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SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
ArtMedia Verlag Freiburg Winter 2020 29. Ausgabe / 16. Jahrgang
Zukunftsperspektiven während der Krise
Im Gespräch: Prof. Dr. Kerstin Krieglstein – Neue Rektorin der Universität Freiburg
V
on der Professur für
Anatomie ins Dekanat
der Medizinischen Fakultät
der Universität
Freiburg, ins Rektorinnenamt der
Universität Konstanz und schließlich
wieder zurück in die Breisgaustadt.
Seit Oktober ist Prof.
Dr. Kerstin Krieglstein Rektorin
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg. Zu diesem Anlass kam
Fabian Lutz mit ihr ins Gespräch.
Ein Blick auf eine steile wie unvorhersehbare
Karriere und auf
zwei Herausforderungen unserer
Zeit: Die Corona-Krise und der
Versuch, eine geschlechtergerechte
Universität zu schaffen.
UNIversalis: Frau Krieglstein, mit
Ihnen ergibt sich eine historische
Zäsur. Sie sind die erste amtierende
Rektorin der Universität Freiburg.
Was bedeutet diese neue Aufgabe
für Sie?
Kerstin Krieglstein: Es freut mich
riesig, diese Zäsur persönlich begleiten
zu können. Es ist natürlich
eine große Aufgabe, bei der mir
aber auch ein großes Vertrauen entgegengebracht
wird. Ich hoffe, dass
diese Entscheidung auch auf andere
Universitäten wirkt und weitere
solcher Entscheidungen möglich
macht. Dabei soll es nicht nur bei
den historischen Zäsuren bleiben,
sondern auch um ein neues Selbstverständnis
gehen: dass es überhaupt
nicht mehr ungewöhnlich ist,
wenn eine Frau an der Spitze einer
Institution steht. Das jedenfalls ist
mein Wunsch.
UNIversalis: Professorin für Anatomie,
später Dekanin der Medizinischen
Fakultät, nun Rektorin. Wie
empfanden Sie den Wechsel von der
Wissenschaft in die akademische
Selbstverwaltung? Das war sicher
kein einfacher Schritt.
Kerstin Krieglstein: Professorin
wurde ich aufgrund meiner Leidenschaft
für Forschung und Lehre.
Dafür hatte und habe ich eine starke
intrinsische Motivation. Wenn man
erst einmal von der Faszination
Forschung gepackt wurde, ist es
eben genau das, was man tun will.
Aus dem Inhalt:
Schumpeters Traum3
Aktuelle Forschungsprojekte
zur NS-Zeit an Freiburger
Hochschulen 5
Ein Experte für Zeitenwende
6
Modern Love: Liebeslosigkeit
für die Freiheit7
Alltag findet Stadt9
Das Phänomen des „unsichtbaren
Virus“ 11
Kunstseminare im Lockdown
13
Hochschul(lehr)kultur in digitalen
Zeiten 14
Ein neuer Blick auf die Alchemie
des Lebens 15
Dafür wollte ich für mich ebenso
wie für andere Freiräume schaffen,
und deshalb habe ich mich in der
akademischen Selbstverwaltung
engagiert. Wer diesen Weg mit
allen Konsequenzen gehen will,
muss dafür letztlich Forschung und
Lehre aufgeben. Das ist aber keine
Entscheidung, die man mal eben
schnell am Tisch trifft – jedenfalls
nicht, wenn man zuvor eine Wissenschaftskarriere
mit Erfolg eingeschlagen
hat. Bei mir war das ein
schleichender Übergang.
UNIversalis: Bedingen sich der
Wunsch zu forschen und Forschung
zu gestalten nicht auch?
Kerstin Krieglstein: Natürlich
hängt beides zusammen. Gerade
um die eigene Forschungsumgebung
zu verbessern, wird man in
Gremien tätig und bemüht sich um
die Gestaltung von Infrastrukturen.
In diesen Ämtern, beispielsweise
als Mitglied im Fakultätsrat oder
als Dekanin, sammelt man Erfahrung,
erhält hilfreiches Feedback
und gelangt immer tiefer in die akademische
Selbstverwaltung hinein.
UNIversalis: Ein Umschlagpunkt
bei Ihnen dürfte die Wahl zur Dekanin
der Medizinischen Fakultät
2014 gewesen sein.
Kerstin Krieglstein: Ja. Als ich
gewählt wurde, wurde das Amt der
Dekanin zugleich in eine hauptamtliche
Funktion überführt. Für mich
gab es ab diesem Moment also keinen
Vergleich, kein Vorbild mehr.
Ich hatte niemanden, an dem ich sehen
konnte, was es bedeutet, dieses
Amt im Hauptamt auszuüben. Auch
wurde mir klar, dass es nicht mehr
im selben Maße möglich sein würde,
meine Forschungen fortzuführen.
Dennoch habe ich ein Konzept
entwickelt, wie der Wiedereinstieg
in die Forschung am Ende meiner
Amtszeit gelingen würde.
UNIversalis: Aber Sie blieben in
der akademischen Selbstverwaltung.
Kerstin Krieglstein: Während
meiner vierjährigen Amtszeit als
Dekanin habe ich einige Angebote
bekommen – ob ich nicht hier oder
dort Dekanin werden möchte, übrigens
wieder in hauptamtlicher
Funktion. Da wusste ich, dass ich
mein Amt in der akademischen
Selbstverwaltung offensichtlich gut
und sichtbar ausübe. Das war Feedback,
das ich brauchte, um mich
auf diesem Weg bestätigt zu fühlen.
Schließlich kam die überraschende
Situation, dass 2018 an der Universität
Konstanz die Rektorenstelle
ausgeschrieben wurde. Da dachte
ich mir: Ich teste einmal meinen
Marktwert und bewerbe mich. Als
Dekanin der Medizinischen Fakultät
übte ich in manchen Bereichen
auch Tätigkeiten aus, die denen
einer Rektorin äquivalent sind. Im
Auswahlgespräch konnte ich auf
diese Kompetenzbereiche verweisen.
UNIversalis: Und Sie hatten Erfolg.
Kerstin Krieglstein: Ja, das war
eine schöne Erfahrung. Die Herausforderung
habe ich gerne angenommen.
Auch in diesem Amt
bekam ich viel positives Feedback
und habe festgestellt, dass ich mich
dort sehr wohl fühle.
UNIversalis: Nach zwei Jahren
waren Sie aber bereits wieder in
Freiburg und traten dort die Rektorinnenstelle
an.
Kerstin Krieglstein: Ich hatte keine
dezidierte Strategie für meinen
weiteren beruflichen Werdegang.
Als sich jedoch die Chance ergab,
an meiner Heimatuniversität, mit
der ich seit über 10 Jahren verbunden
bin, Rektorin werden zu können,
liebäugelte ich sehr damit. Ich
wollte es einfach einmal probieren,
und es hat geklappt. Wahrscheinlich
wäre ich aber hier nicht Rektorin
geworden, wenn ich in Konstanz
vorher nicht wichtige Qualifikationen
gesammelt hätte.
UNIversalis: Neben der persönlichen
Verbundenheit – was reizt Sie
an der Universität Freiburg?
Foto: Jürgen Gocke
Kerstin Krieglstein: Die ehrliche
Leistungsstärke. Es gibt viele universitäre
Einrichtungen, die extrovertierter
auftreten als die Universität
Freiburg und bei denen die sichtbare
Leistung größer als die tatsächliche
ist. In Freiburg verhält es sich
umgekehrt. Dort gibt es einen hohen
Leistungsstandard, das Auftreten
aber ist oft nah am Understatement.
Die Universität Freiburg ist besser,
als sie sich verkauft. Diese Attitüde
gefällt mir, ebenso wie mir Qualität
und Wissenschaftlichkeit der Einrichtung
gefallen. Mit der umgekehrten
Attitüde würde ich weniger
zurechtkommen.
UNIversalis: Ihre Amtszeit begann
inmitten der Corona-Krise. Auf die
Universität Freiburg kamen und
kommen viele Herausforderungen
zu. Gerade die Lehre ist gefordert,
mit flexiblen, neuen Formaten darauf
zu reagieren. Sehen Sie Freiburg
angesichts der Krise gut gerüstet?
Kerstin Krieglstein: Ich sehe die
Universität Freiburg in dieser Situation
gut aufgestellt. Die Universität
setzt sich bereits seit langer Zeit
mit E-Learning-Formaten auseinander.
Seit 2006 sind wir beispielsweise
dank der Förderprogramme
„MasterOnline“ der Landesregierung
führend im Angebot universitärer
Online-Studiengänge in Baden-Württemberg.
Die Herausforderung
war aber, diese punktuellen
Erfahrungen einzelner Studiengänge
innerhalb kürzester Zeit auf die
ganze Universität zu übertragen.
Das ist uns gut gelungen – durch
das enorme Engagement der Lehrenden
sowie des Rechenzentrums
und dort insbesondere der Abteilung
E-Learning. Zum Wintersemester
gilt es nun, diese Erfahrungen
fortzuschreiben und Formate zu
nutzen, die maximal inklusiv sind,
also alle Beteiligten in einem virtuellen
Lehrraum zusammenbringen.
In der Corona-Krise müssen alle
Lehrenden digitale Lehre leisten
und umfassende Lehrkonzepte gestalten
können.
UNIversalis: Wie lässt sich ein solches
Lehrkonzept beschreiben?
Kerstin Krieglstein: Die Corona-
Krise fordert zunächst nur den
Übertritt in eine virtuelle Lehrsituation
– zum Beispiel wird eine
Vorlesung als Videokonferenz
statt im Hörsaal gehalten. Das
reicht aber nicht, da Studierende
hier oft in einer zuhörenden Rolle
verharren. Wir müssen uns für die
Zukunft auch intensiver mit der
Didaktik der virtuellen Lehre und
mit den vielen verschiedenen digitalen
Lehrformaten beschäftigen.
Ob ich mein Seminar oder meine
Vorlesung in synchronen Formaten
mit Videokonferenzen gestalte
oder ob ich sie asynchron anbiete,
also Lehrinhalte in Videos vorab
aufzeichne und den Studierenden
Aufgaben stelle, die sie alleine
oder in virtuellen Gruppen bearbeiten,
ist dabei nur ein trivialer Teil
eines großen Spektrums an Möglichkeiten.
Wichtig ist, Formate zu
schaffen, die die soziale Interaktion
zwischen Lehrenden und Studierenden,
aber auch zwischen den
Studierenden fördern.
UNIversalis: Das betrifft sicher
auch jene hybriden Formate zwischen
Präsenzlehre und digitaler
Lehre. Welchen Stellwert haben
solche Formate?
Kerstin Krieglstein: Die Corona-
Krise fordert uns auf, uns auch in
Zukunft mit dem Besten aus beiden
Welten auseinanderzusetzen, um die
Lehre qualitativ und international
wettbewerbsfähig weiterzuentwickeln.
Hybride Lehrformate werden
sicher an Bedeutung gewinnen.
Sie ermöglichen eine höhere Flexibilität
für Lehrende und Studierende.
Es gab auch schon in den
vergangenen Jahren viele Gründe,
warum sich viele Studierende mehr
digitale Formate gewünscht haben.
Asynchrone Lehrsituationen etwa
kommen Studierenden entgegen,
die neben ihrem Studium arbeiten,
Kinder oder andere Familienangehörige
betreuen müssen. Eine andere
Form der hybriden Lehre ist das
zeitgleiche Zusammenarbeiten von
Studierenden im Seminarraum mit
Teilnehmenden, die per Videokonferenz
zugeschaltet sind. Die didaktische
Anforderung an Lehrende ist
in diesem Setting maximal hoch, da
es gilt, Präsenzdidaktik mit Online-
Moderation zu verbinden, um keine
Teilnehmergruppe zu benachteiligen.
UNIversalis: Welche Rolle spielen
innovative Lehrformate – vielleicht
auch über die Gegebenheiten der
Corona-Krise hinaus?
Kerstin Krieglstein: Innovative
Formate wie der „Flipped Classroom“
oder „Blended Learning“
werden zum Beispiel für die internationale
Lehre immer wichtiger.
Gerade auf europäischer Ebene
2 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
muss die Universität Freiburg
bi- und multinationale Konzepte
ermöglichen. Wir sind am trinationalen
Universitätsverbund Eucor
– The European Campus ebenso
beteiligt wie an dem Konsortium
EPICUR, das von der EU als Pilot
für eine europäische Universität
gefördert wird. Über virtuelle Formate
können räumliche und zeitliche
Barrieren überwunden werden.
Zugleich bleibt die direkte Interaktion
zwischen den Lehrenden und
Studierenden aber enorm wichtig.
Mein Wunsch wäre, dass wir diese
Ansätze in Zukunft deutlich stärker
bei der Curriculumsentwicklung aller
Studiengänge nutzen.
UNIversalis: Was für Szenarien wären
dann denkbar?
Kerstin Krieglstein: Studierende
sollen individuell entscheiden und
Lehrangebote flexibel nach den
eigenen Rahmenbedingungen und
Vorlieben zusammenstellen können.
Hier müssen wir unbedingt
in die Ermöglichungsphase treten.
Angesichts der Kreativität unserer
Lehrenden ich bin optimistisch, dass
sich das Angebot dynamisch entwickeln
wird. Bei all den Bemühungen
darf es aber niemals das Ziel sein,
die Präsenzlehre abzuschaffen.
UNIversalis: Sie kommen als Wissenschaftlerin
aus dem naturwissenschaftlichen
Bereich. Hier bleiben
Frauen bis heute unterrepräsentiert.
Welche Schritte sehen Sie als
notwendig, um diese Problematik
anzugehen?
Kerstin Krieglstein: Wir müssen
grundsätzlich für die Attraktivität
der MINT-Fächer (Mathematik,
Informatik, Naturwissenschaft und
Technik) werben, aber auch darauf
hinarbeiten, dass es keine Geschlechterdifferenzierung
mehr gibt.
Wir müssen dazu auch aktiv in die
Verteilung eingreifen. In einer früheren
Phase meiner Karriere war ich
kategorisch gegen jede Quote. Mittlerweile
kann ich der Quote vieles
abgewinnen, auch wenn sie nicht als
Lösung für jedes Problem dient. Ich
glaube aber, dass wir dadurch in jedem
Fall eine Sogwirkung generieren
können.
UNIversalis: Sehen Sie sich über
Ihre Position als Frau im männlich
dominierten Wissenschaftsbetrieb
für solche Problematiken eher
sensibilisiert?
Kerstin Krieglstein: Auf jeden
Fall. Wobei mir viele Problematiken
erst im Rückblick aufgefallen
sind. Wenn ich in einem Gremium
sitze, wissenschaftlich arbeite oder
lehre, sehe ich viele Gleichstellungsproblematiken
nicht unmittelbar.
In späteren Positionen konnte
ich meine Erfahrungen aber oft neu
bewerten. So fielen mir auch einige
Probleme deutlicher auf. Für manche
Qualifikationen musste ich mich
etwa anders oder sogar mehr engagieren.
Gerade in Bezug auf manche
Berufungsverfahren wurde mir das
im Nachhinein oft klar. Da blieb das
Gefühl, in der Bewertung doch zu
schlecht weggekommen zu sein.
UNIversalis: Können Sie von einer
solchen Erfahrung erzählen?
Kerstin Krieglstein: Nachdem ich
frisch habilitiert war, hatte ich mich
sieben Mal auf verschiedene Stellen
beworben, war aber nie eingeladen
worden. Bei der achten Bewerbung
wurde ich dann eingeladen
und gelangte direkt auf den ersten
Bewerberplatz. Von den sieben vorherigen
bis zur achten Bewerbung
hatten sich meine Qualifikationen
allerdings nicht wesentlich verändert.
Ich kann zwar nicht sagen, in
welchem dieser Verfahren Voreingenommenheit
eine Rolle spielte,
aber dass sie eine Rolle spielte, davon
gehe ich aus. Ansonsten ist der
plötzliche Sprung auf den hohen
Listenplatz nicht plausibel. Als ich
Jahre später darüber nachdachte,
kam mir der Gedanke, dass jene
letzte Universität, bei der ich mich
beworben hatte, wohl eine starke
Gleichstellungsbeauftragte gehabt
haben musste.
UNIversalis: Welche Rolle, glauben
Sie, hatte diese Beauftragte im Berufungsprozess?
Kerstin Krieglstein: Diese Person
hat mich sicher nicht durchgesetzt,
aber über ihre Tätigkeit möglicherweise
ein Milieu geschaffen, in dem
Bewertungen datenbasiert, also
ohne impliziten Geschlechterbias
möglich wurden. Es ist wichtig,
Umgebungen zu schaffen, in denen
das Auswahlkriterium „Frau/Mann“
Foto: Sandra Meyndt
immer mehr an Bedeutung verliert.
Begleiten kann man diesen Prozess
dann mit einer Quote.
UNIversalis: Zum Schluss eine launische
Frage: Wie viel Idealismus
trägt das Rektorinnenamt?
Kerstin Krieglstein: Am Morgen
viel, am Abend weniger.
UNIversalis: Liebe Frau Krieglstein,
wir bedanken uns sehr für das
Gespräch!
Zur Person
Kerstin Krieglstein: Jahrgang
1963, habilitierte Hirnforscherin,
ehemalige Professorin für Anatomie,
Direktorin der Abteilung für
Molekulare Embryologie der Medizinischen
Fakultät der Albert-
Ludwigs-Universität Freiburg und
Rektorin der Universität Konstanz.
Seit Oktober 2020 Rektorin an
der Universität Freiburg. Von der
Pharmazie kam sie in die neuroanatomische,
neurophysiologische
und zellbiologische Forschung.
Ihr Forschungsschwerpunkt ist die
pränatale Entwicklung des Gehirns
und seiner Nervenzellen.
Du studierst – Wir machen den Rest
Das Studierendenwerk Freiburg-Schwarzwald
D
as Studierendenwerk
Freiburg-Schwarzwald
(SWFR) ist für die Studierenden
der staatlichen
Hochschulen in Freiburg, Furtwangen,
Villingen-Schwenningen,
Offenburg, Gengenbach, Kehl und
Lörrach zuständig.
Alle Studierenden dieser Hochschulen
zahlen jedes Semester einen Semesterbeitrag,
der sie dazu berechtigt,
die Leistungen des SWFR zu
nutzen.
WOHNEN: Wir helfen durch unsere
Zimmervermittlung ein Zimmer auf
dem freien Wohnungsmarkt zu finden
und bieten günstigen Wohnraum
in unseren Wohnheimen.
