

Christina Pluhar schlägt mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und dem<br />

Bachchor Salzburg einen spannungsreichen Bogen von der Missa<br />

brevis KV 65, die Mozart mit zwölf Jahren komponierte, zum<br />

Requiem KV 626, über dem er starb. Und das Freiburger Barockorchester<br />

gastiert mit Werken, in denen die strahlende Schönheit<br />

von Mozarts Musik ihren Ausdruck findet. Die Leitung hat der<br />

Pianist Kristian Bezuidenhout inne, und Solist ist der Tenor Daniel<br />

Behle. Sir András Schiff wählt für seine Konzerte mit seiner Cappella<br />

Andrea Barca zwei Klavierkonzerte, die eine bedeutsame Dramatik<br />

in Mozarts Leben anklingen lassen: das Klavierkonzert KV 271 aus<br />

dem Jahr 1777, das letzte Konzert, das Mozart in Salzburg schrieb,<br />

bevor er den Plänen seines Vaters den Rücken kehrte und das Klavierkonzert<br />

KV 595, dessen Uraufführung zum letzten öffentlichen<br />

Auftritt Mozarts wurde. Einen wenig bekannten Aspekt von Mozarts<br />

Œuvre beleuchtet Schiff in seiner Mozartiade. Mit Solisten widmet<br />

er sich sämtlichen Liedern Mozarts.<br />

Auch gänzlich Unbekanntes steht auf dem Programm. Zum<br />

Auftakt gestalten der Pianist Robert Levin und der Moderator Ulrich<br />

Leisinger mit nur als Fragment existierenden oder verschollenen<br />

Kompositionen 94 Sekunden neuer Mozart. Und das Mozarteumorchester<br />

Salzburg unter Riccardo Minasi rekonstruiert das Debütkonzert,<br />

das Mozarts Sohn Franz Xaver Wolfgang 1805 mit 13 Jahren<br />

im Theater an der Wien gab. Zur Aufführung kommt neben einer<br />

wiederaufgefundenen Kantate des Sohnes auch eine Komposition<br />

des Vaters: das Klavierstück KV 626 b / 16, das die Stiftung Mozarteum<br />

Salzburg ankaufte. Robin Ticciati stellt mit dem Chamber<br />

Orchestra of Europe den Kontrast von Hell/Dunkel in Mozarts<br />

Musik heraus. Solistin in dem Vokalwerk Exsultate jubilate KV 165<br />

ist die Sopranistin Regula Mühlemann. Ein Pasticcio zum Thema<br />

Szenen einer Ehe entwirft Thomas Hengelbrock mit dem Balthasar-<br />

Neumann-Ensemble sowie der Sopranistin Katharina Konradi und<br />

dem Tenor Jonathan Abernethy. Ein überwältigendes Geschenk der<br />

Liebe bereitete Mozart seiner Constanze zur Geburt ihres ersten<br />

Kindes mit der c-Moll-Messe KV 427. Alain Altinoglu leitet die Wiener<br />

Philharmoniker bei ihrer Aufführung.<br />

Seit über 70 Jahren kennen sie einander, und seit rund zehn<br />

Jahren treten sie gemeinsam auf: Daniel Barenboim und Martha<br />

Argerich. „Ich habe sie die ganze Zeit geliebt, in jeder Hinsicht“, sagt<br />

Barenboim und betont die Freude über das gemeinsame vierhändige<br />

Musizieren. Barenboim ist zudem Solist mit dem Krönungskonzert<br />

sowie dem eindringlichen c-Moll-Konzert KV 491 und steht am Pult<br />

der Wiener Philharmoniker, die ihren Zyklus der großen Klavierkonzerte<br />

und Sinfonien fortsetzen. Arien steuert die Mezzosopranistin<br />

Marianne Crebassa bei. Nicht fehlen darf das feierliche Abschlusskonzert.<br />

Mojca Erdmann widmet sich Mozarts Konzertarien, und<br />

Václav Luks leitet das Collegium 1704 bei der Sinfonie g-Moll KV 550,<br />

einem Werk voll Leidenschaft, Gewalt und Schmerz. <br />

n<br />

73<br />

FOTOS: ISM CHRISTIAN SCHNEIDER; HOLGER KETTNER; HENNING ROSS / SONY CLASSICAL; SIMON FOWLER / ERATO / WARNER CLASSICS; MARCO BORGGREVE


E R L E B E N | A N Z E I G E<br />

FOTO: QUADRO NUEVO<br />

LEICHTIGKEIT DES SEINS<br />

Mare vermittelt mediterrane Unbeschwertheit. Das Ensemble Quadro Nuevo lässt sich<br />

von musikalischen Wellen zurück zu seinen Anfängen tragen.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Francel, Mare, das neue Album von Quadro<br />

Nuevo, weckt Träume von Sonne und glitzernden Wellen.<br />

Empfinden Sie das Meer als eine inspirierende Kraft?<br />

Mulo Francel: All die alten Mythen, die unser Abendland<br />

geprägt haben, kommen aus dem mediterranen Raum. Sie<br />

entzünden unseren Geist und unsere Geschichten. Wir befassen<br />

uns seit Langem mit der Musik der an das Mittelmeer angrenzenden<br />

Kulturräume. Von Spanien, Südfrankreich und Italien über<br />

Griechenland bis zur Levante sind wir gereist und haben uns<br />

inspirieren lassen. Anregungen aus den Musiktraditionen der<br />

Länder des ehemals biblischen Gebiets wie der Türkei, Jordaniens<br />

und Ägyptens beflügeln unsere Musik.<br />

Mare sei der friedliche und beruhigende Klang von etwas<br />

Großem, das die unterschiedlichsten Länder und Menschen<br />

vereine, beschrieb der Pianist Chris Gall das Album. Kommt da<br />

eine Hoffnung zum Ausdruck?<br />

Diese Vision haben wir als reisende Musiker immer. Wir hoffen, dass<br />

die Völker einander mit Einfühlungsvermögen und gegenseitigem<br />

Verständnis begegnen. In diesem alten Kulturkreis um das Mittelmeer<br />

herum und dem Meer als Vermittler sehe ich eine Chance für<br />

den Frieden. Es kann ein Miteinander geben. Wir müssen nur den<br />

Weg dahin finden. Die Musik hat etwas Verbindendes und Beseelendes.<br />

In diesem Sinne sehen wir unser Projekt Mare auch.<br />

Jeder Titel hat eine Geschichte. Kann man das Album als einen<br />

Rückblick auf die Geschichte von Quadro Nuevo begreifen?<br />

Dieses Album zeichnet sich durch eine große Leichtigkeit aus.<br />

Wir nahmen in den vergangenen Jahren Alben auf, bei denen wir<br />

uns mit Verve in Themen hineingruben. Für Flying Carpet zum<br />

Beispiel arbeiteten wir mit ägyptischen Musikern. Für Volkslied<br />

Reloaded hoben wir die alten Volkslieder mit Orchester auf eine<br />

neue konzertante Ebene. Diese Projekte waren großartig und mit<br />

viel Anstrengung verbunden. Mare dagegen besitzt jene Unbeschwertheit,<br />

die uns wieder zu den Anfängen von Quadro Nuevo<br />

vor 25 Jahren zurückführt. Auch die Aufnahme im Studio fiel uns<br />

leicht und bereitete große Freude.<br />

Mit Cinema Paradiso erinnern Sie an Ennio Morricone ...<br />

Morricone war ein fantastischer Komponist. Als wir das Stück im<br />

Mai einspielten, wussten wir nicht, dass es zum Nachruf werden<br />

würde. Aber sechs Wochen später starb er. Ich wollte das Stück<br />

immer schon aufnehmen. Wenn ich es spiele, ziehen vor meinem<br />

geistigen Auge die Filmbilder vorbei.<br />

Eine Hommage an das legendäre Café Groppi in Kairo bringt der<br />

Oud-Spieler Basem Darwisch, mit dem Sie einst durch Ägypten<br />

zogen. Waren Sie in dem Café?<br />

Ja, wir haben es besucht. Das Café Groppi besitzt eine wechselvolle<br />

Geschichte. Es entstand zu Anfang des <strong>20</strong>. Jahrhunderts und<br />

entwickelte sich zu einem Künstler- und Intellektuellentreff, in<br />

dem auch Musik gespielt wurde. In den 50er- und 60er-Jahren<br />

wurde es kommerzialisiert. Für Ägypter aber, die sich mit Kultur<br />

befassen, erinnert es daran, dass es einmal einen solchen Ort gab.<br />

Es leben viele kreative Musiker in Ägypten, und pars pro toto<br />

luden wir Basem Darwisch ein.<br />

Für die neapolitanische Canzone Torna a Surriento greifen Sie<br />

zur Mandoline. Wie sind Sie auf das Instrument gestoßen?<br />

Der Klang der Mandoline fasziniert mich. Er steht für die<br />

neapolitanische Lebensart, zu improvisieren und das Leben nicht<br />

zu schwer zu nehmen. Auch das Quirlige und manchmal<br />

theatralisch Laute liegt darin. Im Tremolo<br />

der Mandoline spiegelt sich für mich die<br />

flirrende Sonne des italienischen Meeres<br />

wider.<br />

n<br />

Quadro Nuevo: Mare (GLM)<br />

Termine und Informationen: www.quadronuevo.de<br />

74 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


DOSSIER<br />

ART GOES DIGITAL<br />

Begrenzte Mittel: Maschinen können kreativ sein – Kunst können sie nicht. Von digitalen Dimensionen (Seite 78)<br />

Voller Überblick: Das neue Kulturportal foyer.de liefert das Beste aus der digitalen Klassikwelt (Seite 80)<br />

Junger Geist: Der große Itzhak Perlman ist 75. Und stellt sich der Pandemie-Herausforderung nicht ganz altersgerecht (Seite 92)<br />

Maschine. Macht. Musik<br />

VON STEFAN SELL<br />

SOLO PIÙ TUTTI<br />

Appassionato<br />

PlayGround, der<br />

Wischiwaschi-<br />

Remix: Auf dem<br />

Smartphone<br />

tauchen Quadrate und Rechtecke<br />

auf. Hinter jedem verbirgt sich ein<br />

Sound: Schlagzeug, Percussion,<br />

Bass und Synthesizer. Aus Gesten<br />

werden Grooves. Je geschickter<br />

die Finger den Optionen auf dem<br />

Display folgen, umso cooler<br />

wird der Remix.<br />

Die digitale Band: Vier Leute,<br />

vier Tablets, vier Instrumenten-<br />

Apps. Einer tippt abwechselnd auf<br />

dem Touchscreen Bassdrum und<br />

Snare, ein anderer triggert Töne<br />

mit einer Bass-App, ein Dritter<br />

bedient wechselnde Harmonien<br />

einer Gitarren-App und ein Vierter<br />

(er-)wischt die Melodie über<br />

eine Bildschirmklaviatur. Fertig<br />

ist der Popsong!<br />

ChoirMob: Digitaler Chor als musikalisches<br />

Gruppenerlebnis. Die<br />

„Sänger“ stehen mit ihren Smartphones<br />

wie ein Chor im Halbkreis<br />

um einen Bildschirm, also den<br />

Chorleiter, der eine grafische Partitur<br />

zeigt, die jeder lesen kann.<br />

Der Partitur folgend, fahren die<br />

Finger den Linien ihres Displays<br />

nach. Klingt wie ein Chor – ohne<br />

menschliche Stimmen.<br />

Commodo<br />

Misterioso<br />

Die Welturaufführung der Musik<br />

einer Spieluhr gab es 1796 in<br />

Genf. Eine mit Stiften gespickte<br />

Walze drehte sich entlang parallel<br />

liegender Metallzungen und – oh<br />

Wunder! – Ton für Ton entstand<br />

eine Melodie. Der Uhrmacher<br />

Antoine Favre (1734 –18<strong>20</strong>) kam<br />

auf die Idee, nachdem er gehört<br />

hatte, wie eine Stimmgabel klingt.<br />

Solo ist die erste Gitarre,<br />

die im Wohnzimmer steht und<br />

allein spielt. Über Smartphone<br />

mit Bluetooth verbunden,<br />

spielt die Gitarre auf Wunsch<br />

zum Beispiel selbstständig<br />

Stairway to Heaven. Unzählig<br />

kleine Kontaktpunkte und Picks<br />

für den Saitenanschlag sorgen<br />

dafür, dass das funktioniert.<br />

Ludwig Hupfeld, ein Name wie<br />

geschaffen für den Bau von<br />

Musikautomaten. Das Hupfeld-<br />

Sinfonie-Jazz-Orchestrion hupt,<br />

plingt, pfeift, klingt, scheppert,<br />

trommelt und begleitet sich<br />

selbstspielend am Klavier. Seine<br />

Phonoliszt Violina mit automatischem<br />

Geigenspiel galt 1910 als<br />

achtes Weltwunder.<br />

Automatica: Unterstützt von<br />

einer Firma für Industrieroboter,<br />

lässt der neuseeländische<br />

Komponist Nigel Stanford<br />

analoge Instrumente<br />

computergesteuert von Präzisions-Roboterarmen<br />

betätigen.<br />

Arme greifen Töne auf dem<br />

Griffbrett eines E‐Basses, schlagen<br />

Saiten an, spielen Schlagzeug,<br />

scratchen auf Turntables.<br />

Das erste Reproduktionsklavier<br />

war das<br />

Welte-Mignon.<br />

Debussy schwärmte:<br />

„Es ist unmöglich,<br />

größere Perfektion in der<br />

Wiedergabe zu erreichen als mit<br />

den Welte-Apparaten. Was ich<br />

gehört habe, hat mich in<br />

Erstaunen versetzt.“<br />

Der Musiker<br />

Bertold Meyer trägt<br />

eine Handprothese.<br />

Seine Liebe zur<br />

Electro-Musik<br />

brachte ihn auf die Idee, deren<br />

Steuerung mit einem Synthesizer<br />

zu verbinden. Nun verändert er<br />

kraft seiner Gedanken über<br />

Muskelströme Töne und macht<br />

Musik, die er denkt, hörbar.<br />

FOTOS: RUDY AND PETER SKITTERIANS / PIXABAY; RUDY AND PETER SKITTERIANS / PIXABAY<br />

75


A R T G O E S D I G I T A L<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


A R T G O E S D I G I T A L<br />

ART GOES<br />

DIGITAL<br />

Längst ist das Digitale starker Partner der Künste<br />

geworden. In der Pandemie sicherte es sogar die<br />

kulturelle Grundversorgung – und tut es noch. Das<br />

Foto entstand beim Projekt MU Worlding Worlds bei<br />

der Ars Electronica Eindhoven <strong>20</strong><strong>20</strong>.<br />

13 internationale Künstler schufen dabei alternative<br />

Schöpfungsmythen utopischer, abseitiger und<br />

unkonventioneller Welten.<br />

(Foto: Hanneke Wetzer)<br />

77


A R T G O E S D I G I T A L<br />

SEID<br />

NEUGIERIG!<br />

Durch COVID-19 beschleunigten sich die Prozesse der digitalen Revolution rapide.<br />

Auch in der Kultur war es überfällig, den neuen Möglichkeiten mit offenen Armen<br />

entgegenzueilen. Sich also den Ängsten zu stellen! Beginnt nun eine neue Ära?<br />

VON MARIA GOETH<br />

Die digitale Revolution gehört zu den zentralen Neuorientierungspunkten<br />

der Menschheitsgeschichte, wie das Ende des<br />

geozentrischen Weltbilds oder die aufkeimende Industrialisierung.<br />

Diese Momente zeichnen sich dadurch aus, dass der<br />

Mensch im veränderten Gefüge seinen neuen Platz finden muss, dass<br />

sich Werte verschieben und er sich auch unbequemen Fragen stellen<br />

muss. Als er einst bemerkte, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums<br />

ist, war das ein Schock. Heute schmunzeln wir über dieses<br />

Grauen. Für die Menschen damals war es immerhin so essenziell, dass<br />

sie Gelehrte auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Mit der Erfindung<br />

der Dampfmaschine und der Maschinisierung kam die Furcht vor der<br />

Ersetzbarkeit der eigenen Arbeitsleistung, dabei vervielfachten sich die<br />

Arbeitsplätze in den ersten Jahrzehnten der Industriellen Revolution<br />

nachweislich auf mehr als das Doppelte. Wie immer stellt sich an solchen<br />

Wendepunkten insbesondere die Frage nach der menschlichen<br />

Einzigartigkeit und Ersetzbarkeit.<br />

Auch die digitale Revolution wurde nicht allseits mit wehenden<br />

Fahnen begrüßt. Deshalb lohnt sich neben der Frage, was die Technik<br />

alles kann, besonders die, welche Auswirkungen sie auf den Menschen<br />

hat: Wo ist der neue Platz des Menschen im Digitalzeitalter? Was lernen<br />

wir über uns im Angesicht der Maschine? Was wird der Mensch wert<br />

sein? Was wird er wert gewesen sein?<br />

Und nirgends lassen sich diese Fragen besser ausfechten als im<br />

Hinblick auf die Kunst. Während die Diskussion um Chancen und<br />

Grenzen der neuen digitalen Welten in vielen Bereichen längst heiß<br />

brannte, schlief die Kunst noch lange auf einer Insel der vermeintlich<br />

Unantastbaren. Man aalte sich in der eigenen Einzigartigkeit und verpasste,<br />

sich das Digitale früh genug zum Partner zu machen: Kunst,<br />

Kreativität, schöpferische Kraft und Inspiration würden per se leibhaftige<br />

Wesen fordern. Selbst den fortschrittsoptimistischsten Menschen<br />

bereitete und bereitet zum Teil bis heute die Vorstellung, ein<br />

Algorithmus könne komponieren wie Bach, ein Roboter dirigieren wie<br />

Karajan und ein Hologramm singen wie die Callas ein gewisses Unbehagen.<br />

Weil sie fürchten, dass ihnen damit ein Stück des Urmenschlichen<br />

geraubt wird? Kreativität als letzte Bastion des Nichtmaschinisierbaren?<br />

Oder Skepsis vor einem Algorithmus, der zu lernen gelernt hat<br />

und dessen Schaffensprozess ähnlich mythisch bleibt wie der des Genies?<br />

Während viele Kulturschaffende aufgrund dieses kaum konturierten<br />

Unbehagens abgesehen von ein paar halbherzigen Videoübertragungen<br />

noch in digitaler Ignoranz verharrten, brachte COVID-19<br />

eine Zwangsbeschleunigung der digitalen Revolution. Viele Institutionen<br />

nutzten die ungewollt freie Zeit, um einen Prozess voranzutreiben,<br />

der sich sonst über mehrere Jahre vollzogen hätte. Mehr noch: Das<br />

Digitale gewährleistete weltweit die kulturelle Grundsicherung! Plötzlich<br />

war es möglich, kleine, aber richtungsweisende Stadttheaterproduktionen<br />

ebenso ins Wohnzimmer zu streamen wie die Produktionen<br />

der weltweit größten Opernhäuser. Vergleichbarkeit wurde geschaffen,<br />

Zugänglichkeit, kulturelle Teilhabe auch für Menschen, die sich sonst<br />

keine <strong>20</strong>0-Euro-Parkettkarte leisten, geschweige denn Hunderte Kilometer<br />

dafür durch die Republik fahren können. Kultur hat sich geöffnet,<br />

die Wände des Theaters sind eingerissen, eine neue Generation findet<br />

über das Digitale ihren Weg zur Kunst, und dennoch stellt keiner das<br />

Live-Erlebnis, das lebendige Darstellen etwa in Oper und Theater<br />

infrage. Ähnlich wie bei der Verbreitung des Tonträgers, des Fernsehens<br />

oder des Internets müssen die Künste nicht fürchten, verdrängt oder<br />

überrannt zu werden. Sie werden um diese Möglichkeiten erweitert<br />

und bereichert.<br />

Das Digitale ist die neue Muse des Kunstschaffenden. Mit ihr und<br />

durch sie lässt sich Inspiration gewinnen, erfinden, produzieren und<br />

Innovation schaffen. Sie ist ein Freund und Partner auf Augenhöhe, ein<br />

Türöffner zu neuen unerforschten Welten. Und dennoch: Maschinen<br />

können kreativ sein, aber sie können keine Künstler sein. Denn der<br />

Künstler schafft in seinem absichtsvollen Ausdruckswillen erst die<br />

Bedeutung. Musik ist eben doch mehr als „organisierter Klang“ oder<br />

die Kultivierung des Unerwarteten. Durch den Künstler bekommt sie<br />

ihren Gehalt, ihre Relevanz, ja ihre „Seele“.<br />

Um schließlich die Urangst der mangelnden Beherrschbarkeit<br />

des Digitalen zu überwinden, hilft nur eines: seine Technik zu beherrschen!<br />

