Mörikes Zeichen ... eine Interimsausstellung im Literaturmuseum der Moderne
Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike ... Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor dem Corona-Lockdown im März 2020 vier Schriftsteller – Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig ins Literaturmuseum der Moderne umgezogen. Wir haben Dinge eingepackt, die ihre poetisch besonderen Seiten zeigen: Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbilder und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike. Einige dieser Dinge stecken im Museum noch in Umzugskisten und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden. Andere haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides haben wir nun in Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in den digitalen Raum hinein zu öffnen. #SchillerFreiSpiel #SprachenDerPoesie #Hölderlin2020
Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike ...
Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor dem Corona-Lockdown im März 2020 vier Schriftsteller – Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig ins Literaturmuseum der Moderne umgezogen. Wir haben Dinge eingepackt, die ihre poetisch besonderen Seiten zeigen: Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbilder und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike.
Einige dieser Dinge stecken im Museum noch in Umzugskisten und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden. Andere haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides haben wir nun in Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in den digitalen Raum hinein zu öffnen.
#SchillerFreiSpiel #SprachenDerPoesie #Hölderlin2020
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
1<br />
Mörike s<br />
eichen<br />
… <strong>eine</strong> <strong>Inter<strong>im</strong>sausstellung</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Literaturmuseum</strong><br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne
Vorab und<br />
zuerst
3<br />
Schiller, Höl<strong>der</strong>lin, Kerner, Mörike ...<br />
Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit<br />
ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor<br />
dem Corona-Lockdown <strong>im</strong> März 2020 vier Schriftsteller –<br />
Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig<br />
ins <strong>Literaturmuseum</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne umgezogen. Wir haben Dinge<br />
eingepackt, die ihre poetisch beson<strong>der</strong>en Seiten zeigen:<br />
Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbil<strong>der</strong><br />
und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von<br />
Friedrich Höl<strong>der</strong>lin und Eduard Mörike.<br />
Einige dieser Dinge stecken <strong>im</strong> Museum noch in Umzugskisten<br />
und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden.<br />
An<strong>der</strong>e haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach<br />
Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides –<br />
den Inhalt <strong>der</strong> Umzugskisten und die vorübergehende Ordnung<br />
<strong>der</strong> Dinge aus <strong>der</strong>en Nachlass – haben wir nun in digitale<br />
Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu<br />
machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in<br />
den digitalen Raum hinein zu öffnen.<br />
#SchillerFreiSpiel<br />
Mörike war ein großer Schiller-Verehrer und ließ s<strong>eine</strong> Mutter auf<br />
dem Cleversulzbacher Friedhof neben dem Grab von Schillers Mutter<br />
beerdigen, für das er ein Steinkreuz entworfen hatte: „SCHILLERS<br />
MUTTER“ „eigenhändig eingegraben, „tief&scharf, FRAKTUR.“ – Für unser<br />
Projekt Fehlt Ihnen / Dir Schiller? (geför<strong>der</strong>t vom Ministerium<br />
für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg <strong>im</strong> Rahmen des<br />
Impulsprogramms „Kunst trotz Abstand“) suchen wir Ihre und D<strong>eine</strong><br />
Lieblingsexponate. Über <strong>eine</strong> Mail an uns mit <strong>eine</strong>r kurzen Begründung<br />
(museum@dla-marbach.de) freuen wir uns sehr.
5
7<br />
s<br />
<strong>Zeichen</strong> Mörike<br />
Eduard Mörike ist uns von<br />
den vier hier ausgestellten<br />
schwäbischen Weltliteratur-<br />
Schriftstellern <strong>der</strong> nächste.<br />
Zeitlich, weil er <strong>der</strong><br />
jüngste von ihnen ist und<br />
erst 1875 starb – 70 Jahre<br />
nach Schiller. Aber auch,<br />
weil er wie kaum ein zweiter<br />
deutschsprachiger Autor<br />
literarische Traditionen<br />
in persönliche Erinnerungen<br />
verwandelt hat. Phantasievoll<br />
und schriftverliebt<br />
erweckt er auf ebenso<br />
wun<strong>der</strong>bare wie bescheidene<br />
Weise nahezu in allem<br />
Poesie – in Tintenstrichen,<br />
St<strong>eine</strong>n, Holzstücken,<br />
Veilchen und sogar in<br />
Fensterläden.