ESSEN & TRINKEN: In unseren
Mensen kochen wir täglich preisgünstige,
ausgewogene Mahlzeiten
aus hochwertigen Zutaten – auch
vegetarisch und vegan. Fair gehandelter
Kaffee und Backwaren aus der
Region gibt es in unseren Cafeterien.
GELD: Die finanzielle Förderung
durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz
(BAföG) ist eine
unserer Hauptaufgaben. Unsere
Mitarbeiter*innen informieren über
die gesetzlichen Vorschriften und
helfen beim Antrag stellen.
Außerdem bieten wir weitere Finanzierungshilfen
wie Studienkredite,
Stipendien oder Darlehen. Außerdem
findet man in unserer Online-Jobvermittlung
studentische Nebenjobs.
BERATUNG & SOZIALES: Wir
beraten aber nicht nur in finanziellen
Das Studierendenwerk Freiburg in den Räumen der Basler Straße
Angelegenheiten. Unsere Sozialberatung
hat Informationen zu Krankenversicherung
oder Ausländerrecht,
zum Wohngeld oder zur Kinderbetreuung.
Für Studierende mit Nachwuchs
bieten wir Kindertagesstätten
oder helfen bei der Suche nach einem
Kindergartenplatz oder anderer Betreuung.
Ein Anwalt hilft bei Rechtsfragen.
Und wer zwischendurch mal in eine
Krise gerät, ist in unserer Psychotherapeutischen
Beratungsstelle gut aufgehoben.
Unsere Therapeut*innen
helfen bei persönlichen oder studienbedingten
Problemen. Außerdem
bieten wir regelmäßig Seminare und
Workshops zu Stressbewältigung,
Prüfungsangst oder Selbstmanagement
an.
VERANSTALTUNGEN: Ebenso
wichtig wie Essen, Wohnen und Finanzen
ist es, andere Leute kennenzulernen.
Bei unseren Sport- und
Freizeitangeboten, bei den Studitours
oder im Internationalen Club
findet man leicht Kontakt.Und in unserer
MensaBar im Foyer der Mensa
Rempartstraße gibt es während des
Semesters ein reges und vielfältiges
Veranstaltungsprogramm mit Musik,
Party, Film, Comedy, Slam, Ping
Pong Club u.v.a. mehr. Wer mitmachen
will, ist willkommen.
In diesem Wintersemester müssen
wir unser Veranstaltungsprogramm
Foto: Christoph Düpper
wegen Corona leider einschränken.
Bitte schaut auf unserer Website,
welche Angebote stattfinden.
Unser Infoladen, unsere Broschüren,
Flyer, unser Infokalender für Studierende
und unsere Website informieren
euch umfassend über alle unsere
Angebote und Aktivitäten. Täglich
Neues gibt es auf unseren Social Media
Kanälen.
Infoladen des Studierendenwerks,
Basler Str. 2, 79100 Freiburg
Mo –Fr 9.00 – 17.00 Uhr, Tel. 0761
2101-200 , info@swfr.de
www.swfr.de
www.facebook.com/studierendenwerk.freiburg
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 3
Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger
Foto: Peter van Heesen
Schumpeters Traum
Viktor Mayer-Schönbergers und Thomas Ramges Machtmaschinen trifft die heutigen Datenmonopole an
kritischer Stelle und nennt Alternativen für eine datenoffenere Welt
D
igitalisierung bedeutet
Datenmacht. Und
mit Macht kommt
Verantwortung. Dass
Konzerne wie Facebook, Google
oder Amazon nun nicht unbedingt
verantwortungsvoll verfahren,
dürfte vielen klar sein. Aber
was stattdessen? Und wo ansetzen?
Viktor Mayer-Schönberger
und Thomas Ramge zeigen in
ihrem Buch Machtmaschinen.
Warum Datenmonopole unsere
Zukunft gefährden und wie wir sie
brechen eine klare Handlungsalternative
auf: Den Monopolisten
die Datenhoheit nehmen. Statt
Datenhäufung Datenverteilung
– zugunsten einer transparenten,
demokratischen Gesellschaft.
Ein neugieriger Blick in ein spannungsreiches
Buch.
„Daten sind nicht nur der wichtigste
Rohstoff unserer Zeit. Daten
sind Macht. Jeder politisch denkende
Mensch sollte sich mit der Frage
beschäftigen, wie wir mit diesem
Rohstoff umgehen.“ Im Interview
mit der UNIversalis zeigen sich die
beiden Autoren des Buchs Machtmaschinen
in ihrem Anspruch
deutlich. Notwendigerweise, denn
obwohl sich die Digitalisierung in
allen Lebensbereichen vollzieht und
ihre Folgen alltäglich zeigt, wird sie
von der Öffentlichkeit doch seltsam
teilnahmslos dabei beobachtet. Sicher,
wir alle kennen die Debatten
um Datenschutz und empfinden eine
intuitive Skepsis vor Konzernen wie
Facebook und Google; ebenso intuitiv
aber nutzen wir deren Services,
bleiben zwischen Bequemlichkeit
und Überforderung, wenn ein weiteres
„Okay“ unter die Allgemeinen
Geschäftsbedingungen gesetzt werden
muss oder eine Website nach
unserer Zustimmung zur Verwendung
von Cookies fragt. Die konsequente
Auseinandersetzung damit,
– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR
was Konzerne mit unseren Daten
tun und zu welcher Macht sie damit
kommen, überlassen wir lieber Leuten
vom Fach.
Viktor Mayer-Schönberger und
Thomas Ramge sind vom Fach.
Ramge als Journalist und Autor für
aktuelle Technologietrends, tätig für
Zeitschriften wie brand eins oder
The Economist, Mayer-Schönberger
als Professor für Internetregulierung
an der Oxford University, Mitglied
des Deutschen Digitalrats und Autor.
„In unserem Buch versuchen
wir, das Beste aus Wissenschaft
und Journalismus zusammenzuführen.
Unser Anspruch ist es, die
Entwicklungen durch datenreiche
Plattformen für Wirtschaft, Gesellschaft
und Politik in großer Tiefe
zu durchdringen, unsere Analyse
durch klare Sprache und plastisches
Erzählen aber auch für alle Leserinnen
und Leser verständlich und
spannend aufzubereiten.“
Märchen der Digitalisierung
Keine einfache Aufgabe, sind viele
Prozesse in der digitalen Welt doch
nicht leicht greifbar – oder werden
gezielt verschleiert, darauf
machen die Autoren schnell aufmerksam.
Was Facebook, Google
und Co. auszeichnet, sind weniger
exklusive, moderne Technologien
als exklusive, moderne Erzählungen.
Im Mittelpunkt dabei:
Das autonome, findige IT-Genie,
das in Figuren wie Mark Zuckerberg,
Steve Jobs oder der Big Bang
Theory-Serienfigur Sheldon Gestalt
findet. Die Datenmonopolist*innen
aus Silicon Valley erzählen gerne
von großen Figuren, die nach den
Sternen greifen. „Im Narrativ der
Superstarfirmen wimmelt es auf
ihrem Campus nur so von kleinen
Sheldons, die mit einsteinhafter
Brillanz aus Daten Gold machen.“
Weitere Mythen zirkulieren. Den
IT-Superfirmen könnten Unternehmen
und Volkswirtschaften auf digitaler
Ebene allein deshalb keine
Konkurrenz machen, weil ihnen
schlicht die Rechenleistung fehle.
Die berüchtigten Algorithmen, die
etwa Googles Dienste so allumfassend
reagieren lassen, seien gutgehütete
Geheimnisse, zu denen die
schnöden Wirtschaftler*innen von
gestern schlicht keinen Zugriff haben.
Klingt schlüssig, ist aber alles
falsch. Rechenkraft, Speicherkapazität,
Datenanalysewerkzeuge, Algorithmen
und auch Computergenies
sind in Europa ebenso vorhanden
wie im sonnigen Kalifornien.
„Für den großen digitalen Sprung
fehlen vor allem die Zugänge zum
Rohstoff der digitalen Revolution,
zu den Daten. […].“ Ein Wettbewerbsvorteil,
der für den Erfolg
der neuen Unternehmensriesen so
ausschlaggebend ist wie er für alle
anderen ungreifbar scheint. Die
Konkurrenz in Europa bleibt „chancenlos
und ratlos“.
Die Stärke von Machtmaschinen
liegt in der Beharrlichkeit seiner
Argumentation. Die Autoren fragen
nicht nur nach den Gegebenheiten
jener neuen Wettbewerbssituation,
sondern gleichfalls nach
derer öffentlicher Repräsentation.
Die Genieerzählung der digitalen
Innovator*innen ist gerade deshalb
so wirkmächtig und scheinbar unangreifbar,
weil sie sich auf etwas
beruft, das moralisch unangreifbar
scheint: Die Kreativität des Individuums.
Entsprechend selbstbewusst
und freimütig treten die
Exponent*innen des digitalen Wandels
bei Konferenzen auf, teilen ihre
Erkenntnisse und Errungenschaften,
lassen einige wesentliche Informationen
allerdings aus.
Machtmaschinen funktioniert
nicht wie der pseudotransparente
Bestseller How Google Works mit
seinen Wachstumsmärchen der Innovation.
Das Buch bohrt tiefer,
stellt Grundannahmen in Frage und
löst sein Versprechen, sowohl tiefgehend
als auch spannend zu sein,
voll ein.
Eine Fingerspitze Innovation
Joseph Alois Schumpeter erhält
in Machtmaschinen sein eigenes,
wenig hoffnungsvolles Kapitel:
„Schumpeters Albtraum“. Schumpeter,
einer der bedeutendsten Ökonomen
des 20. Jahrhunderts, sah
Vielseitig
ist einfach.
sparkasse-freiburg.de
Innovation und Kreativität als wesentliche
Antriebsfaktoren der Wirtschaft.
Für ihn gaben sie auch in
schwierigen Zeiten Grund für Optimismus.
Auch in Krisensituationen,
etwa während der Weltwirtschaftskrise
von 1924, die Schumpeter
selbst das Vermögen kostete, blieb
der Ökonom davon überzeugt, dass
auf jede wirtschaftliche Diskontinuität
neue Innovation und damit
Wachstum folgt. Ein Albtraum des
Visionärs blieb die Monopolstellung
der Innovation. Würde sich
contouno ü18 –
so flexibel wie das
Leben.
Mit dem kostenfreien Girokonto
für junge Leute bis 25 sind Sie
entspannt in allen Situationen
unterwegs.
4 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
die Innovationskraft auf nur wenige
mächtige Unternehmen konzentrieren,
würde diese dort naturgemäß
eingehen. Schließlich haben die
selbstbewusst Mächtigen nur wenig
Anlass, risikoreiche, radikale Ideen
in die Welt zu setzen.
Man ahnt es schon: Schumpeters
Albtraum erhält in unserer Gegenwart
seine Entsprechungen. Hat
Europa vielleicht alle wesentlichen
materiellen wie ideellen Ressourcen,
so wandern diese schließlich
doch ins sonnige Datenkalifornien
ab, wo sie weit bessere Grundbedingungen
vorfinden als im heimischen,
überforderten Markt.
Auch China weiß mit teils noch
höheren Gagen aus den europäischen
Staaten mit ihren eigentlich
innovationsstarken Ausbildungsstätten
zu locken. Bleiben junge
Innovateur*innen hingegen bei ihrem
Projekt und schaffen dezentral
kreative Leistungen, wissen sich die
„Großen“ mit der sogenannten „Kill
Zone“ zu helfen. Gefährlich gewordene
kleinere Unternehmen werden
prompt und lukrativ eingekauft und
damit gewinnbringend entschärft.
Die Übernahme der Message-App
WhatsApp durch Facebook stellt
eins der bekanntesten Beispiele. Ein
großer Konzern öffnet sich damit
immer mehr Datenströmen. Und ein
Datenstrom ist ein gewissermaßen
endlos fließender Rohstoff.
Die Logik der Daten
In die Tiefe zu gehen, bedeutet für
Viktor Mayer-Schönberger und
Thomas Ramge auch, das Denken
dem Gegenstand anzupassen. Im
Denken älterer Wirtschaftszweige
mag das Bild vom „Datenschatz“,
den man nur zu heben braucht,
schlüssig sein – nur verschleiert
es den Tatbestand. Denn Daten
sind weder ein Schatz noch das
neue Öl, mit dem die Maschine
angetrieben wird, die wiederum
Gewinne generiert. Daten werden
nicht schlicht konsumiert, sondern
steigen in ihrem Wert noch
während der Nutzung. Den neuen
Großunternehmer*innen geht es
nicht um den Verkauf von Daten,
sondern um deren steten Besitz
und die ständige Neuverarbeitung
in wechselnden Kontexten. Darauf
gründet das flexible Geschäftsmodell
von Konzernen wie Apple,
Amazon oder Spotify.
Die konstante Überwachung der
eigenen User*innen schafft die
Fähigkeit, flexibel auf Wechsel im
Konsumverhalten zu reagieren. Die
Daten fließen in einem Flussbett,
das konstant angepasst wird. Aber
damit der Fluss fließt, braucht es
Wasser. Traditionelle Konzerne wie
Toyota, Volkswagen oder Mercedes
blieben im Trockenen. Während sie
fleißig das eigene Automatikgetriebe
weiter optimierten, begann Google
mit der Vermessung der Straßen
der Welt, um auf eine komplett neue
Technik, das Autonome Fahren, zu
setzen. Und die basiert auf Daten,
ein Rohstoff, der nie versiegt.
Aus verschiedenen Perspektiven
beleuchtet Machtmaschinen diesen
Umstand. Dann stellt es eine klare
Forderung, die beide Autoren im
Interview bestätigen: „Wir fordern,
dass ein Teil dieser Daten allen
zugänglich gemacht wird, die den
Fortschritt voranbringen können.
Wenn wir mehr Daten mehr Innovatoren
und Innovatorinnen zugänglich
machen, werden wir alle gewinnen.“
Die Leistungen der Tech-
Pionier*innen in Sachen Datengewinnung
könnte so für alle Früchte
tragen. Gerade auch für kleinere
und mittelgroße Unternehmen, die
sonst ohne Zugang zum Datenstrom
eingehen oder zuvor von einem der
Riesen weggekauft würden. Nicht
zuletzt ergibt sich daraus auch ein
Vorteil für Konsument*innen: Ist
der Markt breiter aufgestellt, fallen
auch die hohen Monopolpreise.
„Das ist es, was soziale Marktwirtschaft
ausmacht: die Menschen zu
bemächtigen, und nicht wettbewerbsfeindliche
Konzerne.“
Datenfluss und Datenschutz
Die Autoren besinnen sich auf ein
wettbewerbsstarkes Europa und damit
auch auf die Errungenschaften
des Kontinents in Sachen Datenschutz.
Aber auch hier bleibt ein
kritischer, nachbohrender Blick.
„Selbst leiser Widerspruch gegen
die Dogmen der europäischen Datenschutzreligion
führt dazu, sich
in der Rolle eines Ketzers wiederzufinden.“
Tatsächlich ein empfindliches
Thema, dem sich die Autoren
stellen müssen, wollen sie für
einen offeneren Zugang zu Daten
werben. Statt von Beginn an in eine
rechtfertigende Haltung zu gehen,
wagen sie aber einen Angriff. Gerade
angesichts der Covid-19-Krise
blockierten bestimmte Datenschutzregulierungen
produktive und gesundheitlich
sichere Alternativen,
etwa digitale Schulungs- oder Arbeitsmöglichkeiten.
Die Einschränkung
einer Kontaktverfolgungsapp
aufgrund von Datenschutzgründen
schränke deren grundsätzlichen
Nutzen ein. Gleichzeitig, so die Autoren
aber auch, beweise die Corona-Krise,
wie erfolgreich eine länderübergreifende
medizinische Zusammenarbeit
funktionieren kann,
wenn alle wichtigen Akteur*innen
Zugriff auf die wesentlichen Daten
erhalten.
„Zugangsrechte zu Daten neu
zu regeln, ist rechtlich kein großes
Problem. Die Europäische Union
kann dies durch eine Erweiterung
der Datenschutz-Grundverordnung
leicht umsetzen.“ Im Interview betonen
beide Autoren aber gleichzeitig:
„Zu teilende Daten müssen
dabei freilich von personenbezogenen
Merkmalen befreit werden.“
Das hieße am Beispiel: „Amazon
müsste offenlegen, welche Produkte
gekauft werden, aber nicht, wie oft
oder von wem. Weder Suchanfragen
noch Produktnamen sind personenbezogen
oder Geschäftsgeheimnisse,
sondern es sind ‚reine‘
Sachdaten.“ Ein Rohstoff, der nur
genutzt werden muss. Und ein Modell,
das in Einklang mit dem Gesellschaftssystem
steht, in dem wir
leben. Die Offenheit der Daten spiegelt
das Ideal einer Demokratie als
Ort freier Informationsflüsse und
zugänglicher Fakten. Nur so bleibt
die freie, persönliche Willensbildung
des einzelnen Menschen möglich.
Gleiches gilt für die politische
Entscheidungsfindung, die in diesem
Szenario auf weit mehr Daten
fußen und damit deutlich sachbezogener
begründet werden kann. „Der
Grundsatz von Open Data ist nicht
außergewöhnlich und radikal, sondern
ein konstitutives Element der
Demokratie.“
Prototypen der neuen Welt des
freien wie geschützten Datenzugangs
können die Autoren ebenfalls
nennen. Das internationale Forschungsinstitut
CERN präsentiert
seine innovativen Ergebnisse frei
und offen zugänglich. Die World
Values Survey stellt Daten zu den
Wertevorstellungen einer Gesellschaft,
wie sie seit vier Jahrzehnten
erhoben werden, online für alle
Interessierten zur Verfügung. Und
nur Wikipedia ist wohl zu bekannt,
um ausführlicher im Buch gewürdigt
zu werden. Der Entdeckergeist
ist da und Open Data kennt viele
Befürworter*innen. Dem Buch ist
zu wünschen, dass es dem Diskurs
nun neue Perspektiven schenkt.
Gründlich und facettenreich genug
haben beide Autoren schließlich dafür
argumentiert.
Viktor Mayer-Schönberger und
Thomas Ramge, „Machtmaschinen.
Warum Datenmonopole unsere
Zukunft gefährden und wie wir sie
brechen“, Murmann 2020.