Algorithmen sind Werkzeuge wie ein gut gebautes Musikinstrument<br />

oder die perfekt gelungene Farbmischung auf einer Palette.<br />

Der Künstler der Zukunft wird sich virtuos daran bedienen. Wenn er<br />

nicht selbst technikaffin ist, wird er einen Digitalitätsexperten an seiner<br />

Seite haben wie heute einen Bühnenbildner oder Dramaturgen. Er<br />

wird neugierig mit den digitalen Möglichkeiten spielen, wie man mit<br />

den technischen Möglichkeiten einer Geige oder mit dem Pinsel auf<br />

der Leinwand spielen kann.<br />

Und was ist nun das Urmenschliche im Angesicht der Maschine?<br />

Dem Mensch bleibt die Welt der Emotion, die der Kunst so nahesteht<br />

– durch Maschinen allenfalls simulierbar, nicht jedoch real erweckbar.<br />

Ihm bleibt vor allem aber sein Wille zur Gestaltung und zum Ausdruck.<br />

Dem Mensch gehört die Welt der Zwischentöne abseits von Null und<br />

Eins, die Komplexität durch Irrationalität, mit keinem Algorithmus<br />

errechenbar. Das im wahrsten Sinne des Wortes „Menschliche“, die<br />

einzigartige Schönheit seiner Fehlerhaftigkeit. Und dem Mensch gehört<br />

seine Neugier, die ihn im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen und<br />

allen Maschinen immer weitertreibt – bis zur nächsten Revolution. n<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Bei Alice Unchained der Universität<br />

Berkley (USA) verwandeln sich Musiker,<br />

Tänzer und die Klänge selbst in<br />

kunterbunte Avatare – inspiriert von<br />

Alice im Wunderland<br />

FOTO: THE CENTER FOR NEW MUSIC AND AUDIO TECHNOLOGIES (CNMAT)<br />

79


A R T G O E S D I G I T A L<br />

Mit FOYER (www.foyer.de) hat <strong>CRESCENDO</strong> ein brandneues und<br />

brandaktuelles digitales Kulturportal geschaffen. Ab sofort gibt es<br />

dort die besten Live-Streams, Videos und TV-Ereignisse aus Oper,<br />

Konzert und Ballett. Ausgewählt von der <strong>CRESCENDO</strong> Redaktion!<br />

Die Kulturschaffenden haben sich nicht unterkriegen lassen! Wo<br />

man auch hinsieht: In den letzten Wochen und Monaten sind beeindruckende<br />

und außergewöhnliche Digitalformate entstanden, weit<br />

über die ersten pixeligen Gehversuche in Telefonkonferenz-Kacheloptik<br />

hinaus. Häuser, die im Digitalbereich ohnehin bereits gut<br />

aufgestellt waren, haben ihr Programm erweitert und ergänzt. Ob<br />

die Wiener Staatsoper jeden Tag eine andere Opernproduktion<br />

streamte – wäre dreimal Tosca auf dem Programm gestanden, wurden<br />

auch drei verschiedene Aufzeichnungen des Werks gezeigt –,<br />

die New Yorker Philharmoniker ein digitales Mahler-Festival inklusive<br />

virtuellem New-York-Rundgang feierten oder die Opéra National<br />

de Paris mit aufwendig produzierten Kurzfilmen begeisterte<br />

(siehe S. 97) – viel Erfreuliches war und ist zu sehen.<br />

So weit, so wunderbar. Aber die Realität bringt vermutlich jeden<br />

von uns sehr schnell an seine Grenzen. Wo läuft was? Und vor allem:<br />

Wo läuft das Beste? Selbst auf den Seiten der Opernhäuser, Institutionen<br />

und Veranstalter sind sie oft gut versteckt. Sich einen Überblick<br />

über das europa- oder gar weltweite Programm zu verschaffen,<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


DAS DIGITALE KULTURPORTAL<br />

VON <strong>CRESCENDO</strong><br />

FOTOS: FINNISH NATIONAL OPERA/FOTO STEFAN BREMER; SALZBURGER FESTSPIELE/FOTO KLAUS LEFEBVRE; 3SAT/ZDF; SADLER’S WELLS THEATRE<br />

kann Tage, ja Wochen kosten. Und dann das alles auch noch im<br />

Blick zu haben, zu verwalten ... Kostet mindestens einen eigenen<br />

Kulturkalender. Klingt definitiv mühsam. Zu mühsam!<br />

Das fanden wir auch. Also hat die <strong>CRESCENDO</strong> Redaktion die Idee<br />

zum digitalen Kulturportal FOYER geboren – und umgesetzt!<br />

Bereits jetzt bietet www.foyer.de eine kuratierte Auswahl herausragender<br />

Opernaufführungen, Sinfonie- und Kammermusikkonzerte,<br />

Tanztheaterproduktionen, Musik-Dokumentationen. Kurz<br />

gesagt: alles, was der Bereich der klassischen Musik und Kultur zu<br />

bieten hat. Ein einfacher Klick auf die Live-Streams der Veranstalter<br />

oder die Videos aus den Mediatheken, ausgewählt von unserer Kulturredaktion<br />

– entspannter kann Streaming nicht sein! Das komplette<br />

Klassikprogramm der öffentlich-rechtlichen Sender? Finden<br />

Sie bei FOYER! Thematisch sortierte Streams und Videos wie etwa<br />

ein Special zum Beethovenjahr? Finden Sie bei FOYER! Die atemberaubende<br />

Inszenierung der Salzburger Festspiele? Das spannendste<br />

Solokonzert der Saison? Finden Sie bei FOYER!<br />

Lassen Sie sich also inspirieren, verführen, einfach treiben oder<br />

filtern Sie per Suchfunktion gezielt nach Begriffen, Genres oder<br />

Künstlern. Den gewünschten Stream auswählen, Play-Button antippen<br />

und – Film ab! Probieren Sie’s gleich aus! Viel Spaß beim Stöbern,<br />

Sehen, Hören, Staunen ... FOYER – Kultur auf einen Klick! n<br />

81


A R T G O E S D I G I T A L<br />

LIEFERSERVICE<br />

FÜR VIRTUELLE WELTEN<br />

Während viele große Opernhäuser in Sachen Digitalität behäbig vor sich hin köcheln, gibt<br />

das Staatstheater Augsburg Vollgas: Es versorgt seit der Pandemie das Publikum nicht nur<br />

mit virtueller Realität im Wohnzimmer, sondern ruft für die frisch aus der Taufe gehobene<br />

Spielzeit nicht weniger als eine eigene Digitalsparte ins Leben.<br />

VON MARIA GOETH<br />

Magische Welten: Blick durch die Brille ins<br />

virtuelle Augsburger Orfeo-Elysium<br />

Vorne die in Halbschatten getauchten schroffen Silhouetten<br />

einer postapokalyptischen Großstadt mit tiefen, düsteren<br />

Straßenschluchten. Von links und rechts nähern sich<br />

hagere, in lange tiefschwarze Gewänder gehüllte Gestalten,<br />

ihre Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Doch haben sie überhaupt<br />

Gesichter? Oder sind es Untote? Der Blick zurück öffnet sich<br />

auf eine ganze Phalanx dieser Gestalten unter dem kalt flackernden<br />

Neonlicht asiatisch anmutender Leuchtreklamen …<br />

Ein bizarrer Alptraum? Nein, man befindet sich mitten in der<br />

Unterwelt aus Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice – und<br />

zwar mittels Virtual-Reality-Brille. Ja, diese ein bisschen wie schwarz<br />

getönte Taucherbrillen anmutenden Kästchen, die man sonst nur<br />

von Computerspiel-Freaks kennt. André Bücker, Intendant des<br />

Staatstheaters Augsburg, hat für seine Inszenierung der Gluck-Oper<br />

mehrere hundert solcher Brillen angeschafft. Mehrmals katapultiert<br />

er damit das Publikum während der laufenden Oper in virtuelle<br />

Parallelwelten. Noch nie wurde VR-Technik im künstlerischen<br />

Bereich in diesem Umfang eingesetzt! Und dadurch, dass jeder<br />

Zuschauer seinen Blick rundum individuell auf etwas richten kann,<br />

hat jeder auch ein einzigartiges Erlebnis. „Die Virtual-Reality-<br />

Sequenzen sind so reich und vielfältig gestaltet, da reicht einmal<br />

gucken eigentlich nicht, da kann man gar nicht alles erfassen“, verrät<br />

Bücker. „Man taucht wirklich in eine andere Dimension ein.“<br />

Als die Premiere im Mai wegen COVID-19 zunächst verschoben<br />

werden muss, stecken die Augsburger nicht den Kopf in den<br />

Sand, sondern treiben die Sache im Gegenteil mit Hochdruck voran:<br />

82 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


„WIR WOLLEN DIE LEUTE<br />

FRUSTFREI AN DIE TECHNIK<br />

HERANFÜHREN!“<br />

FOTO: HEIMSPIEL GMBH UND CHRISTIAN SCHLÄFFER; JAN-PIETER FUHR<br />

Sie produzieren weitere digitale Virtual-Reality-Formate in<br />

360-Grad-Perspektive. „Das war unglaublich aufregend“, schwärmt<br />

Bücker. „Wir haben künstlerischen Output generiert, der nicht darin<br />

bestand, irgendwelche Wohnzimmervideos zu machen oder alte<br />

Aufführungen zu streamen, sondern haben originär für den digitalen<br />

Raum neu produziert, ein echtes Repertoire für VR-Brillen<br />

aufgebaut.“ Neben dem Musiktheater ist dabei auch Tanz und Schauspiel<br />

vertreten – etwa Nikolai Gogols Tagebuch eines Wahnsinnigen<br />

oder eine Choreografie zu Maurice Ravels Boléro.<br />

Und damit diese brandneuen Inhalte auch zu ihren Zuschauern<br />

kommen, wurde kurzerhand mit einem ortsansässigen Lieferservice<br />

kooperiert. Für ein paar Stunden können sich die Augsburger<br />

eine VR-Brille mit ihrer Wunschproduktion ins Haus liefern<br />

lassen. Das Interesse war phänomenal! „Jeder weiß, dass es solche<br />

Brillen gibt, aber die wenigsten haben es je ausprobiert“, erzählt<br />

Bücker, „entsprechend riesig war die Neugier!“ Vom Lieferservice<br />

kann man sich im Prinzip auch die Flasche Wein und Essen mitbringen<br />

lassen – in der Stofftasche vom Staatstheater Augsburg.<br />

Darüber hinaus kann man sich über die Website des Theaters die<br />

Produktionen aber auch weltweit in die eigene VR-Brille holen.<br />

Bücker hat in den letzten Jahren immer wieder mit digitalen<br />

Mitteln gearbeitet, zusammen mit Programmierern, mit Videotechnik<br />

und aktuell eben mit Virtual Reality. Bei Letzterer kooperiert<br />

das Theater mit Heimspiel GmbH, einer Augsburger Produktionsfirma<br />

für Film, Design, Animation, 3-D und Audio.<br />

Der nächste Schritt war logisch: „Nachdem wir so viel Knowhow<br />

gesammelt, so viel Hardware und Software angeschafft hatten,<br />

sollte das der Grundstein sein, um weiter auf diesem Gebiet zu<br />

entwickeln, zu forschen und künstlerisch tätig zu sein. Das habe ich<br />

immer als den Auftakt zu einer fünften Sparte bezeichnet“, so<br />

Bücker. Seit September hat er sich deshalb Tina Lorenz als Projektleiterin<br />

für Digitale Entwicklung ins Haus geholt. Sie ist nicht nur<br />

erfahrene Dramaturgin, sondern wurde auch im Chaos Computer<br />

Club, der legendären europäischen Hacker-Vereinigung, sozialisiert<br />

und ist Expertin in Sachen digitales Theater.<br />

„Im kommenden halben Jahr werden wir eigentlich in jedem<br />

Monat eine Premiere in unserer Digitalsparte haben“, kündigt<br />

Bücker an. Dass er dabei in Konkurrenz zur Film- oder Computerspielindustrie<br />

tritt, fürchtet er nicht: „Wir machen echtes Digital-<br />

Theater, eine ganz spannende Form, bei der mit den Mitteln des<br />

Theaters auf digitalem Wege produziert wird. Da gibt es zwar<br />

Elemente des Gamings oder Films, aber das Fundament ist das<br />

Theater. Ich verspreche mir davon ganz neue, interessante Perspektiven<br />

für das Publikum.“<br />

Dabei ist für Bücker die größtmögliche intellektuelle Barrierefreiheit<br />

absolut zentral: „Auch Menschen, die nicht mal ihr Smartphone<br />

richtig bedienen können, sollen damit klarkommen! Wir<br />

wollen die Leute frustfrei an die Technik heranführen! Bei den<br />

VR-Brillen entführen in Augsburg nicht nur das Publikum,<br />

sondern auch die Schauspieler in andere Welten<br />

VR-Brillen ist es so: Man setzt sie auf, und das Ding spielt. Man<br />

muss keinen Knopf drücken, man muss sich nicht ins WLAN einwählen<br />

und kein Kabel einstecken – das funktioniert absolut zuverlässig“,<br />

begeistert sich Bücker. Lediglich für Epileptiker sei die VR-<br />

Technologie leider nicht geeignet.<br />

Aber läuft man dabei nicht Gefahr, dass die Technik zum<br />

Selbstzweck wird? Braucht Theater Geschmacksverstärker? Im Orfeo<br />

sind Unterwelt, Elysium und die finale Lösung durch Gott Amor<br />

ästhetisch völlig unterschiedlich gestaltet – inklusive einer interessanten<br />

interpretatorischen Überraschung, die man klassisch-analog<br />

nicht hätte erzählen können. Das ist der Punkt, der Bücker interessiert:<br />

„Es geht nicht um technische Gimmicks, sondern um dramaturgische<br />

Gedanken, die dem technischen Einsatz zugrunde liegen.<br />

Das Publikum wird buchstäblich in eine völlig neue Dimension<br />

gebracht – eine Verschmelzung zwischen Live-Theater, Live-Musik,<br />

Live-Sängern und animierter 360-Grad-Realität.“<br />

Kann es passieren, dass das Digitale irgendwann dem Live-<br />

Ereignis das Wasser abgräbt? „Das hat man, als das Fernsehen aufkam,<br />

ja auch schon befürchtet“, lacht Bücker. „Das Theater ist durch<br />

nichts zu ersetzen! Das will auch niemand! Aber es gibt inte-ressante,<br />

spannende Weiterführungen! Die können, dürfen und sollen alle<br />

nebeneinander existieren wie unterschiedliche Genres!“ n<br />

Weitere Termine von Orfeo ed Euridice <strong>20</strong><strong>20</strong>: 5., 10. und 22.12.,<br />

Termine <strong>20</strong>21 sind in Planung.<br />

Aktuelle Infos auf staatstheater-augsburg.de<br />

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A R T G O E S D I G I T A L | A N Z E I G E<br />

LANDSCHAFTEN DER TRÄUME<br />

Mit SLEEP hat Max Richter eine App kreiert, die Ruhe, Schlaf, Erholung und Konzentration<br />

spendet – auf herausragendem künstlerischen Niveau.<br />

Den Menschen<br />

Ruhe schenken<br />

im Wirbelwind<br />

des Lebens war<br />

das Ziel des legendären britischen<br />

Komponisten Max<br />

Richter. So schrieb er sein<br />

persönliches Wiegenlied für<br />

eine hektische Welt – „ein<br />

Manifest für eine langsamere<br />

Gangart des Lebens“, wie er<br />

selbst es formuliert. Acht<br />

Stunden ist sein Monumentalwerk<br />

SLEEP lang – das wohl<br />

längste je aufgezeichnete einteilige<br />

klassische Musikstück. Doch<br />

Richter erwartet nicht, dass jemand<br />

es jemals vollständig wach anhört. Er<br />

möchte in eine Landschaft der Träume<br />

entführen, in einen Bewusstseinszustand<br />

wie als kleines Baby, „mit ausgestreckten<br />

Armen, voll Vertrauen in die Welt“.<br />

Bei den Live-Aufführungen des<br />

Werkes, die bislang an so prominenten<br />

Orten wie dem Opernhaus Sydney,<br />

der Philharmonie Paris<br />

oder dem Kraftwerk Berlin<br />

stattfanden, stehen den<br />

Zuhörern Betten statt<br />

Sitzplätze zur Verfügung.<br />

Rund um den<br />

Globus wurde<br />

SLEEP mehr als<br />

eine halbe Milliarde<br />

Mal<br />

gestreamt.<br />

Nun ist das<br />

Werk in<br />

FOTO: MIKE TERRY<br />

Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon<br />

auch als individuell anpassbare App erschienen.<br />

Diese generiert neue Sequenzen aus SLEEP,<br />

um Schlaf, Meditation und Konzentration ihrer<br />

Nutzer zu fördern. Darüber hinaus stehen ein<br />

eigens komponierter Weckton, eine Tagebuchfunktion<br />

und – parallel zum Klang – eine visuelle<br />

Reise ins Sonnensystem zur Verfügung: In 36 HD-<br />

Videos lassen sich die Planeten umkreisen.<br />

„Ich will erforschen, wie das Gehirn ein<br />

Raum für die Musik sein kann, wenn unser<br />

Bewusstsein Urlaub hat“, erklärt Richter. „Wir verbringen<br />

mehr Zeit mit Schlafen als mit jeder anderen<br />

Tätigkeit – in einem durchschnittlichen Leben<br />

sind es mehrere Jahrzehnte. Welch ein wunderbarer,<br />

geheimnisvoller Teil unseres Lebens, dieser<br />

Schwebezustand zwischen Sein und Nichtsein“, so<br />

Richter. Während der Komposition tauschte er sich<br />

deshalb mit dem renommierten amerikanischen<br />

Neurowissenschaftler David Eagleman über die<br />

Gehirnfunktionen beim Schlafen aus.<br />

Angelegt ist SLEEP als große Reihe von Variationen<br />

in Anspielung auf Bachs Goldberg-Variationen,<br />

die der Barockmeister schrieb, um einem<br />

schlaflosen Grafen Ruhe und Aufmunterung zu<br />

schenken. Weitere Inspiration schöpfte Richter aus<br />

der Renaissancemusik ebenso wie aus der durch<br />

Minimalismus geprägten Drone Music der 1960er-<br />

Jahre und der elektronischen Ambient-Musik.<br />

Richter sieht alle diese Einflüsse in das Werk eingehen,<br />

„als ob es selbst von Musik träumte“.<br />

Resultat ist ein auf das Wesentliche reduzierten<br />

Klangkosmos aus Streichern, Stimme, Orgel,<br />

Klavier und Elektronik, der keine Töne oberhalb<br />

von ein paar hundert Hertz enthält: „Das bildet<br />

die akustische Umgebung eines Fötus in der<br />

Gebärmutter ab“, erklärt Richter. „Es gibt einen<br />

Beat von etwa 40 Schlägen pro Minute, das entspricht<br />

einem sehr ruhigen Ruhepuls.“ Bewusst<br />

spielt Richter in der Aufnahme auch mit Hallräumen,<br />

die an die Wahrnehmung von Musik im Ohr<br />

erinnern, wenn man gerade einschläft. Außerdem<br />

werden niedrige, elektrische Frequenzbänder im<br />

Gehirn angeregt – die Alpha-, Delta- und Thetawellen<br />

–, die für Schlaf- und Entspannungsphasen<br />

typisch sind. Mit SLEEP entstand<br />

somit die erste Gesundheits-App, die originär<br />

künstlerisches Material mit einer qualitativ<br />

hochwertigen Studio-Musikproduktion<br />

verbindet. <br />

n<br />

Die App „SLEEP by Max Richter“ gibt es<br />

im Google Play und im Apple Store.<br />

Sie ist kostenlos und erfordert kein Abo.<br />

Um die Musik zu streamen, benötigt man<br />

allerdings einen Premium-Account bei Apple<br />

Music oder Spotify.<br />

84 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Exklusive Musikreisen<br />

mit der ZEIT<br />

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Freuen Sie sich mit ZEIT REISEN auf die musikalischen Höhepunkte <strong>20</strong>21!<br />