<strong>Mörikes</strong> Goethe, etwas pedantisch:<br />
An den Mond mit s<strong>eine</strong>n zwei Fassungen<br />
von 1788 („Füllest wie<strong>der</strong> ’s<br />
liebe Tal / Still mit Nebelglanz, /<br />
Lösest endlich auch einmal / M<strong>eine</strong><br />
Seele ganz“) und 1789 („Füllest<br />
wie<strong>der</strong> Busch und Tal ...“).<br />
<strong>Mörikes</strong> Schil<br />
rig auf ausge<br />
<strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> N<br />
herrliches Su<br />
mich“ – „täus<br />
Literatur entsteht aus<br />
Literatur. Mörike zeigt das<br />
eindrücklich, indem er die<br />
Texte an<strong>der</strong>er noch einmal<br />
schreibt – so, wie er<br />
sich vorstellt, dass diese<br />
entstanden sind.
9<br />
Bittschrift<br />
ler, genialisch schludrissenen<br />
Zetteln:<br />
otiz („Carlos ist ein<br />
jet, vorzüglich für<br />
chend nachgemacht“),<br />
ein Kuriosum aus den Familienbriefen<br />
von Schillers Mutter an<br />
dessen Frau: „Liebe Lotte.<br />
Hier schicke ich Ihnen etwas<br />
Gutes zum Schlecken“.<br />
Und <strong>eine</strong>s <strong>der</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
beliebtesten, weil komischen<br />
Schiller-Gedichte, das Unterthänigste<br />
Pro memoria an<br />
die Consistorialrath Körnerische<br />
weibliche Waschdeputation in<br />
Loschwitz eingereicht von <strong>eine</strong>m<br />
nie<strong>der</strong>geschlagenen Trauerspieldichter.<br />
Mörike macht daraus<br />
<strong>eine</strong>n Brief an sich selbst:<br />
„S<strong>eine</strong>r Wohlgeboren Herrn<br />
Professor Dr Mörike Stuttgart.<br />
In Loschwitz 1786“:<br />
Dumm ist mein Kopf und schwer wie Blei,<br />
die Tobaksdose ledig<br />
Mein Magen leer – <strong>der</strong> H<strong>im</strong>mel sei<br />
dem Trauerspiele gnädig.<br />
Ich kratze mit dem Fe<strong>der</strong>kiel<br />
auf den gewalkten Lumpen;<br />
Wer kann Empfindung und Gefühl<br />
aus hohlem Herzen pumpen?<br />
Feur soll ich gießen aufs Papier<br />
mit angefrornem Finger? - -<br />
O Phöbus, hassest du Geschmier,<br />
so wärm auch d<strong>eine</strong>n Sänger.<br />
Die Wäsche klatscht vor m<strong>eine</strong>r Tür,<br />
es scharrt die Küchenzofe –<br />
und mich – mich ruft das Flügeltier<br />
nach König Philipps Hofe.<br />
Ich steige mutig auf das Ross,<br />
in wenigen Sekunden<br />
seh ich Madrid – am Königsschloss<br />
hab ich es angebunden.<br />
Ich eile durch die Galerie<br />
und – siehe da! belausche<br />
die junge Fürstin Eboli<br />
<strong>im</strong> süßen Liebesrausche.<br />
Jetzt sinkt sie an des Prinzen Brust,<br />
mit wonnevollem Schauer,<br />
in ihren Augen Götterlust,<br />
doch in den s<strong>eine</strong>n Trauer.<br />
Schon ruft das schöne Weib Triumph,<br />
schon hör ich – Tod und Hölle!<br />
Was hör ich? – <strong>eine</strong>n nassen Strumpf<br />
geworfen in die Welle.<br />
Und weg ist Traum und Feerei,<br />
Prinzessin, Gott befohlen!<br />
Der Teufel soll die Dichterei<br />
be<strong>im</strong> Hem<strong>der</strong>waschen holen!