Fabian Lutz
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 5
V
or wenigen Wochen entstand
ein Bilderstreit in
Freiburg. Es ging um die
christliche Widerstandskämpferin
Gertrud Luckner (1900–
1995), Trägerin des Bundesverdienstkreuzes
am Bande und Ehrenbürgerin
der Stadt. Im Rahmen des Stadtjubiläums
900 Jahre Freiburg sollte ein kleinformatiges
Foto aus dem Jahr 1936,
das Luckner beim Spaziergang durch
die Stadt unweit des Schwabentors
zeigt, als 19 x 14 Meter großes Banner
an der Fassade der Uni-Bibliothek
aufgespannt werden. Nebenan, im
ehemaligen Caritas-Sitz (heutiges
Werthmann-Haus) hatte Luckner,
nach überstandenem KZ-Aufenthalt,
in der Nachkriegszeit jahrelang gearbeitet
und die „Verfolgtenfürsorge“
geleitet. Der Disput kann ein Lehrstück
sein für die Schwierigkeiten mit
unserer Erinnerungskultur. Insofern
ist er auch relevant für wissenschaftliches
Arbeiten.
Zerstört am 27. Nov. 1944: die Alte Ludwigskirche,
Ecke Rheinstr./Habsburgerstr.
Gertrud Luckner im Zwist
Aktuelle Forschungsprojekte zur NS-Zeit an Freiburger Hochschulen
Warum scheiterte das Luckner-
Projekt?
Initiiert hatte das Vorhaben der ehrenamtlich
geführte Verein „Wahlkreis
100“, der sich seit Jahren für
erweiterte politische Beteiligung der
Migrant*innen einsetzt – und dafür
2013 den „Freiburger Integrationspreis“
erhielt. An mindestens vier
Orten der Stadt sollten solche Großfotos
von historischen Akteuren des
Widerstands und der mutigen Selbstbehauptung
gezeigt werden, jeweils
dort wo sie tatsächlich auch aktiv
gewesen sind (siehe: www.sichtbarfreiburg.de).
Der Luckner-Plan war für gutgeheißen
und genehmigt, auch von der
UB-Direktion selbst – doch kurzfristig
(das Banner war schon gedruckt,
für sieben Tausend Euro) zog die Universitätsleitung
ihr OK zurück. Die
Begründung: im Bild-Hintergrund
„wäre eine Hakenkreuzfahne großflächig
und weithin sichtbar gewesen.
Für die Universität Freiburg ist
jedoch die Abbildung von Symbolen
der nationalsozialistischen Diktatur
an einem ihrer Gebäude ein klares
Tabu“.
Schaut man sich das Bilddokument
genauer an, wird es lehrreich
und interessant: Bei Gertrud Luckner
handelt es sich mitnichten um die fesche
Dame in der Bildmitte, die fast
posierend in die Linse des Fotografen
schaut. Nein, es ist die andere Frau
links von ihr, eine scheinbar zufällige
Passantin mit Aktentasche, die
kritisch blickt, den Kopf leicht senkt,
sich eher ‚weg zu ducken‘ scheint.
Die strittige Frage hat mehrere
Facetten. Das Nein kam Anfang
Oktober, just als der alte Rektor der
Uni abgetreten war und seine Nachfolgerin
noch gar nicht ganz da sein
konnte. Wer hat also die Entscheidung
wirklich getroffen? Offenbar
der Kanzler der Uni, nach erfolgtem
Veto des stellvertretenden UB-Leiters
– zuvor hatte indes deren Direktorin
Antje Kellersohn über längere Zeit
Zustimmung signalisiert. Ein Uniinternes
Kompetenz- und Meinungs-
Durcheinander tatsächlich. Auch die
Jüdische Gemeinde (mit deren Vorsitzender
Irina Katz) war übrigens
eingebunden und stets einverstanden
mit der Installation. Der städtische
Ku lturbürgermeister Ulrich von
Kirchbach und die Leitung des Stadtjubiläums-Teams
sowieso. „Ich bin
deshalb überzeugt, dass das Projekt
einen gelungenen Beitrag zum Jubiläum
darstellt“, teilte von Kirchbach
im Vorfeld schriftlich mit.
Die Entscheidung fiel im Rückblick
augenscheinlich mehr als unglücklich
aus. Aber: was lernen wir
daraus? Zunächst einmal bleiben wir
(und die maßgeblichen Institutionen)
offenbar immer noch ‚verkrampft‘,
wenn es um die Aufarbeitung der
NS-Zeit geht – selbst 75 Jahre nach
Kriegsende. So gibt es auch auf der
Homepage der ALU zwar eine eigene
Seite „Stadtjubiläum 2020“ – aber
die Suche nach „Luckner“ bleibt ergebnislos:
kein Eintrag. Merkwürdig.
Das Projekt wird verschwiegen, auch
eine weitergehende Begründung der
Entscheidung oder der Raum für eine
Debatte wird (noch) nicht eingeräumt.
Da bleibt für die neue Rektorin Kerstin
Krieglstein noch manches zu tun.
Hinzu kommt, dass es sich offensichtlich
um das einzige existierende
Foto handelt, das Gertrud Luckner im
städtischen ‚Alltag‘ der NS-Zeit zeigt
– und insofern auch als realistisch
und authentisch gelten muss: so sah
es halt allenthalben damals aus in der
Innenstadt. Auch das Gegenargument,
dass vis-à-vis der UB am Haupteingang
zum Kollegiengebäude I weiterhin
die Sentenz des faschistischen
Uni-Rektors Martin Heidegger „Dem
ewigen Deutschtum“ gut sichtbar
prangt, zündete nicht. Der Vorgang
lehrt jedenfalls: Bilder wirken vielleicht
anders als Buchstaben. Und ein
Foto in seiner Originalgröße ist womöglich
doch etwas anderes als eine
überdimensionierte Plakat-Version
desselben, das die Nazi-Symbolik
dann zwangsläufig weithin sichtbar
transportiert (wenngleich pixelig
und unscharf angesichts der enormen
Vergrößerung). Andererseits, so zeigt
sich, sind wir weiterhin nicht völlig
frei, (in welcher Dimension auch
immer) historisch dokumentieren zu
können. Schade.
Empörung artikuliert sich
Der Eklat gab den Anlass, einige
Akteure um ihre Meinung zu bitten.
Denn scharfe Kritik an dem
Rektorats-Entscheid wird mittlerweile
laut, zunächst in Leserbriefen
an die Badische Zeitung und zahlreichen
online-Kommentaren: „Ein
seltsamer Umgang mit Dokumenten
der Geschichte. Akadämlicher gehts
nimmer“, oder „Bilderstürmerei und
Geschichtsklitterung sind doch typisch
für Freiburg“ heißt es dort zum
Beispiel.
Natürlich bleibt Clemens Hauser,
beruflich beim Jugendmigrationsdienst
der Stadt Emmendingen tätig,
ehrenamtlich Vorsitzender des Vereins
„Wahlkreis 100“, nach viel investierter
Zeit in das Projekt reichlich
enttäuscht und desillusioniert zurück.
Doch auch unter anderen Beteiligten
und vor allem Geschichtswissenschaftlern
macht sich längst Unmut
breit. Entsetzt sind Franz Brockmeyer,
Leiter der über 700 Bände
und den schriftlichen Nachlass Luckners
umfassenden Gertrud-Luckner-
Bibliothek (die, das ist inzwischen
besiegelt, künftig den Kernbestand
der Mediathek des NS-Dokumentationszentrums
der Stadt bilden soll)
und auch Gabriele Witolla, Leiterin
Inkriminiertes Foto: Gertrud Luckner 1936 unterwegs in der Freiburger Innenstadt Foto: Archiv des Deutschen Caritasverbands
des Archivs des Deutschen Caritasverbands:
„Das ist eine historische
Entstellung, die Gertrud Luckner
nicht gerecht wird“, sagt Witolla ganz
deutlich. Sie spielt damit an auf die
neueste Planung, das Banner doch
aufzuhängen, aber die Hakenkreuzsymbole
zu retuschieren. Tatsächlich
wäre das eine eher peinliche Geschichtsfälschung.
Heinrich Schwendemann, Geschichtsprofessor
an der ALU, konstatiert
trocken und treffend: „Monatelang
hingen in der Region Plakate
zur NS-Ausstellung 2017 im Augustinermuseum.
Da war – sogar in
Farbe – ein Hakenkreuz zu sehen.
Also: Warum soll das dann jetzt bei
diesem Foto mit Gertrud Luckner
nicht möglich sein?“ Auch Robert
Neisen, ebenfalls Historiker und von
der Stadt seinerzeit federführend
beauftragt mit der Konzeption der
besagten Ausstellung, schüttelt nur
den Kopf: „eine unsinnige, alberne
Entscheidung“.
Julia Wolrab, die neue Leiterin
des (noch in der Konzeption und im
Aufbau befindlichen) NS-Doku-Zentrums
der Stadt – die Stelle ist vorerst
auf zwei Jahre befristet –, hält sich
zu der aktuellen Frage im Urteil noch
zurück. Wolrab studierte in Freiburg,
erstellte 2019 ein Gutachten für die
Stadt zur Geschichte des Grundstücks
der Alten Synagoge, hat aber
derzeit ihren Lebensmittelpunkt in
Berlin. Sie blickt der Aufgabe und
dem Doku-Zentrum, das frühestens
Ende 2022 fertiggestellt sein wird,
mit Spannung entgegen und möchte,
„ein Haus, das sich kritisch mit der
NS-Zeit befasst, vor allem aber jugendliche
Zielgruppen anregt, Fragen
an die Geschichte zu stellen.“
Neue Forschungen
Die irgendwie auch ärgerliche Debatte
um das Luckner-Foto gibt zugleich
Anlass, eine kurze Umschau
Foto: Archiv der Evang. Pfarrgemeinde Nord
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zu halten, an welchen Freiburger
Hochschulen aktuelle Projekte zur
NS-Thematik laufen.
Am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität
kam kürzlich
die Dissertation von Ralf Müller
„Joseph Schlippe und die Bedeutung
der „Heimatschutzarchitektur“ für
Freiburg“ zum Abschluss. Die Arbeit
wird im Frühjahr 2021 als Buch erscheinen,
gemeinsam herausgegeben
vom Stadtarchiv und dem Arbeitskreis
Regionalgeschichte. Schlippe, Leiter
des Hochbauamts von 1925 bis 1951
und nach dem Zweiten Weltkrieg des
Wiederaufbaubüros der Stadt, hatte
sich nicht zum Nationalsozialismus
bekannt und wurde auch nie Parteimitglied.
Gleichwohl positionierte er
sich deutlich gegen die Modernismen
des ‚Bauhauses‘ und pflegte auch mit
dem nationalsozialistischen Oberbürgermeister
Freiburgs Franz Kerber
eine „reibungslose Kooperation“. Die
differenzierende Studie Müllers lehrt,
wie wichtig auch der Horizont über
1945 hinaus bis in die Nachkriegszeit
ist.
Der als freier Autor arbeitende Historiker
Heiko Wegmann forscht seit
langem zur Geschichte der SS in Südbaden.
Er erstellte dazu eine Datenbank
mit mehr als 2.000 SS-Mitgliedern.
Die sich anknüpfenden Fragen
sind vielfältig und kompliziert: Wer
waren die Mitglieder? Konnten Sie
‚Aufstiege‘ realisieren, welche Funktionen
erfüllten sie? Wer war beteiligt
an Gewaltakten, gegebenenfalls
auch schon vor 1933? Wie verliefen
entsprechende Entnazifizierungsmaßnahmen
in der Nachkriegszeit?
„Es gibt da noch viele Forschungslücken“,
sagt Wegmann, der vor einigen
Jahren in einem Artikel nachgewiesen
hat, dass es 1933,entgegen landläufigem
Urteil, eben auch in Freiburg
eine Bücherverbrennung gegeben hat.
Heinrich Schwendemann (Universität
Freiburg) teilt mit, dass, resultierend
aus eigenen Seminaren „in den
nächsten Semestern Bachelor- und
Master-Arbeiten zu Freiburg im Nationalsozialismus
sicher geschrieben
werden“.
Die konkreteste jüngste Initiative
kommt von Professor Felix Hinz
(Pädagogische Hochschule), der ein
Seminar in Kooperation mit dem
Stadtarchiv durchführte, in dem Materialien
für die Schule aufbereitet
wurden: Unter Überschriften wie
„Hitlerjugend in Freiburg – attraktive
Freizeitangebote in brüderlicher
Gemeinschaft“, „Ordnung schaffen
für die ‚Volksgemeinschaft‘?!”
oder „Schule: ‚Kriegsdiener‘ oder
‚Kriegsopfer‘?“ wurden hier Module
für Schüler und Lehrer zur Anwendung
im Unterricht entwickelt.
Zugleich sollen die Resultate in das
„Histo-Lab“ des NS-Doku-Zentrums
Eingang finden. In Kürze können sie
auch auf der Homepage des Stadtarchivs
online eingesehen werden.
Wilhelm Schwendemann, Professor
an der Evangelischen Hochschule
und Leiter des seit 2007 bestehenden
„Instituts für Menschenrechtspädagogik“
hat sich vielfach in Forschungsprojekten
und Publikationen mit der
NS-Zeit befasst. In Vorbereitung, aber
noch nicht in ‚trockenen Tüchern‘, ist
die Kooperation mit einem Arbeitskreis
der Evangelischen Pfarrgemeinde
Nord, der sich mit der Geschichte
der Ludwigsgemeinde von 1933 bis
1953 auseinandersetzt.
„Die Hilfe von Mensch zu Mensch
ist es, was die Diktatur nicht versteht.“
Das bleibt ein wirkmächtiger
Satz von Gertrud Luckner, der auch
heute zu bedenken bleibt.
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Aktionen kombinierbar.
6 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
Ein Experte für die Zeitenwende
Philipp Blom: „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“
Nicht nur das große Welttheater
der Salzburger Festspiele, weltweit
bedeutendstes Festival für
klassische Musik und darstellende
Kunst, welches diesen Sommer
sein 100-jähriges Jubiläum hatte,
ist hier gemeint. Aus diesem Anlass
war der Historiker und Philosoph
Philipp Blom beauftragt worden,
etwas beizutragen. Er hatte seitens
der Veranstalter freie Hand und hat
alles in die Waagschale geworfen,
was ihm zur Verfügung steht. Seine
Überlegungen und Betrachtungen
gehen weit über die unmittelbaren
Fragen der Bühnenkunst hinaus.
Die Festtagsschrift wurde zu einem
brillanten und äußerst anregenden
Essay.
Bloms Ansatz: „Das große Welttheater
ist ein Ort, an dem die
Welt sich neu erfinden kann“. In
dem schmalen Bändchen öffnen
sich weite Räume für neue Ideen
und gedankliche Experimente. In
einem spannend geführten dramaturgischen
Bogen wird uns
das Schauspiel der 4000-jährigen
Menschheitsgeschichte vorgeführt,
dessen Hintergrund, wie könnte es
anders sein, zwielichtig gestimmt
ist. Denn: „Nach dem klassischen
Verständnis des Dramas ist die
Welt längst in der Krisis angekommen.
Was aber danach kommen
mag, eine Katastrophe oder der
Schimmer einer Katharsis, ist völlig
offen. Das Welttheater wartet
auf Akteure, um eine andere Erzählung
zu beginnen.“ Einen Abstand
zur derzeitigen Lage schafft Philipp
Blom dadurch, dass er drei entscheidenden,
weit zurückliegenden
historischen Menschheitskrisen
mit ihren Zäsuren und Umbrüchen,
den daraus hervorgegangenen Bewusstseinswandlungen
und Entwicklungsschüben
nachgeht. Das
ist die sogenannte Kleine Eiszeit
um die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts,
die Epoche der Aufklärung
und der Erste Weltkrieg. Mit
diesem historischen Abstand wird
der Blick auf unsere Gegenwart
präzisiert und erhellt. Im Vergleich
zur gegenwärtigen Krise eröffnen
sich überraschende Perspektiven.
Wie damals, so müssten auch heute
neue Ansätze des Denkens, Lebens
und Überlebens gefunden werden.
„Das große Welttheater“ beschwört
die Magie der Bühne als
eine Projektionsfläche, einen Ort
der gemeinsamen Imagination,
wo Selbstergründung und Selbstfindung
stattfinden können. Als
Theaterkenner zeigt Philipp Blom
auf, dass William Shakespeare
zwar geahnt habe, dass er in einer
Zeit des Umbruchs lebte, aber seine
Stücke beschrieben eine Weltsicht,
die sich seit der griechischen Tragödie
nicht wesentlich geändert
hatte. Seine Figuren zerbrechen an
unumstößlichen Verhältnissen und
sterben oft am Ende schön, aber sie
sterben eben. Fast zweihundert
Jahre nach Shakespeare würden
die Helden von Friedrich Schiller
zwar auch tragisch scheitern an der
Macht der Verhältnisse, doch mit
einem entscheidenden Unterschied:
„Sie wollen die Welt verändern, sie
rebellieren nicht gegen ihr persönliches
Unglück, sondern gegen die
Ungerechtigkeit der herrschenden
Ordnung, sie fordern Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit für
alle.“ Obwohl sie sich selbst dafür
opfern, seien sie doch Vorboten für
eine neue Zeit, da sie einen Anspruch
erheben auf die Veränderung
der Gesellschaft, in der alles
ganz anders zugehen könnte. Mit
Schillers Dramen im Klima der
Aufklärung eröffnen sich völlig
neue Denkräume und Bilder, und
so müssten auch mit der heutigen
Krise wieder neue Geschichten entstehen.
Als mögliche Versionen eines solchen
Erzählens nennt Philipp Blom
zum Beispiel Hygienedemonstrationen
und das Auftreten von
Globalisierungsgegnern. Wo sich
eigentlich nichts mehr bewegt, alles
in einem Status quo stecken zu
bleiben scheint, kann ja jeder kleine
Anstoß schon von Bedeutung
sein. Mit Scharfsinn führt uns
der Historiker vor Augen, dass die
westliche Welt nicht trotz, sondern
gerade wegen ihres Friedens und
Wohlstands - der auf Sklaverei,
Ausbeutung, Unterstützung von
Diktatoren und vor allem auf massiver
Umweltzerstörung basiert -, in
einer Krise steckt. Durch seine Ansichten
wurde Philipp Blom schon
als Untergangsprophet bezeichnet,
obwohl er nur konsequent versucht,
Fakten zu analysieren. In seinem
Essay „Das große Welttheater“
erweist er sich als ein Experte für
die Zeitenwende, der von Klarsicht
und Liebe zur Vernunft geleitet ist,
es auch an Ironie und Wärme nicht
fehlen lässt. Bereits für den Philosophen
Ludwig Wittgenstein war
die Welt vor allem die Summe aller
Tatsachen. Aber Blom bleibt bei
Tatsachen und Fakten nicht stehen,
denkt sie auch weiter auf eine bisher
noch nicht vernommene Weise.