Unsere Musikexperten begrüßen Sie herzlich und haben ein spannendes<br />

Rahmenprogramm und interessante Begegnungen für Sie ausgewählt.<br />

Mahlerfest Leipzig<br />

Sie erleben Mahlers »5. Sinfonie« mit dem Royal Concert<br />

gebouw Orchestra Amsterdam unter Fabio Luisi, die<br />

»6. Sinfonie« mit dem London Symphony Orchestra unter<br />

Sir Simon Rattle, die »9. Sinfonie« mit den Berliner Philhar<br />

monikern unter Kirill Petrenko und das Gewandhausorchester<br />

unter Andris Nelsons mit der »2. Sinfonie«.<br />

Termin: 14. – 17.5.<strong>20</strong>21 Preis: ab 1.780 €<br />

zeitreisen.zeit.de/mahlerfest-leipzig<br />

Musikstadt Hamburg<br />

Die Elbphilharmonie stellt aus architektonischer und aus<br />

kultureller Sicht ein spektakuläres neues Konzerthaus<br />

dar. Erleben Sie im großen Saal die wunderbare Joyce<br />

DiDonato oder das London Philharmonic Orchestra. Zudem<br />

wohnen Sie John Neumeiers Ballett »Ein Sommernachtstraum«<br />

in der Hamburgischen Staatsoper bei.<br />

Termin: 24. – 27.1.<strong>20</strong>21* Preis: ab 1.580 €<br />

zeitreisen.zeit.de/elbphilharmonie-hamburg<br />

Dresdner Musikfestspiele<br />

Freuen Sie sich auf Werke von Mozart und Ravel mit<br />

dem Kammerorchester Basel in der Frauenkirche und<br />

den glanz vollen Festspielauftritt der Wiener Philharmoniker<br />

unter Daniel Harding mit Mahlers »1. Sinfonie«<br />

im Kulturpalast sowie auf ein Festspielkonzert mit dem<br />

Brentano Streichquartett und Jan Vogler.<br />

Termin: 19. – 23.5.<strong>20</strong>21 Preis: ab 1.990 €<br />

zeitreisen.zeit.de/musik-dresden<br />

* Buchungsfrist: 24.11.<strong>20</strong><strong>20</strong> | Fotos: Jens Gerber, Cooper Copter, Jim Rakete<br />

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Musik-Katalog <strong>20</strong>21 vor:<br />

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Rufen Sie uns an, wir beraten Sie gern!<br />

Ihre Ansprechpartnerin: Lena König<br />

040/32 80-455<br />

www.zeit.de/musikreisen<br />

Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg<br />

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A R T G O E S D I G I T A L<br />

KOMPONIEREN<br />

FÜR JEDERMANN<br />

Apps, die versprechen, dass auch der musikalische Laie damit komponieren kann wie<br />

Beethoven oder Mozart, schießen wie Pilze aus dem Boden. Wir haben einige dieser<br />

künstlichen Intelligenzen von einer echten Komponistin testen lassen.<br />

VON CARLOTTA RABEA JOACHIM<br />

AIVA<br />

AIVA komponiert Soundtracks und ist darin<br />

erschreckend gut. Jeder kann das Programm extrem<br />

schnell und einfach bedienen, musikalische<br />

Vorbildung ist nicht notwendig. Perfekt für Menschen der Unterhaltungsbranche,<br />

die besonders schnell, besonders viel und besonders<br />

kostengünstig Musik zur Untermalung benötigen – und schade<br />

für „echte“ Komponisten der Mittelklasse, die sich ganz bald einen<br />

neuen Job suchen müssen. AIVA kann verschiedene Stile und verschiedene<br />

Besetzungen. Beeindruckend ist die Möglichkeit, ein<br />

bestimmtes Stück als Vorbild hochzuladen, an dem AIVA sich orientiert.<br />

Seine künstlerische Aussagekraft beschränkt sich derzeit zwar<br />

auf Plagiate – nichts anderes wird von menschlichen Filmkomponisten<br />

meist auch verlangt –, aber was, wenn AIVA eines Tages<br />

kreativ wird? Diese KI schläft nicht ... <br />

aiva.ai<br />

ALYSIA<br />

Das klassische Tagebuch, dem man seine Sorgen und<br />

Gefühle anvertraut, bekommt musikalische Konkurrenz:<br />

Alysia hilft auch Nicht-Notenlesern und Singverweigerern,<br />

Songs auf der Grundlage emotionaler Schlagwörter zu<br />

kreieren, sie baukastenartig zusammenzusetzen und von der App<br />

singen zu lassen. Oder seine eigene Stimme so sehr zu bearbeiten,<br />

dass sie nicht mehr peinlich klingt. Zu selbst verfassten oder – falls<br />

man einmal nicht weiß, was man seinem Tagebuch erzählen möchte<br />

– von Alysia vorgeschlagenen Texten werden verschiedene melodische<br />

Möglichkeiten generiert, die nicht originell, aber auch nicht<br />

ungenießbar klingen. Auf jeden Fall lässt sich mit Alysia ein Lied<br />

komponieren, über das Oma sich zu ihrem 80. Geburtstag freut.<br />

www.withalysia.com<br />

LUDWIG<br />

Dieses Programm muss nur mit einer Melodie gefüttert<br />

werden, die Begleitungen komponiert es selbst. Verschiedene<br />

Stile und Besetzungen sind möglich. Professionelle Komponisten<br />

verstehen vielleicht nicht, wozu so eine „Komponier-Backmischung“<br />

gut sein soll – Laien und Schülern aber ermöglicht Ludwig, in vereinfachter<br />

Form einen Kompositionsprozess zu erleben. Noten lesen<br />

sollte man für die Noteneingabe können, zur Not greift man auf<br />

Ludwigs Datenbank zurück. Schön ist, dass Ludwig die Begleitstimmen<br />

direkt ausschreibt, sodass sie ausgedruckt und mit echten<br />

Instrumenten und Gesang realisiert werden können. Zurück zur<br />

„Backmischung“: Durch das Zusammenspiel der fertigen Anteile<br />

mit den möglichen „Zutaten“ entsteht ein Lerneffekt. Somit könnte<br />

Ludwig besonders für den Musikunterricht in Schulen eine Bereicherung<br />

sein!www.write-music.com<br />

IMPRO AI<br />

Diese App ist ein kleines Improvisations-Spieleparadies<br />

für Rhythmus- und Effektfans. Vorkenntnisse sind<br />

nicht nötig, da die Bedienung intuitiv erfolgt. Die<br />

Ergebnisse klingen sehr gut, lassen sich aber nicht für die Ewigkeit<br />

einfangen. Auch können keine eingängigen Herzschmerz-Songs<br />

kreiert werden, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Einen<br />

großartigen Lerneffekt gibt es nicht, Langeweile kommt aber auch<br />

nicht auf – das sind gute Voraussetzungen für ein künstlerisches<br />

Flow-Erlebnis.<br />

www.musi-co.com<br />

A.I. DUET<br />

Hier kann jeder auf seiner Computertastatur mit<br />

einem künstlichen Improvisationspartner kommunizieren.<br />

Der Mensch fängt an, der Computer antwortet musikalisch<br />

einigermaßen sinnvoll. Damit das klingende Google-Experiment<br />

aber nicht frustriert, sollte man dem Computer unbedingt nur kleine<br />

Häppchen vorwerfen und versuchen, auf seine Antworten wiederum<br />

entsprechend selbst zu reagieren. Mit A. I. Duet lässt sich zwar nicht<br />

komponieren, doch diejenigen, die sich für Improvisation interessieren<br />

oder es wirklich lernen, sich auf alle Fälle nicht blamieren<br />

wollen, können prima damit üben.<br />

experiments.withgoogle.com/ai/ai-duet/view/<br />

CARLOTTA RABEA JOACHIM<br />

Carlotta Rabea Joachim wurde 1995 im Ruhrgebiet geboren und studierte Komposition in Detmold,<br />

Essen, Luzern und aktuell bei Prof. Moritz Eggert in München. Unter anderem gewann sie den<br />

Bundespreis Jugend komponiert und den Opus One, den Wettbewerb der Berliner Philharmoniker.<br />

Ihre Werke wurden in Europa, Südamerika und den USA aufgeführt. Ihr erstes Bühnenwerk schrieb<br />

Carlotta Rabea Joachim für die Neuköllner Oper in Berlin.<br />

Für <strong>CRESCENDO</strong> hat Carlotta Rabea Joachim Komponier-Apps getestet und damit kleine Stücke<br />

komponiert. Die Ergebnisse sowie einen ergänzenden Artikel über die Komponier-Algorithmen von<br />

David Cope finden Sie unter crescendo.de/dossiers/digital<br />

86 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Dieses Bild hat die <strong>CRESCENDO</strong><br />

Redaktion mit der Kunst-KI deepart.io<br />

„gemalt“ (siehe folgende Doppelseite).<br />

Dazu mischte sie das berühmte<br />

Beethovengemälde von Joseph Karl<br />

Stieler mit einer Speicherplatte<br />

87


A R T G O E S D I G I T A L<br />

TOTAL DIGITAL<br />

Von kleinen und großen digitalen Erfindungen, die<br />

aktuell die Musikwelt revolutionieren, das Leben erleichtern<br />

oder einfach nur richtig Spaß machen.<br />

Putzige Roboterkünstler<br />

Sie sehen nicht nur knuffig aus, sie ermöglichen auch<br />

völlig neue Konzertformate: Roboterkünstler. So trat<br />

jüngst etwa der Klavierroboter Teotronico mit seinen<br />

53 Fingern in einem Wettstreit gegen den ganz menschlichen<br />

und deshalb „nur“ zehnfingrigen italienischen<br />

Pianisten Roberto Posseda an – unter anderem mit<br />

Werken von Chopin. Im Gegensatz dazu arbeitet<br />

Shimon, der Marimba-Roboter der Georgia Tech<br />

Universität, am liebsten mit Menschen zusammen:<br />

Er komponiert gemeinsam mit seinem Erfinder Werke,<br />

singt und betätigt sich als Textdichter.<br />

www.teotronico.it<br />

Gut geraten<br />

Quiz-Apps sind in, und es gibt auch einige zur<br />

klassischen Musik. Doch die App Intermezzo der<br />

Bayerischen Staatsoper ist anders: Hier wird<br />

kein dumpfes Faktenwissen abgefragt, sondern<br />

echte Geschichten erzählt – so machen sogar<br />

falsche Antworten Spaß. Oder hätten Sie<br />

gewusst, was ein Barista mit einem Geiger<br />

gemeinsam hat oder was herauskommt, wenn<br />

man Beethovens Neunte mit Lehárs Die lustige<br />

Witwe kreuzt?<br />

www.staatsoper.de/intermezzo<br />

Geschmeidig geblättert<br />

Umblättern ist eine hohe Kunst. Das weiß jeder, der<br />

sich schon mal wegen eines Seitenwechsels beim<br />

Klimpern oder Fiedeln verhaspelte oder einen schwitzenden<br />

Notenwender neben sich sitzen hatte. Seit<br />

der Zeit digitaler Noten sollten meist Pedale Abhilfe<br />

schaffen, doch auch das ist noch nicht der letzte<br />

Schrei. Die Noten-App Beatik verspricht nun Abhilfe:<br />

Sie hört mit und blättert – ganz ohne Aufstehen und<br />

Schwitzen – exakt im richtigen Moment!<br />

beatik.com<br />

Vollendet<br />

Zum 250. Beethoven-Geburtstag hätte dieses Jahr in Bonn<br />

eigentlich dessen Zehnte Sinfonie zur Uraufführung kommen<br />

sollen – fertiggestellt von einer künstlichen Intelligenz.<br />

Coronabedingt wird die Premiere erst <strong>20</strong>21 stattfinden.<br />

<strong>20</strong>19 ließ Huawei in London bereits Schuberts Unvollendete<br />

vollenden – von einer Smartphone-KI.<br />

www.bthvn<strong>20</strong><strong>20</strong>.de<br />

88 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FOTOS: FEDERICO GIUSSANI; BAYERISCHE STAATSOPER; BEATIK; BASEHOLOGRAM; CHRIS SINGER / PARLOPHONE RECORDS LTD / DEEPART.IO; VERONIKA SEIDEL CARDOSO<br />

Mitveranstaltet<br />

Mit der neuen App PARTi kann man<br />

kulturelle Veranstaltungen in der eigenen<br />

Umgebung suchen und dabei selbst<br />

Aufgaben übernehmen – von Künstlerbetreuung<br />

bis Lichtdesign. Die lässigste Art,<br />

selbst einmal Kulturmanager zu werden!?<br />

www.tonali.de<br />

Digitaler Segen<br />

Genial gemalt<br />

Verehrte<br />

Avatare<br />

Ein lasergestütztes Hologramm lässt<br />

die große Maria Callas von den<br />

Toten auferstehen – sie geht als<br />

3-D-Avatar auf Tournee. Künftig<br />

werden so vielleicht nicht nur<br />

Stimmen, sondern auch die Bewegungen<br />

der größten Künstler für<br />

immer konservierbar sein. In Japan<br />

geht es sogar ohne menschliche<br />

Vorlage: Der Popstar Hatsune Miku<br />

ist eine rein virtuelle Figur und mit<br />

mehreren 100.000 veröffentlichten<br />

Videos eine echte Ikone. Jüngst hat<br />

ein verliebter Japaner den<br />

synthetischen Star sogar geheiratet.<br />

basehologram.com<br />

Auch in der Bildenden Kunst gibt’s reichlich Digitalspaß: wie mit der<br />

App Deepart der Uni Tübingen. Hier kann man Bilder und Fotos mit<br />

berühmten Gemälden oder anderen Fotos mixen. Achtung: Suchtpotenzial!<br />

Siehe auch das Bild auf der vorherigen Doppelseite.<br />

deepart.io<br />

Nicht nur in der Kunst werden digitale Helfer<br />

immer populärer. Im nordrhein-westfälischen<br />

Oelde spendete jüngst der Roboter-Pfarrer<br />

BlessU-2 den Gläubigen seinen Segen. Na dann<br />

steht ja auch von oberster Stelle der digitalen<br />

Zukunft nichts mehr im Wege!<br />

Mitgespielt<br />

Die App Nomad Play bringt die<br />

Idee der Playalong-CDs und Mitspielaufnahmen<br />

in eine ganz neue<br />

Dimension: Hier kann man eines<br />

aus mehr als <strong>20</strong> verschiedenen Instrumenten<br />

auswählen und es in<br />

einer Orchesteraufnahme stumm<br />

schalten, um selbst im interaktiven<br />

Klangkörper mitzuspielen – sei es<br />

mit dem Île-de-France-Nationalorchester,<br />

den Straßburger Philharmonikern<br />

oder dem Saarländischen<br />

Staatsorchester.<br />

www.nomadplay.fr<br />

Schlank.<br />

Stark.<br />

Schick.<br />

nuLine 284<br />

Der ›Hidden Champion‹ im Nubert Programm.<br />

Ein wahres Highlight in Preis/Leistung.<br />

Klangpräzision, Timing und spektakulärer<br />

Tiefgang aus nur 18 cm Frontbreite!<br />

Edles Finish in Schleiflack oder Nussbaum,<br />

das mit jedem Wohnraum perfekt harmoniert.<br />

Topqualität made in Germany.<br />

Direkt + günstig<br />

nur vom Hersteller nubert.de<br />

nuLine 284: 450/330 Watt, souveräne 31 Hertz Tiefgang. Schwarz, Weiß oder<br />

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89<br />

MEHR KLANGFASZINATION


A R T G O E S D I G I T A L<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

KLASSIK IM MEDIEN-CHECK<br />

Klassische Musik und Digitalität – geht das überhaupt zusammen?<br />

Doch, das geht! In diesen Zeiten allemal. Axel Brüggemann<br />

nimmt hier unter die Lupe, was oder wer wo wie unterwegs ist.<br />

Eine Shortlist samt Einordnung …<br />

Eine Kunst wie die Oper ist per se erfunden worden als „Multimedium“,<br />

das Musik, Text, Architektur, Tanz und Bild miteinander<br />

verbindet. Mit Digitalität allerdings scheint die Klassik doch noch<br />

ein wenig zu fremdeln. Aber die Neugier wächst. Eine persönliche<br />

Bestandsaufnahme des Digitalen in der Welt der klassischen Musik.<br />

SOCIAL MEDIA<br />

In der Klassik dauert vieles ein wenig länger, so auch die Social-<br />

Media-Präsenz von Häusern und Künstlern. Hauptmarktplatz der<br />

virtuellen Welt ist dabei für viele noch immer das inzwischen fast<br />

schon ein wenig altmodisch anmutende Medium Facebook. Hier<br />

sind inzwischen fast alle Häuser und Künstler vertreten, manche<br />

aber lediglich mit einem „Abklatsch“<br />

aus anderen Social-Media-Plattformen.<br />

AUF INSTAGRAM IST<br />

ANNA NETREBKO DIE<br />

KÖNIGIN DER<br />

HEMMUNGSLOSIGKEIT<br />

Igor Levit ist einer der wenigen<br />

deutschsprachigen Künstler, die bei<br />

Twitter zu Hause sind und gleichzeitig<br />

Instagram bespielen. Er hat uns allen<br />

gezeigt, dass ein Handy auch als Streaming-Server<br />

für kostenlose Hosentaschenkonzerte<br />

funktioniert, bei denen<br />

es nicht auf Klangqualität, sondern auf<br />

Unmittelbarkeit ankommt.<br />

Die intimsten Einblicke in die Klassikwelt gibt derzeit wohl<br />

Insta gram. Und hier ist Anna Netrebko die unangefochtene Königin<br />

der Hemmungslosigkeit: Egal, ob sie ihren Sohn, ihren Vater,<br />

den neuesten Modetrend ihres Gatten, sich selbst beim Klettern<br />

auf Turngeräten oder vor weißrussischer Diktatoren-Architektur<br />

postet – der Netrebko ist einfach gar nichts peinlich. Und genau<br />

das macht ihren Auftritt bei Instagram jedes Mal zu einem neuen<br />

Ereignis. Die „klassischen“ Klassikmedien sind eher noch bei Facebook<br />

zu Hause, auch wenn einige versuchen, die Möglichkeiten<br />

von Instagram für persönliche, direkte und unmittelbare Berichterstattung<br />

zu nutzen.<br />

Digi-Wertung: Die Klassikszene ist noch nicht im aktuellen<br />

Social-Media-Kosmos angekommen, aber einige eindrucksvolle<br />

Ausnahmen gehen voran. ****<br />

VIRTUAL REALITY AND BEYOND<br />

Man kann argumentieren, dass Musik – vor allem die Oper – bereits<br />

eine Art handgemachte virtuelle Realität darstellt. Und tatsächlich<br />

kommt die digitale virtuelle Realität nur sehr langsam in der Klassik<br />

an. Eines der ersten experimentierwütigen Häuser auf diesem Feld<br />

war das Konzerthaus Berlin. Schon<br />

heute kann man dessen Musiker mithilfe<br />

von Handy und App im eigenen<br />

Wohnzimmer spielen lassen. Auch die<br />

Bayerische Staatsoper ist mit Pioniergeist<br />

vorangegangen und bietet einen<br />

dreiminütigen Opern-Trailer für VR-<br />

Brillen, in dem man ganz unterschiedliche<br />

Perspektiven – unter anderem<br />

jene eines Künstlers, dem applaudiert<br />

wird – einnehmen kann (zu den bemerkenswerten VR-Projekten<br />

des Staatstheaters Augsburg siehe S. 82, Anm. d. Red.). Virtual Reality<br />

scheint für viele Häuser tatsächlich zunächst einmal eine Möglichkeit<br />

zu sein, das Publikum einzuladen – auch das Bayreuther<br />

Festspielhaus wurde bereits für VR vermessen. VR-Opern sind<br />

indes eher selten. Zwei Jahre dauerte die Produktion der Kurzoper<br />

Eight des niederländischen Komponisten Michel van der Aa. Er ist<br />

ein Pionier, wenn es um Musiktheater in Verbindung mit neuesten<br />

Technologien geht. Für die Realisierung der weltersten virtuellen<br />

90 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


und interaktiven Oper holte er die VR-Produktionsfirma The Virtual<br />

Dutch Man mit ins Boot. Außerdem wird derzeit an 3-D-Projektionen<br />

getüftelt. So wurde überlegt, die Drei Tenöre noch einmal<br />

zu beleben: mit Plácido Domingo, José Carreras und einer 3-D-Projektion<br />

von Luciano Pavarotti.<br />

Digi-Wertung: VR führt in der Klassik derzeit noch ein Nischendasein<br />

und wird – außer für PR – kaum genutzt. **<br />

AUDIO-STREAM<br />

Hier spalten sich die Geister. Während Spotify mit seiner geringen<br />

Höhe von Auszahlungen eine Zumutung für jeden Künstler darstellt,<br />

lockt der Streaming-Anbieter sein Publikum mit der Idee, alles bei<br />

sich zu vereinen: Kinderhörspiel, Rock-Pop, exklusive Podcast-<br />

Produktionen und natürlich auch Klassik. Spezielle Anbieter für<br />

klassische Musik wie Idagio haben es bisher noch nicht geschafft,<br />

durch wirklich bessere, auf Klassikansprüche ausgerichtete Angebotsorganisation<br />

zu bestechen. Eines<br />

der spannendsten Projekte auf dem<br />

Audio-Streaming-Markt ist wahrscheinlich<br />

der Streaming-Dienst von<br />

Naxos, die Naxos Music Library, die<br />

durch ihre Vielfalt, vor allen Dingen<br />

aber durch fairere Ausschüttungsquoten<br />

besticht (das Naxos-Music-Library-<br />

Abo gibt es als PREMIUM HÖREN<br />

übrigens zum <strong>CRESCENDO</strong> Abo dazu, Anm. d. Red.). Das größte<br />