<strong>Mörikes</strong> Höl<strong>der</strong>lin, wie ein bilden<strong>der</strong><br />
Künstler: Abschrift (1846) <strong>der</strong><br />
Ode Heidelberg mit „sämmtlichen<br />
Correcturen“: „Es wird Dich unterhalten<br />
in die Entstehung dieses<br />
Stücks hineinzusehn, wie es<br />
sich nach u. nach gereinigt hat,<br />
Gedanke u. Ausdruck <strong>im</strong>mer<br />
klarer u. kräftiger wurde. Es ist<br />
theils mit <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> theils mit<br />
dem Bleistift geschrieben; die<br />
halbverwischten Züge des letzten<br />
sind nur eben noch lesbar“<br />
(an Wilhelm Hartlaub).<br />
Im März 1870 verzeichnet Mörike in<br />
s<strong>eine</strong>n Kalen<strong>der</strong> in den Wochen bis<br />
zum 20. März (Höl<strong>der</strong>lins 100. Geburtstag)<br />
mit <strong>eine</strong>m Schriftschnörkel<br />
„Tempus inane“ – nach <strong>eine</strong>m Vers<br />
aus Vergils Aeneis, „Tempus inane<br />
peto, requiem spatiumque furori“<br />
bittet dort die von Aeneas verlassene<br />
Dido: „Leere Frist nur verlang’<br />
ich, nur Ruh und Weile (wörtlich<br />
spatium: Raum) dem Wahnsinn.“
11<br />
Im März und April 1832 notiert<br />
Mörike „Erinnerungen an Erlebtes.<br />
Poetische Umgestaltung desselben<br />
etc. Poetische Vorsätze“:<br />
„Ich will bei Gelegenheit dem<br />
liebenswerthen, lange noch nicht<br />
genug erkannten Dichter, Fried.<br />
Höl<strong>der</strong>lin ein kl<strong>eine</strong>s Denkmal<br />
stiften und über die Schönheiten<br />
wie die Fehler Hyperions etwas<br />
dabey sagen. – Ich besize von<br />
H.s eigener Hand einige Blätter,<br />
welche etwa <strong>im</strong> J. 1823 –24 in<br />
Tübingen geschrieben sind; zwei<br />
metrische Poesien und einige<br />
Briefe als Fortsetz. des Romans<br />
Hyp. Letztere sind nur durch<br />
den ungeheuern Contrast gegen<br />
jenes ursprüngl. Produkt merkwürdig<br />
und rührend – die beiden<br />
Gedichte aber, Räthsel des<br />
Wahnsinns, lassen den schönsten<br />
Sinn theils errathen, theils<br />
haben sie ihn offenbar; ihr<br />
Charakter – (elegischdidakt.) –<br />
ist durchaus entschieden und<br />
springt auch nicht in <strong>eine</strong>r<br />
Zeile ab. [...] Jene poetisch.<br />
Stücke aber sind mir wahrhaft<br />
ein Heiligthum, und doppelt,<br />
ich habe sie, glaub ich,<br />
durch Waiblinger erhalten.“<br />
Später: „[ich] lief, poetisch<br />
aufgeregt, die Ochsenwanger<br />
Steige keuchend hinauf – unwillkührl.<br />
mußt ich ein paar Verse<br />
ausbilden, <strong>der</strong>en Inhalt mir<br />
auf k<strong>eine</strong> Weise nahe lag. Rath<br />
<strong>eine</strong>r Alten (an verliebte Jugend).<br />
Ich weiß nur noch den Anfang:<br />
Bin jung gewesen,<br />
Kann auch mit reden,<br />
Und alt geworden<br />
Drum gilt mein Wort.<br />
– (Ihr hübschen Mädchen<br />
– Ihr saubern Knaben)<br />
–<br />
Schön rothe Kirschen<br />
Am Bäumchen hangen“.