Das Internet und die Sozialen Medien
sieht er als einen bedenklich
faktenfreien Raum, wo jeder Nutzer
sich Fakten zurechtschustern und
Verschwörungstheorien verbreiten
kann. Das unterwandere gefährlich
die eigentlichen, auch wissenschaftlich
belegbaren Tatsachen.
Neben seinen bisweilen meditativen
Betrachtungen, kommen in
Philipp Bloms großartigem Essay
auch die nackten Zahlen nicht zu
Der Autor Philipp Blom
Foto: Bogenberger Autorenfotos
kurz. Zahlen etwa zum angewachsenen
CO2-Ausstoß und zur Plastikvermüllung
des Planeten. Er
rechnet vor, dass 1970, in seinem
Geburtsjahr, weltweit 35 Millionen
Tonnen Plastik produziert wurden.
Schon 2015 sind es 381 Tonnen gewesen,
und 2016 wurden allein 480
Milliarden PET-Flaschen verkauft.
Die Zahlen machen es überdeutlich:
Der Mensch ist weiter denn je
davon entfernt zu begreifen, dass
er ein Teil der Natur ist, die er zerstört.
Die Ordnung, in der wir heute
leben, führt Blom zurück auf das
biblische Gebot: „Mach dir die Erde
untertan.“ Diese Geschichte sei an
ihr Ende gekommen. Denn wie
sollte die Ausbeutung der Erde, ein
unendlich fortschreitendes Wirtschaftswachstum
bei endlichen
Ressourcen, auf Dauer möglich
sein? Es lässt sich nicht mehr leugnen,
dass die Zeichen auf Sturm
stehen, der Kampf um die Zukunft
begonnen hat. Auf die Bühne seines
Welttheaters, ins Spotlight, stellt
Philipp Blom den Homo Sapiens
als ein Zwitterwesen zwischen
Hell und Dunkel, Gut und Böse.
Überdeutlich wird: Die „Krone der
Schöpfung“ (der Mann als Macher)
ist ins Wanken geraten.
Laufend verwandelt sich die Welt
als Bühne, in größerer Geschwindigkeit
denn je. Bei nie dagewesenen,
rasanten Entwicklungen
kommt die Politik mit ihrem Parteiengezänk,
ihren Machtkämpfen
und ausufernden Debatten längst
nicht mehr hinterher. Auf Warnzeichen
wird zwar reagiert, aber
kaum vorausschauend gehandelt,
zaghafte Ansätze versanden schnell
im Tagesgeschäft. Es sind zähe, oft
lähmende Prozesse der Auseinandersetzung,
doch gibt es für unsere
parlamentarische, demokratische
Regierungsform keine Alternative.
Aber auch eine Demokratie müsse
sich wandeln, in ihrem Selbstverständnis
ändern können. In komplizierten
Zeiten gibt es nun einmal
keine einfachen Lösungen, und alle
die das in der Politik versprechen,
möchten zuallererst Wahlen gewinnen.
„Populistische Politiker“,
stellt Blom fest, „haben weltweit
bewiesen, dass große Teile ihrer
Gesellschaft es vorziehen, an alten
Geschichten festzuhalten, anstatt
sich neuen Realitäten zu stellen.“
Gleichzeitig schwinde damit die
Möglichkeit in einer akuten Krise
angemessen zu handeln und zu
tun, was notwendig ist. Im Zweifel
sei ein Rüstungsdeal wichtiger als
eine Uno-Resolution. Die kollektive
Erzählung von Wachstumsökonomie,
industrieller Moderne
und hemmungsloser Ausbeutung
unserer natürlichen Grundlagen
sei vorbei. „Neue Bilder zu finden
für diese Herausforderung ist das
Friedensprojekt der Gegenwart“.
Dass uns die vertraute Welt langsam
abhanden kommt, ist in den
Augen des Historikers nicht erst
seit Corona der Fall. Doch könnte
diese Krise möglicherweise eine
Generalprobe für viel größere, gewaltigere
Umwälzungen sein. An
COVID-19, sagte Blom in einem
Interview nach Veröffentlichung
seines Buches, interessiere ihn, dass
das Virus „kein lösbares Problem“
sei. Ein Weg müsse gefunden werden,
sich mit dem Rest der Natur,
deren Teil wir nun einmal sind,
„intelligent zu arrangieren“. Die
Pandemie sei nur ein Symptom
für viel größere Probleme, eben
auch ein Zeichen dafür, dass es mit
der Herrschaft des Menschen über
die Natur an ein Ende komme. Es
müsse doch zu denken geben, „dass
ein kleiner blöder Virus von einem
Wet market irgendwo in China die
höchst entwickelten Gesellschaften
der Welt innerhalb von wenigen Tagen
völlig lahm legen kann“. Wenn
er, Blom, die klimatischen Auswirkungen
des Raubkapitalismussystems
anspreche, bekomme er zu
hören: „Ja, tut uns schrecklich leid,
ist schon tragisch. Aber man kann
nichts dran machen, die Wirtschaft
muss weitergehen.“ Natürlich, doch
eben ganz anders, mit einem neuen,
besseren Ökonomieverständnis
wie bisher. Jetzt sehe man ja auf
einmal, dass Staaten durchaus die
Notbremse ziehen können.
Doch Philipp Blom ist leidenschaftlicher
Mahner und Mutmacher
zugleich. Sein Essay ist ein
flammendes, mitreißendes Plädoyer
für eine große, weltweite Veränderung,
in dem Politisches und
Privates, Historisches und Visonäres
in einen Denkprozess eingebunden
sind. Nur eine einschneidende
Veränderung könne noch
verhindern, dass, in Bloms Worten,
„unser Planet zur Weltbühne eines
apokalyptischen Schauspiels ohne
Publikum wird“. Die Bühne brauche
ganz andere Figuren und Geschichten,
um eine neue Wirklichkeit
zu beschreiben und Haltungen
zu stärken, die dieser Wirklichkeit
angemessen sind. Noch ließen sich
nicht diejenigen Figuren erkennen,
die einmal eine Schlüsselrolle
spielen könnten, aber gerade in der
jüngsten Vergangenheit rekrutiere
sich ein ganzer Schwung neuer
Akteure auf der Weltbühne. Es hat
sich schon längst gezeigt, dass das
demokratische Projekt der Moderne
zum Gegenstand neuer sozialer
Konflikte werden wird.
Mit Optimismus alleine und
einem „Weiter so!“ kann es keine
Veränderung, kein Weiterkommen
mehr geben. Zumal nicht mit einer
Politik, die in ihrer Verquickung
mit der Wirtschaft immer noch
festhält an der entleerten Formel
vom ewigen Wachstum. Eines Fortschritts,
der vor nichts Halt macht,
der Sicherheit und Wohlstand, vor
allem den Reichtum von nur Wenigen
garantieren soll. „Politische
Clowns und Entertainer in internationalen
Führungspositionen
sind die logische Konsequenz einer
Zivilisation, deren Imagination
längst vermarktet wurde und von
kommerziellen Interessen bewirtschaftet
wird wie ein Acker Kohl,
einer Gesellschaft, in der Celebrities
die Helden der gemeinsamen
Geschichte sind. ... Je stärker die
disruptiven Effekte des Klimanotstands
werden, desto größer wird
das Bedürfnis nach Sicherheit, nach
starken Männern, einfachen Lösungen,
nach Bestätigung und Ausgrenzung.“
Das erleben wir gerade.
„Manchmal kann eine neue Geschichte
sich erst etablieren, wenn
die alte zu einer Ruine zerfallen ist.“
Eine Hoffnung liegt besonders
auf den jungen, sich noch nicht in
festen Bahnen bewegenden Menschen,
die es sich nicht nehmen
lassen und darauf beharren, noch
etwas vor sich zu haben. Könnten
wir nicht mehr vertrauen auf die
Jugend, wäre in der Tat alles zu
spät. In seinem Fazit hebt Philipp
Blom eine Figur hervor: „Ein
schwedisches Mädchen im Teenageralter
mit langen Zöpfen, ein
unfreiwilliges Weltgewissen mit
Asperger-Syndrom, eine moderne
Jeanne d’Arc, die einer korrupten
Gesellschaft den Spiegel vorhält
und deren einsam-trotziger Appell
an die Erwachsenen eine globale
Protestbewegung losgetreten hat.“
So kommt der Historiker am Ende
auf die Bewegung von „Fridays for
Future“ zu sprechen, deren Weckrufe
für ihn ein Hoffnungsschimmer
sind. Und so bleibt auch der
Leser nach der Lektüre bei allen erschütternden
Befunden nicht ganz
hoffnungslos zurück. Denn: „Vielleicht
kann die Energie einer weiter
gedachten Aufklärung tatsächlich
neue Geschichten beflügeln, neue
Figuren auf die Bühne stellen.“
„Das große Welttheater. Von der
Macht der Vorstellungskraft in
Zeiten des Umbruchs“ ist im Paul
Zsolnay Verlag erschienen, hat 126
Seiten und kostet 18 Euro.
Peter Frömmig
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 7
Liebeslosigkeit für die Freiheit
Getriggered durch Film, Fernsehen, Literatur, Social-Media und Dating-Apps wachsen
Generationen der Selbstinszenierung auf, die nach Perfektion und Unabhängigkeit streben
D
ie Liebe ist seit Jahrhunderten,
wenn nicht
sogar Jahrtausenden,
ein Thema, mit dem sich
Literatur, Mystik, Wissenschaft und
Kultur befassen. Kaum ein anderes
Phänomen umkreist uns so beständig
wie die Liebe. Sie beeinflusst
Kulturen, beginnt Kriege und Tragödien,
beschließt Frieden und verbindet
Nationen. Wo die Liebe hinfällt
gedeiht Glück oder Unglück,
Zerstörung oder Harmonie, Leiden
und Leidenschaften.
Nach neusten Ergebnissen des
statistischen Bundesamtes steigt die
Anzahl deutscher Single-Haushalte
jährlich. 2018 waren es 17,3 Millionen,
2019 bereits 17,9 Millionen
Alleinstehende in Deutschland. Darunter
größtenteils junge Männer
und ältere Frauen.
„Ich habe einfach das Gefühl
wir stecken in einer Endlosschleife
fest“, beschwert sich meine Freundin
beim virtuellen Mädelsabend.
Mit einem Glas Wein in der einen
und das obligatorische Kippchen
in der anderen Hand, ist die Liebe
mit all ihren Dramen und Tragödien
Gesprächsthema Nummer Eins. Gequatscht
wird über kürzlich gelaufene
Dates, explizite DMs (Direct
Messages auf Social Media / meist
von Fremden mit teilweise belästigenden
Inhalten), beginnende Romanzen
und tragische Liebschaften
aus vergangener Zeit. Alles in allem
sieht es in meinem engeren Freundeskreis
in Sachen Liebe ziemlich
mau aus: alle Single ohne nähere
Aussicht auf etwas Bindendes. Dabei
stehen wir mitten im Leben. Abgeschlossene
Berufsausbildungen
und Universitätsabschlüsse, solides
Einkommen, ein gesundes Interesse
an Politik, Kultur und Gesellschaft
und genügend Humor, um über
uns selbst lachen zu können. Das
klingt nach ganz passablen Voraussetzungen.
Doch so einfach ist das
nicht. Wenn nicht gerade Social-
Media-Plattformen wie Facebook,
Instagram und Co dazwischen funken
und Unruhe stiften, steht da vor
allem noch eine große Portion Unentschlossenheit
im Raum. Was will
ich eigentlich? Die Türen stehen offen,
eine Heirat ist zwar ein schönes
Gedankenspiel aber nicht mehr länger
notwendig, um wirtschaftliche
Sicherheit zu garantieren.
Die Liebe ist greifbarer als je
zuvor und doch gelten Millennials
(geb. 1981-1998) laut einer Studie
des Meinungsforschungsinstituts
YouGov 2019, als einsamste Generation.
30 Prozent der Befragten
gaben an, sich oft/sehr oft einsam zu
fühlen, ebenso viele hätten keinen
besten Freund und 25 Prozent der
Befragten gaben an, überhaupt keine
Bekanntschaften zu haben. Doch
wie passen soziale Netzwerke und
Einsamkeit zusammen? Ziemlich
gut, denn die amerikanische Psychologin
Melissa G. Hunt stellte in
einem Experiment fest, dass der reduzierte
Konsum von Social-Media
zu einem signifikanten Rückgang
von Einsamkeit und Depression
führen würde.
Die Frage nach dem „Warum“
stellt auch Eva Illouz in dem 2020
als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienenen
Buch „Warum Liebe
endet / eine Soziologie negativer
Beziehungen“. Die in Marokko geborene
Soziologin erforscht in ihrer
Arbeit die menschlichen Emotionen
und erfasst den Zusammenhang zwischen
moderner Konsum- und Medienkultur
und Entwicklung emotionaler
Muster. Neben Professuren
in Frankreich, Deutschland, Amerika
und Israel schrieb Eva Illouz in
den vergangenen Jahren 12 Bücher,
die in 18 Sprachen übersetzt wurden.
In „Warum Liebe endet / eine
Soziologie negativer Beziehungen“
erzählt Illouz wissenschaftlich fundiert
und sprachlich gekonnt von
einer Generation des emotionalen
Konsums. Getriggered durch Film,
Fernseh, Literatur, Social-Media
und Dating-Apps wachsen Generationen
der Selbstinszenierung auf,
die nach Perfektion und Unabhängigkeit
streben.
Die Revolution der Liebe
In westlich geprägten Gesellschaften
ist die Liebe heute ein Thema
der Freiheit. Wir können unsere
Partner*innen frei wählen. Geschlecht,
Religion oder Herkunft
spielen kaum eine Rolle und auch
das Singleleben hat nur noch für wenige
einen bitteren Beigeschmack.
Doch das war nicht immer so. Seit
jeher ist unsere Liebe nicht nur die
Geschichte einer wunderschönen
Romanze, in deren Mittelpunkt
die Anziehung zwischen zwei oder
mehreren Menschen steht. Liebe
ist und war aber schon immer auch
ein Werkzeug der Politik und Wirtschaft.
Nicht zuletzt bewegt sich die
Liebe bis heute in einer religiösen
Kosmologie, die im Laufe der vergangenen
drei Jahrhunderte zwar an
Einfluss verloren hat, aber Tradition
und Sinnbild noch bis heute tief verankert
sind.
Da wäre beispielsweise die Ehe
zweier Menschen, welche zuerst
einen religiösen Akt darstellt. Freie
Trauungen sind zwar im Trend,
Tradition und Brauch haben jedoch
religiöse Vorbilder. Dazu gehört die
Vorstellung der Mono- und Endogamie
und die Erwartung, eine*n
Partner*in fürs Leben und Lieben
zu haben, „bis dass der Tod uns
scheide“.
Im Ursprung des christlichen
Glaubens steht die Liebe zu Gott.
Nach und nach entwickelte sich die
Liebe zum „zentralen Träger für
die Herausbildung des emotionalen
Individualismus“ (Illouz, 2020, S.
17), der seit Jahrhunderten Literatur,
Kunst und Film prägt. Geschichten
über zwei Liebende; eine Liebe, die
nicht sein darf, eine Liebe, die befreit
und Familienfehden übersteht
oder auch an gesellschaftlichen
Zwängen und zwischenmenschlichen
Emotionen scheitert.
In einem Bestseller des 18. Jahrhunderts
erzählt der Philosoph und
Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau
von einer Liebe gegen jede
Vernunft. Zwei Menschen, deren
Liebe nicht sein darf, denn sie verstößt
gegen jede denkbare gesellschaftliche
Tugend. Es geht um
Leidenschaft und Hingabe, um den
sprichwörtlich verbotenen Apfel,
der zu einer fast magischen Anziehungskraft
zwischen den Protagonisten
führt. „Julie oder Die neue
Héloïse“ ist die Geschichte einer
romantisch-tragischen Liebesbeziehung
und gehört bis heute zu den
einflussreichsten Erzählungen der
Weltliteratur. Im Mittelpunkt dieses
Briefromans steht das Recht des Individuums
auf eine frei bestimmte
Gefühlswelt und der Wunsch
nach Selbstbestimmung. Besonders
wenn es darum geht, eine*n
Lebenspartner*in auszuwählen.
Eva Illouz spricht von einer stillen
Revolution der Liebe, vorangetrieben
durch Romanautor*innen,
Feminist*innen, Intellektuellen und
„einfachen Männern und Frauen“
(Illouz, 2020, S. 17), die die Liebe
zum Zentrum von Freiheit und Autonomie
machten.
Frei wählen zu können, wen wir
lieben und heiraten, bedeutet zugleich
das Auflösen gesellschaftlicher
Normen und Werte, die zuvor
für stabile Familienbündnisse und
politisch relevante Vermählungen
sorgten. Somit ist die Autonomie
der Liebe ein fundamentaler Baustein
für den gesellschaftlichen
Wandel, den wir seit dem 18./19.
Jahrhundert erleben und der Ende
der 1960er Jahre seinen Höhepunkt
fand. „Die Geschichte der Liebe im
Westen ist somit nicht nur ein Randmotiv
im großen Fresko der historischen
Entfaltung der Moderne“
(Illouz, 2020, S. 18), sondern hat
direkten Einfluss auf wirtschaftliche
und politische Verhältnisse genommen.
Privatsphäre, der schwächelnde
Einfluss der Kirche, Gesetze zum
Schutz des Persönlichkeitsrechts
und nicht zuletzt das Recht der
Frau, selbstständig über ihren Körper
entscheiden zu dürfen. Die Freiheit
zu lieben und freie Liebe sind
im Tonus nicht weit voneinander
entfernt und spielen bis heute eine
große gemeinsame Rolle. Denn bis
in das Jahr 2020 kämpfen Männer*
und Frauen* rund um den Globus
für eine emotionale Autonomie des
Subjekts, die die sexuelle Freiheit
des Individuums mit einschließt und
uns das Recht auf emotionale und
körperliche Selbstbestimmung gibt.
Lieben und entlieben
Das Ende der Liebe und die Konsequenzen
daraus sind in der Soziologie
seit Jahrzehnten bedeutende
Forschungsaspekte. Bereits 1893
kam der französische Soziologe
und Ethnologe Émile Durkheim
in der Studie „Der Selbstmord“ zu
dem Ergebnis, dass sich soziale
Bindungen zunehmend auflösen.