Streaming-Problem scheint derzeit allerdings, dass ein Großteil des<br />

Klassikpublikums noch nicht bereit fürs Streamen ist, sowohl was<br />

die Hardware-Ausstattung als auch die digitale Neugier betrifft. Im<br />

Gegensatz zum Pop ist beim Klassik-Streamen noch immer Luft<br />

nach oben.<br />

Digi-Wertung: Der Audio-Streaming-Markt in der Klassik ist<br />

hart umkämpft, aber noch gibt es wenige Geschäftsmodelle, die<br />

fair und klanglich optimal mit Blick auf Klassik streamen. ***<br />

VIDEO-STREAM<br />

Auf diesem Feld finden gerade brutale Verteilungskämpfe statt: Die<br />

Deutsche Grammophon greift mit ihrer Plattform, der Digital Stage,<br />

frontal Anbieter und Rechtehändler wie Unitel an, die sich derweil<br />

– in Deutschland undenkbar! – vom ORF ihre Bezahlplattform<br />

Fidelio mitfinanzieren lassen. Auch Opernhäuser und Orchester<br />

versuchen sich im Streaming-Geschäft. Am erfolgreichsten ist dabei<br />

wohl, weil mit guter Werbung finanziert, die Digital Concert Hall<br />

der Berliner Philharmoniker. Weder die Bayerische noch die Wiener<br />

Staatsoper bringen derweil genügend Menschen zu ihren Plattformen,<br />

um tragfähige Geschäftsmodelle zu finden. Perspektivisch<br />

wird es hier wohl auf eine Zusammenarbeit mehrerer Häuser unter<br />

einem Streaming-Service herauslaufen. Das öffentlich-rechtliche<br />

Fernsehen rüstet nur langsam auf, füllt seine Mediatheken mit Kurzzeit-Content,<br />

der oft dem Geo-Blogging unterliegt, und hat es bislang<br />

nicht geschafft, zum Beispiel einen gemeinsamen Server für seine<br />

Rundfunkorchester aufzubauen. <strong>CRESCENDO</strong> präsentiert mit seiner<br />

Plattform FOYER zum ersten Mal eine Plattform, die alle verfügbaren<br />

Streaming-Angebote auf einer Seite kostenfrei zugänglich<br />

macht – und zwar auf einer sehr einfach zu bedienenden Benutzeroberfläche<br />

(Anm. der Red.: siehe auch S. 80).<br />

Digi-Wertung: Grundsätzlich ist viel Bewegung im Streaming-<br />

Markt. Einer Rentabilität steht aber noch die große Diversität<br />

entgegen. ***<br />

SPOTIFY IST MIT SEINER GERINGEN<br />

AUSZAHLUNGSHÖHE EINE<br />

ZUMUTUNG FÜR JEDEN KÜNSTLER<br />

INNOVATIONEN FÜRS ORCHESTER<br />

Gerade in Corona-Zeiten hat sich gezeigt, dass selbst in einer hochtechnologisierten<br />

Welt das Wort „unmöglich“ noch immer möglich<br />

ist. Vor allen Dingen, wenn es um das gemeinsame Proben eines<br />

Orchesters von zu Hause aus geht. Für Bands gibt es inzwischen<br />

Möglichkeiten, einigermaßen synchron miteinander zu musizieren.<br />

Auf Plattformen wie Sofasession oder Jammr lässt sich zeitgleich<br />

mit anderen Musik machen. Wer technisch ein bisschen versierter<br />

ist, kann auch auf Open-Source-Software wie Jamulus, Ninjam<br />

Wahjam oder Jamtaba zurückgreifen. Für große Orchester mit Dirigent<br />

ist all das aber aufgrund der Zeitverzögerung noch immer keine<br />

Lösung! Und auch andere Innovationen haben nicht so richtig Fuß<br />

gefasst in der Orchesterszene: Einst waren die Bamberger Symphoniker<br />

das erste Orchester, das von iPads spielte. Solisten nutzen diese<br />

Art der Noten ebenfalls gern – aber für große Orchester hat sich<br />

diese digitale Variante nicht wirklich durchgesetzt.<br />

Digi-Wertung: Das Orchester scheint<br />

ein Kollektiv zu sein, das auf analoges<br />

Spiel setzt – oder noch setzen muss. **<br />

ARTIFICIAL INTELLIGENCE<br />

Der Traum ist uralt: Kann eine<br />

Maschine so genial sein wie Mozart,<br />

Beethoven oder Haydn? Kann man<br />

einen Computer mit Noten füttern, ihn<br />

lernen und Schuberts Unvollendete vollenden lassen? Dieses Experiment<br />

des Handy-Anbieters Huawei scheiterte bereits vor knapp zwei<br />

Jahren krachend. Statt Genie spuckte der Computer eher Mittelmaß<br />

aus. Die nächste Chance hat ein neues Modell im kommenden Jahr,<br />

dann will die Telekom Beethovens Zehnte Sinfonie „errechnen“<br />

lassen. Warten wir’s ab. Tatsächlich zeigt sich, dass Computer sich<br />

derzeit noch schwertun, das Menschliche „berechnen“ und antizipieren<br />

zu können. Vielleicht sollte man es andersherum versuchen:<br />

Im Haus der Musik in Wien sind die Wiener Philharmoniker bereits<br />

ein „artifizielles“ Orchester, das sich von jedem Besucher dirigieren<br />

lässt – wenn man nicht im Takt dirigiert, stehen die Musiker auf<br />

der Leinwand auf und beschimpfen den Laien-Maestro. Ein hübsches<br />

Spiel. Mehr aber auch nicht.<br />

Digi-Wertung: Vielleicht auch beruhigend die Erkenntnis, dass es<br />

noch keinen Computer gibt, der den Namen Beethoven verdient. *<br />

DIGITALER SERVICE<br />

In der klassischen Administration ist Digitalität schon lange nicht<br />

mehr wegzudenken: egal ob in der Orchesterorganisation, beim<br />

Ticketing oder in der Künstlervermittlung, etwa mit Datenbanken<br />

wie Operabase. Aber auch inhaltlich verlegen sich immer mehr<br />

Orchester und Häuser auf ein digitales Angebot, sie verschicken<br />

mehr oder weniger spannende Newsletter, und die Wiener Staatsoper<br />

vertraut ihrem digitalen Angebot so sehr, dass sie für das<br />

gedruckte Jahresprogramm sogar fünf Euro Schutzgebühr erhebt.<br />

Tatsächlich tut sich viel Spannendes auf dem Feld des digitalen<br />

Service. So gibt es zum Beispiel großartige Podcasts statt gedruckter<br />

Programmhefte, die das Publikum bereits auf dem Weg zum Konzert<br />

hören können, zum Beispiel vom Grafenegg Festival. Der Service<br />

ist der aktuell wohl innovativste Teil der Klassikszene und<br />

versucht das Publikum auf immer neuen Wegen möglichst direkt<br />

und persönlich anzusprechen.<br />

Digi-Wertung: Wirklich innovativ ist die Organisation der<br />

Klassik. Sie ist die vielleicht digitalste Abteilung der Musik. **** n<br />

(Bewertung 1* bis 5*****)<br />

91


A R T G O E S D I G I T A L<br />

VON VIRTUELLEN<br />

GEIGENSTUNDEN<br />

UND WLAN-TÜCKEN<br />

Itzhak Perlman, der vor wenigen Wochen seinen<br />

75. Geburtstag feierte, ist einer der größten Geiger<br />

des Jahrhunderts. Aktuell kämpft er mit<br />

den Besonderheiten des Online-Unterrichts.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

Meister Perlman ist sichtlich verzweifelt. Für einen Moment<br />

scheint es, als müsste das Video-Interview ohne Worte<br />

stattfinden. Mit seinem lebhaften Gesichtsausdruck und<br />

seiner beredten Gestik hätte der Stargeiger sicher auch<br />

so genug zu sagen. Doch dann erbarmt sich die Technik. Perlman<br />

lacht erleichtert.<br />

Itzhak Perlman: Mir wird erst klar, was ich alles nicht weiß über<br />

diese Maschinen! Ich habe die neuesten Geräte, aber ich weiß<br />

einfach nicht, wie man sie bedient. Und man hängt immer von<br />

der Gnade des WLAN ab. Sie können die fantastischsten Mikrofone<br />

und Verstärker haben – will das WLAN nicht, geht nichts.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Musizieren Sie auch online? Wie kommen Sie<br />

mit der Übertragungsverzögerung zurecht?<br />

Ich habe eine App, mit der man Kammermusik machen kann<br />

– mit nur minimaler Verzögerung. Wir haben kürzlich Mozart-<br />

Quartette gespielt. Jeder von uns war an einem anderen Ort. Es<br />

ging gar nicht schlecht. Das einzige Problem war ...<br />

... lassen Sie mich raten: das WLAN.<br />

Es ist nicht zu glauben. Sie schicken Menschen auf den Mond,<br />

aber sie können kein verlässliches WLAN bieten.<br />

Wie ging es Ihnen eigentlich, als im Frühjahr plötzlich alle<br />

Konzerte abgesagt wurden?<br />

Erst mal hat es sich angefühlt wie Ferien. Aber in ein Konzerthaus<br />

zu gehen und für ein Publikum zu spielen, das brauche ich<br />

einfach wie die Luft zum Atmen.<br />

Streaming-Konzerte sind kein Ersatz für Sie?<br />

Es ist sehr interessant, was mit Technik alles geht. Wir haben The<br />

Snow von Elgar für Chor, Klavier und zwei Geigen gemacht. Das<br />

haben wir von verschiedenen Orten aus zusammengesetzt. Ich<br />

habe beide Geigenstimmen gespielt. Ich trug verschiedenfarbige<br />

Hemden, es gab also Perlman I und Perlman II. Alle Stimmen<br />

wurden einzeln aufgenommen, auch der Chor. Die Sänger hatten<br />

Klick-Tracks für das Tempo. Das Ergebnis war sehr gelungen.<br />

Sind Sie inzwischen wieder live aufgetreten?<br />

Nein. Man muss ja das Social Distancing wahren. Man kann die<br />

Säle nicht ausverkaufen. Ein Desaster für die Veranstalter. Wenn<br />

man 2.500 Plätze hat, kann man vielleicht 500 Leute reinlassen.<br />

Gestern hat ein Freund von mir ein Konzert gespielt. Er erzählte:<br />

„Es sah aus, als wäre es sehr schlecht beworben worden.“ Es fühlte<br />

sich an, als wäre niemand da!<br />

Musik braucht Nähe.<br />

Ich brauche den Kontakt! Mit dem Publikum, mit den Studenten.<br />

Unterrichten Sie auch per Video?<br />

Der Unterricht an der Juilliard School findet bislang nur online<br />

statt. Neulich gab es ein Problem mit der Synchronisation. Der<br />

92 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


„In die Tonhöhe mischt sich die Technik nicht ein!“<br />

Stargeiger Itzhak Perlman stellt sich den<br />

Herausforderungen des Online-Unterrichts<br />

FOTO: BYU ARTS<br />

93


A R T G O E S D I G I T A L<br />

Student fing an zu reden, aber ich sah nur die Lippenbewegungen.<br />

Und dann hörte ich ihn drei Sekunden später reden. Es ist eine<br />

Herausforderung.<br />

Vom Spielen ganz zu schweigen.<br />

Denken Sie nur an die Stückauswahl: Wenn die Schüler eine<br />

Sonate spielen, haben sie keinen Pianisten, es sei denn, zufällig<br />

spielt jemand aus der Familie Klavier. Aber wenn nicht, wie soll<br />

man Musik interpretieren, wenn die Hälfte fehlt? Es ist etwas<br />

einfacher, wenn man ein Solokonzert macht, denn die Solostimme<br />

enthält meist die wesentlichen Gedanken.<br />

Unterrichten besteht aus vielen Einzelaspekten. Wie können Sie<br />

etwa den Klang beurteilen?<br />

Die Übertragungsqualität kann sehr gut sein. Aber bei der<br />

Dynamik ist das Problem, dass oft<br />

alles gleich laut klingt. Dann weiß<br />

man nicht, woran das liegt. Wenn<br />

jemand sehr spezielle Klangfarben<br />

macht, dann sage ich: „Ich glaube,<br />

das ist gut, aber ich weiß es nicht<br />

sicher.“ Oder manchmal spielt<br />

jemand plötzlich ein Accelerando,<br />

und wenn ich ihn dann frage,<br />

warum, dann merken wir, dass das<br />

Video versucht, mit dem Ton Schritt<br />

zu halten, und deswegen wird die<br />

Tonspur mal beschleunigt und mal<br />

gedrosselt. Man muss sich intensiv<br />

einfühlen, um zu erfassen, wie der<br />

Schüler spielen will. Das Einzige,<br />

worauf man sich wirklich verlassen<br />

kann, ist die Tonhöhe! In Intonationsfragen<br />

mischt sich die Technik<br />

nicht ein.<br />

Was ist mit Bewegungsabläufen?<br />

Die kann man natürlich sehen. Aber<br />

es hängt auch davon ab, wie die<br />

Schüler vor der Kamera stehen.<br />

Wenn ich sage, ich sehe deine rechte<br />

Hand nicht, dann treten sie einen<br />

Schritt zurück, und dann höre ich sie<br />

wieder schlechter. Ich gewöhne mich<br />

an das virtuelle Unterrichten, aber es<br />

ist nicht ideal.<br />

Jetzt mal die Tücken des Online-Unterrichts beiseite: Sie sind<br />

eine dieser Ausnahmebegabungen, denen das Instrument von<br />

Kindheit an gleichsam zugewachsen ist. Wie können Sie<br />

unterrichten, wenn Sie für sich selbst über vieles nie haben<br />

nachdenken müssen?<br />

Das ist eine wichtige Frage. Wenn jemand spielt und das nicht so<br />

richtig funktioniert, ertappe ich mich manchmal dabei zu<br />

denken: Das ist doch ganz einfach! Dann muss ich mir sagen:<br />

Dass es für mich einfach ist, heißt nicht, dass es das für andere<br />

auch ist. Ich muss also herausfinden, was die Schwierigkeit ist.<br />

Bestimmte Fingersätze sind für mich einfach, weil ich große<br />

Hände habe. Aber für jemand anderen bedeuten sie, dass er die<br />

Hand dehnen muss. Ich muss also fragen: Fühlt sich das für dich<br />

bequem an? Denn wenn es nicht bequem ist, ist die Intonation<br />

gefährdet.<br />

Sie haben einmal von dem Unterschied zwischen Zeigen und<br />

Unterrichten gesprochen. Können Sie mir ein Beispiel geben?<br />

Wenn begabte Schüler etwas hören, dann spielen sie es einfach<br />

nach. Aber wenn es um Phrasierungen oder Klangfarben geht,<br />

und sie spielen, ohne dass ich es vormache, dann verstehen sie es<br />

von innen heraus, und es geht besser. Weil es ihr Eigenes ist. Es ist<br />

für den Lehrer natürlich anspruchsvoller, Dinge in Worte zu<br />

Bei einem Streaming-Konzert spielte Itzhak Perlman mit<br />

sich selbst: Es gab Perlman I und Perlman II<br />

fassen, als sie zu zeigen. Manchmal greife ich unwillkürlich nach<br />

meiner Geige. Aber dann sage ich mir, lass es. Es ist wie bei einem<br />

Gesangslehrer. Der muss die Dinge verbalisieren, weil er ja nicht<br />

zeigen kann, was im Körper vorgeht. Ein Sänger muss fühlen, wie<br />

er einen Klang herstellt.<br />

Gesangslehrer machen dafür manchmal den Fehler, dass sie<br />

ihren Schülern Bilder aufzwingen, die für die Schüler nicht<br />

passen.<br />

Es kommt darauf an, wie man etwas sagt. Ich habe ein bisschen<br />

Erfahrung damit, denn ich hatte selbst sechs oder sieben<br />

Gesangsstunden.<br />

Sie haben einmal den Gefängniswärter in Tosca gesungen!<br />

Mein Part war 19 Sekunden lang, ich habe nachgezählt! Ich habe<br />

mit Pavarotti zusammen gesungen.<br />

Und habe beschlossen: Das war mein<br />

Abschiedsdebüt.<br />

Das war ja eine kurze Gesangskarriere.<br />

Umso länger dauert Ihre<br />

Geigenkarriere schon an. Seit Sie<br />

die Bühnen der Welt betreten<br />

haben, haben sich die Interpretationsstile<br />

dramatisch verändert.<br />

Die Originalklangbewegung hat<br />

vieles revolutioniert – aber es gibt<br />

insgesamt eine Tendenz hin zum<br />

Straffen, Schlanken, Hellen. Es ist<br />

eine fast digitale Ästhetik, mit<br />

wenig Ritardando, ohne Schluchzer,<br />

ohne Glissandi und so. Gefällt<br />

Ihnen das?<br />

Bestimmte Gewohnheiten, die<br />

Streicher haben, sind Teil unserer<br />

heutigen Sprache. Ich habe neulich<br />

mit jemandem über große Geiger der<br />

30er- und 40er-Jahre gesprochen:<br />

Kreisler, Oistrach, Elman, Heifetz,<br />

Milstein. Nicht einer von denen hat<br />

FOTO: LISA MARIE MAZZUCCO<br />

wie die anderen geklungen. Es war<br />

sehr einfach, sie zu unterscheiden.<br />

Wen man natürlich sofort erkannte,<br />

war Heifetz. Aber heute haben wir<br />

ein Problem, weil es das Internet<br />

gibt. Man kann alles und jeden<br />

hören. Viele Spieler wählen einfach den Klang, der ihnen gefällt.<br />

Das ist dann nicht besonders individuell.<br />

Wenn Sie zurückschauen: Was würden Sie heute anders<br />

machen?<br />

Wenn ich alte Aufnahmen von mir höre, von vor 30, 40 Jahren,<br />

gibt es immer gute und schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht<br />