St<strong>im</strong>me und Schrift <strong>der</strong> Natur:<br />
„Nachtigallengesang in den Wäl<strong>der</strong>n<br />
von Cleversulzbach beobachtet“<br />
(Cantus Lusciniae in silvis Clever-<br />
Sulzbaccensibus observatus, um 1840).<br />
Mörike hat auf alles Mögliche<br />
in allen möglichen Weisen<br />
gemalt und geschrieben.<br />
angemalte Entstehungswege:<br />
„Ein Stück Baum-Ast mit ausgemalten<br />
Wurmgängen. Zum Andenken an<br />
Clara Pfäfflin, die be<strong>im</strong> Holztragen<br />
am 30. Okt. 1868 mithalf“.
13<br />
Zierschrift für die Schwester –<br />
An Clärchen (1845):<br />
Zwar muß vom Reiz ein Dichter leben,<br />
Er heischt zurück was du versteckt,<br />
Ihm bleibt <strong>der</strong> Pfeil in’s Herz gegeben<br />
Des Schönen, das ihn ewig neckt;<br />
Nur höre auf, <strong>der</strong> Welt zu zeigen<br />
Den Schatz, den sie uns schon mißgönnt!<br />
Wer gern ein Kleinod hat zu eigen,<br />
Es ist genug daß er es kennt.<br />
Feuerwerk aus Klecksen zur Mitsommernacht<br />
– noch ein Geschenk an<br />
Clara: „Ein son<strong>der</strong>bar schön geistreich<br />
Gedichte auf Johannistag“<br />
(20.6.1836).
<strong>Mörikes</strong> Gedichte sind durch<br />
ihre eigenwilligen, für<br />
den privaten Gebrauch best<strong>im</strong>mten<br />
Aufschreibesysteme<br />
<strong>eine</strong> beson<strong>der</strong>e Form von<br />
konkreter Poesie: Sie zeigen<br />
sich selbst, lösen visuell<br />
und akustisch sprachliche<br />
Elemente von ihrem Sinn –<br />
und beziehen sich doch eindeutig<br />
auf <strong>eine</strong>n wirklichen<br />
Gegenstand.<br />
Das Papier als Bezugspunkt – zwei Brandlöcher<br />
zeigen, von was die Rede ist:<br />
Des Herrlichsten, womit die volle Welt<br />
Uns überdrängt, sich mächtig zu erwehren,<br />
Und Lust und Leid, worin er sich gefällt,<br />
In tausend Herzen bleibend zu verklären,<br />
Erglüht <strong>der</strong> Sänger schwärmend <strong>im</strong> Gedicht<br />
Meist ohne Dank, zum mind’sten fühlt<br />
er’s nicht.
15<br />
Er ist’s, 18 Jahre nach <strong>der</strong><br />
Entstehung abgeschrieben und neu<br />
datiert und verortet auf den<br />
22. Februar 1846 <strong>im</strong> hohenlohischen<br />
Löffelstelzen:<br />
Am Gebet arbeitet Mörike<br />
über 35 Jahre hinweg.<br />
Die später zweite, aber<br />
zuerst entstandene Strophe –<br />
Frühling läßt sein blaues Band<br />
Wie<strong>der</strong> flattern durch die Lüfte;<br />
Süße wohlbekannte Düfte<br />
Streifen ahnungsvoll das Land;<br />
Veilchen träumen schon,<br />
Wollen balde kommen.<br />
Horch von fern ein leiser Harfenton!<br />
Frühling ja du bists!<br />
Dich hab ich vernommen!<br />
Dazu hat Mörike ein Hornveilchen<br />
gemalt und in <strong>eine</strong> Holzdose geklebt:<br />
Träumen und Erwachen in <strong>der</strong> Natur<br />
zum Selberspielen.<br />
Wollest mit Leiden<br />
Und wollest mit Freuden<br />
Mich nicht überschütten!<br />
Doch in <strong>der</strong> Mitten<br />
Liegt holdes Bescheiden<br />
– schreibt Mörike unter an<strong>der</strong>en<br />
auf das „Natur-Endlospapier“<br />
Birkenrinde, in ein altes<br />
Gesangbuch (Neue Rothenburgische<br />
Seelen-Harfe, 1767) und in<br />
ein Miniaturpoesiealbum (1871).