Eva Illouz führt diese Entwicklung
unter anderem auf Globalisierungsprozesse
und die daraus
resultierende Ausbreitung sozialer
Netzwerke zurück. Dabei deckt sie
auf, dass „der Zusammenbruch der
sozialen Beziehungen und des gesellschaftlichen
Zusammenhaltes –
nicht in erster Linie in Gestalt von
Entfremdung oder Einsamkeit“ (Illouz,
2020, S. 12) auftritt. Vielmehr
erkennt die Soziologin einen „permanenten
Prozess des Knüpfens
und Lösens sozialer Bindungen“
(Illouz, 2020, S. 13), der in engem
Zusammenhang mit dem starken
Wachstum sozialer Netzwerke steht.
Dabei scheint es nicht von zentraler
Bedeutung zu sein, ob diese Netzwerke
virtueller oder realer Natur
sind. Dahinter steht eine „ökonomische
Beratungs- und Lebenshilfemaschinerie“
(Illouz, 2020, S. 12),
Konsum- und Beratungsmächte, die
aus der Liebe ein Geschäft machen.
Selbsthilfebranchen, Literatur und
Coachings zur persönlichen Weiterentwicklung,
Talkshows, Pornound
Sexspielzeug industrien, Dating-Apps
und soziale Netzwerke.
8 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
Utagawa-Schule: Liebespaar mit Koto
Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München
Liebespaar und Fächer
Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München
Es geht also um Geld, um viel Geld.
Nach Angaben der Match Group,
zu der unter anderem die populäre
Dating-App Tinder gehört, schrieb
das Unternehmen im Jahr 2019 einen
Umsatz von 1,2 Milliarden US-
Dollar. Ein Anstieg von rund 347
Millionen US-Dollar im Vergleich
zu 2018. Auch in diesem Jahr wird
das weltweit agierende Unternehmen
weitere Gewinne verzeichnen,
denn Dating-Apps und soziale Medien
sind populärer denn je.
In Zeiten von Corona, in denen
Lockdowns, Kontaktbeschränkungen,
geschlossene Bars und
Diskotheken das Knüpfen sozialer
Kontakte noch einmal mehr erschwert
haben, meldet Tinder am
29. März 2020 einen neuen Rekord:
Die Plattform registrierte drei Milliarden
Swipes an einem einzigen
Tag. Ein Swipe ist eine Entscheidung,
bei der es um alles geht. Daumen
hoch oder Daumen runter, gefällt
er/sie/* mir oder nicht. Binnen
Sekunden entscheiden wir anhand
von Bildern und einer lächerlichen
Anzahl an Worten in der Profilbeschreibung,
ob wir eine Person kennenlernen
möchten oder eben nicht.
Ein Swipe = Ja oder Nein.
An einem Tag werden mehr als
drei Milliarden Jas oder Neins verteilt.
Eine unendliche Auswahl an
Profilen, bei denen wir nicht erst
langen Smalltalk halten und erste
Schüchternheit überwinden müssen.
Die Person bekommt unsere
Zurückweisung in der Regel nicht
einmal mit. Unangenehmen Gesprächssituationen
wird aus dem
Weg gegangen, soziale Konflikte
werden gemieden. Diese neue
„wechselseitige Durchdringung
von Kapitalismus, Sexualität, Geschlechterverhältnissen
und Technologie“
(Illouz, 2020, S. 13) eröffnet
ein Universum an sozialen und
globalen Möglichkeiten, in erster
Linie produziert sie aber „eine neue
Form von (Nicht)-Sozialität“ (Illouz,
2020, S. 13), die eine gesamte
Generation prägt und unsere Kommunikation
erheblich beeinflusst.
„Die Wahl, nicht zu wählen“ (Illouz,
2020, S. 44) steht im Zentrum
des Subjekts einer digitalen Moderne,
in der Freund- und Liebschaften
durch das Entliken und Entfolgen
auf Social-Media-Plattformen beeinflusst
und sogar beendet werden.
Damit sind das Knüpfen und Lösen
von sozialen Kontakten und Liebesbeziehungen
nur noch einen Klick
weit entfernt.
Emotionale und sexuelle
Verträge
Der Soziologe Anthony Giddens
befasst sich in seiner Arbeit mit den
Wesenszügen unserer emotionalen
Moderne. Im Mittelpunkt der emotionalen
Moderne steht die körperliche
Intimität zweier oder mehrerer
Menschen, die als Ausdruck einer
ultimativen Freiheit in Sachen Liebe
gesehen wird. Denn das Recht
auf freien Zugang zu körperlicher
Intimität ist zeitgleich die Loslösung
alter Zwänge, beginnend bei
religiösen Bezugssystemen (Sexualität
gleich Sünde), kulturellen Traditionen
(welche standesgemäßen
Grundvoraussetzungen muss die
Beziehung zweier Menschen erfüllen,
damit körperliche Intimität
nicht mehr sündhaft sondern akzeptiert
ist) und die Loslösung der
Ehe als eine gesellschaftliche Institution,
die auch wirtschaftliches
Überleben bedeutet (bis heute haben
Eheleute steuerliche Vorteile;
Partner*innen die ebenso lange
Beziehungen führen aber nicht
verheiratet sind, genießen diese
wirtschaftlichen Vorzüge nur dann,
wenn die Partnerschaft offiziell eingetragen
ist).
Während Intimität noch bis in
die 1960er Jahre hinein das Eingehen
eines bindenden Vertrages bedeutete,
ist das Subjekt heute vollkommen
losgelöst von kulturellen
Verpflichtungen, an die sexuelle Begegnungen
früher geknüpft waren.
Keine Beziehung, keine Verlobung
– wenn Zeitdruck herrscht, wird
sogar das obligatorische Kennlern-
Date übersprungen. Keine Mühen,
keine Kosten, keine Verpflichtungen.
Schnell, effizient und vor
allem eins: nicht bindend. Wie ein
Handyvertrag, der monatlich kündbar
ist, suchen wir heute die Liebe
ohne Verpflichtung und emotionale
Bindung. Eva Illouz beschreibt diesen
Zustand als „bedrückend ungreifbar“
(Illouz, 2020, S. 21).
Sexuelle Freiheit sei institutionalisiert
worden. Nicht zuletzt durch
eine stetig wachsende Konsumkultur
und das Eingreifen von Technologien
in unseren Alltag wurde
„jegliche Gewissheit über die Substanz,
den Rahmen und das Ziel
sexueller und emotionaler Verträge
grundlegend erschüttert“ (Illouz,
2020, S. 21).
Die emotionale Moderne definiert
bislang keine genaue Form
einer Beziehung und setzt keine
Rahmenbedingungen voraus, in
denen Intimität und emotionale
Bindung eine gemeinsame Rolle
spielen müssen. Diese fehlenden
sozialen Drehbücher führen in Sachen
Liebe zu einem gefährlichen
Ergebnis: Des orientierung. Die
vorherrschende strukturelle Ungewissheit
macht es den Akteur*innen
Amors ungemein schwer, zwischen
sexueller und emotionaler Freiheit
zu unterscheiden und eine gemeinsame
Quintessenz zu finden, in der
weder das Individuum seine Freiheit
aufgeben noch auf Liebe selbst
verzichten muss.
Im Kontext dessen sind es vor
allem Frauen, die Orientierungslosigkeit
beschreiben, wenn es darum
geht, berufliche und emotionale
Zukunftsperspektiven zu vereinen.
Darf ich mir als Feministin
eine traditionelle Ehe überhaupt
wünschen? Muss ich zwangsläufig
Karriere über private Sesshaftigkeit
stellen, um dem Bild einer
modernen Frau gerecht zu werden?
Und wie soll ich Kindern, Karriere,
Partner*in und mir selbst genügen?
Seit Jahrzehnten kämpfen unsere
Großmütter und Mütter für die Befreiung
der weiblichen Sexualität
und die Überwindung des Patriarchats,
das übrigens nicht nur Frauen
gefährliche Grenzen aufzwingt.
Doch die Befreiung der weiblichen
Sexualität hat Frauen unserer Gegenwart
„in eine zwiespältige Situation
[gebracht], in der sie durch
ihre Sexualität zugleich ermächtigt
und herabgesetzt werden“ (Illouz,
2020, S. 34). Eva Illouz benennt
die Digitalisierung und Konsumkultur
des 21. Jahrhunderts als zentrale
Machtfelder, die die sexuelle
Befreiung der Frau auf der einen
Seite begünstigt haben, auf der anderen
Seite würden Wirtschaft und
Technologie noch immer einem
patriarchalen System unterstehen,
das klischeehafte Rollenbilder begünstigt
und es Akteur*innen erschwert
einen emotionalen Vertrag
aufzusetzen.
Japan – zwischen Sehnsucht
und Distanz
Die Dokumentarreihe „Sex und
Liebe in aller Welt“, zu sehen auf
Netflix und moderiert von der britisch-iranischen
Journalistin Christiane
Amanpour, gibt Einblick in
den Kosmos Liebe. Von Indien bis
China, dem Libanon und Ghana
bis nach Deutschland entdecken
Zuschauer*innen gemeinsam mit
der etablierten CNN-Journalistin
den Einfluss von Kultur auf Liebe,
Sexualität und Partnerschaft.
In Folge 1 reist die Reporterin in
die drittgrößte Volkswirtschaft der
Welt: Japan. Doch zwischen all
dem technischen und wirtschaftlichen
Fortschritt entscheiden sich
heute immer mehr Japaner*innen
bewusst dazu, Single zu bleiben.
Das Ergebnis: die Geburtenrate
sinkt seit Jahren dramatisch. Mehr
als 20 Prozent der japanischen Bevölkerung
sind über 65 Jahre alt,
nach Prognosen soll bis 2030 jeder
Dritte über 65 und jeder Fünfte
über 75 Jahre alt sein. Bereits heute
lassen sich die Konsequenzen einer
über-technologisierten Moderne auf
die Emotionalität des Menschen im
Beispiel Japans beobachten.
„In der Öffentlichkeit küssen
mein Mann und ich uns kaum. Wir
halten uns nicht an der Hand oder
legen den Arm um. Das passiert fast
nie. In äußerst seltenen Fällen halten
wir uns an der Hand. Doch das
mag ich nicht besonders“, erzählt
eine verheiratete Japanerin, Anfang
30, im Interview mit Amanpour.
„Ich küsse meinen Mann nur, wenn
wir Sex haben. Ob es mir gefällt?
Nicht sehr.“ Durch den alltäglichen
Mangel an Zärtlichkeit ist Intimität
in Japan zu einem Geschäft geworden.
Zahlreiche Stundenhotels in
Tokio bieten einen Ort für gemeinsame
Stunden. Zimmer und sogenannte
„Gesundheitshelfer*innen“
können gebucht werden. Nicht
selten sind es verheiratete Frauen,
die diesen Beruf im geheimen ausführen,
um, nach eigenen Aussagen,
fehlende Intimität und Bestätigung
zu finden.
Für die moderne Geschäftsfrau
bieten Host-Clubs das beliebte
„Boyfriend-Erlebnis“ an. Dabei
geht es weniger um sexuelle
Dienstleistungen. Viel mehr werden
Zuneigung, Aufmerksamkeit,
Interesse und emotionale Zuwendung
angeboten. Diese Dienstleistung
ermöglicht es Frauen in Japan
eine Seite von sich selbst zu
offenbaren, die sonst durch gesellschaftliche
Ablehnung verborgen
bleibt: Emotionalität. Gespräche,
Händchen halten, Umarmungen
und die 100-prozentige Aufmerksamkeit
des Gegenübers sind Teil
des „Boyfriend-Erlebnis“. Einer
der „Boyfriends“ berichtet im Interview,
dass Kund*innen im Monat
bis zu zehn Millionen Yen, ungefähr
81.000 Euro, für diese Art der emotionalen
Dienstleistung ausgeben.
Er selbst würde auch emotional von
der Dienstleistung profitieren, da er
diese Form der intimen Nähe, durch
zarte Berührung und intensive Gespräche,
erst durch diesen Beruf erfahren
habe.
Wissenschaftler*innen sehen die
Anfänge mangelnder Intimität in
der japanischen Erziehung. Durch
das Nicht-erlernen körperlicher Intimität
durch die Eltern empfinden
Japaner*innen die Nähe eines anderen
Menschen oft als unangenehm.
„Ich liebe dich“ oder auf japanisch
„Aishiteru“ ist kein Satz, der allzu
oft fällt. Selbstverständliche Gesten
der romantischen Berührung, wie
die Hand des Partners zu halten,
sind selten. Die Erziehung in Japan
ist also deutlich an distanzierte Regeln
geknüpft. Umarmungen, Küsse
oder andere Gesten der emotionalen
Zuneigung werden unter Eltern und
Kind selten ausgetauscht.
Diese Entwicklung wirkt umso
erstaunlicher, wirft man einen
Blick auf die Kunstform Shunga.
Bei Shunga handelt es sich um japanische
Erotikkunst aus dem 17.
Jahrhundert. Historiker*innen nach
war die Edo-Zeit in Japan vom 17.
bis 19. Jahrhundert für ihre sexuelle
Befreiung bekannt. Sexualität
galt in Japan also für lange Zeit
als ein natürlicher Bestandteil des
gesellschaftlichen Miteinanders.
Es war nicht unüblich, dass Polyamorie
einer monogamen Beziehung
vorgezogen wurde. Sexuelle Befriedigung
und emotionale Intimität
waren, im Gegensatz zu heute,
kein Tabuthema. Kunstwerke aus
dem Genre Shunga wurden z.B.
Töchter vor der Hochzeitsnacht geschenkt
und stellten eine Art Sexualanleitung
dar; gleichzeitig diente
Shunga auch zur Unterhaltung und
das durch alle gesellschaftlichen
Schichten hindurch.
Erst als Japan seine Märkte Mitte
des 19. Jahrhunderts öffnete,
änderte sich das gesellschaftliche
Verhältnis zu Sexualität und Intimität.
Im Hinblick auf das damals
vorherrschende Viktorianische Zeitalter,
galt Shunga nach westlichen
Standards als unangemessen. Mit
Anbeginn der Meiji-Periode wurde
die Kunstform Shunga verboten
und sogar in privaten Haushalten
konfisziert. Eine verlorene Kunstform,
die bei einem Blick auf Studienergebnisse
der Universität zu
Tokio unvorstellbar wirkt: Mehr als
40 Prozent der Japaner zwischen 18
und 34 Jahren sind noch „Jungfrau“
und jeder zehnte Mann über 35 hat
noch keine sexuellen Erfahrungen
gesammelt.
Liebeslosigkeit für die Freiheit
Zwar ist das Sexualverhalten in
Deutschland weitaus regsamer als
in Japan, doch wenn es um Bindungen
geht, entscheiden sich auch
hier zu Lande immer mehr Personen
für ein Singledasein. Die Frage
nach dem „Warum“ versucht Eva
Illouz zu beantworten: „Weil man
zu verwirrt oder zwiespältig ist, um
zu begehren; weil man so viele Erfahrungen
sammeln möchte, dass
die Wahl ihre emotionale und kognitive
Bedeutung verliert; weil
man reihenweise Beziehungen beendet
und zerstört, um so das Selbst
und seine Autonomie zu behaupten.
(...) Liebeslosigkeit ist also gleichzeitig
eine Form von Subjektivität“
(Illouz, 2020, S. 35).
Elisabeth Jockers
Eva Illouz, „Warum Liebe endet /
Eine Soziologie negativer Beziehungen“,
Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft 2020
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 9
M
Expert*innen des Alltags
Was macht die DNA einer Stadt aus? Ihre Bewohner*innen, ihre Routinen, ihre Eigenheiten,
kurz gesagt: ihr Alltag
A
lltag und Stadt sind
nicht einfach da. Es
sind die Menschen, die
in ihrem Alltag ihre
Stadt machen.“ Das forschungsorientierte
Studienprojekt „Alltag
findet Stadt“ des Instituts für
Kulturanthropologie und Europäische
Ethnologie der Uni Freiburg
wirft einen Blick hinter die
Kulissen des Offensichtlichen und
fragt danach, wie unser Alltag die
Stadt definiert – und andersherum.
Arbeitsbegriff „Geschenk“
Am Anfang stand der Gedanke, etwas
zurückzugeben. Etwas zurücktragen
in die Stadt, einen Dialog
zu eröffnen, Forschung sichtbar zu
machen, so Dr. Sarah May, Leiterin
des Projekts. Zur Erinnerung:
Dieses Jahr ist Stadtjubiläum, auch
wenn wir momentan nicht viel davon
merken. Trotzdem Anlass genug,
den forschenden Blick einmal
auf sich selbst zu richten, was in
diesem Fall bedeutet, auf die rund
230.000 Freiburger*innen und darauf,
wie sie tagtäglich mit ihrem
Leben, Wirken und Handeln die
Stadt prägen – und wie die Stadt auf
sie zurückwirkt. Dazu brachen May
und acht Studierende des Master
Kulturanthropologie europäischer
Gesellschaften zwischen Oktober
2019 und März 2020 auf zu detektivischen
Streifzügen durch den
Alltag Freiburgs. Dabei erforschten
sie auf vielfältige Weise alltägliche
Praktiken, Räume und Dinge, aus
deren Zusammenspiel die spezifischen
Eigenlogiken erwachsen,
die Freiburg zu dem machen, wie
wir es kennen. Oder kennen zu
glauben.
Vom Besonderen zum Allgemeinen
In Freiburg trägt man Funktionskleidung,
spricht Dialekt und
wählt(e) Grün – soweit die gängigen
Klischees. Eigen- und Fremdwahrnehmung
sind in dieser Beziehung
zwar nicht immer deckungsgleich
und oft handelt es sich um Reduzierungen
und Zuschreibungen,
trotzdem äußern sie sich immer
wieder in alltäglichen Handlungen,
Orten und Dingen. Viele dieser
verschwinden zumeist spurlos unter
dem Radar unserer alltäglichen
Aufmerksamkeitsspanne, was einen
kritischen Blick umso dringlicher
macht. Denn natürlich treffen die
Klischees einer Stadt nie auf alle
ihre Bewohner*innen zu und darüber
hinaus sind sie dem gleichen
Wandel unterworfen wie die Stadt
selbst. Beispielsweise standen 1995
bei Tocotronic noch Backgammon-
Spieler [sic] sinnbildlich für Freiburg,
wer oder was wäre das wohl
heute? Spike-Ball-Spieler*innen?
Näh-Cafés?