ist: Für damals war es gar nicht schlecht. Und die schlechte<br />

ist: Ich würde es heute nicht mehr so machen. Und das ist wieder<br />

gut. Eine alte Aufnahme immer noch zu mögen, würde ja<br />

Stillstand bedeuten. Aber es ist so wichtig, sich weiterzuentwickeln.<br />

Ich glaube, dass ich heute besser höre. Ich bekomme mehr<br />

mit, was geschieht.<br />

Wie viel üben Sie?<br />

Ich übe nach Bedarf. Manchmal merke ich, es ist nicht nötig.<br />

Brauchen Sie körperliches Training?<br />

Sie meinen Tonleitern und so etwas? Nein, nicht mehr. Ich übe die<br />

Stücke, die ich aufführe. Da ist genug drin. Wenn Sie ein virtuoses<br />

Stück spielen, ist das wie eine Etüde. Man muss nur dafür<br />

sorgen, dass es den Fingern gut geht.<br />

Eine Online-Meisterklasse mit Itzhak Perlman finden Sie unter<br />

www.masterclass.com/classes/itzhak-perlman-teaches-violin<br />

n<br />

94 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


A R T G O E S D I G I T A L | A N Z E I G E<br />

Elīna Garanča und Malcolm Martineau im Berliner Meistersaal<br />

FOTO: CHRISTOPH KÖSTLIN<br />

KANN SICH HÖREN LASSEN ...<br />

Musiker brauchen ein Publikum, und wir brauchen die Musik,<br />

dachte sich Deutsche Grammophon – und schritt zur Tat.<br />

Endlich wieder ins Konzert. Zu Anna Netrebko? Grigory Sokolov?<br />

Anne-Sophie Mutter? Die Wiener Philharmoniker? Oder<br />

zum Orchester des Mariinsky-Theaters? Deutsche Grammophon<br />

hat es möglich gemacht und kurzerhand einen Konzertsaal<br />

eröffnet. Nun lädt das Label ein – auf dem Spielplan zu Weihnachten<br />

ein Programm, das man auf keinen Fall missen möchte.<br />

„DG Stage – The Digital Concert Hall“ ist eine Plattform für<br />

Live-Aufführungen aus aller Welt. Hinter der Initiative steht der<br />

Wunsch, dass Musikliebhaber trotz diverser Absagen durch die Pandemie<br />

ein hochwertiges individuelles Konzertprogramm erleben<br />

können. Neben „Live on Tape“-Produktionen enthält das Angebot<br />

Mitschnitte aus jüngerer Zeit, ergänzt um Highlights aus dem hauseigenen<br />

Archiv.<br />

Was das Unternehmen – seit Kurzem in Kooperation mit Siemens<br />

– auf diese Bühne bringt, kann sich sehen und hören lassen.<br />

Als das Teatro San Carlo Ende Juli im Zentrum von Neapel zu Puccinis<br />

Tosca unter freiem Himmel lud, war DG Stage dabei. Das topbesetzte<br />

Schauspiel mit Anna Netrebko in der Titelrolle, Yusif Eyvazov<br />

als Cavaradossi und Ludovic Tézier als Scarpia kam in bester Klangqualität<br />

auf die heimischen Endgeräte. Als den Bayreuther Festspielen<br />

die Absage drohte, konzipierte DG im Handumdrehen einen Wagner-<br />

Sommer in virtueller Form mit jüngsten Bayreuth-Produktionen.<br />

Ausnahmepianist Grigory Sokolov war im Eisenstädter Palais Esterházy<br />

zu erleben, Geiger Nemanja Radulovič in Carnac, die Filmmusiklegende<br />

John Williams im Musikverein zu Wien, und Elīna<br />

Garanča sang von Schumanns Frauenliebe und -leben.<br />

Ähnlich hochkarätige Darbietungen wird es auch in der Vorweihnachtszeit<br />

geben. Allein im <strong>Dezember</strong> muss man sich zwischen<br />

einem knappen Dutzend Konzerte entscheiden, für das Klavierrecital<br />

von Evgeny Kissin etwa oder die glanzvolle Nussknacker-Inszenierung<br />

des Petersburger Mariinsky-Theaters aus dem Jahr <strong>20</strong>11.<br />

Festtagsstimmung sollte spätestens am <strong>20</strong>. <strong>Dezember</strong> aufkommen,<br />

wenn der Chor der Sixtinischen Kapelle, immerhin der älteste<br />

Chor der Welt, zum Weihnachtskonzert lädt. An Heiligabend stehen<br />

barocke Klänge auf dem Programm: eine Aufnahme von 1999 mit<br />

Chorwerken von Bach, Händel und Mozart sowie den Solisten<br />

Barbara Bonney, Matthias Goerne, dem Freiburger Barockorchester<br />

und dem Ensemble German Brass. Der Innenraum des Freiburger<br />

Münsters bietet eine beeindruckende Kulisse für dieses Konzert.<br />

Doch was fehlt? Natürlich. Das Weihnachtsoratorium von<br />

Johann Sebastian Bach. DG Stage hat sich für den Mitschnitt jenes<br />

Konzerts entschieden, mit dem Barockspezialist John Eliot Gardiner<br />

seine große Tournee zum Bach-Jahr <strong>20</strong>00 startete. Auch hier war der<br />

Ort mit Bedacht gewählt: die Herderkirche in Weimar, eine der thüringischen<br />

Bach-Stätten. Solisten wie Bernarda Fink und Christoph<br />

Genz, der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists machen<br />

diese Darbietung zu einem absoluten Hörerlebnis. Weihnachten kann<br />

kommen. www.dg-premium.com | www.dg-stage.com<br />

95


A R T G O E S D I G I T A L<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

... der Drang, Musik zu automatisieren ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Carl Maria von Weber war entzückt vom Klang<br />

des Trompeten-Androiden. Der von Friedrich<br />

Kaufmann erfundene Musikautomat steht heute im<br />

Deutschen Museum München<br />

Wer Musik machen will, muss singen<br />

oder ein Instrument spielen,<br />

auf jeden Fall aktiv werden. Was<br />

aber, wenn man sich nach<br />

„süßem Nichtstun“ sehnt, wünscht, alle Töne,<br />

Klänge und Melodien würden sich von selbst<br />

spielen? Viel wird dafür getan, nichts zu tun.<br />

In der frühen Antike stellte man einen Kasten<br />

aus Holz mit vertikal gespannten Saiten auf.<br />

Durch einen Windtrichter brachte der Wind die<br />

Saiten zum Klingen. Da damals Äol der Herrscher<br />

der Winde war, nannte man das Instrument<br />

Äolsharfe. Keine Elektronik, kein Computerprogramm,<br />

nur das Klingen des Windes, der<br />

sich in den Saiten verfing. Noch 1725 widmete<br />

Bach dem Windgott seine Kantate BWV <strong>20</strong>5 Der<br />

zufriedengestellte Aeolus.<br />

Heron aus Alexandrien, schillernde Persönlichkeit<br />

der Antike, verfasste ein ganzes Buch mit Anleitungen zum<br />

Bau von Automaten, darunter auch automatische Musikinstrumente.<br />

Dort ist zu lesen, wie man „eine Trompete bei Öffnung von<br />

Tempeltüren ertönen lassen“ kann, ohne selbst hineinblasen zu müssen.<br />

Weiter heißt es, „manche Gefäße sind so beschaffen, dass ein<br />

Mönch (= Vogel) singt oder pfeift, wenn man Wasser eingießt“.<br />

Im Mittelalter gab es Glockenspiele, die mithilfe einer Mechanik<br />

Musik machten. In der Renaissance versuchten sich Kunsthandwerker<br />

als Erfinder musikmachender Automaten. Töne eines<br />

Spinetts ließen sich von Stiften auf drehenden Walzen erzeugen.<br />

Im Laufe der Zeit entstanden immer verrücktere und komplexere<br />

Musikautomaten, Mechaniken mit Steuerungen durch Notenrollen<br />

und vieles mehr. „Musikmaschinisten“ nannte man die Leute,<br />

die so etwas konstruieren konnten. Einer von ihnen war Johann<br />

Nepomuk Mälzel, Entwickler des Metronoms, ein Tausendsassa,<br />

der neben Hörrohren für Beethoven auch einen Trompeterautomaten<br />

baute. Das genügte ihm nicht – ein ganzes Orchester, das auf<br />

Knopfdruck spielt, sollte her. Sein Panharmonikon, für das er selbst<br />

Walzer komponierte, war eine Erstausgabe der späteren Orchestrien.<br />

Haydn, Mozart, wie auch Beethoven hauchten ihnen ihren Geist<br />

ein, verfassten Werke für eine Flötenuhr. Im 18. und 19. Jahrhundert<br />

erlebten die konstruierten Maschinen eine wahre Blüte.<br />

Perfektioniert hat den Trompeterautomaten Friedrich Kaufmann.<br />

Er und sein Sohn waren mit einem Automatenvarieté auf<br />

Tournee. Carl Maria von Weber war außer sich vor Freude, als er<br />

1812 in der Allgemeinen Musik Zeitung verlauten<br />

ließ: „Durch ihre drei neu erfundenen Maschinen<br />

von der schwierigsten und interessantesten Erfindung,<br />

von dem schönsten und kunstgerechtesten<br />

Ton nehmen sie Kopf und Herz, Gehör und<br />

Gesicht gleichsam abwechselnd in Beschlag.“ Er<br />

befand sogar „die Töne der Kaufmannischen<br />

Maschine sind bei weitem schöner, als die der<br />

gewöhnlichen Tanz-Orchester“. Weber fand die<br />

Töne des Androiden so echt, „dass man bestimmt<br />

zwei Trompeter zu hören meint; ja sogar das tiefe<br />

a und h, an welchen bisher alle lebendige Trompeterlippen<br />

verzweifelten“.<br />

Ein weiterer Musikmaschinist war der<br />

Franzose Jacques de Vaucanson. Ob mechanische<br />

Ente oder Flötenspieler – er baute alles. Wert<br />

legte er auf die Nuancen, ging so weit ins Detail,<br />

dass er, „um das Weiche der natürlichen Finger<br />

nachzuahmen“, die Finger seines berühmten Flötenspielers mit<br />

Leder versah. Dieser Android, 1738 erstmals der Académie Royale<br />

des Sciences präsentiert, braucht nicht einmal Luft zu holen. Vaucanson<br />

war sicher: „Dieser Automat übertrifft hierinnen alle unsere<br />

Pfeiffer, die ein solches Instrument blasen.“<br />

Über diese der Kunst so fremde Künstlichkeit sinnierten 1814<br />

Ludwig und Ferdinand, zwei musikalisch bewanderte Freunde in<br />

der Erzählung Die Automate von E. T. A. Hoffmann. Was Weber<br />

begeisterte, ließ die beiden verzweifeln: „Ich bin von all der Maschinenmusik<br />

ordentlich durchgewalkt und durchgeknetet, dass ich es<br />

in allen Gliedern fühle und lange nicht verwinden werde. Die<br />

Maschinenmusik ist für mich etwas Heilloses und Greuliches.“ Sie<br />

wussten, dass aus einem seelenlosen Automaten niemals „der vollkommene<br />

Ton dringen könne“.<br />

Vielleicht wäre den beiden ein Trost gewesen zu hören, welche<br />

Schöpfungen der amerikanische Neutöner Conlon Nancarrow aus<br />

einem elektrisch-mechanischen Klavier herausholen konnte. Seine<br />

Kompositionen für das Selbstspielklavier (Studies for Player Piano)<br />

gelten für die Klaviermusik des <strong>20</strong>. Jahrhunderts als absolut einzigartig.<br />

Für Ligeti war es „die beste Musik eines lebenden Komponisten,<br />

die größte Entdeckung seit Webern und Ives, überaus<br />

originell, erfreulich, konstruktiv und gleichzeitig emotional“. Hier<br />

fand sich wieder, was Ludwig und Ferdinand vermissten: „My Soul<br />

is in the Machine“, verriet Nancarrow. Künstlichkeit wurde wieder<br />

Kunst.<br />

n<br />

FOTO: DEUTSCHES MUSEUM<br />

96 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


ANMUTIGER TANZ DER PIXEL<br />

3 e Scène, die digitale Plattform der Pariser Oper, zeigt seit fünf Jahren<br />

aufsehenerregende experimentelle Filmkunstwerke zum Thema Oper und Tanz.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

FOTO: HUGO ARCIER / ONP LFP<br />

Kein einziger Mensch lebt mehr auf der Erde. Nur die Wartungsroboter<br />

der Oper verrichten Tag für Tag ihre Arbeit.<br />

Sie wechseln kaputte Glühbirnen aus, fahren mit Staubsauger<br />

und Putzwagen durch die Gänge und entfernen den<br />

Staub von den Steinbüsten der Foyers. Bei Einbruch der Nacht löscht<br />

Roboter Mikki die Lichter im Haus, nimmt im Zuschauerraum Platz<br />

und projiziert die geheimnisvollen Bilder eines Tanzes auf die<br />

Bühne. Ugo Bienvenu und Félix de Givry haben mit L’Entretien (Die<br />

Wartung) eine wunderbare poetische Vorstellung geschaffen: Was<br />

von der Menschheit bleibt, sind Erinnerungen an einen Tanz.<br />

Entstanden ist der Kurzfilm für 3 e Scène. Vor fünf Jahren hat<br />

Stéphane Lissner, der Leiter der Pariser Oper, die Plattform ins Leben<br />

gerufen. Die Idee sei gewesen, erläutert Philippe Martin, der gegenwärtige<br />

künstlerische Leiter des Portals, die Oper zu öffnen – für<br />

Künstler, die nicht in ihrem Bereich tätig sind, und für ein Publikum,<br />

das mit ihr nicht vertraut ist. Beschieden war dieser Idee ein durchschlagender<br />

Erfolg. Bereits im Gründungsjahr <strong>20</strong>15 verzeichnete<br />

die Plattform, deren Zugang jedermann offensteht, unglaubliche<br />

1,8 Millionen Zuschauer. Außergewöhnliche Beliebtheit erlangte<br />

Nephtali des Comiczeichners Glen Keane aus den Disney-Studios.<br />

Der Titel seines Films bezieht sich auf die biblische Gestalt Naftali,<br />

die von ihrem Vater Jacob mit einer Gazelle verglichen wird. Keane<br />

folgt mit seinem Stift den grazilen Tanzbewegungen der Balletttänzerin<br />

Marion Barbeau.<br />

Mehrere Dutzend Filmkunstwerke liegen mittlerweile auf der<br />

Plattform, in denen Künstler aus verschiedenen Bereichen jeweils<br />

eine eigene Sicht auf die Oper wiedergeben. Ascension (Aufstieg)<br />

betitelt der Fotograf Jacob Sutton seinen Film, der in der Dunkelheit<br />

der Unterbühne des Palais Garnier beginnt. Zur sphärischen Musik<br />

Jon Hopkins tanzt ein Paar durch das Palais, erhebt sich zum üppig<br />

mit Gold beladenen Grand Foyer und steigt schließlich auf das Dach,<br />

von wo es in den Himmel zu entschwinden scheint. Es sei das romantischste<br />

Projekt, an dem er jemals gearbeitet habe, betont Sutton.<br />

Die Räume der Opéra Bastille, zweiter Standort der Pariser<br />

Oper, erkundet der Beitrag États transitoires (Durchgangszustände)<br />

des Ill-Studios. Zu Celestial Arc von Jonathan Fitoussi bewegt sich<br />

ein Tänzer mit mechanischen Bewegungen durch die Räume, wird<br />

verdoppelt und vervielfacht, was wie in einem Kaleidoskop faszinierende<br />

Schwarz-Weiß-Muster entstehen lässt, bis er auf der Hauptbühne<br />

zum Stillstand kommt.<br />

Was die einzelnen Filmkunstwerke auszeichnet, ist ihre Einzigartigkeit<br />

und die dem Internet angepasste Ästhetik. Die meisten haben<br />

den Charakter von Clips. Komprimiert auf wenige Minuten Länge,<br />

erzählen sie eine lyrische, optisch packende und emotional ergreifende<br />

Geschichte. Dabei finden raffinierte neue Techniken Anwendung.<br />

Der Digitalkünstler Hugo Arcier etwa verwendet für seinen<br />

Film dreidimensionale Computergrafiken. Inspiriert von dem Epos<br />

Von der Natur der Dinge des römischen Dichters Lukrez, das die Welt<br />

der Atome und deren Bewegungen schildert, lenkt er den Blick in<br />

den Weltraum, wo sich die Atome im Rhythmus von Trommelschlägen<br />

bewegen. Clinamen bezeichnet jene Abweichung, mit der Lukrez<br />

das Element des Zufalls einbezieht. Nach und nach lassen sich drei<br />

Tänzer erahnen. Zur Musik von Xavier Thiry tanzen sie durchs<br />

Opernhaus, das Arcier in immer neuen Verwandlungen zeigt.<br />

Auf die Corona-Pandemie nimmt der Fotograf und Filmregisseur<br />

Antoine d’Agata in seinem Beitrag La vie nue (Das nackte Leben)<br />

Bezug. Fotos, die er während des Lockdowns an verschiedenen Orten<br />

der Stadt aufgenommen hat, verfremdet und arrangiert er zu einem<br />

halluzinatorischen Horrortrip. Unerbittlich und immer schneller<br />

wechseln die Bilder, bis man meint, einen verstörenden Film ablaufen<br />

zu sehen.<br />

n<br />

Die Plattform 3 e Scène der Pariser Oper:<br />

www.operadeparis.fr/3e-scene<br />

97


Abonnieren Sie die schönsten Seiten der<br />

Klassik für nur 55 EUR*:<br />

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Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com<br />

98<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


LEBENSART<br />

Das neue Stadtcasino in Basel ist eine Sensation – inklusive feinstem Konzertsaal! Ein Spaziergang mit Ivor Bolton (Seite 100)<br />

Sternekoch Alexander Herrmann widmet Beethovens Elise ein Weihnachtsdessert (Seite 110)<br />

Heiße Liebe: Paula Bosch ist eine glühende Verehrerin von Weinen aus Vulkanregionen (Seite 112)<br />

STILLE MUSIK<br />

... mit dem weißen Blatt Papier“ überschreibt die<br />

Künstlerin Aja von Loeper ihre Arbeit. Und so wie<br />

sie viele Jahre fast nur Stücke von Frédéric Chopin<br />

auf dem Klavier spielte, setzte sich Leidenschaft,<br />

Hingabe und Beständigkeit fort: Obwohl sie an der<br />

Akademie der Bildenden Künste Nürnberg Freie<br />

Malerei wählte, studierte sie fast 16 Jahre lang<br />

künstlerisch die Struktur eines Birkenstammes. Ihr<br />

Werkzeug: ein Grafitstift und ein Blatt Papier.<br />

Als „ihr“ Papier plötzlich nicht mehr hergestellt<br />

wurde, suchte sie lange nach einer neuen Ausdrucksform.<br />

Und wieder war es Chopin, der von<br />

Loeper die Richtung wies: Wie er ließ sie sich von<br />

Mallorca inspirieren und entdeckte dort zum ersten<br />

Mal, wie sich das weiße Blatt Papier durch intensives<br />

Reiben und Drücken mit ihrem inzwischen<br />

selbst entwickelten Buchenkolben entwickelt<br />

und verändert. Seither verfeinert sie diese<br />

Technik stetig weiter – sie hat verinnerlicht, was<br />

sie in 16 Jahren inmitten des Waldes gelernt hat:<br />

„Mit jedem neuen weißen Blatt, das ich bearbeite,<br />

ist es, als würde da wirklich etwas vor mir wachsen<br />

und an Substanz gewinnen – ohne Wasser<br />

oder Sonstiges hinzuzuführen. Nicht was, sondern<br />

wie ich mit Kolben und Papier arbeite, ist entscheidend.<br />

Vielleicht ist es also im Grunde weniger Bild<br />

als vielmehr stille Musik, die ich mit dem weißen<br />

Blatt Papier entstehen lasse.“<br />

www.ajavonloeper.de<br />

Bis wir hier in den Verlagsräumen wieder eine<br />

Vernissage veranstalten dürfen (wir geben den Termin<br />

rechtzeitig bekannt), können Sie unsere digitale<br />

Vernissage auf crescendo.de/vernissage besuchen<br />

und sich Ihr Lieblingsbild sichern. Aja von Loeper<br />

spendet die Hälfte vom Erlös des Verkaufs der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Künstlernothilfe. Wir sagen Danke!<br />

Mehr über Aja von Loeper auf www.crescendo.de/leben<br />

WEISSES BLATT L <strong>20</strong>-4 <strong>20</strong><strong>20</strong> PAPIER RELIEF 150X105X6 CM (DETAILAUFNAHME, FOTO: STEFAN HIPPEL<br />

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L E B E N S A R T<br />

4<br />

1 2 3<br />

5 6<br />

7<br />

8 10<br />

9<br />

FOTOS: IRISCH / PIXELIO; NOAH WINDLER / UNSPLASH; FÄH SYLVIA / PIXABAY; MARKUS KREBS / PIXABAY; MARKUS WALTI / PIXELIO.DE; HANS BRAXMEIER / PIXABAY; STUDIO CHEZ E‘LAIN; CLICKPHOTO SWITZERLAND / PIXABAY; RUBI BILL / UNSPLASH;<br />

