MinD-Mag 139
Die Dezember-Ausgabe der offiziellen Zeitschrift von Mensa in Deutschland e.V.
Die Dezember-Ausgabe der offiziellen Zeitschrift von Mensa in Deutschland e.V.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
eine psychiatrische Klinik gegangen<br />
bin. Dort wurde zum<br />
ersten Mal ein IQ-Test gemacht.<br />
Leider wurde mir dort nur mitgeteilt,<br />
dass ich überdurchschnittlich<br />
intelligent sei und<br />
ein Hirnschaden ausgeschlossen<br />
werden kann. „Sie sind halt<br />
einfach schwer depressiv!“ Damit<br />
war das Thema abgehakt.<br />
Weder die Aufenthalte in den<br />
Kliniken noch die Psychopharmaka,<br />
die ich irgendwann mit<br />
viel Widerwillen genommen<br />
habe, haben etwas gebracht. Ich<br />
wollte einfach nur noch, dass<br />
das aufhört! Die Ärzte haben<br />
mir geraten, das Snowboarden<br />
an den Nagel zu hängen und<br />
Trauerarbeit zu leisten. Kalter<br />
Entzug, sozusagen. Es war wirklich<br />
eine hoffnungslose Situation.<br />
Aus heutiger Sicht, wo ich etwas<br />
mehr von Hochbegabung<br />
weiß und verstanden habe, bin<br />
ich ehrlicherweise schockiert,<br />
wie wenig in der Psychiatrie darauf<br />
eingegangen wurde.<br />
Was meinst du: Inwiefern<br />
hat deine Hochbegabung<br />
eine Rolle gespielt?<br />
Ich denke mittlerweile, dass<br />
meine extrem intensive Wahrnehmung<br />
der Depression nicht<br />
Teil der psychiatrischen Diagnose,<br />
sondern meiner besonderen<br />
Wahrnehmung als Hochbegabte<br />
geschuldet war. Wenn man eine<br />
hohe geistige und emotionale<br />
Kapazität hat, kann das eben<br />
auch voll nach hinten los gehen.<br />
Da hätte man bestimmt besser<br />
darauf eingehen und meinen<br />
Leidensweg so vielleicht verkürzen<br />
können.<br />
Letztendlich hast du dich in<br />
Eigenregie aus diesem tiefen Loch<br />
befreit. Wie hast du das geschafft?<br />
Als ich im Dezember 2018 aus<br />
der Klinik kam, habe ich beschlossen:<br />
„Ich geh zurück in<br />
die USA, da ist es mir immer<br />
gut gegangen!“ Natürlich gab es<br />
dort auch keine Wunderheilung,<br />
aber schon ein paar Wochen<br />
später bin ich körperlich stärker<br />
geworden, habe angefangen,<br />
Snowboard zu fahren.<br />
Langsam ging es mir dann<br />
auch psychisch besser. Ich hatte<br />
endlich wieder Endorphine und<br />
Adrenalin im Blut. Für die Leute<br />
dort war ich immer noch die<br />
„alte“ Silvia, die Snowboarderin.<br />
Und da habe ich realisiert, dass<br />
es mir so schlecht ging, weil ich<br />
meine Identität verloren hatte.<br />
In den USA habe ich diese Stück<br />
für Stück zurückerobert. Ich<br />
fühlte mich im wahrsten Sinne<br />
des Wortes wie neu geboren,<br />
plötzlich war alles wieder schön<br />
und bunt in so unglaublich vielen<br />
Facetten.<br />
Bei mir ist es wohl einfach<br />
so, dass ich, bedingt durch die<br />
Hochbegabung, in beide Extreme<br />
ausschlagen kann. Und 2018<br />
ist eben einfach zu viel zusammen<br />
gekommen.<br />
Nach sechs Monaten bin ich<br />
mit gemischten Gefühlen nach<br />
„Ich bin Realistin, aber<br />
zugleich auch Träumerin.<br />
Das Leben bietet mir<br />
genügend Grauzonen, um<br />
mir meine eigene Träumer-<br />
Realität zu schaffen und<br />
ganz oft bringt mich diese<br />
Realität, wie ich sie mir<br />
vorstelle, zum Lachen.“<br />
SILVIA MITTERMÜLLER<br />
Deutschland zurückgekommen,<br />
ich hatte schon Bammel,<br />
dass es dann wieder in die andere<br />
Richtung kippt. Aber meine<br />
Befürchtungen waren umsonst.<br />
Ich habe mich allerdings<br />
auch sofort darum gekümmert,<br />
dass ich gleich wieder irgendwo<br />
snowboarden gehen kann.<br />
Das größte Learning aus dieser<br />
Zeit ist, dass mir meine Identität<br />
keiner nehmen kann; kein<br />
Verband dieser Welt, kein Arzt,<br />
kein noch so gut gemeinter Ratschlag.<br />
Im Februar diesen Jahres erschien<br />
ein Spiegel-Artikel, in dem Du<br />
offen über Deine Depression und<br />
das schwierige Verhältnis zum<br />
Snowboard-Verband sprichst.<br />
Warum bist du diesen Schritt an<br />
die Öffentlichkeit gegangen?<br />
Ich möchte meine Stimme dafür<br />
nutzen, dass sich meine Geschichte<br />
nicht wiederholt. Ich<br />
bin ja nicht die erste Athletin,<br />
die durch eine solche Phase<br />
geht. Bis zu 80 Prozent der<br />
Athleten erleiden post-olympische<br />
Depressionen. Auch das<br />
Karriereende ist für extrem viele<br />
Sportler eine überwältigende<br />
Situation; die wenigsten haben<br />
ein Sicherheitsnetz für die Zeit<br />
„danach“. Solange die Karriere<br />
noch läuft, gibt es ganz viel Förderung,<br />
damit es möglichst viele<br />
Medaillen regnet.<br />
Ich möchte, dass sich die Verbände<br />
und Funktionäre ihrer<br />
Verantwortung bewusst werden<br />
und die Sportler auch nach dem<br />
Karriereende nicht einfach fallen<br />
lassen wie eine heiße Kartoffel!<br />
Ich bin mir sicher, dass du mit<br />
deiner Geschichte auch vielen<br />
mind magazin <strong>139</strong>/dezember 2020 | 13