Nicht dieser, aber ähnlichen Fragen
geht „Alltag findet Stadt“ in 17 facettenreichen
Text-Bild-Analysen
nach, die sehr guten Fotos steuerte
Finn-Louis Hagen bei. Die Kapitel,
betitelt mit einem thematisch
entsprechenden Verb, enthalten
verdichtete Beobachtungen, Interviews,
Analysen und Recherchen
mit einem mal weiter, mal enger
gefassten inhaltlichen und analytischen
Schwerpunkt. So finden
sich neben prominenten Identitätsmarkern
wie Fahrradfahren
(radeln) oder dem Bächlesystem
(fließen), eine Reihe von Prozessen
und Routinen, die so unmittelbar
in unseren Alltag eingebunden
sind, dass ihre Existenz kaum einen
Blick wert scheint. Wie etwa
in „zusammenleben“, das ein generationsübergreifendes
Wohnprojekt
in den Vordergrund stellt oder
„grenzgehen“, das den Alltag von
Berufspendler*innen beleuchtet –
beide zeigen auf, wie sich im Alltag
einzelner Bewohner*innen übergeordnete
(Stadt-) Strukturen widerspiegeln.
Und da wird es ja gerade spannend,
wenn das Vertraute und Eigene, das
oft keiner Überprüfung notwendig
erscheint, einer eben solchen unterzogen
wird. Wie etwa im Kapitel
„fließen“ von Marlene Diemb, das
die historische Entwicklung des –
nicht immer ikonisch gewesenen –
Wasserrinnensystems kunstvoll mit
subjektiven Eindrücken und den
(stadt-) identitätsstiftenden Potenzialen
der Bächle verbindet.
Spezieller wird es dann beispielsweise
im Kapitel „können“, in
dem es um die unterschiedlichen
Verständnisse rund um Tradition,
Innovation und Handwerkskunst
von Holzinstrumentenbauer*innen
in Freiburg geht; oder in „stricken“,
das den Alltag eines Strickcafés und
das soziale Gefüge darum unter die
Lupe nimmt; oder „kritzeln“, indem
die – zumeist mit Edding geführten
Diskurse – auf den Wänden von
Toilettenkabinen in der UB und im
Café Atlantik nachgezeichnet und
gedeutet werden. Oder, oder, oder.
10 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
Vom Pfeilblatt bis zur Forellenbegonie
Nicht nur Prozesse und Routinen,
sondern vor allem auch Beziehungen
zu Dingen prägen unseren
Alltag, seien es kostbare oder hinfällige.
Unmerklich vermenschlichen
wir Objekte, schreiben ihnen
unterschiedlichste Eigenschaften
und Gefühle zu – positive wie negative.
Dieses Handeln wirkt beständig
auf uns zurück. Gerade die Beziehung
von Menschen zu ihren
Zimmerpflanzen, mit denen sich
Julia Voswinckel in ihrem Kapitel
„kultivieren“ beschäftigt, verdeutlicht
dies: Pflanzenliebhaber*innen
verfallen im Gespräch über ihre
Zöglinge oft in einen liebevollen
Tonfall, beschreiben ein Gefühl der
Entspannung, des Bei-sich-seins
bei deren Pflege, sie bauen emotionale
Beziehungen zu ihren Pflanzen
auf und das nicht selten über lange
Zeiträume hinweg.
Eben diese alltäglichen Beziehungen
demonstrieren, wie sich
Objekte von ihrer reinen Objekthaftigkeit
lösen können, in ein semiotisches
System eingeschrieben
werden, damit Zeichen vermitteln
und (subjektive) Bedeutungen erlangen.
Zimmerpflanzen fristen ihr
Dasein nicht als bloße Dekorationsobjekte,
sondern spiegeln individuelle
Vorlieben und Fähigkeiten
ihrer Besitzer*innen wider, sind
Ausdruck von deren Persönlichkeit
und wirken auf sie zurück.
Zeig mir deinen Müll und ich
sage dir, wie du lebst
Ein gegenteiliges Beispiel liefert
„entsorgen“ von Tobias Becker,
das sich einem eher unpopulären
Hintergrundprozess direkt aus dem
Maschinenraum der Stadt widmet,
der – wie der Titel bereits verrät –
Abfallentsorgung. Die beginnt im
Industriegebiet Freiburg-Nord. Von
hier aus, dem Betriebshof der ASF
(Abfallwirtschaft und Stadtreinigung
Freiburg) in der Hermann-
Mitsch-Straße, starten die Entsorgungsteams
mit ihren weiß-grünen
Lastern tagtäglich auf die zahlreichen
Routen durch das Freiburger
Stadtgebiet und die Peripherie.
Damit dieser Ablauf reibungslos
funktioniert, muss eine Vielzahl von
Faktoren aufeinander abgestimmt
werden: Logistik, Timing, Infrastruktur,
Erfahrung, Routine. Ist all
dies gewährleistet, vollzieht sich
dieser sehr alltägliche Prozess dann
nahezu unsichtbar (zumindest für
Spätaufsteher*innen wie den Autor
dieses Artikels) und wird, wie so
oft, erst sichtbar, wenn er unterbrochen
wird. Man schaue beispielsweise
einmal nach Neapel, das in
den letzten Jahren regelmäßig im
Müll versank, da die Entsorgung
durch bürokratische Ineffizienz und
Korruption immer wieder zum Erliegen
kam – so wird Müll unversehens
sehr politisch. Denn Abfall
und dessen Entsorgung tangieren
als alltägliche Mensch-Ding-Beziehung
unmittelbare Fragen unseres
Zusammenlebens, darüber sprechen
tun wir jedoch selten. Wo hört das
Private auf, wo beginnt das Öffentliche?
Müll bewegt sich in genau
dieser Übergangszone. Ab wann
gilt etwas als Müll? Und für wen?
Des einen Müll ist des anderen
Schatz, weiß eine alte Küchenweisheit,
siehe die in Freiburg sehr populären
Verschenkekisten. Im Müll
wird nicht weniger das Allgemeine
im Besonderen sichtbar, denn der
Umgang mit unseren Abfällen bestimmt
nicht nur, wie wir, sondern
auch, wie andere leben wollen und
können.
Fair teilen?
Ebenso wie die Mythen und Klischees
die Identität einer Stadt
prägen, tun es ihre Konflikte und
Brüche. Und die unterscheiden sich
auf den ersten Blick in Freiburg gar
nicht so sehr von anderen Städten –
ihre Eigenheiten zeigen sich oft erst
im Detail.
Dass in Freiburg beispielsweise
Wohnraum knapp und teuer ist,
weiß jede*r und viele der Gründe
dafür finden sich so oder so ähnlich
auch in anderen deutschen Großstädten.
Die Freiburg spezifische
historische Dimension dieses Problems,
sorgsam recherchiert und
nachlesbar in „wachsen“ (Tobias
Becker), ist hingegen weitgehend
unbekannt. Oder wussten Sie, dass
bereits im Jahr 1872 eine „Gemeinnützige
Baugesellschaft“ gegründet
wurde, die sich dem damaligen privatwirtschaftlichen
Bauboom, der
sich vor allem auf Luxusimmobilien
konzentrierte, entgegenstellte
und ein Eingreifen der Stadt für
mehr bezahlbaren Wohnraum forderte?
Und das wiederum damit zu
tun hatte, dass Freiburg unter Industriellen
aus dem Ruhrgebiet ein
beliebtes Altersdomizil war? Die
Geschichte klingt vertraut.
In Freiburg wird und wurde längst
nicht alles fair geteilt. So auch, man
verzeihe den Kalauer – am Fairteiler.
Das Konzept der gleichberechtigten
Verteilung nicht verkaufter
Lebensmittel ist zwar Freiburg
nicht eigen, in jedem Fall steht es
aber emblematisch für ein Bündel
von Eigenschaften, mit denen Freiburg
gern beschrieben wird. Wie es
dann aber tatsächlich am „Fairteiler“
zugeht (nicht so fair), zeichnet
Karlin Schumachers gleichnamiges
Kapitel in einer Reihe interessanter
und teils amüsanter Beobachtungen
nach und erlaubt damit abermals
Rückschlüsse von einem vermeintlich
kleinformatigen Prozess auf
übergeordnete, stadtspezifische
Strukturen. Was bedeutet ein solidarisches
und tolerantes Zusammenleben
in der Stadt? Und wie
gestaltet sich dies im Alltag? Wie so
oft sind hier Außenwahrnehmung
und tatsächliche Erscheinung zwei
verschiedene Paar Schuhe. Siehe
dazu auch „vermitteln“ von Oliver
Noel Estay Arndt, in dem der Konflikt
rund um Freiburgs ersten Späti
behandelt wird – eine ganz andere
und doch sehr ähnliche (Freiburger)
Geschichte.
Sarah May (Hrsg.): Alltag findet
Stadt. Freiburg als Beispiel. Mit
Beiträgen von Oliver Noel Estay
Arndt, Tobias Becker, Lea Breitsprecher,
Marlene Diemb, Leonie
Hagen, Sarah May, Nicole Nicklas,
Karlin Schumacher, Julia Voswinckel.
Waxmann Verlag 2020, Freiburger
Studien zur Kulturanthropologie,
176 Seiten, 24,90€.
Danny Schmidt
Fotos: Finn-Louis Hagen
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 11
Das Covid-19-Virus in einer Darstellung des
US-amerikanischen Centers for Disease Control
and Prevention
Angst vor dem Ungreifbaren
Eine der wohl bekanntesten Darstellungen einer Epidemie – Arnold Böcklins „Die Pest“ (1898)
Ein Webdossier der Universität Münster nähert
sich dem Phänomen des „unsichtbaren Virus“
aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
D
as Corona-Virus stellt
uns vor eine ungreifbare
Bedrohung. Für
viele Menschen bedeutet
das Anspannung und Angst,
für die Forschung einen spannungsreichen
Untersuchungsgegenstand.
Das Webdossier „Epidemien.
Kulturwissenschaftliche
Ansichten“ der Universität Münster
reflektiert das „unsichtbare
Virus“ aus Sicht verschiedener
Fachdisziplinen und zieht interessante
Parallelen.
Wir denken um eine Leerstelle.
Denn Covid-19 ist im Grunde vor
Der AOK Studenten-Service.
Mit unseren kostenlosen Webinaren, Online-Vorträgen,
E-Books und praktischen Tipps machen wir Sie nicht nur
fit fürs Studium. Wir sind auch bei allen Fragen rund
um die Gesundheit persönlich für Sie da: online,
telefonisch und vor Ort im AOK-KundenCenter.
Mehr dazu unter aok.de/bw/studenten
AOK – Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein
Studenten-Service · Sedanstraße 4 · 79098 Freiburg · 0781 20351858
AOK – Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein
allem eines: Ein unsichtbares Virus.
Und wie bei vielen unsichtbaren,
ungreifbaren Gegenständen fällt
der Mensch im Umgang damit auf
sich selbst zurück. Wir lernen in
diesen Zeiten viel über unser Funktionieren
im Ausnahmefall, angesichts
einer Bedrohung, die überall
und doch nirgends zu sein scheint.
Selbsternannte Querdenker*innen
wollen nicht funktionieren und bezweifeln
die Existenz von etwas,
das ja doch irgendwie nicht da ist,
daher also wirkungslos oder zumindest
eher harmlos sein muss.
Regierungen und Mediziner*innen
RWK · 09/20 · Foto: peterheck.de
versuchen dagegen, uns mit den
notwendigen Informationen zu versorgen,
versuchen, dem Virus ein
Gesicht zu geben. Dabei verweisen
sie gerne auf die Folgen – in Form
kranker, infizierter Menschen, die
gerade zur Herbst- und Winterzeit
die Balken in der Statistik steigen
lassen. Und das Virus selbst? Das
ist seit Beginn der Corona-Krise vor
allem als „Bildmodell“ sichtbar, wie
Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr.
Martina Wagner-Egelhaaf in ihrem
Beitrag im Webdossier „Epidemien.
Kulturwissenschaftliche Ansichten“
bemerkt, „in Form einer unterschiedlich
eingefärbten, irgendwie
unsympathisch wirkenden stacheligen
Kugel.“ Wie Krankheit, Viren
von uns Menschen wahrgenommen
werden, ist Thema des Dossiers,
das von Wagner-Egelhaaf initiiert
und von Mitarbeitenden des Exzellenzclusters
„Religion und Politik“
an der Universität Münster zusammengestellt
wurde. Es ist online und
kostenfrei abrufbar.
Gestalten im Nebel
Zurück aber zur unsympathischen
stachligen Kugel. Von der sieht
man, wie Prof. Dr. Wagner-Egelhaaf
bemerkt, aktuell nicht mehr viel.
Flächigere, lebendiger wirkende
Darstellungen des Corona-Virus erscheinen
in den Medien. Wohl traut
man dem an Corona gewohnten
Menschen mittlerweile das annähernd
wahre Gesicht des Virus zu.
Wobei – wahr? Das wahre Gesicht
des Virus dürften nur die wenigsten
kennen, es bleibt wohl allein den
Virolog*innen. Außermedizinische
Fachdisziplinen können anderes
leisten, anderes Wissen vermitteln,
etwa darüber, welche Bilder sich die
Menschen vom Unsichtbaren machen,
das in Form des Virus immer
auch eine Bedrohlichkeit in sich
trägt. Im gleichen Artikel, der den
Titel „Winzige Wesen“ trägt, unternimmt
Wagner-Egelhaaf auch einen
Ausflug in ihre Disziplin, die Literaturwissenschaft.
Dabei behandelt sie
den phänomenal betitelten Roman
der polnischen Nobelpreisträgerin
Olga Tokarczuk „Die Jakobsbücher
oder Eine große Reise über sieben
Grenzen, durch fünf Sprachen und
drei große Religionen, die kleinen
nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt
von den Toten und von der Autorin
ergänzt mit der Methode der
Konjektur, aus mancherlei Büchern
geschöpft und bereichert durch die
Imagination, die größte natürliche
Gabe des Menschen. Den Klugen
zum Gedächtnis, den Landsleuten
zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen
Lehre, den Melancholikern
zur Zerstreuung“ (2014). Die
Erzählung der Lebensgeschichte
des Geistlichen Jakob Joseph Frank
(1726–1791) kennt dabei auch eine
Passage, in der eine Seuche ihr Gesicht
bekommt. Gar nicht unähnlich
der halbbeseelten unsympathischen
Corona-Kugel erscheinen die Seuchenerreger
im Roman als „winzige
Wesen“, die ihre tatsächliche
Gestalt indes nicht verraten. Sie
verstecken sich im „formlos dichten
Nebel“, in der Luft und warten
12 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
nur darauf, eingeatmet zu werden
und zum schnellen Tod zu führen.
Der unsichtbare Erreger sucht sich
seine äußeren Entsprechungen, das
Formlose und erhöht seine Bedrohlichkeit
noch. Ist es gerade doch
der Nebel, der als schauerliche Erscheinung
gilt, die Ungünstiges zu
verbergen vermag.
Um den Nebel zu lüften, hilft
auch der Blick über den Tellerrand.
Im Interview mit der „UNIversalis“
erzählt Prof. Dr. Wagner-
Egelhaaf vom Entstehungshintergrund
des Dossiers. Wenig überraschend
war die ewig tagesaktuelle
Corona-Krise der Auslöser. Aber
auch der Umgang der Menschen
mit dem Virus. Die ständige Suche
nach neuem Wissen über das
unsichtbare Phänomen. Neben
Gesprächen mit Freund*innen und
Bekannten hilft auch der Blick in
die eigene Wissenschaft oder die
der Kolleg*innen. „Es liegt doch
nahe, einmal zu schauen, welches
Wissen über Epidemien unsere
verschiedenen Fachdisziplinen bereithalten.
Während wir in unserem
Leben noch nie eine Pandemie erlebt
haben, gab es in der Geschichte
immer wieder Epidemien großen
Ausmaßes, mit denen die Menschen
umgehen mussten. Gerade auch historisches
Wissen kann ja helfen,
die Gegenwart zu spiegeln und besser
zu verstehen.“
Angesichts ständiger Debatten
über die Nützlichkeit von Geistesund
Kulturwissenschaften für unsere
Gesellschaft ein lockender Versuch.
Die nächste Frage lag nahe:
„Glauben Sie durch die tagesaktuelle
Bedeutung des Corona-Virus
einen breiteren Publikumskreis für
Ihre Forschungen erschließen zu
können?“ Wagner Egelhaaf: „Das
Dossier richtet sich an alle, die auf
der Homepage unseres Exzellenzclusters
‚Religion und Politik‘ unterwegs
sind und die neugierig auf
fachwissenschaftliche Perspektiven
und Denkanstöße zur gegenwärtigen
Krisensituation sind. Unserer
Forschung ein breiteres Publikum
zu erschließen, war nicht unser
primäres Anliegen. Aber wir wollen
zeigen, dass auch die Geistesund
Kulturwissenschaften zu dem
großen Thema unserer Zeit, das
uns alle beschäftigt, etwas beizutragen
haben. Unser Kreis, der aus
Wissenschaftler*innen aus den
Fächern Kunstwissenschaft, Geschichte,
Ethnologie und Literaturwissenschaft
besteht, gewinnt nicht
zuletzt auch aus unserem internen
Austausch neue Blicke auf das Wissen
über Epidemien, das aus dem
eigenen Fach kommt. Diesen lebendigen
und horizonterweiternden
Austausch tragen wir mit unserem
Dossier gern nach außen.“
Ideales Verhalten im Pestfall
Ein wiederkehrendes Krankheitsbild
im Dossier ist das der Pest.
Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-
Bettina Krems wendet den Blick in
ihrem Beitrag dabei weg von einer
zu objektivierenden Krankheit hin
zu den Vorstellungen und Gefühlen
der Menschen gegenüber einer
solchen einschneidenden Erfahrung.
Wobei bei ihren Forschungen
rasch klar wird: Ganz zu trennen ist
beides nicht. Zur Zeit der Renaissance
wurde zwischen beiden Elementen
sogar ein kausaler Zusammenhang
postuliert. Der deutsche
Arzt Daniel Sennert (1572–1637)
sah die Ansteckung nicht durch
körperlichen Kontakt verursacht,
sondern vielmehr durch das Erschrecken
der Menschen vor der
Krankheit. Wer sich angesichts von
Pestleichen etwa entsetze, könnte
bald selbst zu diesen gehören. Andere
Ärzte nahmen vermittelnde
Positionen ein, verwiesen auf den
Geist als Beschleuniger von Krankheitsprozessen,
wenn auch nicht als
Ursache.
Künstlerische Pestdarstellungen
können dem dräuenden Unheil die
Festigkeit eines guten Glaubens
entgegenstellen. Auf einem Gemälde
des 18. Jahrhunderts ist eine
Jesuitengemeinde zu sehen, die im
„unerschütterlichen Gottvertrauen“
der herannahenden Pestwolke und
den Pestengeln widersteht. Auch
die sorgenden Handlungen innerhalb
der dargestellten Gemeinde
erhalten vorbildhaften Charakter.