STANDORTMARKETING BASEL-STADT<br />

1) Kreativfabrik: Werkraum Warteck 2) Historische Fassaden in der Basler Altstadt 3) Der Roche-Turm – modernstes Wahrzeichen Basels und<br />

höchstes Gebäude der Schweiz 4) Romantische Rheinpromenade 5) Messehalle von Herzog & de Meuron 6) Rathaus am Basler Marktplatz<br />

7) Bequem mit der Tram durch die Basler Innenstadt 8) Basler Läckerli 9) UNESCO-Weltkulturerbe: Basler Fasnacht 10) Blick ins Basler Münster<br />

100 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


WAS AN BASEL SO ANZIEHEND IST? NIRGENDS GIBT ES SO VIEL KULTUR AUF<br />

ENGEM RAUM. UND JETZT HAT DIE GRENZSTADT AM RHEINKNIE AUCH NOCH EINEN<br />

FRISCH RENOVIERTEN KONZERTSAAL – MIT SAGENHAFTER AKUSTIK.<br />

Basel<br />

Seit fünf Jahren ist Ivor Bolton Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel.<br />

Der Brite liebt die Stadt vor allem für ihr großstädtisches Flair<br />

und dafür, dass sie auf so wenig Platz so viel Kultur packt. Ein bisschen auch für<br />

ihre gemütliche Gastronomie. Und: für ihre sensationellen Läckerli natürlich.<br />

VON CHRISTA SIGG<br />

FOTO: MATTHIAS WILLI<br />

Die Tür geht auf, und um die 50<br />

Musiker des Sinfonieorchesters<br />

Basel verlassen zügig den Probensaal.<br />

Draußen überm Picassoplatz<br />

scheint die Herbstsonne. Jetzt<br />

noch ein wenig Licht tanken kann in diesem Job<br />

nicht schaden. Nur der Chef mag sich nicht so<br />

recht lösen – der Abstand auf dem Podium ist<br />

noch zu klären. Und am Ende soll es ja gut klingen.<br />

Was heißt gut? Perfekt natürlich. Die Basler<br />

haben mit dem Stadtcasino einen frisch renovierten<br />

Konzertsaal, und dass die immer schon<br />

fabelhafte Akustik sogar noch einen Tick besser<br />

geworden ist, soll man auch hören. Die Lösung<br />

scheint gefunden, Ivor Bolton nickt staccatoartig, wie nur er es kann,<br />

ohne eine Gehirnerschütterung davonzutragen. Das Impulsive, die<br />

kurzen zackigen Gesten sind sein Markenzeichen – wenn er nicht<br />

gerade ein elegisches Adagio oder ein honigsüßes Amabile formt.<br />

Mit einem „Sorry“ steht er plötzlich am Eingang: „Wir sollten<br />

gleich los, sonst fallen mir noch andere Details ein, und unser Mittagessen<br />

geht flöten“, sagt er. „Am besten zu Za Zaa runter an den<br />

Barfi“ – so nennen die Einheimischen den Barfüßerplatz, das ist der<br />

zentrale Knotenpunkt der Stadt mit acht querenden Tramlinien. Die<br />

wichtigen Museen sind nur einen Katzensprung entfernt, in den<br />

umliegenden Cafés trifft man sich zum Apéro, und hier sollte die<br />

<strong>20</strong>16 verstorbene Architektin Zaha Hadid den Stadtcasino-Komplex<br />

ins 21. Jahrhundert katapultieren.<br />

In Basel stößt man ständig auf das unangestrengte Zusammenspiel<br />

von Alt und Neu. Von Frank Gehry bis Tadao Ando haben hier<br />

zwölf Pritzker-Preisträger gebaut. Hadids provokative Beton-Glas-<br />

Stahl-Wucht im Herzen der Altstadt ging den Bürgern dann aber<br />

doch zu weit. Und nachdem das Projekt <strong>20</strong>07 an den Wahlurnen<br />

gescheitert war, kamen die ausnahmsweise mal zweitplatzierten<br />

Jacques Herzog und Pierre de Meuron wieder ins Rennen. Zwei Ur-<br />

Baseler, die das historische Zentrum respektieren und nicht überall<br />

Ivor Bolton freut sich über ein<br />

neues Dach im Stadtcasino<br />

mit einem prominenten Signalbau auftrumpfen<br />

müssen. Zumal die Sanierung eines denkmalgeschützten<br />

Gebäudes Grenzen vorgibt. Was bei<br />

den beiden eine besonders originelle Form der<br />

Fantasie freigesetzt hat, die mit der duplizierten<br />

Fassade des neobarocken Altbaus beginnt und<br />

mit dem fulminanten neuen Foyer endet. Der<br />

Glanz der Belle Époque leuchtet wieder auf.<br />

Im Za Zaa geht es dagegen gemütlich orientalisch<br />

zu. „Ich kann auf den Sofas sofort entspannen<br />

und dabei die Küche des Nahen Ostens<br />

genießen – eine Oase“, schwärmt Ivor Bolton<br />

und empfiehlt eine Auswahl Mezze und unbedingt<br />

das Tabulé mit Granatapfelkernen. Nach<br />

solchen Vorspeisen könne er immer noch dirigieren, vor Bruckner<br />

bräuchte es dann allerdings einen erfrischenden Spaziergang am<br />

Rhein: „Man ist vom Probenraum aus schnell am Fluss – in Basel ist<br />

alles ganz nah und durch das Flair doch irgendwie großstädtisch.“<br />

Mit einiger Leidenschaft pflegen die Basler dort auch das Rheinschwimmen,<br />

und mittlerweile gehört diese alte Tradition auch zu den<br />

Touristenattraktionen. Beliebt ist die Zone zwischen der Dreirosenbrücke<br />

und dem Museum Tinguely, das wir nach einem abschließenden<br />

Mokka ansteuern: „Ein tolles Haus! Wenn ich Besuch habe,<br />

kommt der um Jean Tinguely nicht herum“, amüsiert sich Bolton. Die<br />

Reaktionen auf die kinetischen Skulpturen des Schweizer Künstlers<br />

seien jedes Mal begeistert: „Das Kind in uns wird angetippt.“ Mit<br />

etwas mehr Zeit wäre Bolton an diesem Nachmittag auch gerne in<br />

Richtung Riehen, in den Vorort an der Grenze nach Baden hinausgefahren.<br />

Die Fondation Beyeler sei allein durch die Verschmelzung<br />

von Gebäude und weitläufigem Park die pure Poesie. Renzo Piano,<br />

der Architekt, hat sich auf die Kunst eingelassen, und nach seiner<br />

Eröffnung 1997 ist der Bau mit seinen exquisiten Ausstellungen bald<br />

zum meistbesuchten Museum der Schweiz avanciert.<br />

„Ich bin jetzt fünf Jahre beim Sinfonieorchester und immer<br />

noch verblüfft, wie viel Kultur hier geboten ist“, sagt Bolton und<br />

101


L E B E N S A R T<br />

Das Spalentor: das prächtigste und<br />

imposanteste der drei Stadttore<br />

blickt hinüber zum anderen Ufer auf die Altstadt,<br />

über der das Münster thront. Diese Neugier<br />

auf Kunst und Musik, das imponiere ihm<br />

sehr. „Unser Publikum kommt auch, wenn wir<br />

Zeitgenössisches im Programm haben“, erzählt<br />

er, „und während anderen Orchestern die<br />

Abonnenten davonlaufen, haben wir in der<br />

Krise sogar zugelegt.“<br />

In der Grenzstadt am Rheinknie ist auch<br />

das Mäzenatentum tief verankert. Von den 77,5<br />

Millionen Franken, die die Sanierung des Stadtcasinos<br />

gekostet hat, kam gut die Hälfte von privaten<br />

Gönnern. Das Budget wurde übrigens eingehalten,<br />

für Schnickschnack ist man in der<br />

Schweiz nicht zu haben. Lieber wird gezielt<br />

investiert – etwa in scheinbar Simples wie Fenster.<br />

Jahrzehntelang musste man in Basel das<br />

Rumpeln der Trambahnen in Kauf nehmen,<br />

selbst das Zumauern der Fenster in den 60er-Jahren konnte die Störung<br />

nicht verhindern. Wenn Bolton seine Musiker nun durch das<br />

Largo von Dvořáks Neunter, Aus der Neuen Welt lenkt, muss niemand<br />

mehr die Pianissimo-Stellen fürchten. Durch eigens für das Casino<br />

entwickelte Spezialfenster bleibt der Straßenlärm tatsächlich draußen.<br />

„Dieser Saal gibt uns allen einen Kick“, versichert Bolton. Und<br />

das betrifft nicht nur die Sinfoniker. Basel ist mit Ensembles wie dem<br />

Kammerorchester und dem Barockensemble La Cetra bestens aufgestellt.<br />

Konkurrenz sei das nicht, schüttelt er den Kopf. Wie auch? Der<br />

62-jährige Brite aus dem englischen Lancashire kommt schließlich<br />

aus der alten Abteilung. An der Bayerischen Staatsoper in München<br />

ist er als Spezialist für Cavalli, Händel und Mozart gefragt und dirigiert<br />

am liebsten vom Cembalo aus. Das liegt ihm seit Studententagen<br />

im Blut. Dann vergisst er alles um sich<br />

herum, lebt nur noch in der Musik – das hat<br />

ihm auch in Basel schnell die Sympathie des<br />

Orchesters eingebracht.<br />

Blitzartig ist Bolton dann auch wieder in<br />

der Realität: „Wir müssen noch Basler Läckerli<br />

besorgen, mein Sohn Samuel ist ganz scharf<br />

darauf.“ In Basel heißen die kleinen quadratischen<br />

Honigkuchen „Läckerli“ mit einem ä,<br />

und die besten und selbstredend auch die teuersten<br />

gibt es im Läckerli Huus. An der Greifengasse,<br />

direkt an der Mittleren Brücke, im<br />

noblen Café Spitz, sitzt die schönste Filiale.<br />

Bolton kauft mehrere Packungen und lächelt<br />

leicht verlegen: „Ich mag die genauso, und sie<br />

halten lange ... Nur nicht bei uns.“ Sofern er<br />

überhaupt zu seiner Familie fahren kann. Mit<br />

Sohn Samuel und Ehefrau Tess Knighton, einer<br />

Musikwissenschaftlerin, lebt Bolton vor allem in Spanien, in Ma drid<br />

ist er außerdem Musikdirektor am Teatro Real. Doch jetzt sei das<br />

Reisen mühsam bis unmöglich geworden, und ja, er vermisse die<br />

beiden. Das sei der einzige Haken an seinem Traumjob. Auf der<br />

anderen Seite der Brücke ist es nicht mehr weit bis zum Grand Hotel<br />

Les Trois Rois. „Wir haben uns eine Pause verdient“, findet Ivor. Die<br />

Ober kennen ihn, ein Chesterfieldsessel in<br />

der Bar ist ihm sicher. Basel sei nirgends so<br />

britisch wie hier beim Afternoon Tea, betont<br />

er. „Das hilft gegen jedes Heimweh.“ ■<br />

Beethoven, Satie u.a.: Live from Stadtcasino Basel,<br />

Ivor Bolton, Sinfonieorchester Basel (Berlin Classics)<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in Basel.<br />

Kultur<br />

Die neueste Attraktion Basels: das von Herzog<br />

& de Meuron gestaltete Stadtcasino<br />

(stadtcasino-basel.ch). Neben der Fondation<br />

Beyeler (fondationbeyeler.ch) und dem<br />

Museum Tinguely (tinguely.ch) übersieht<br />

man leicht die Schausammlungen, zumal gerade<br />

im Kunstmuseum (kunstmuseumbasel.ch)<br />

beste Schweizer Malerei präsentiert wird.<br />

Konrad Witz erkundet im 15. Jahrhundert den<br />

Raum, schafft Figuren von großer plastischer<br />

Klarheit. Und die Arbeiten von Caspar Wolf,<br />

dem vorromantischen Pionier der Hochgebirgsmalerei,<br />

sind so präzise, dass die Geologen<br />

den Rückgang der Gletscher ermessen<br />

können.<br />

Essen & Trinken<br />

Wer mittags die libanesische Küche im Za Zaa<br />

(zazaa.ch) ausprobiert hat, lässt sich abends am<br />

besten noch mal überraschen: beim Isaak<br />

(zum-isaak.ch). Im Restaurant am Münsterplatz<br />

gibt es Cuisine surprise – was genau, verrät nur<br />

der Service. Aber natürlich wird man auch à la<br />

carte verwöhnt: z. B. mit gebackenem Geißenkäse<br />

auf Rucola, danach eine der Spezialitäten,<br />

fabelhafte Maispoulardenbrust mit zarter<br />

Estragonsauce oder Lammfilet an Rosmarinjus.<br />

Das Basler Läckerli Parfait ist Lokalkolorit in<br />

Dessert-Form. Und wer dann noch nicht genug<br />

von den kleinen Lebkuchen hat: Das Läckerli<br />

Huus (laeckerli-huus.ch) hat Nachschub.<br />

Übernachten<br />

Eigentlich ist der Teufelhof (teufelhof.<br />

com) ein Kulturzentrum: Theater, Bar-Café,<br />

Weinladen, Brauerei, Atelier- und Gourmet-<br />

Restaurant, Kunst- und Galeriehotel.<br />

Man ist in den denkmalgeschützten Räumen<br />

rund um die Uhr unterhalten und versorgt.<br />

Schon vor 30 Jahren wurden Zimmer<br />

und Suiten von Künstlern wie Flavio Paolucci<br />

oder Dieter Meier gestaltet. Gleich gegenüber<br />

ist die Musikakademie. Wer königlich<br />

wohnen möchte, nimmt nicht nur – wie<br />

Ivor Bolton – einen Drink in der Bar des<br />

Les Trois Rois (lestroisrois.com), sondern<br />

sinkt danach auch dort aufs Kissen.<br />

FOTOS: CEKORA / PIXELIO.DE; ROMAN WEYENETH; LES TROIS ROIS BAR; KUNSTHOTEL IM TEUFELHOF<br />

102 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


MOUNTAIN RESORT • SPIRIT & SPA<br />

WinteraufTAKT<br />

Auf 1.769 Metern Seehöhe gelegen. Ein Wellnesshotel mit Chalet-Almdorf mitten im herrlichen<br />

Skigebiet Gerlitzen Alpe mit freiem Blick über die Täler und Berge. Österreichs Badewelt am<br />

Berg auf 4.500 m² mit Almsee, 12 Pools, 11 Saunen und 16 Ruheoasen. Wie klingt Ruhe und<br />

Entspannung? Finden Sie Ihren Takt: www.feuerberg.at<br />

+43 (0)4248 2880 | kontakt@feuerberg.at | www.feuerberg.at<br />

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REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

KULTURSCHATZKAMMER<br />

SACHSEN<br />

Da sind das Leipziger Gewandhaus,<br />

der Dresdner Zwinger, die Frauenkirche<br />

oder die legendäre Semperoper:<br />

Die prominenten Kulturorte<br />

Sachsens sind zweifelsohne eine Reise wert<br />

und ziehen ein internationales Publikum<br />

an. Doch die sächsische Kulturlandschaft<br />

hat weit mehr zu bieten als die weithin bekannten<br />

Großstädte der Hochkultur. So<br />

lockt das Bundesland mit zahlreichen<br />

Stadtschönheiten, die mit eindrucksvoller<br />

Architektur und gewichtiger Geschichte<br />

ebenso aufwarten wie mit romantischen<br />

Gässchen, bunten Märkten und span nend<br />

aufbereiteten Museen. Dabei ist der vielseitige<br />

Freistaat immer für eine Überraschung<br />

gut und es lohnt sich, auch jenseits<br />

der bekannten Pfade und Ziele auf Entdeckungsreise<br />

zu gehen und einzutauchen in<br />

die facettenreiche und lebendige Kulturszene<br />

in den Städten der Region.<br />

In Sachsens Hauptstadt Dresden präsentiert<br />

sich eines der berühmtesten Museen<br />

der Welt, die Dresdner Gemäldegalerie<br />

Alte Meister, in reizvollem neuen Gewand.<br />

Sieben Jahre lang wurde die Galerie<br />

saniert, nun finden die Besucher in der<br />

neu konzipierten Ausstellung fantastische<br />

Gemälde ebenso vor wie Kleinbronzen,<br />

Büsten und Marmorwerke. Ein Höhepunkt<br />

des prachtvollen Rundgangs ist der<br />

Canaletto-Saal, in dem die weltberühmten<br />

Veduten des Meisters Bernardo Bellotto<br />

auf Augenhöhe präsentiert werden.<br />

Ein Museumserlebnis ganz anderer<br />

Art bietet sich den Besuchern in den ebenfalls<br />

frisch sanierten Hallen des Zwickauer<br />

Audi-Baus, in dem das August-Horch-<br />

Museum zu Hause ist. Vor außergewöhnlicher<br />

Kulisse erstreckt sich hier auf 6.500 m²<br />

Ausstellungsfläche die Geschichte von<br />

über 115 Jahren Zwickauer Automobilbau,<br />

anschaulich und innovativ aufbereitet und<br />

reizvoll eingebettet in den jeweiligen historischen<br />

Kontext. Der Pioniergeist und Erfindungsreichtum<br />

der Zwickauer Automobilbranche<br />

ist zudem auch in der Sonderausstellung<br />

im Rahmen der 4. Sächsischen<br />

Landesausstellung nachzuspüren, die im<br />

Museum spannungsvoll die Zukunft der<br />

Mobilität und die Entwicklung des Automobils<br />

ins Zentrum stellt.<br />

Was für Zwickau das Auto ist, ist für<br />

die Stadt Meißen das Porzellan. Doch die<br />

Anziehungskraft dieses besonderen Orts<br />

reicht weit über das kostbare Gut der Manufaktur<br />

hinaus. So zeigt sich Meißen<br />

rund dreißig Jahre nach der Wende mit<br />

einer umfassenden Stadterneuerung von<br />

seinen schönsten Seiten und so lohnt sich<br />

ein ausgiebiger Stadtbummel in der geschichtsträchtigen<br />

Handelsstadt. Romanti-<br />

FOTO: HOLGER STEIN<br />

INFORMATIONEN<br />

Die Tourismus Marketing Gesellschaft Sachsen hat ein liebevolles Magazin „Stadtschönheiten“<br />

herausgebracht, das mit vielen Städtetipps, Geschichten und Inspirationen aufwartet.<br />