<strong>Mörikes</strong> alter Turmhahn von <strong>der</strong> Kirche<br />
in Cleversulzbach – Schmuck, Wetterfahne<br />
und, wenn man ihn wie <strong>eine</strong> Figur<br />
in <strong>eine</strong>m Schattenspiel betrachtet,<br />
sprechende und unhe<strong>im</strong>liche Märchenfigur.
17
19
21
<strong>Mörikes</strong> Texte und Dinge, die<br />
wir als bedruckte Plexiplatten<br />
in Umzugskisten gepackt haben –<br />
auf den 10 Plattenhüllen finden<br />
sich jeweils die Kommentare. >>
Mörike<br />
M 1<br />
indgeflüster<br />
23
Eduard Mörike wird durch die Windharfen (nach dem griechischen Gott des<br />
Windes Aiolos auch als Äolsharfen bezeichnet) am Ludwigsburger Schloss<br />
an s<strong>eine</strong> Kindheit erinnert: „Wir durchstrichen die melankolischen Gänge<br />
<strong>der</strong> königl. Anlage; in <strong>der</strong> Emichsburg hörte ich die Windharfen flüstern<br />
wie sonst, die süßen Töne schmolzen alles Vergangene in mir auf – ich<br />
sah die unterirdisch aufbewahrten Ritter-antiquitäten wie<strong>der</strong> die ich als<br />
Knabe, des Jahres einmal, leise mit schüchterner Ehrfurcht, betrachten<br />
durfte, ich sah vom Thurm die Umgegend, die Wege all wo wir Kin<strong>der</strong><br />
mit Vater u. Mutter ausflogen!“<br />
Den gehe<strong>im</strong>nisvollen Klang <strong>der</strong> Äolsharfe haben<br />
wir auf <strong>der</strong> Platte zum Nachhören eingefangen<br />
(„Peace“, „Peace und Bass“, eingespielt von<br />
Zozo van Barkhussen, michael@wilkernet.de).<br />
An <strong>eine</strong> Äolsharfe<br />
Angelehnt an die Efeuwand<br />
Dieser alten Terrasse,<br />
Du, <strong>eine</strong>r luftgebornen Muse<br />
Gehe<strong>im</strong>nisvolles Saitenspiel,<br />
Fang an,<br />
Fange wie<strong>der</strong> an<br />
D<strong>eine</strong> melodische Klage!<br />
Ihr kommet, Winde, fern herüber,<br />
Ach! von des Knaben,<br />
Der mir so lieb war,<br />
Frisch grünendem Hügel.<br />
Und Frühlingsblüten unterweges streifend,<br />
Übersättigt mit Wohlgerüchen,<br />
Wie süß bedrängt ihr dies Herz!<br />
Und säuselt her in die Saiten,<br />
Angezogen von wohllauten<strong>der</strong> Wehmut,<br />
Wachsend <strong>im</strong> Zug m<strong>eine</strong>r Sehnsucht,<br />
Und hinsterbend wie<strong>der</strong>.<br />
Aber auf einmal,<br />
Wie <strong>der</strong> Wind heftiger herstößt,<br />
Ein hol<strong>der</strong> Schrei <strong>der</strong> Harfe<br />
Wie<strong>der</strong>holt, mir zu süßem Erschrecken,<br />
M<strong>eine</strong>r Seele plötzliche Regung;<br />
Und hier - die volle Rose streut, geschüttelt,<br />
All ihre Blätter vor m<strong>eine</strong> Füße!