Die Pflege der Kranken und Hilfsbedürftigen
gilt nicht nur als pragmatisch
sinnvolle, sondern auch
fromme Haltung gegenüber dem
drohenden Seuchenfall. Die Autorin
eröffnet letztlich zwar keine Verbindung
zur Gegenwart – dennoch
erinnert die mediale Hervorhebung
solcher Leistungen an die heutzutage
vielbeschworene Solidarität und
Wertschätzung für Pflegeberufe. Im
Krankheitsfall werden die Stützen
der Gesellschaft sichtbar und fordern
Aufmerksamkeit ein.
Einen weiteren kunsthistorischen
Blick auf Pestdarstellungen eröffnet
Dr. Jens Niebaum. Seinem Beitrag
zugrunde liegt das Bild „Fürbitte
des hl. Januarius für das Ende der
Pest“ des neapolitanischen Malers
Luca Giordano von 1660–61.
Historischen Hintergrund bildet
die schwere Pestepidemie in Neapel
1656. Knapp die Hälfte der
Stadtbevölkerung starb innerhalb
von vier Monaten. Entsprechend
sind auf dem Bild viele Leichen
zu sehen, die auf drastische Weise
einen Abriss der Gesellschaft bieten:
Männer, Frauen, Junge, Alte,
Kinder. Die Krankheit zeigt sich in
ihren Opfern und in einer kaum zu
bewältigenden gesellschaftlichen
Katastrophe – für die Betroffenen,
die Angehörigen, aber auch die
Totengräber*innen. Aber über den
Köpfen der Toten und Leidenden
wartet die Hoffnung. Der titelgebende
Heilige Januarius bittet für
die geschundene Stadt im Angesicht
Marias, die sich wiederum an den
kreuztragenden Christus wendet.
Selbst gemartert ist er der archetypische
Empfänger menschlichen
Leidens. Aber sein Leidensweg
weist auch auf die Erlösung. Himmel
und Erde stehen in einem intensiven
Dialog, dem die Pest als unsichtbare
Dynamik zugrunde liegt.
Drastische Wahrheiten
Sichtbarmachung durch die Bildende
Kunst – das liegt nahe. Aber wie
steht es mit der Literatur? Prof. Dr.
Wagner-Egelhaaf sieht das Medium
der Literatur in steter Auseinandersetzung
mit der menschlichen Natur
und damit auch mit Krankheit
und Epidemie. Dabei bleibt es aber
selten. „Mir ist bei meinen Untersuchungen
aufgefallen, dass die Darstellung
von Epidemien oft dazu
dient, andere, ebenfalls existenzielle
Themen zu reflektieren. Bei Albert
Camus’ Roman ‚Die Pest‘, der im
Zuge der Corona-Krise sehr hohe
Verkaufszahlen erzielte, hat die Forschung
schon früh herausgearbeitet,
dass die Pest für die nationalsozialistische
Okkupation Frankreichs
steht. In Thomas Manns Novelle
‚Tod in Venedig‘ reflektiert die in
Venedig grassierende Seuche Begehren
und Aussichtslosigkeit eines
alternden Künstlers.“ Die Leistung
der Literatur, metaphorisch Bedeutungen
zu schaffen, wird gerade
angesichts dramatischer Ereignisse
deutlich. Und wieder ist es die Pest,
die dafür ein gutes Beispiel gibt.
Die Romanistin PD Dr. Pia Claudia
Doering setzt sich in ihrem Beitrag
mit den Pestdarstellungen im Werk
des italienischen Schriftstellers
Boccaccio auseinander.
Boccaccios berühmte Novellensammlung
„Decamerone“ (1349–
1353) macht deutlich, welche Möglichkeiten
Literatur hat, das Grauen
der Pest anschaulich zu machen.
Pestbeulen und schwarze Flecken
kennzeichnen die todesnahen Körper
der Kranken. Der Gestank von
Leichen und Medikamenten verweist
auf die Bedrohung. Während
die Behörden in dieser Zeit die hohen
Todeszahlen geheim zu halten
versuchten, eröffnete Boccaccios
Werk den Blick auf die Dimensionen
des Schreckens. Von Massengräbern
wird erzählt, in denen die
Toten „wie die Waren auf Schiffen
übereinandergestapelt werden“.
Wenig verwunderlich, dass Wagner-
Egelhaaf die Frage, ob die Bildende
Kunst nicht besser dafür geeignet
sei, das Grauen von Krankheit und
Zerfall sichtbar zu machen, klar zurückweist:
„Ich glaube nicht, dass
man Kunst und Literatur hier hierarchisieren
oder gar gegeneinander
ausspielen muss. Sprachliche Bilder
sind genauso aussagekräftig und
oftmals schockierend wie visuelle
Darstellungen.“
Aber wie ist es nun heute? Auch
einen Beitrag zu Covid-19 hat das
Dossier zu bieten. Ethnologin Prof.
Dr. Dorothea Schulz beschäftigt
sich in ihrem Beitrag mit der Lage in
Mali. Wieder geht es dabei weniger
Literaturwissenschaftlerin und Initiatorin des Dossiers
Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf
Foto: Hilla Südhaus
um eine „tatsächliche“ Krankheit
als um den Umgang der Menschen
mit der unsichtbaren Bedrohung. In
Mali wird viel darüber gesprochen,
was denn nun tatsächlich mit dem
Corona-Virus sei. Viele Gerüchte
sind in Umlauf, die mitunter in
Verschwörungstheorien münden.
Covid-19 sei in Mali nicht existent,
nur eine regierungsgesteuerte
Falschmeldung, um „Hilfsgelder
von internationalen Organisationen
zum Zwecke privater Bereicherung
zu mobilisieren“. Aber gibt es denn
keine handgreiflichen Symptome,
mag die unmittelbare Gegenfrage
sein. Viele Corona-Symptome sind
für die Menschen in Mali nicht als
dezidiert coronatypisch zu erkennen.
So gelten Husten, Schnupfen
und Fieber als typische Erkältungssymptome
wie sie in der Regenzeit
häufig zu beobachten sind. Eine enorme
Anspannung bleibt in der Luft.
Ebenso wie die Existenz von Corona
nicht klar ersichtlich scheint, ist
jedoch auch dessen Nichtexistenz
nicht zu belegen. Die Anspannung
bleibt und die Unsichtbarkeit der
Bedrohung erhalten.
So schwierig diese Diagnose am
Ende steht, so ergiebig erweist sie
sich für weitere Forschungen. Eine
Nachfrage bei Prof. Dr. Wagner-
Egelhaaf stößt auf positive Resonanz:
„Ja, wir wollen unser Thema
in jedem Fall vertiefen und vielfach
reicht es auch in unsere anderen
Forschungsfragen hinein. Aber unserem
Dossier sind durchaus auch
schon einschlägige Forschungen
vorausgegangen. Katharina Wolff
beispielsweise hat ihre Doktorarbeit
zum Thema ‚Die Theorie der
Seuche. Krankheitskonzepte und
Pestbewältigung im Mittelalter‘
geschrieben.“ So bleibt immerhin
eins: Lesestoff für die Zeit des
Lockdowns und für die seltsame
Leere, auf die wir darin immer wieder
stoßen.
Das Dossier „Epidemien. Kulturwissenschaftliche
Ansichten“
und weitere Dossiers sind auf der
Homepage des Exzellenzclusters
„Religion und Politik“ abrufbar:
www.uni-muenster.de/religion-undpolitik/aktuelles
Fabian Lutz
App-Touren selbst erstellt!
Studierende der Pädagogischen Hochschule generieren App-Touren für die Öffentlichkeit
Geländearbeit
Foto: Michael Haag
D
as Potential von mobilen,
digitalen Endgeräten
wie Smartphones
und Tablets rückt zunehmend
in den Fokus von Bildungsund
Ausbildungsinstitutionen. Ein
breites Spektrum von Apps eröffnet
bereits vielseitige Anwendungsbereiche
wie die Navigation, Orientierung
und Tracking.
Apps selbst zu generieren ist ein
weiterer innovativer Schritt, sich
mit diesem Medium intensiv auseinanderzusetzen.
Der Schritt
von App-Anwender*innen hin zu
Entwickler*innen von App-Touren
eröffnet den Lernenden eine ganz
neue Perspektive. Die Studierenden
kommen aus einer rein rezeptiven
Haltung in die Rolle von aktiven
Wissensvermittler*innen und werden
in ihren Gestaltungskompetenzen
maßgeblich gefördert. Im
Sinne des Service Learning liefern
die Apps einen neuen, innovativen
Wissenstransfer aus der Hochschule
heraus in die Gesellschaft.
Konzeptentwicklung und Umsetzung
der Apps
Mittels Geländebegehungen, Experteninterviews
und Literaturrecherche
arbeiteten die Studierenden
am Institut für Geographie ihre Didaktik
anhand einer Methodentriangulation
Besonderheiten einer Region,
Stadt oder einer spezifischen
Thematik heraus, beispielsweise
die Folgen der Klimaerwärmung
für Freiburg. Hierbei arbeiteten die
Studierenden kooperativ und kollaborativ
in Dreiergruppen.
Anhand von Storytelling wurden
diese Bausteine lebendig und anschaulich
gestaltet. Die Studierenden
entwickelten dabei u.a. die
Kompetenz wissenschaftlich komplexe
Inhalte zu vereinfachen und
diese an eine bestimmte Zielgruppe
zu vermitteln.
Nach dem Baukastenprinzip konnten
die Studierenden einzelne Elemente
zusammensetzen: Texte,
Abbildungen, Kurzfilme, Audiodateien,
Slider, Quiz und Augmented
Reality.
Die Apps liefern für verschiedene
Zielgruppen, insbesondere
Lehrer*innen, Schüler*innen, aber
auch für Studierende einen Mehrwert
Die User*innen können anhand
der App-Touren ihr Umfeld
neu erkunden und über gut aufbereitete
Hintergrundinformationen
und -geschichten zur Stadt Freiburg
und Umgebung Fundiertes aus Wissenschaft
und Forschung erfahren.
Gerade in Zeiten der Corona Pandemie
eignet sich die App sehr gut für
Schüler*innen, um im Freien neue
Inhalte zu erlernen und neue Kompetenzen
zu erwerben.
Die Studierenden lernten Grundlagen
der empirischen Sozialforschung,
indem sie ihr eigenes
Produkt testeten und so eine optimierte
und qualitativ hochwertige
App-Tour an die Öffentlichkeit herausgaben.
Derzeit ist geplant, dass
die Studierenden jedes Jahr weitere
App-Touren erstellen und dass das
Seminar „App-Touren selbst entwickeln“
auch in anderen Fachbereichen
der Pädagogischen Hochschule
ausgebracht wird.
SPEZIAL
UNIversalis-Zeitung
Für Universität und Hochschulen in Freiburg
IMPRESSUM
Herausgeber:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Auerstr. 2 • 79108 Freiburg
Telefon: 07 61 / 72 072
e-mail: redaktion@kulturjoker.de
Redaktionsleitung
(V.i.S.d.P):
Christel Jockers
Fazit der Studierenden
„Im Großen und Ganzen hat mir das
Seminar großen Spaß gemacht. Vor
allem der Teil, in dem wir selbstständig
unsere Projekte erarbeiten
konnten.“
„Uns wurde viel Freiheit gelassen,
sodass wir unserer Kreativität freien
Lauf lassen konnten. Innerhalb
der Gruppenarbeit auch wieder viel
über Teamwork und sich selbst gelernt.“
„Ausgeprägter Praxisbezug durch
tatsächliche Konzeption einer App.“
Anna Chatel
Dr. Anna Chatel ist Akademische
Mitarbeiterin im Institut für Geographie
und ihre Didaktik
Autoren dieser Ausgabe:
Dr. Martin Flashar
Dr. Cornelia Frenkel
Elisabeth Jockers
Fabian Lutz
Danny Schmidt
u.a.
Satz/Gestaltung:
Art Media Verlagsgesellschaft mbH
Druck:
Rheinpfalz Verlag und Druckerei
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen
Der Nachdruck von Texten und den vom
Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher
Genehmigung des Verlags.
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 13
Handeln in neuen Räumen
Kunstseminare im Lockdown - eine unverhoffte Quelle für die künstlerische Arbeit
I
n Zeiten geschlossener
Hochschulen und digitaler
Lehre ist die künstlerische
Praxislehre
stark beeinträchtigt. Wie soll auch
ein Druck-, Malerei-oder Bildhauereiseminar
durchführbar sein,
wenn die Schnittstelle zwischen
Studierenden und Dozent*innen
aus einem 15 Zoll-Bildschirm besteht?
Während sich eine Hörsaalsituation
vergleichsweise leicht in
ein Videokonferenzformat übersetzen
lässt, so bedarf der Austausch
über und durch Kunst der Unmittelbarkeit.
Nuancen der Faktur und
die Einnahme eines Betrachtungsstandpunkts
begründen nur zwei
von vielen Aspekten im Umgang
mit Kunst. Was sollte also in Lernarrangements
des Lockdowns über
einen Behelf hinaus zu gewinnen
sein?
Doch jede Veränderung des Gewohnten
birgt kreatives Potenzial.
Wenn der Alltag von außen „gewaltsam“
transformiert wird, erlöschen
Handlungsroutinen und neue
situative Modalitäten des Wahrnehmens,
Denkens und Empfindens
werden möglich. Die zentrale Veränderung
während des Lockdowns
war der zwangsweise Rückzug aus
der (Hochschul-) Öffentlichkeit.
Die weitgehende Reduktion auf das
eigene Zimmer, erlebten viele Studierende
als starke Einschränkung
– und als Verlust.
Die Studierenden eines Kunstseminars
wurden angeregt, sich mit
dieser Situation künstlerisch auseinanderzusetzen.
Meist stand die
Sehnsucht nach nicht erreichbaren
Menschen im Mittelpunkt. Wie
stellt man Abwesendes dar? Ein
Seminarteilnehmer machte kriminologisch
die Fingerabdrücke der
Menschen sichtbar, die noch vor
kurzem in seiner Wohnung ein- und
ausgegangen waren, eine Studentin
beschäftigte sich mit einem verlassenen
Bett, eine andere Kommilitonin
mit dem Verlust der eigenen
Kindheit, der sie sich, zurückgekehrt
ins Elternhaus, in Gestalt
ihres früheren Kinderschlittens gegenüber
sah.
Doch im selben Maß, wie die
Situation den eigenen Radius signifikant
zu beschränken schien,
erweiterte ihn der künstlerische
Blick. Gerade weil die Routine des
Alltags zu Hause durch die ungewohnte
Seminarsituation überlagert
wurde, entfalteten sich alte Räume
neu. Eine Studentin schreibt:
„Dieses Semester war sehr intensiv
für mich. Corona hat uns alle aus
der Bahn geworfen und hat für uns
alle Auswirkungen gehabt. Und
auch vor allem auf die Räume, in
denen wir uns bewegt haben. Wir
konnten nicht mehr an die PH gehen,
konnten nicht mehr in die
Kunstwerkstatt gehen, um dort zu
arbeiten. Und so ist mein Zimmer
zu meiner Werkstatt geworden. Dort
habe ich mich entfaltet. Nicht nur
gedanklich, sondern auch mit allen
Materialien – sodass am Ende noch
kaum mehr Platz für mich selbst
da war. In meinem Zimmer wurde
ich sozusagen von mir selbst verdrängt.
Besonders offensichtlich in
den ‚künstlerischen Konzeptionen‘:
Kunstseminare werden daheim erlebbar gemacht
Foto: Nina Petit
Das eigene Zimmer wird zur Werkstatt
Die Installation, ein Abdruck von
mir selber, hing mitten in meinem
Zimmer. Mehrere Tage lang. Ich
musste diesem Abdruck von mir aus
dem Weg gehen, und konnte mich
nicht mehr in meinem Zimmer bewegen,
wie ich es gewohnt war.Und
so wurde mein Zimmer neu ausgefüllt
– anders von mir ausgefüllt,
eine andere Seite von mir kam zum
Vorschein. Für mich hatte das etwas
Geisterhaftes. Ich hatte das Gefühl,
alles dreht sich in meinem Zimmer
um mich, obwohl das nicht mehr
ich selber bin. Mein Zimmer wurde
zum Gravitationszentrum.“
Die eigenen vier Wände wandeln
sich unter den Bedingungen der
Online-Lehre. Sie beschränken
einerseits den Aktionsradius geradezu
retrodynamisch, wenn das
WG-Zimmer aufgegeben und das
frühere Jugendzimmer bei den
Eltern wieder bezogen wird. Der
Raum mit seinen realen Begrenzungen
und mit seinen digitalen
Schnittstellen wird in der zwangsweise
veränderten Alltagspraxis neu
wahrgenommen, neu vermessen
und neu belebt. Gerade die gemeinsame
„Vorgeschichte“ zwischen
Person und Dingen in vertrauten
Räumen erscheint in der Situation
des Lockdowns als eine unverhoffte
Quelle für die künstlerische Arbeit.
Man steht nicht nur „in touch“ mit
den screens der digitalen Geräte
sondern ist „handfest“ herausgefordert:
Platz schaffen, Umschichten,
Umräumen.
Räume sind nicht nur strukturell
definiert, sie entstehen und verändern
sich gemäß der sozialen Praxis
– und im künstlerischen Prozess.
Das eigene Zimmer wird zu einem
künstlerischen Werk- und Aktionsraum,
ein früheres Jugendzimmer
wird als liminales Gehäuse wiederbezogen,
künstlerisch exploriert
und in einen neuen Schwebezustand
überführt. Anders als in den pädagogisch
gedachten, funktionalen „Behälter-Räumen“
einer Hochschule,
in denen man sozial und strukturell
habitualisiert im 90-Minuten-
Rhythmus arbeitet, gilt es, sich in
den ge“wohn“ten Umgebungen neu
zu orientieren, neue Schneisen zu
schlagen – auch geistig. Das bedeutet
erst einmal sich mit den Dingen,
die „immer schon da“ waren, neu
ins Verhältnis zu setzen: Sie auf den
Kopf zu stellen oder sich selbst.
Wird das eigene Zimmer zur Werkstatt,
lassen sich klassische bildnerische
Verfahren nicht „werkgerecht“
durchführen. Den Studierenden
fallen Materialien und Werkstoffe
„in die Hände“, die sie abwägen
und testen. Sie finden Problemlösungen
ohne Rückversicherung
an klassische Verfahrensregeln, sie
improvisieren und besinnen sich dabei
auf den Begriff „techné“: Technik
als Mittel zum Erreichen eines
individuellen Zieles.
Wenn das eigene Zimmer zwangsweise
zum ständigen Verweil- und
Handlungsort wird, und „Altes“
durch unerwartete Wahrnehmungen,
unverhoffte Gedanken und
Handlungen neu decodiert wird –
dann haben schlichtweg alle Dinge
und Gegebenheiten das Potenzial
für eine kreative Neudeutung.