Die „Stadtschönheiten“ können Sie kostenlos bestellen unter:<br />

Tourismus Marketing Gesellschaft Sachsen mbH<br />

Bautzner Straße 45 – 47, 01099 Dresden, +49-(0)351-49 17 00, info@sachsen-tour.de<br />

www.sachsen-tourismus.de<br />

104 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

FOTO: HOLGER STEIN<br />

sche Kopfsteinpflaster-Gassen und schmucke<br />

Wohn- und Geschäftsgebäude aus vielen<br />

Jahrhunderten mit prächtig verzierten<br />

Balkendecken und kunstvoll gemauerten<br />

Giebeln lassen das Herz jedes Architekturfreunds<br />

höherschlagen. Eine Stadtführung<br />

entlang der neu konzipierten „Denkmalroute“,<br />

die faszinierende Einblicke in den<br />

Wiederaufbau Meißens als kulturhistorisches<br />

Kleinod verspricht, vereint die wertvollsten<br />

Zeugnisse deutscher Baukultur.<br />

Mit der Silberstadt Freiberg mitten in<br />

der historisch gewachsenen Montanregion<br />

Erzgebirge lockt ein weiteres vielseitiges<br />

Ausflugs- und Urlaubsziel. Bis heute spiegelt<br />

sich der durch den Silberboom entstandene<br />

Reichtum im prachtvollen Stadtbild<br />

wider. Dabei fallen dem Besucher bei<br />

einem ausgiebigen Stadtbummel durch die<br />

malerischen Gassen und Straßenzüge zahlreiche<br />

schmucke Bauten ins Auge. Da ist<br />

etwa das Schloss Freudenstein, das mit<br />

seiner großartigen Renaissance-Fassade<br />

in den Bann zieht und eine der weltweit<br />

schönsten Mineralien-Sammlungen beherbergt,<br />

oder der eindrucksvolle Dom<br />

St. Marien, in dem die beiden Instrumente<br />

des legendären Barock-Orgelbauers Gottfried<br />

Silbermann zu bewundern sind. Für<br />

alle, die tiefer eintauchen möchten in die<br />

Vergangenheit dieser besonderen Region,<br />

lohnt sich schließlich auch eine Fahrt unter<br />

die Erde in die „Himmelfahrt Fundgrube“<br />

mit der „Reichen Zeche“, mitten<br />

hinein in die spannende Geschichte des<br />

Bergbaus. So zeigt sich das Kulturland<br />

Sachsen bei einer genussvollen Rundreise<br />

durch die verschiedenen Städte in all seinen<br />

Facetten: lebendig, kreativ, kunstsinnig<br />

und aufgeschlossen. Lassen Sie sich<br />

ins pirieren vom Magazin „Stadtschönheiten<br />

Sachsen“.<br />

ANNABERG-<br />

BUCHHOLZ<br />

www.annaberg-buchholz.de<br />

BAUTZEN<br />

www.tourismus-bautzen.de<br />

CHEMNITZ<br />

www.chemnitz-tourismus.de<br />

DRESDEN<br />

www.dresden.de/tourismus<br />

FREIBERG<br />

www.freiberg.de/tourismus<br />

GÖRLITZ<br />

www.goerlitz.de<br />

GRIMMA<br />

www.grimma.de<br />

KAMENZ<br />

www.kamenz.de/tourismus<br />

LEIPZIG<br />

www.leipzig.travel<br />

MEISSEN<br />

www.touristinfo-meissen.de<br />

Der Freistaat Sachsen lockt neben den Zentren<br />

Dresden und Leipzig mit zahlreichen weiteren<br />

reizvollen Städten und Kulturoasen<br />

Blick über die Weinberge<br />

auf die Stadt Meißen<br />

mit Albrechtsburg und Dom<br />

PIRNA<br />

www.pirna.de/tourismus<br />

PLAUEN<br />

www.plauen.de/tourismus<br />

RADEBEUL<br />

www.radebeul.de<br />

TORGAU<br />

www.tic-torgau.de<br />

ZITTAU<br />

www.zittau.de<br />

ZWICKAU<br />

www.zwickautourist.de<br />

105


REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

FOTOS: NIKOLAJ LUND<br />

VON<br />

TROLLEN<br />

UND<br />

TÖNEN<br />

Das Hemsing Festival –<br />

Kammermusik inmitten<br />

der idyllischen Natur Norwegens.<br />

Hinter verschneiten Bergen, dichten Wäldern und<br />

sich windenden Fjorden, inmitten der malerischen<br />

norwegischen Landschaft Valdres, befindet<br />

sich das Dorf Aurdal. Der Ort mit nicht einmal 700<br />

Einwohnern ist die Heimat der Geigerinnen Ragnhild<br />

und Eldbjørg Hemsing. Hierher laden sie seit <strong>20</strong>13 befreundete<br />

Musiker und Musikliebhaber aus aller Welt<br />

zum Hemsing Festival ein, um die Tradition und die Musik<br />

Norwegens aus nächster Nähe zu erleben.<br />

Die Schwestern Ragnhild und Eldbjørg Hemsing<br />

könnten unterschiedlicher nicht sein. Ragnhild ist die ältere<br />

der beiden, mit ihren strahlenden Augen, den langen<br />

braunen Haaren und ihrer ruhigen, freundlichen Art hat<br />

sie etwas „Elfenhaftes“, das sofort in die Umgebung passt.<br />

Die zwei Jahre jüngere Eldbjørg hat ihr Haar hell blondiert,<br />

ist energiegeladen und redet schnell und voller Begeisterung.<br />

Beide sind inmitten von Natur und Musik<br />

aufgewachsen und tief mit der norwegischen Tradition,<br />

den Mythen und Sagen verbunden. Der Vater ist Förster,<br />

die Mutter Geigenpädagogin. Schon im Kindergartenalter<br />

begannen die Schwestern, Geige und die traditionelle<br />

Hardangerfiedel zu lernen, nach dem Üben begleiteten sie<br />

ihren Vater auf seinen Touren durch die Berge. Später<br />

verließen sie das Dorf, um in Wien zu studieren. Mittlerweile<br />

sind beide international gefragte Solistinnen. Eldbjørg<br />

lebt in Oslo, Ragnhild zog zurück nach Aurdal und<br />

hat es sich neben ihrer Karriere als Violinistin zur Aufgabe<br />

gemacht, auch die Hardangerfiedel, die mit ihren zusätzlichen<br />

Resonanzsaiten und ihrem besonderen Klang<br />

schon Grieg und Halvorsen inspirierte, auf die großen<br />

Konzertbühnen zu bringen.<br />

Die Idee, in ihrem Heimatdorf ein Festival zu veranstalten,<br />

entstand aus dem Wunsch heraus, dem Ort etwas<br />

zurückzugeben. So laden die beiden Schwestern international<br />

renommierte Musiker ein – und die kommen gerne:<br />

Kammermusik in fantastischer Umgebung und einer<br />

warmen, familiären Atmosphäre. „Intime Begegnungen<br />

mit großartiger Musik“, das ist das Ziel des Hemsing Festivals.<br />

Statt in großen Sälen finden die Konzerte an kleinen<br />

Orten statt. Der größte ist Aurdals Dorfkirche, in der<br />

280 Personen Platz finden. Dann gibt es den historischen<br />

Gasthof, in dem Grieg übernachtete, als er die Musik der<br />

Region erforschte, die Fischfarm, auf der die Konzertbesucher<br />

nach dem Konzert den traditionellen „Rakfisk“<br />

probieren können, und eine Bergkirche, die man nur auf<br />

Skiern oder mit dem Hundeschlitten erreicht. Der Weg<br />

zum Konzert ist für das Publikum Teil der Festivalerfahrung.<br />

„Die besondere Umgebung öffnet die Sinne“, sagt<br />

Eldbjørg, „und statt auf den großen Bühnen in Berlin<br />

oder New York kann das Publikum hier große Musiker<br />

hören, in absolut intimer Atmosphäre.“ – „Man ist wirklich<br />

nah dran! Heute auf der Fischfarm saß Cellist<br />

Andreas Brantelid beinahe auf dem Schoß eines Zuhörers!“,<br />

sagt Ragnhild lachend: „Wir haben als Klavierquartett<br />

angefangen zu spielen, dann waren wir quasi ein<br />

Quintett.“<br />

INFORMATIONEN<br />

Hemsing Festival | 24. bis 28. Februar <strong>20</strong>21<br />

<strong>20</strong>21 bekommt das Festival coronabedingt einen noch intimeren<br />

Rahmen, es findet verkürzt und mit lokalen Musikern statt.<br />

www.hemsingfestival.com<br />

106 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

FOTOS: TOURISMUS SALZBURG GMBH<br />

Ja, irgendwie gibt es Orte, in denen ist mehr Weihnachten<br />

als anderswo. Vielleicht liegt es daran, dass der<br />

Advent mehr zelebriert wird, Traditionen lebendig<br />

sind. Salzburg ist so einer: Sehenswürdigkeiten schmiegen<br />

sich an den schönsten Plätzen in die Felsenstadt, als wären<br />

sie Teil der Kulisse. Selbst wenn in diesem Jahr alles anders<br />

ist – Salzburg büßt nichts von seinem Reiz ein. Fast möchte<br />

man sagen: im Gegenteil. Denn selten hat man den Advent<br />

hier so entspannt erlebt. Krisen bergen eben doch Chancen,<br />

und so darf in Salzburg stattfinden, was moderne<br />

Städte nur noch selten bieten können: sie zu Fuß kennenzulernen.<br />

Keine Form der Eroberung ist sanfter und schöner!<br />

Und natürlich ist es auch recht charmant, das „Rom<br />

des Nordens“ ganz privilegiert entdecken zu können.<br />

Allein die Mozart-Museen hat man vermutlich noch<br />

nie in dieser Ruhe erleben dürfen: Das Mozart-Geburtshaus<br />

in der Getreidegasse, wo das Wunderkind 1756 zur<br />

Welt kam und 17 Jahre lebte mit der jährlich wechselnden<br />

Sonderausstellung, sowie das Wohnhaus am Makartplatz,<br />

wo die Mozarts ab 1773 lebten, lässt aufschlussreiche Einblicke<br />

in den Alltag der Musikerfamilie zu.<br />

Eine gute Adresse in Sachen Brauchtum speziell in<br />

dieser Zeit ist das nahezu ganzjährig geöffnete Salzburger<br />

Weihnachtsmuseum mit liebevoll gesammelten Exponaten.<br />

In der Ausstellung „Weihnachtszeit – Feste zwischen Advent<br />

und Neujahr in Süddeutschland und Österreich<br />

1840 – 1940“ wird unter anderem Weihnachtsschmuck aus<br />

dem Erzgebirge oder den Wiener Werkstätten gezeigt.<br />

Ein weiteres Highlight: Festspiel-Flair im Winter!<br />

„100 Jahre Salzburger Festspiele“ in der Neuen Residenz<br />

zählt ganz sicher zu den interessantesten und atmosphärisch<br />

dichtesten Ausstellungen, die je einem Festival zuteil<br />

wurde. Kurzweiliger lässt sich ein Tag nicht planen.<br />

SALZBURG<br />

LEUCHTET!<br />

Auch in Salzburg wird in diesem Jahr<br />

der Veranstaltungskalender ein wenig<br />

kürzer ausfallen. Dafür aber umso schöner<br />

und mit einer völlig neuen Qualität.<br />

Noch ein Must für einen Salzburg-Trip im Advent:<br />

das Winterfest (9. bis 29. <strong>Dezember</strong>), das in diesem Jahr<br />

<strong>20</strong>-jähriges Jubiläum feiert. Das größte Festival für zeitgenössische<br />

Circuskunst im deutschsprachigen Raum setzt<br />

mit atemberaubender Akrobatik und Veranstaltungen<br />

aus Kunst, Tanz, Musik, Schauspiel und Puppentheater<br />

einen charmanten Kontrapunkt zur besinnlichen Zeit.<br />

Schließlich legt Salzburg auch ein Päckchen unter<br />

den Christbaum: die Vorfreude auf die Mozartwoche <strong>20</strong>21<br />

(21. bis 31. Januar). „Mozart lebt!“ ist das Motto und legt<br />

sein Hauptaugenmerk auf den Musikdramatiker Mozart:<br />

der für den Intendanten Rolando Villazón nicht nur das<br />

fröhliche Wunderkind der Stadt ist, sondern auch der vollkommenste<br />

„musico drammatico“. Mit einem klugen und<br />

vielseitigen Programm tritt er den Beweis aufs Unterhaltsamste<br />

an! (Veranstaltungen & Termine: Änderungen vorbehalten.)<br />

INFORMATIONEN<br />

Tourismus Salzburg<br />

+43-(0)662-88 98 70<br />

www.salzburg.info<br />

www.mozarteum.at<br />

www.winterfest.at<br />

SALZBURGER PACKAGES<br />

Pauschalangebote für Ihre persönlich<br />

arrangierte Salzburg-Reise finden Sie<br />

unter: www.salzburg.info/pauschalen<br />

107


REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

INFORMATIONEN<br />

Odessa Classics 7. International Music Festival | 2. bis 12. Juni <strong>20</strong>21<br />

+38-(0)48-704 07 33, odessaclassics@gmail.com, en.odessaclassics.com<br />

Änderungen sind vorbehalten.<br />

FOTOS: ODESSA CLASSICS<br />

EIN FESTIVAL-JUWEL<br />

AM SCHWARZEN MEER<br />

Das Odessa Classics Music Festival lockt mit einer exquisiten Musikauswahl.<br />

Odessa – die Perle am Schwarzen Meer – kommt<br />

im Juni <strong>20</strong>21 mit der siebten Ausgabe von<br />

Odessa Classics kulturell und musikalisch in der<br />

oberen Liga der europäischen Festivalkultur an. Mit großem<br />

Erfolg wurde innerhalb von nur sechs Jahren ein<br />

durch seine Vielseitigkeit beeindruckendes internationales<br />

Festival geschaffen. Daniel Hope kommt mit großer<br />

Begeisterung bereits zum wiederholten Mal als Artist in<br />

Residence und hat sich als der große Publikumsliebling<br />

etabliert.<br />

Der bekannte Pianist und Intendant des Odessa<br />

Classics Alexey Botvinov präsentiert auch dieses Jahr ein<br />

spannendes Programm mit außerordentlichen Ensembles<br />

und Solisten: San Francisco New Century Orchestra, Zürcher<br />

Kammerorchester, Estonian National Symphony Orchestra,<br />

Daniel Hope, Sebastian Knauer, Matthias Goerne,<br />

Michael Guttman, Alexey Botvinov und viele mehr.<br />

Die Konzerte werden nicht nur im Saal der historischen<br />

Philharmonie, sondern auch im Opernhaus Odessa,<br />

einem der schönsten Opernhäuser der Welt, stattfinden.<br />

Höhepunkt des Festivals wird wie jedes Jahr das<br />

große Open-Air-Konzert auf der berühmten Potemkinschen<br />

Treppe sein. Und „last but not least“ ist die Stadt<br />

Odessa selbst mit der wunderschönen historischen Altstadt,<br />

ihrem intensiven mediterranen Charisma und den<br />

gastfreundlichen Bewohnern immer eine Reise wert.<br />

IMPRESSUM<br />

Reise & Kultur ist ein Themenspecial von <strong>CRESCENDO</strong> – Deutschlands großem Magazin für klassische Musik & Lebensart<br />

Verlag: Port Media GmbH, Rindermarkt 6, D-80331 München, www.crescendo.de, Tel. +49-(0)89-74 1 5 09-0<br />

Herausgeber: Winfried Hanuschik (v. i. S. d. P.) | Redaktion: Petra Lettenmeier<br />

Autoren: Barbara Schulz, Sina Kleinedler, Dorothea Walchshäusl | Artdirection: Christine Tschorn<br />

Anzeigen: Cornelia Engelhard, Petra Lettenmeier, www.crescendo.de/media, anzeigen@portmedia.de, Tel. +49-(0)89-74 15 09-<strong>20</strong><br />

Verbreitete Auflage 132.000 Expl. | <strong>CRESCENDO</strong> Themenspecials unterliegen der Auflagenkontrolle durch die IVW<br />

Druck: Westermann, D-38104 Braunschweig<br />

108 www.crescendo.de — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


DIE SCHÖNSTEN OPERNHÄUSER<br />

DER WELT UND<br />

EXKLUSIVE SALONKONZERTE<br />

Klassik- und Kulturreisen mit ADAC Reisen für Musikfreunde.<br />

REISE- & KULTURANZEIGEN<br />

FOTO: MICHAEL HOLZ<br />

Musikalischer Genuss der Spitzenklasse, kombiniert<br />

mit einem handverlesenen Rahmenprogramm.<br />

Unter dem Motto „Reisen für Musikfreunde“<br />

präsentiert der ADAC Reisen für Klassikfans. In<br />

diesem Jahr stehen noch mehrere musikalische Highlights<br />

auf dem Programm: darunter einige schöne Musikreisen<br />

nach Dresden, wo die Semperoper einen attraktiven Alternativ-Spielplan<br />

erarbeitet hat. Das berühmte Opernhaus<br />

bietet Die Zauberflöte von Mozart, Puccinis wundervolle<br />

Oper Tosca sowie Atilla von Giuseppe Verdi zum Teil in<br />

adaptierten Fassungen an. Wunderbare Konzerte der Sächsischen<br />

Staatskapelle Dresden – insbesondere auch das geplante<br />

Silvesterkonzert – ergänzen das Musikangebot. Attraktive<br />

Besichtigungen und Führungen in der Stadt und<br />

den zahlreichen Museen komplettieren die Reisen.<br />

Auch nach Hamburg sind mehrere Klassikreisen geplant:<br />

Erleben Sie den Ausnahmekünstler Igor Levit in<br />

einer Konzertreihe mit ausgewählten Sonaten Beethovens<br />

im großen Saal der Elbphilharmonie. Übernachtet wird<br />

ganz in der Nähe des neuen Wahrzeichen Hamburgs im<br />

Luxushotel Fraser Suites Hamburg. 40 Jahre Erfahrung<br />

in der Organisation hochkarätiger Musikreisen bringt der<br />

ADAC mittlerweile mit. Ob individuell oder als Gruppenreise,<br />

ob zu Festspielen oder auf Musikkreuzfahrt –<br />

rund 250 persönlich und mit viel Herzblut geplante Reisen<br />

stehen jedes Jahr auf dem Programm. Neben erstklassigen<br />

Opern-, Konzert- und Ballettbesuchen erleben die<br />

Gäste Spitzengastronomie, interessante Stadtführungen<br />

und einen Blick hinter die Kulissen, übernachten in ausgesuchten<br />

Top-Hotels und werden von versierten ADAC-<br />

Reiseleitern begleitet. Alle Reisen sind auch für Nichtmitglieder<br />

buchbar.<br />

Schlosshotel Kronberg im Taunus<br />

Die handverlesene „Salonreise“<br />

Die „Salonreisen“ bieten erstklassig besetzte Kammerkonzerte,<br />

die nur für Gäste der „Reisen für Musikfreunde“<br />

in schönen Salons oder Räumlichkeiten stattfinden<br />

– ganz im Sinne der traditionellen Salonkultur<br />

des 18. bis <strong>20</strong>. Jahrhunderts. Die Unterbringung in<br />

stilvollen Hotels, interessante Rahmenprogramme und<br />

ein begrenzter Teilnehmerkreis von zehn bis maximal<br />

19 Personen zeichnen dieses neue Angebot aus<br />

Zum Jahreswechsel steht eine dreitägige Salonreise<br />

an. Es geht nach Kronberg im Taunus, wo die Gäste<br />

im edlen Schlosshotel Kronberg residieren. Ein Ausflug<br />

in die Kurstadt Wiesbaden mit Besuch der aktuellen<br />

Ausstellung „August Macke. Paradies! Paradies?“<br />

im Museum Wiesbaden und eine interessante Stadtführung<br />

bilden das Rahmenprogramm. Musikalisch<br />

begeistern die hochkarätigen Künstler Nami Ejiri (Piano)<br />

sowie die Mitglieder des hr-Symphonieorchesters<br />

Stefano Succi (Violine) und Ulrich Horn (Violoncello)<br />

mit ihren Interpretationen bei intimen Konzerten in<br />

der Bibliothek des Schlosshotels.<br />

RfM-Logo_4c.indd 1<br />

17.10.<strong>20</strong>07 13:03:45 Uhr<br />

INFORMATIONEN<br />

Beratung & Buchung<br />

in jedem ADAC Reisebüro<br />

+49-(0)69-66 07 83 10<br />

info@adac-musikreisen.de<br />

www.adac-musikreisen.de<br />

REISEANGEBOTE<br />

Neben Gruppenreisen, die eine Betreuung durch versierte<br />

Reiseleiter beinhalten, werden Individualreisen,<br />

die Hotel und Eintrittskarten beinhalten, angeboten.<br />

109<br />

Sonderveröffentlichung/Anzeigen/Präsentationen 77


L E B E N S A R T<br />

Lieblingsessen!<br />

HIER VERRATEN DIE STARS UND STERNEKÖCHE IHRE BESTEN REZEPTE.<br />

UND KLEINE GESCHICHTEN, DIE DAZUGEHÖREN ...<br />

KULINARISCHER KNIEFALL VOR<br />

BEETHOVEN: EIN DESSERT FÜR ELISE<br />

ALEXANDER HERRMANN<br />

FOTO: STUDIO CHEZ E’LAIN<br />

110 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


ALEXANDER HERRMANN<br />

GASTRONOM UND KOCH MIT ZWEI STERNEN<br />

„Man mag mir die ein wenig konstruierte Brücke verzeihen, aber es liegt in dieser Zeit ja irgendwie auch auf der Hand:<br />

Es gibt für mich nur ein Produkt auf dieser Welt, das ich mit Für Elise in Verbindung bringe, und das ist der Elisenlebkuchen.<br />