SM1<br />
25
Mörike<br />
M 2<br />
indbote<br />
27
Blättchen, das <strong>im</strong> losen Spiel<br />
Winde durch die Lüfte tragen,<br />
Blättchen, kannst du mir nicht sagen,<br />
Wo ist d<strong>eine</strong>r Wandrung Ziel?<br />
Mörike für s<strong>eine</strong> Schwester Clara<br />
„nach <strong>der</strong> l. Mutter Tod“ (1841):<br />
Ach ich weiß ein frommes Kind,<br />
Dem möcht’ ich mich gern verbinden,<br />
Kann zu ihm den Weg nicht finden,<br />
Grausam stürmt <strong>der</strong> Winter-Wind.<br />
Als ich aus <strong>der</strong> Knospe mich<br />
Vor den Veilchen, früh gerungen,<br />
Kam das Liebchen oft gesungen<br />
In den Garten morgendlich.<br />
Aber da ich jung und schön<br />
Thät mein grünes Herzlein dehnen,<br />
Sah ich sie in bittern Thränen<br />
Unter unsern Zweigen stehn.<br />
Und dort drüben an dem Hang<br />
Stand das Röslein, stand die Weide,<br />
Dorthin wallte sie <strong>im</strong> Leide<br />
Mir vorüber jeden Tag.<br />
Freut’ mich nichts weiter mehr;<br />
Nicht die süße Maien-Sonne,<br />
Bienenton und Schaukelwonne,<br />
Nicht <strong>der</strong> Mondnacht Kühle mehr.<br />
Also welkt’ ich vor <strong>der</strong> Zeit;<br />
Bin, bevor <strong>der</strong> Herbst gekommen,<br />
Aus <strong>der</strong> Mutter Hut genommen<br />
Und von <strong>der</strong> Geliebten weit.<br />
Dürft’ ich zu ihr! Ach wie viel<br />
Sagt ich ihr von Lust und Schmerzen!<br />
Und an dem getreusten Herzen<br />
Fänd’ ich m<strong>eine</strong>r Wandrung Ziel.
SM2<br />
29
Mörike<br />
M 3<br />
zungenbrecher<br />
ugen-<br />
31
„S’leit a Klötzle Blei glei bei<br />
Blaubeur a , / glei bei Blaubeur a leit<br />
a Klötzle Blei“. – Korrekturen von<br />
Eduard Mörike <strong>im</strong> Handexemplar des<br />
Stuttgarter Hutzelmännlein (1853).
SM3<br />
33
eufzerstellen<br />
Mörike<br />
35<br />
M 4
Eduard Mörike baut in den<br />
letzten beiden Strophen s<strong>eine</strong>s<br />
Sonetts Verzweifelte Liebe<br />
(1828, aus den Peregrina-<br />
Gedichten) durch die Häufung von<br />
Fragezeichen, Ausrufezeichen<br />
und Gedankenstrichen regelrechte<br />
Seufzerstellen ein.<br />
Die Liebe, sagt man, wird am Pfahl gebunden,<br />
Geht endlich arm, verlassen, unbeschuht;<br />
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht.<br />
Mit ihren Thränen nezt sie ihre Wunden.<br />
So hab auch ich die Liebe jüngst gefunden;<br />
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Gluth,<br />
Noch scherzend in <strong>der</strong> Frühlingsstürme Wuth<br />
Und wilde Kränze in das Haar gewunden.<br />
Wie? solche Schönheit konnt ich einst verlassen?<br />
So kommt nun doppelt schön das alte Glück!<br />
O komm, in diese Arme Dich zu fassen!<br />
Doch wehe! welche Miene, welch ein Blick!<br />
Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischen Hassen, –<br />
Sie kehrt sich ab und – kehrt mir nie zurück!
