30.11.2020 Aufrufe

Spectrum_5_2020

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SEXUALITÄTEN

Text Zarina Fäh

Illustration Zarina Fäh

Easy, Rokitansky

Sex ist nicht gleich Sex. Weil Körper nicht gleich Körper ist.

Heutzutage kann mit minimal invasiver

Chirurgie eine sogenannte

Neovagina gebildet werden. Nach

der Operation sei die Patientin* bereits

nach sechs Wochen bereit

für Geschlechtsverkehr. Von den

nicht-chirurgischen Eingriffen berichtet

das Kantonsspital nicht.

enschliche Anatomien sind so divers

Mwie Persönlichkeiten – davon sind

Sexualorgane nicht ausgenommen. Das

ist nicht, was uns die paar Bildchen in den

Sexualkundebüchern weismachen wollen.

Einige Personen fühlen sich durch damit

verbundene Erwartungen in eine Schublade

gesteckt, der sie nicht entsprechen können

und das vielleicht gar nicht wollen. Gestützt

auf den Erfahrungsbericht einer Person mit

dem MRKH-Syndrom, die gerne anonym

bleiben möchte, soll dieser Artikel zum Entdecken

auffordern.

Die Diagnose

Hallo Rokitansky.

Darf ich dir erzählen, was du eh schon lange

weisst? Du wirst mit 14, 15, 16 lange Tage

warten und mit 17, 18, 19 wird es dich so

langsam plagen; deine Tage lassen warten.

Du wirst früher oder später in Wartesälen

sitzen. Dann auf grossen Stühlen, unten

ohne, oben mit. Etwas ist falsch. Ein zweiter

grosser Stuhl, ein zweites Mal fast nackt.

Ein zweites Mal Stirnrunzeln, weil auch der

Ultraschall nichts sagt. Und weiter, vom

MRI zur Diagnose. Du hast das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom

(MRKH).

Vier Personen, die du nicht kennst, mussten

ihre stolzen Namen auf deine Schande pflastern.

Sie haben’s halt entdeckt. Du auch,

Rokitansky, du auch. Heute, an diesem unspeziellen

Tag in unspeziellen LED-Licht-

Räumen, entdeckst du, dass du eine* von

5’000 bist.

Das Kantonsspital Baden sagt zum

MRKH-Syndrom Folgendes: Es sei

ein angeborener Zustand, in dem Personen

des weiblichen biologischen

Geschlechts keine oder keine vollständig

ausgebildete Vagina und

Gebärmutter haben (Wer sich jetzt

fragt, «Boah krass, wie sieht das denn

aus?», soll kurz «Vagina» googeln. Sie

ist nicht gleich Vulva). Das Eindringen

in die Vagina ist also ausschliesslich

(sehr) kurzen Sexspielzeugen, Fingern

oder Penissen vorbehalten (das

Kantonsspital bevorzugt die Formulierung,

dass normaler Geschlechtsverkehr

nicht möglich sei). Auch

eine Schwangerschaft ist diesen

Personen ohne eine Operation nicht

möglich.

Das Realisieren

Vielleicht wirst du dir denken: «Ach so, ja

ohne Mens kann ich leben», oder «Evolutionstechnisch

gesehen ist es also völlig

Wurst, ob es mich gibt oder nicht», oder

nur in Schlaufe: «Wieso ich? Wieso ich?»

Glaub mir, du wirst viele Kinder sehen in

den nächsten Tagen. Und Scheisse, Rokitansky,

was die Menschen heute schwanger

sind! Und wenn du dich dann fragst, wer

die andern sind, dann wirst du von «Halb-

Frauen» auf ihrem Weg durch Schmerzen

zur Vollkommenheit erfahren.

Sie werden sofort fragen, wann und wo und

wer bezahlt’s? Stopp. Lass mich dir was sagen,

denn das haben sie verpasst: «Easy,

Rokitansky. Du musst das nicht, du darfst

es.» Sie werden dir alle Behandlungen lesen

wie die Leviten fürs Sein wie du bist und

dabei die simpelste komplett vergessen:

Einfach mal lassen wie’s ist. Klar, so bist

du anders, doch das sind so viele auch. So

viele müssen vor dem Sex noch rasch etwas

erklären und von so vielen wirst du vor dem

Sex noch etwas Neues lernen.

Du bist nicht allein

Das MRKH-Syndrom ist nur eine Anatomie

unter vielen, welche aus der gesellschaftlich

definierten Norm fallen.

Zum Bespiel leben zwischen ein und

zwei Prozent der Weltbevölkerung

mit einer Anatomie, welche zur Intersexualität

gezählt wird (MRKH ist da

nicht dabei). Das sind ungefähr gleich

viele, wie es Rothaarige auf der Welt

gibt.

In diversen Artikeln zu den verschiedenen

Anatomien sind die Wörter «Operation»

und «Scham» häufig. Letztere sollte gar

nicht nötig sein und ersteres nur, wenn sich

das die betroffene Person auch wünscht.

Und wünschst du dir das, Rokitansky, dann

beginnst du den Weg so, wie du ihn beenden

wirst: Vollkommen. Und ich sag nicht, es

wird einfach. Ich sag nicht, weine nicht. Ich

sag nicht, sei nicht wütend. Ich sag nicht,

frag dich nicht: Warum ich? Warum ich? Ich

sag bloss, dass du so schön bist, wie du bist.

Nimm’s easy, Rokitansky. Lache auch mal

drüber. Denn sie werden dich gleich fragen,

wann du die OP möchtest, und nicht: «Was

ist deine Sexualität?» P

28 spectrum 11.20

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!