Der Legende nach hat ihn ein Nürnberger Lebküchner, der um die Kraft der orientalischen Gewürze wusste,<br />

erfunden für seine kranke Tochter Elisabeth – die tatsächlich wieder gesund wurde. Das Tiramisu mit Elisenlebkuchen ist<br />

meine Hommage an Beethoven – eine Komposition, die seiner Elise vermutlich auch gefallen hätte.“<br />

FOTO: DEBUS FOTOGRAFIE<br />

Mit diesem Rezept geht unsere<br />

Serie mit Alexander Herrmann<br />

zu Ende. Der <strong>20</strong>19 mit zwei<br />

Sternen gekürte Koch war als<br />

Klassikeinsteiger Botschafter<br />

des BR-Großprojekts<br />

Beethoven bewegt und hat sich<br />

auf seiner Reise in die Welt<br />

der Musik von Beethoven-<br />

Werken inspirieren lassen.<br />

Nach dem kulinarischen<br />

Ta-ta-ta-taaar in der letzten<br />

Ausgabe hat er nun mit Elise<br />

geflirtet. Der er ein Weihnachtsdessert<br />

widmet – zu<br />

servieren mit großem<br />

Ta-ta-ta-taaa.<br />

Mindestens zwei Sterne in den<br />

Augen inklusive ...<br />

•<br />

MANDELSPLITTER-TIRAMISU MIT ELISENLEBKUCHEN<br />

Für 2 Personen<br />

Zutaten für die Mandelsplitter: 1 Vanilleschote, 40 g Mandelsplitter, 1 TL Puderzucker, 80 g dunkle Schokolade, Abrieb<br />

von 1 Bio-Orange, 1 Elisenlebkuchen (ca. 60 g), <strong>20</strong> g Amarettini, 1 EL Orangenlikör<br />

Zutaten für die Creme: 1 Eigelb, 1 EL Puderzucker, 80 g Mascarpone, ½ TL Lebkuchengewürz, 100 g Sahne<br />

Zubereitung: Die Vanilleschote der Länge nach aufschneiden, das Mark herauskratzen, zusammen mit den Mandelsplittern<br />

und dem Puderzucker in einen kleinen Topf geben, auf dem Herd bei mittlerer Hitze unter gelegentlichem Rühren in<br />

2–3 Minuten goldbraun karamellisieren und in eine Schüssel umfüllen. Die Schokolade in groben Stücken in eine Metallschüssel<br />

geben, über dem Wasserbad schmelzen und den Orangenabrieb (ein wenig für die Deko beiseitestellen) einrühren.<br />

Die Oblate vom Boden des Lebkuchens entfernen. Den Lebkuchen und die Amarettini zwischen den Fingerspitzen<br />

grob zerbröseln, in die Schüssel zu den Mandeln (ein paar für die Deko beiseitestellen) geben, alles mit Orangenlikör<br />

beträufeln, durchrühren, unter die flüssige Schokolade heben, gut vermengen, auf einem großen, mit Backpapier ausgelegten<br />

Teller verteilen und zum raschen Abkühlen ins Tiefkühlfach stellen (alternativ einen Tag vorher zubereiten).<br />

Eigelb und Puderzucker mit dem Handrührgerät in einer Schüssel hell und cremig aufschlagen, die Mascarpone einrühren<br />

und großzügig mit Lebkuchengewürz abschmecken. Die Sahne steif schlagen und vorsichtig locker unter die Mascarponecreme<br />

heben. Die Lebkuchen-Mandel-Masse aus dem Tiefkühlfach holen, in grobe Stücke brechen und abwechselnd mit<br />

der Mascarponecreme in Gläser schichten. Sofort servieren und genießen<br />

Wer „einfach“ mal besser essen möchte: Gourmetwelten in Alexander Herrmanns Posthotel<br />

in Wirsberg (herrmanns-posthotel.de). Oder in Nürnberg im Imperial, im Frank’ness oder bei<br />

der Dinner-Show Palazzo. Mehr Informationen unter www.alexander-herrmann.de<br />

111


L E B E N S A R T<br />

Die Paula-Bosch-Kolumne<br />

ZIEMLICH HEISSER STOFF<br />

Ein Tanz auf dem Vulkan gilt gemeinhin als nicht empfehlenswert. Man ist aber angesichts der<br />

Weine, die in Vulkannähe gedeihen durchaus versucht, ihn aufzuführen. Denn die Qualität<br />

verursacht selbst bei Kennern leidenschaftliche Ausbrüche in wahre Begeisterungsstürme.<br />

Wo auch immer auf der Welt Weinreben gepflanzt<br />

werden – für die Qualität der Trauben sind<br />

natürliche Faktoren wie Klima, Geologie, Bodentypen<br />

und Lage des Weinberges von entscheidender<br />

Bedeutung. Die unterschiedlichen<br />

Bodenarten zum Beispiel werden grob in<br />

drei Typen unterschieden: sedimentäre Böden,<br />

metamorphes Gestein und Vulkanböden.<br />

Bedeutende Weine von Vulkanböden<br />

kommen von aktiven Vulkaninseln wie vom<br />

Ätna, Santorin, Lanzarote oder den Azoren,<br />

aber auch vom Festland wie der Basilikata,<br />

dem Kaiserstuhl oder aus dem Rheingau.<br />

Durch den anhaltenden Trend zu biodynamisch<br />

angebauten Weinen finden unterschiedliche<br />

Bodentypen viel Beachtung, und bei Winzern wie<br />

Weinfreunden sind diese Weine derzeit gefragt wie nie.<br />

Daraus ergeben sich Fragen wie: Wo wachsen die attraktivsten<br />

Weine, welche Charakteristik in Duft und Geschmack zeichnet sie<br />

aus? Schmecken sie anders als Weine von Lössböden, Schiefer, Granit<br />

oder Kalk? Kurze Antwort vorab: Ja, sie sind anders, sind auch im Charakter<br />

eigen. Doch das Wie sollte ein Weinfreund unbedingt selbst<br />

erfahren – eine analytische Erklärung ist hier nicht zielführend.<br />

ITALIEN / BASILIKATA<br />

<strong>20</strong>13 „LA STIPULA“ SPUMANTE MILLESIMATO, BRUT;<br />

CANTINE DEL NOTAIO, RIONERO<br />

Die 1998 gegründete Cantine del Notaio liegt in Vulture, im grünen<br />

Herzen der Basilikata am Fuße eines inaktiven Vulkans. Der<br />

Inhaber Gerardo Giuratrabocchetti hat sich bei seinen 30 Hektar<br />

Reben von Anfang an für biodynamischen Weinanbau entschieden.<br />

Die Namen mancher Weine – La Firma, La Stipula, Il Sigillo – gehen<br />

auf notarielle Tätigkeiten der Familie zurück. Der Spumante „La<br />

Stipula“ ist ein sortenreiner Aglianico del Vulture, in traditioneller<br />

Flaschengärung auf der Hefe gereift und in Tuffsteingrotten bis zum<br />

Degorgieren gelagert. Strohgelbe Farbe, das Aroma von Muskatblüten,<br />

Ginster, dunklem Honig wird durch einen würzigen Gaumen<br />

VULKANWEINE SIND ANDERS.<br />

WIE ANDERS, DAS SOLLTEN<br />

WEINFREUNDE UNBEDINGT<br />

SELBST ERFAHREN<br />

ergänzt. Kaum schmeckbare Säure, dafür eine Spur Gerbstoff der<br />

Aglianico. Der stoffige, ungewöhnlich sanfte Spumante gilt als<br />

Rarität, da aus der Rebsorte in der Regel alkoholreiche und säurebetonte<br />

Rotweine produziert werden. superiore.de/ 18,42 €<br />

PORTUGAL / AZOREN<br />

<strong>20</strong>18 VERDELHO „ORGINAL“;<br />

AZORES WINE COMPANY<br />

Die Inselwelt der Azoren ist in jeder Hinsicht<br />

ein imposanter Platz für den Anbau<br />

von Reben. Ihre überwältigend schöne<br />

Natur, die noch im Gleichgewicht scheint,<br />

ermöglicht Weinanbau bis kurz vor die<br />

Wassergrenze, was einen Kontakt der<br />

Pflanzen mit dem Meerwasser oft nicht<br />

ausschließt. Salzige Gischt kommt von oben, salziges Grundwasser<br />

von unten. Dazu die Vulkanerde, die das Wachstum der Pflanze<br />

erschwert. Keine einfache Angelegenheit – doch hat Antonio<br />

Macanita, ein vinophiler, weit gereister Tausendsassa, es <strong>20</strong>14 mit<br />

zwei Freunden gewagt, die Azores Wine Company zu gründen. Die<br />

Insel Pico hat es dem Weinvisionär besonders angetan. Hier<br />

produziert man aus heimischen Rebsorten, u. a. auch der Verdelho,<br />

einzigartige Weine. Bestes Beispiel: der <strong>20</strong>18er „Original“. Der vom<br />

Jod geprägte Weißwein präsentiert nicht nur einen vom Meerwasser<br />

leicht salzigen Charakter auf den Lippen, sondern rollt mühelos<br />

mit seiner zitrigen Säure und erfrischendem Geschmack über den<br />

Gaumen. Mit vegetabilen frischen Noten ruft er unmissverständlich<br />

nach Meer. gute-weine.de/ 22 €<br />

GRIECHENLAND / SANTORIN<br />

<strong>20</strong>18 ASSYRTIKO „FAMILIA“; HATZIDAKIS, SANTORIN<br />

Die griechische Insel Santorin ist Teil eines alten Vulkans. Auf<br />

dieser wunderschönen Insel gedeiht die autochthone Rebsorte<br />

Assyrtiko besonders gut. Die trocken ausgebauten Weißweine sind<br />

voll mineralischer Würze, im Duft wie am Gaumen, manchmal<br />

streng, teils mit steinigen Anklängen und stets mit markanter<br />

Säure, die ihrer Sorte eigen ist. Der Hatzidakis „Familia“ hat dazu<br />

112 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


FOTO: TENUTA TASCANTE<br />

Spektakulärer Blick, sensationeller Wein! Hier die Terrassen des<br />

Weinguts Tascante am Fuß des Ätna<br />

ist berauschend. Mandarine, Glera, Galiamelone, reife Ananas, ein<br />

Touch Akazienhonig, Erdnuss, braune Butter, Toast. Im Mund<br />

überzeugende Mineralität und Salzigkeit, voll, reich, fast sahnig,<br />

dabei doch frisch. Mit irrer Kraft, viel Druck und Länge präsentiert<br />

sich der perfekt gestylte Abgang. weinhandelshaus.at/ 31,60 €<br />

Austernschale, Jodtinktur, Meersalz, Lorbeer, verpackt im cremigen,<br />

perfekt balancierten Körper. Tochter Stella führt nach dem<br />

Tod des Inhabers <strong>20</strong>17 den kleinen Familienbetrieb mit sicherer<br />

Hand weiter. griechischer-weinversand-vindusud.de/ 29,90 €<br />

ITALIEN / SIZILIEN / ÄTNA<br />

<strong>20</strong>17 PASSOBIANCO CHARDONNAY;<br />

AZ. AGR. PASSOPISCIARO, CASTIGLIONE DI SICILIA<br />

Andrea Franchetti, Besitzer des toskanischen Topweingutes<br />

Trinoro, war an den Hängen des Ätna einer der Ersten, die hier in<br />

den Weinbau investierten. Der Weinkeller von Passopisciaro wurde<br />

in einem antiken Gehöft auf etwa 800 Metern integriert. Die 25<br />

Hektar Rebfläche sind größtenteils mit Chardonnay und Nerello<br />

Mascalese bepflanzt, letzterer oft 100 Jahre und älter und wurzelecht.<br />

Der aufwendig erst im Edelstahl, dann im Beton-Ei und<br />

danach im Holz ausgebaute Chardonnay ist eine ganz besondere<br />

Interpretation eines Vulkanweins, wobei die Rebsorte durch die<br />

gewaltige mineralische Aromatik schwer erkennbar ist. Der Duft<br />

ITALIEN / SIZILIEN / ÄTNA<br />

<strong>20</strong>16 CONTRADA RAMPANTE; TASCANTE, ÄTNA<br />

Eindeutig im Trend liegen derzeit die sizilianischen Weine des Ätna,<br />

vor allem die Rotweine aus der spätreifenden dünnschaligen<br />

Nerello Mascalese. Beste Bedingungen findet die Rebsorte in<br />

höheren Lagen, wo kühle Temperaturen bei Nacht für den Erhalt<br />

ihrer Säure sorgen und damit ihre Frische konservieren. Die<br />

Geschwister Alberto und Giuseppe Tasca vom grandiosen Weingut<br />

Tenuta Regaleali nahe Palermo haben vor knapp 15 Jahren auch die<br />

Bedeutung des Weinanbaus am Ätna erkannt, investiert und zählen<br />

heute zu den glücklichen Besitzern von 25 Hektar Weinbergen, die<br />

bis auf über 600 Meter ü. M. liegen. Ihre Lage am Nord-Ost-Abhang<br />

des Vulkans zählt zu den besten. Die Charakteristik der Weine wird<br />

in erster Linie durch die verschiedenen Böden und deren Zusammensetzung<br />

erreicht. Contrada nennt man hier Einzellagen, Blöcke<br />

mit terrassierten Rebanlagen, wenn man so will. Rampante ist <strong>20</strong>16<br />

ein besonderes Kunstwerk an Finesse, Eleganz und delikater Textur.<br />

Feinste Hibiskusnoten, Preiselbeer, Wassermelone, aber auch<br />

dunkle Gewürze wie Pfeffer, Wacholder, Kümmelsamen. Der sanfte,<br />

reife Trinkfluss am Gaumen und seine seidigen Tannine sorgen für<br />

ein außergewöhnliches Trinkerlebnis. superiore.de/ 38,70 € n<br />

113


S C HT LI TU ES LS ZA EKIKL OE<br />

R D<br />

INSTRUMENT? MASSGESCHNEIDERT!<br />

Die Evolution von Musikinstrumenten ist noch lange nicht zu Ende, sagt Ricardo Simian<br />

Und hält ein Plädoyer für mehr Mut zu individueller Personalisierung – aus dem 3-D-Drucker.<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Flöte 4.0: Ricardo Simian mit einer<br />

Maßanfertigung aus dem 3-D-Drucker<br />

„Evolution“ ist ein ganz schön aufgeheiztes<br />

Wort! Die meisten verbinden es mit Entwicklung,<br />

implizit also auch mit Überlegenheit<br />

und Verbesserung. Dabei ist das Konzept<br />

ein anderes: Evolution erklärt, wie sich<br />

etwas durch winzige Variationen verändert<br />

und das Geeignetste überlebt. Das Geeignetste<br />

muss aber nicht unbedingt das Beste<br />

sein. Jeder Homo sapiens darf sich intelligenter<br />

als ein Krokodil fühlen – eine Spezies,<br />

die sich in den letzten hundert Millionen<br />

Jahren kaum verändert hat. Sperrt man die<br />

beiden in einen Käfig, wird trotzdem das<br />

Krokodil überleben, ganz egal, wie gebildet<br />

der Homo sapiens daherkommt.<br />

Auch die Evolution von Musikinstrumenten<br />

hat sich in winzigen Schritten vollzogen.<br />

Sie haben an Tonumfang, Dynamik<br />

und Agilität gewonnen; andererseits vielleicht<br />

an Klangqualität und Charme eingebüßt,<br />

weil gerade die Unregelmäßigkeiten<br />

der frühen Instrumente kein Makel, sondern<br />

eine Bereicherung waren, die die Komponisten<br />

gezielt eingesetzt haben. Der Streit<br />

zwischen historisch informierter und<br />

moderner Aufführungspraxis ist eine der<br />

natürlichen Konsequenzen daraus. Fest steht<br />

jedenfalls, dass Musikinstrumente sich seit<br />

dem Mittelalter entwickelt haben. Dieser<br />

Prozess lässt sich an den vielen Instrumentenfamilien<br />

und Unterfamilien festmachen,<br />

die überlebt haben oder verschwanden wie<br />

die Lebewesen in den Stammbäumen eines<br />

Biologielehrbuchs.<br />

Trotzdem haben sich die heutigen<br />

Musikinstrumente seit Jahrhunderten kaum<br />

verändert. Ihre Evolution scheint wie stehen<br />

geblieben. Immerhin konnten sich manche<br />

dank der Elektrizität weiterentwickeln,<br />

wofür die E‐Gitarre oder das Keyboard prominente<br />

Beispiele sind. Das Design blieb<br />

trotzdem fast unverändert, selbst wenn<br />

unter die Oberfläche Elektronik eingepflanzt<br />

wurde. Warum? Gab es keine technischen<br />

Innovationen, die eine Weiterentwicklung<br />

erlaubt hätten?<br />

Doch! Wir besitzen fast unendlich viele<br />

Mittel, um neue Formen, Oberflächen und<br />

Objekte zu kreieren, von denen Stradivari<br />

nur träumen konnte. Trotzdem beschränken<br />

sich unsere Designs bei Musikinstrumenten<br />

fast ausschließlich auf Formen und Strukturen,<br />

die auch ein Geigenbauer aus dem<br />

Barock hätte fabrizieren können. Fast jedes<br />

Instrument hat ausschließlich runde bzw.<br />

DIE EVOLUTION DER MUSIK-<br />

INSTRUMENTE VOLLZOG SICH<br />

WIE DIE VON LEBEWESEN IM<br />

BIOLOGIELEHRBUCH<br />

gerade Bohrungen oder Löcher und 90-<br />

Grad-Winkel – denn das sind die einzigen<br />

Formen, die man mit herkömmlichem<br />

Zimmermannswerkzeug produzieren kann.<br />

Sogar die wunderbar schwungvollen<br />

Kurven einer Violine täuschen nur darüber<br />

hinweg, dass Decke, Boden und Zargen<br />

senkrecht zueinander stehen – genau wie bei<br />

einer Schublade. Ist das wirklich das ultimative<br />

Design? Haben wir in Bezug auf mögliche<br />

Formen von Musikinstrumenten schon<br />

alles ausgeschöpft und brauchen keine weitere<br />

Evolution? Dann würden Musiker nicht<br />

wild darum kämpfen, ihre Körper darauf zu<br />

drillen, überhaupt über mehrere Stunden<br />

spielen zu können. So gut wie jeder Musiker<br />

hat schon einmal unter einer Sehnenscheidenentzündung<br />

oder anderen Krankheit<br />

gelitten – nur weil er geübt hat. Obwohl man<br />

das Gleiche auch über Sportler sagen kann,<br />

ist fraglich, ob ein Profiathlet mit einer Ausrüstung<br />

in den Ring steigen würde, die in<br />

Technologie und Material dem Stand des 17.<br />

Jahrhunderts entspricht. Musiker tun das<br />

täglich und sind sogar noch stolz darauf.<br />

Neue Technologien, neues Material<br />

und die Revolution des 3-D-Drucks geben<br />

uns Mittel an die Hand, die für die Musikinstrumentenherstellung<br />

bislang kaum<br />

genutzt wurden. Das sollten wir schleunigst<br />

ändern und die nächste Generation von<br />

Musikinstrumenten erfinden und erkunden.<br />

Die Möglichkeiten sind grenzenlos! Noch<br />

gibt es keine systematischen Tests zu Bohrlöchern,<br />

die nicht rund sind, zu geschwungenen<br />

Formen, die rechte Winkel ersetzen,<br />

oder komplexen Formen, die aus einem<br />

Stück gegossen sind. Während es im Radsport<br />

bereits Standard ist, dass Geräte individuell<br />

an ihren Benutzer angepasst werden,<br />

gibt es noch kein Konzept für personalisierte<br />

Musikinstrumente für jeden Spieler, was mit<br />

3-D-Modellierung spielend möglich wäre.<br />

Im konservativen Kosmos der Musik<br />

pflegen wir Tradition um der Tradition willen.<br />

Wir setzen voraus, dass ein „warmer“<br />

Klang nur von natürlichem Holz kommen<br />

kann, ohne je eines der neuen Polymere ausprobiert<br />

zu haben, die längst auf dem Markt<br />

sind. So viel wartet darauf, ausprobiert zu<br />

werden! Und es gibt nichts zu verlieren:<br />

Wenn wir feststellen, dass die jahrhundertealten<br />

Versionen besser sind, behalten wir sie<br />

einfach. Aber nun sollten wir den Mut<br />

haben, neue Welten zu entdecken! n<br />

114 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Dezember</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> – Januar <strong>20</strong>21


Entspannt<br />

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