SM4<br />
37
Mörike<br />
M 5<br />
Mit-<br />
39<br />
1<br />
spiel-<br />
gedicht
Johannis ist nun nah,<br />
So sind wir auch schon da<br />
Und bringen Dieß und Das,<br />
Du darfst nur sagen, was.<br />
Eine [Harfe] ohne Sait,<br />
Eine Hochzeit ohne Freud<br />
Eine Mausfall ohne [Mäus’]<br />
Verdienen k<strong>eine</strong>n Preis.<br />
Eine [Rose] ohne Stiel,<br />
Ein Wasser ohne [Mühl’]<br />
Eine [Pfeife] ohne Rohr<br />
Da hüt ich mich davor.<br />
Ein Wetter ohne Glas,<br />
Eine Skala ohne Maas,<br />
Ein Silber ohne Queck,<br />
Da bin i kaum so keck<br />
Ein [Vogel] ohne Flug,<br />
Ein Wirthaus ohne [Krug]<br />
Eine Orgel, die nicht tönt,<br />
Sind alle drei verpönt.<br />
Ein Pfeifer ohne [Pfeif ’]<br />
Eine [Wiege] ohne Läuf ’<br />
Ein Christtag ohne Kerzlich<br />
Die sind mir alle schmerzlich.<br />
Eduard Mörike macht den Leser (hier s<strong>eine</strong> Schwester<br />
Clara, <strong>der</strong> er das Gedicht Ein son<strong>der</strong>bar schön<br />
geistreich Gedichte auf Johannistag am 20. Juni 1836<br />
geschenkt hat) zum Mitspieler, indem er Wörter<br />
durch Bil<strong>der</strong> ersetzt, die dieser dann enträtseln muss.
SM5<br />
41
Mörike<br />
Mit-<br />
43<br />
M 6<br />
2<br />
spiel-<br />
gedicht
Eduard <strong>Mörikes</strong> Geschenkgedicht<br />
An zwei Dichterinnen zum<br />
Nikolaustag<br />
1845.
SM6<br />
45
chattenmit<br />
Mörike<br />
47<br />
bewohner<br />
M 7
Zwei Scherenschnittfiguren, die <strong>der</strong> Maler<br />
Moritz von Schwind 1870 Eduard Mörike<br />
schickte – vielleicht, um dessen Wohnung<br />
samt Ausblick in Nürtingen zu verzaubern:<br />
„Der Teufel soll den zweiten Stock holen,<br />
sammt <strong>der</strong> finstern Stiege und <strong>der</strong> Aussicht<br />
auf die spanischen Wände von Hausdächern.“
SM7<br />
49
Mörike<br />
51<br />
Erinnerungs-<br />
punkt-<br />
M 8<br />
uster
Die Ausführung in bunten lebhaften<br />
Farben, wie wir sie in <strong>der</strong> Zeichnung<br />
sahn ist freilich viel hübscher.“<br />
Aus Eduard <strong>Mörikes</strong> Sammlung: „Abdruck des<br />
türkischen Zeugmusters vom H.[errn] Neuwieter,<br />
zum Andenken für uns gemacht. Wir haben diesen<br />
Model fast Punkt für Punkt entstehen sehn.
SM8<br />
53
Mörike<br />
M 9<br />
Maultrommel-<br />
gedicht<br />
55
Maultrommel, Windharfe, Blätter, Muster - für Eduard<br />
Mörike sind diese luftigen Dinge oft Auslöser von<br />
Erinnerungen. S<strong>eine</strong>m Freund Ernst Friedrich Kauffmann<br />
schreibt <strong>der</strong> 23-jährige am 17. November 1827 aus Köngen<br />
kurz vor Mitternacht („Es schlägt bald 12 Uhr“):<br />
Ich machte vorhin ein paar Töne auf <strong>der</strong><br />
Maultrommel, dabey fiel mir ein alter<br />
Vers von mir ein, für den ich <strong>im</strong>mer <strong>eine</strong><br />
besondre Liebe habe. Er muß her:<br />
Mitternacht.<br />
Gelassen stieg die Nacht ans Land<br />
Hängt träumend an <strong>der</strong> Berge Wand<br />
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun<br />
Der Zeit, in gleichen Schaalen, stille ruhn;<br />
Und kecker rauschen die Quellen hervor<br />
Sie singen <strong>der</strong> Nacht, <strong>der</strong> Mutter, ins Ohr<br />
Vom Tage,<br />
Vom heute gewesenen Tage!<br />
Das uralt alte Schlummerlied<br />
Sie achtets nicht, sie ist es müd, –<br />
Ihr klingt des H<strong>im</strong>mels Bläue süßer noch,<br />
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch;<br />
Doch <strong>im</strong>mer behalten die Quellen das Wort,<br />
Es sprechen die Wasser <strong>im</strong> Schlafe noch fort<br />
Vom Tage<br />
Vom heutegeweßenen Tage!
SM9<br />
57
Mörike<br />
Mehrfach-<br />
M 10<br />
verwendung<br />
59
Wie süß <strong>der</strong> Nachtwind nun die Wiese streift<br />
Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!<br />
Da noch <strong>der</strong> freche Tag verstummt,<br />
Hört man <strong>der</strong> Erdenkräfte flüsterndes Gedränge,<br />
Das aufwärts in die oberen Gesänge<br />
Der rein gest<strong>im</strong>mten Lüfte summt.<br />
Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,<br />
Durchsichtiger und heller aufzuwehen,<br />
Dazwischen hört man weiche Töne gehen<br />
Von sel’gen Elfen, die <strong>im</strong> blauen Saal<br />
Zum Sphärenklang<br />
Und fleißig bei Gesang<br />
Fl<strong>im</strong>mernde Spindeln hin und wie<strong>der</strong> drehen.<br />
Ludwig Bauer schickt<br />
Wilhelm Hartlaub<br />
(Ernsbach, 9. Oktober<br />
1829) die „Abschrift<br />
<strong>eine</strong>s Mörikischen<br />
Fragments“ [<strong>im</strong> Maler<br />
Nolten <strong>der</strong> Gesang <strong>der</strong><br />
Feenfürstin Thereile,<br />
in den Gedichten unter<br />
dem Titel Gesang zu<br />
zweien in <strong>der</strong> Nacht]:
SM10<br />
61
Impressum<br />
Ausgewählt haben die Umzugsstücke<br />
Julia Schnei<strong>der</strong>,<br />
Verena Staack und Heike<br />
Gfrereis, die sie auch<br />
kommentiert und zusammen<br />
mit Diethard Keppler und<br />
Andreas Jung <strong>im</strong> Raum angeordnet<br />
und gestalterisch<br />
gefasst hat. Die Exponatfotografien<br />
stammen von Chris<br />
Korner und Jens Tremmel,<br />
die restauratorische Betreuung<br />
oblag Enke Huhsmann,<br />
Susanne Bœhme und Anaïs Ott,<br />
die Redaktion und Organisation<br />
Vera Hildenbrandt,<br />
Dietmar Jaegle, Lea Kaiser,<br />
Martin Kuhn, Tamara Meyer<br />
und Janina Schindler.<br />
Die Aussttellung „Schiller,<br />
Höl<strong>der</strong>lin, Kerner, Mörike“<br />
wurde <strong>im</strong> Februar 2020 <strong>im</strong><br />
<strong>Literaturmuseum</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
eröffnet und ist dort bis<br />
zur Wie<strong>der</strong>eröffnung des<br />
Schillers-Nationalmuseums<br />
Anfang 2023 zu sehen.<br />
© 2020 Deutsches<br />
Literaturarchiv Marbach<br />
Gestaltung und<br />
Ausstellungsfotografie<br />
dieser Publikation:<br />
Diethard Keppler und<br />
Andreas Jung<br />
Text:<br />
Heike Gfrereis<br />
Z