Tim Tobian beschäftigt sich direkt
mit seinem Zimmer, in dem er das
halbe Jahr viel allein war. „Ich habe
das Zimmer mit Aluminiumfolie
Moltkestraße 31
79098 Freiburg
Deutschland
Foto: Tim Tobian
ausgekleidet und die Körperteile
von den Menschen abgeformt, die
in den letzten sechs Monaten in
dem Zimmer waren.“ Die Folie
legt sich wie Mehltau auf die Oberflächen,
aber bewahrt sie auch. Der
Student assoziiert den Ascheregen
von Pompei und damit überzeitliche
Konservierung, aber auch Gefahrenabwehr
durch das „schützende
Aluminium“, wie er schreibt.
Räume sind nicht nur das Resultat
konzeptioneller architektonischer
Überlegungen, sondern entstehen
erst in der sozialen– und in der
künstlerischen – Praxis. Umgekehrt
wirken diese Räume auf die Praxis
ein, wenn die Nutzer*innen künstlerisch
sensibilisiert, sich zu Kreativität
entscheiden. Möglicherweise
hat das Virus 2020 nicht nur alte
Räume verschlossen, sondern neue
eröffnet.
Thomas Heyl
Prof. Dr. Thomas Hey ist Professor
im Institut der Künste
Mo - Fr: 10 - 19 Uhr
Sa: 10 - 18 Uhr
0761 - 5573301
14 UNIversalis-Zeitung Winter 2020
Hochschul(lehr)kultur in digitalisierten
Zeiten
Bit und Byte im Gespräch
W
ir blicken auf ein Semester
zurück, in dem
sehr schnell auf die
Corona-Pandemie reagiert
werden musste und dabei das
Ausweichen in die Digitalität eine
der wenigen Möglichkeiten war,
Lehre in einem gemeinsamen Sinne
auszubringen. Wir möchten dies als
Blaupause nehmen, um über erste
systematische(re) Erfahrungen mit
digitaler Lehre im Hochschulkontext
nachzudenken.
Grundsätzlich gehen wir davon
aus, dass die Digitalisierung als ein
neues Zeitalter angesehen werden
kann. Ähnlich wie mit den technischen
Veränderungen durch den
Buchdruck scheinen sich neue Muster
einzustellen – ob sie nun mit der
Vermessung der Welt seit dem 19.
Jh. einhergehen, soll hier nicht diskutiert
werden: Dass unser Denken
längst abhängig von Klickzahlen
und anderen Quantitäten ist und wir
darüber einen großen Teil unserer
Anerkennung ziehen, wird nicht
zuletzt deutlich in „snackablen“
Meldungen wie: „Christiano Ronaldo
knackt Instagram-Rekord:
200 Mill. Follower*innen“. Auch
wenn die Hochschule nicht mit
den gleichen, absurden Meldungen
aufwarten kann, scheint die Höhe
der Drittmittel von Forschungsprojekten
eher eine Spielart dieser
Logik zu sein. Weiterhin scheinen
uns Dauererreichbarkeit bzw. permanent
beschleunigte (erwartete)
Reaktionsgeschwindigkeiten im E-
Mail-Verhalten auch im Hochschulkontext
ein weiterer Ausdruck dieser
Veränderungen zu sein, die Irritation
auslösen.
Beste Zeit – so scheint es uns
– Bit und Byte, zwei fiktive
Beobachter*innen dieses außergewöhnlichen
Semesters, eine Unterhaltung
über Auswirkungen digitaler
Lehre führen zu lassen:
Byte: Durch Corona und die neuen
digitalen Arbeitsformen wird in studentischen
(Gruppen-) Arbeiten eine
neue inhaltliche Gewissenhaftigkeit
an den Tag gelegt. Zwar stellt sich
bei Licht betrachtet heraus, dass mit
Corona eine stärkere Strukturierung
der Aufgaben, die an Studierende
gerichtet werden, einhergeht und
nicht zuletzt (auch) erklärt werden
kann, warum ein so hoher Workload
wahrgenommen wird: Man kann
sich eben nicht mehr hinter den
wortgewandten und institutionszugewandten
Studierenden verstecken.
Dennoch scheint sich ein Typ von
Aufgaben durchzusetzen, die klar
und einfach bearbeit- und rückmeldbar
sind, d.h. „klare Aufgabenstellungen“
machen es leichter im Kontext
digitaler Kommunikation. Ob
damit das Denken der Studierenden
geschult wird, frage ich mich schon.
Bit:„Upload oder nicht“ lautet hier
die Frage. Digitale Lehre ist sehr viel
stärker dokumentiert und sorgt – in
positiver wie negativer Form – für
Überwachung von Arbeits-fortschritten.
Ähnlich der Hausaufgabenkontrolle
im Schulbetrieb. Dennoch war
in der Kürze der Zeit die Funktionalität
eines Hochschulsemesters
zentrale Aufgabe. Wie bekommen
wir das in der vorgegebenen Zeit
mit den zur Verfügung stehenden
Ressourcen hin? Zeit für innerliche
und äußerliche Anpassung war nicht
vorhanden. Studiengewohnheiten
wurden auf den Kopf gestellt und
für die technische Ausrüstung von
Studierenden war weder Zeit noch
Geld vorhanden. Alle Beteiligten
sind teils an ihre Grenzen gestoßen,
haben durch dieses erste Pandemie-
Semester vermutlich viel über sich
und ihre Lehr-Lern-Gewohnheiten
erfahren. Ein gut geplantes eLearning-Konzept
braucht Zeit und die
nötige Ausstattung.Politische Vorgabe
war, dass das Semester nicht zu
einem „0-Semester“ wird und hier
könnte man sagen: Es hat funktioniert!
Feststellbar bleibt, dass Digitalisierung
von Lehre in dieser Form
weder zu besserer Bildung noch zu
mehr Bildungsgerechtigkeit führt.
Byte: Guter Punkt – ich möchte
allerdings noch einmal auf die
Richtung der Kommunikation zu
sprechen kommen: Die Kommunikation
über digitale Tools wie Zoom
ist zwangsläufig hierarchisch und
im hohen Maße auf den „host“ ausgerichtet;
er entscheidet, wann wer
reden kann (sonst Mikro stumm, da
Gefahr von Störgeräuschen, auch die
Chatfunktion unter Studierenden ist
grundsätzlich abgestellt bei Zoom),
wer in welche Breakoutsessions
kommt, wer aus der Sitzung rausfliegt
(ohne, dass das Hausrecht angewendet
werden müsste, sondern in
Mikrosekundenschnelle – genauer:
einen Mausklick später– vorgenommen)
oder wer den Bildschirm teilen
kann.
Bit: Teilweise wird das von Studierenden
nahezu diktatorisch wahrgenommen,
denn Diskussionen und
Gespräche, die normalerweise im
Seminar, beim Warten im Flur oder
nach dem Seminar in der Mensa
stattfinden, entfallen. Der Austausch
zwischen allen Beteiligten ist stark
eingeschränkt, das kurze Tuscheln
über Inhalte oder Ablauf ist unterbunden
und die Stellung von Lehrenden
noch exponierter, das Machtgefälle
greifbar. Breakoutsessions
helfen zwar ein wenig, um den Austausch
unter Studierenden zu fördern,
aber mit nur einem Mausklick
holen Lehrende die gesamte Gruppe
zurück oder sind ad hoc mitten
in der Gruppe, wenn sie den Raum
betreten. Eine Funktion des sich Ankündigens
oder Anklopfens existiert
meines Wissens nicht, ggf. nur via
Chat. Dozent*innen bleibt oft auch
keine Wahl, sie bestimmen, wie die
Kommunikation aussieht, kontrollieren
Arbeitsaufgaben, unterbinden
aber teils absichtlich den Austausch
via Peer-to-Peer Chat, damit keine
Ablenkung entsteht. Sich in Videokonferenzen
zu melden, einen Diskurs
anzustrengen, ist für manche
Studierende schwierig, da Reaktionen
nur schwer abschätzbar sind.
Eine Studentin schilderte mir etwa:
„Ich fühle mich, als stünde ich mitten
auf dem Tisch im Seminarraum,
wenn ich in der Videokonferenz
etwas sage. Das Gefühl, Teil einer
Gruppe zu sein, stellt sich bei mir
nicht ein.“ Vermutlich lernen wir alle
dazu, dennoch ist die Demokratisierung
von eLearning-Veranstaltungen
mit entsprechenden didaktischen
Konzepten für die Hochschullandschaft
und für gelingende Lehr-Lern-
Situationen dringend verbesserungsbedürftig.
Fazit zur Hochschullehre im digitalisierten
Semester
Mit diesem Beitrag möchten wir für
mehr Demokratie in Online-Lehre-
Kontexten plädieren. Im „Neuen“
steckt oft weniger Wagnis, mehr hierarchische
Denkart und Entmündigung
als gedacht. Damit digitalisierte
Lehre nicht zu einem alten Wein in
neuen Schläuchen verkommt, stellen
sich uns zentral, folgende Fragen:
Wie möchten wir (digital) lernen?
Wie fühle ich mich als Gegenüber
ernst genommen und respektiert?
Welche Form etwa entmündigender
Kommunikation sollte nicht stattfinden?
Welche Konsequenzen hat dies
für meine Lehre? Wie sehe ich meine
Rolle als Lehrende*r?
Die Antworten auf diese Fragen
werden wohl glücklicherweise unterschiedlich
ausfallen. Uns geht es
hier nicht um die Negierung von
Hierarchien – wo sie notwendig sind
fürs Lernen, können sie beibehalten
werden. Dennoch stellt sich nicht
erst in digitalisierten Zeiten die Frage,
wie Muster und Formate etabliert
werden können, die nicht aus dem
Jahrhundert der schwarzen Pädagogik
stammen. Bildung braucht auch
in digitalen Zeiten keine Entmündigung.
Ein Experiment mit offenem
Ausgang!
Monika Löffler ∙ Florian Weitkämper
Dipl.-Päd. Monika Löffler ist die
Leiterin des Hochschulradios PH
88,4;
Dr. Florian Weitkämper ist Akademischer
Mitarbeiter im Institut für
Erziehungwissenschaft
Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 15
Ein neuer Blick auf die Alchemie des Lebens
Der italienische Philisoph Emmanuele Coccia wirft einen systematischen Blick auf das menschliche In-der-
Welt-sein und verweist auf die Zusammenhänge unseres Planeten
D
ank der Pflanzen wird die
Erde endgültig zum metaphysischen
Raum des
Atems. Die Ersten, die
die Erde besiedelten und bewohnbar
machten, waren Organismen, die zur
Photosynthese fähig waren: Die ersten
vollständig terrestrischen Lebewesen
haben die Atmosphäre am stärksten
verwandelt. Umgekehrt ist die Photosynthese
ein großes atmosphärisches
Labor (…).“
Emanuele Coccia, 2016
Unsichtbare Atmosphäre
Es darf als bekannt gelten, dass Lebewesen
in kosmische Vorgänge
eingebunden sind, doch ist uns dies
alltäglich bewusst? Der italienische
Philosoph Emanuele Coccia, der in
Paris lehrt, ruft es uns systematisch
ins Gedächtnis. In seinem Essay „Die
Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der
Pflanzen“, soeben ins Deutsche übersetzt,
plädiert er für einen neuen Blick
auf die Alchemie des Lebendigen und
der Pflanzen, die für ihn nicht nur in
den Bereich der Botanik gehört, sondern
in den der Philosophie. Des Weiteren
macht er in seinem Buch „Sinnenleben“
deutlich, wie wichtig hier
unser sensorisches Vermögen für ein
Verständnis ist. Wir unterschätzten die
Abhängigkeit unserer Existenz, da wir
vor allem menschen-, tier- und geozentriertdenken,
befindet Coccia und will
aus dieser Perspektive herausführen.
Bereits viele Wissenschaftler und Philosophen
haben sich auf diesem Terrain
versucht; gibt es auch nichts wirklich
„Neues unter der Sonne“, wie es landläufig
heißt, so lassen sich den Essays
von Emanuele Coccia doch zivilisationskritische
Denkanstöße entnehmen,
die zu Skepsis einladen.
Pflanzen sind die Magier des Lebendigen
Machen wir es uns ausreichend klar?
Pflanzen schaffen die vegetative Atmosphäre,
in der wir atmen, indem
sie Luft und Sonnenlicht verwandeln;
sie verfügen zwar nicht wie Mensch
und Tier über Nerven, Neuronen und
Gehirn, werden aber von elektrischen
Signalen durchquert und sind aktiv,
wenn auch auf spezifische Art (Coccia
vermenschlicht diese Vorgänge nicht,
wie Peter Wohlleben in „Das Leben
der Bäume“). Zwar haben Pflanzen
kein Gehirn, vermögen sich aber auf
viele Weisen zu orientieren, wenn ihre
Wurzeln z.B. Hindernissen ausweichen.
Amphibisch leben sie in der Erde
und in der Luft, verwandeln Kohlenstoff,
Licht und Wasser in Atmosphäre.
Zwar an einen Standort gebunden, breiten
sie ihre Samen, das „Denken“ ihrer
Zellen, über den gesamten Erdball aus,
nehmen Wind, Wasser und Insekten in
ihren Dienst.
„Dank der Pflanzen wird die Sonne zur
Haut der Erde, ihre äußerste Schicht,
und die Erde wird ein Gestirn, das
sich von Sonne ernährt, sich aus ihrem
Licht konstruiert. Sie verwandeln
das Licht in organische Substanz und
machen das Leben zu einem prinzipiell
solaren Faktum.“
Sonne - „Haut der Erde“
Die Sonne, Coccia bezeichnet sie
als „Haut der Erde“, ist die unerlässliche
Energiequelle aller Lebewesen;
deshalb ist der menschliche Leib
kein bloß chemisches Faktum, sondern
„kosmogonisch“, radikal eingeflochten
in einen extraterrestrischen
Stoffwechsel. Emanuele Coccia wirft
einen systematischen Blick auf das
menschliche In-der-Welt-Sein und
weist auf die Zusammenhänge unseres
Planeten; der Mensch hat Einfluss auf
diesen, begreift ihn aber zu oft nur als
Technosphäre (man denke an die hohe
CO₂-Emissionen und den klimaverändernden
Treibhauseffekt). „In-der-
Welt-Sein bedeutet zwangsläufig Welt
machen“, mitwirken in einem Gewebe
des miteinander Vermengt-Seins, der
Atmosphäre oder „Ursuppe“, für Coccia
die Quintessenz der Welt, in der die
Erde ein partieller Aggregatzustand ist.
„Es gibt ein materielles, aber nicht
neuronales Gehirn, einen Geist, der
der organischen Materie an sich innewohnt
(…). Die ersichtlichste Form
dieser elementaren Form der „Zerebralität“
verkörpert der Samen.“
Geist und Materie
An den für die Photosynthese verantwortlichen
Chloroplasten und in der
Wurzel wirkenden Plastiden zeigt sich
die Bindung des Organischen an das
Energiezentrum Sonne deutlich.Welche
Rolle aber spielt das Bewusstsein
im Universum? Coccia behauptet:
„Materie hängt von Geist ab“, und
wenn Geist aus der gleichen Materie
wie Wolken und Berge besteht, warum
sollten Berge und Wolken dann
umgekehrt nicht Geist besitzen? In
uns und den Pflanzen steckt mehr als
Botanik, Biologie und Physik zeigen
können. Wie aber gelangt „Geist“ in
die lebendigen Abläufe? Eine Pflanze,
so Coccia, ist ein Mechanismus, der die
Erde an den Himmel bindet. Begreift
man nun das Gehirn als eine Art Samen
(darauf weist das Wort „Seminar“), so
nimmt man an, es sei wesentlich nichtanatomisch,
also kein Organ; infolgedessen
wären Geist oder Bewusstsein
ein Merkmal der Materie, nicht etwa
im Organ Gehirn von der Gesamtexistenz
trennbar: „Wo es eine Form
gibt, gibt es einen Geist, der Materie
strukturiert, das heißt, die Materie existiert
und lebt als Geist (…).“Von der
Physik zur Metaphysik?
Sinnenleben
Emanuele Coccia ist bestrebt, nicht
nur dem Vegetativen, sondern auch
den Sinnen in der Philosophie zu mehr
Bedeutung zu verhelfen, was er in seinem
Essay „Sinnenleben“ in Auseinandersetzung
mit der Geistesgeschichte
von Aristoteles bis Merleau-Ponty,
von Nikolaus von Kues bis Helmuth
Plessner darlegt. Er will gegen ein Ichzentriertes
Weltbild antreten, weshalb
er die sinnliche Wahrnehmung als etwas
Drittes zwischen dem wahrnehmenden
Subjekt und dem wahrgenommenen
Objekt begreift. Die Aktivität
der Sinne definiert die Existenz des
Menschen ganz wesentlich, indem
er kontinuierlich – über Medien und
Bilder – eine „Verbindung zwischen
Geist und Wirklichkeit, Welt und Seelenleben“
herstellt. Täglich versieht er
seinen Körper und seine Lebenswelt
mit Formen, Farben und Gerüchen,
wählt Stoffe, Aromen und Musik, reist
in andere Länder, um neue Landschaften
zu sehen.Das Sinnlichen ist
so elementar, dass Coccia esmit einer
alten These besser zu verstehen
sucht; er situiert es nämlich im Raum
zwischen Subjekt und Objekt, so wie
das Spiegelbild dort existiert, wo sich
weder das spiegelnde Objekt befindet,
noch der Betrachter. Die Idee, dass das
Sinnliche in den Zwischenräumen existiert,
war weit verbreitet, bevor René
Descartes sie abgelehnt hat, um den
Geist von „jenen kleinen, durch die
Luft flatternden Bildern“(„espècesint
entionelles“) zu erlösen. Damit waren
Subjekt und Objekt getrennt und das
Individuum konnte sich als unabhängig
begreifen. Nimmt man aber die
„Zwischenräume“ ernst, wird das Sinnliche
als geistige Verbindung zwischen
Menschen deutlich, als Membran der
Übermittlung von Gedanken; diese
kann nur stattfinden, wenn Gedanken
für andere wahrnehmbar sind, also versinnlicht
in einem Medium, in Sprache,
Bild, Mode, Musik oder Gestik: „Jede
Form unseres Innen-, Geistes-, höheren
Lebens, der Wille des Einzelnen ebenso
wie der gemeinschaftliche Wille,
kann nur in etwas Sinnlichem Gestalt
annehmen.“Der Geist ist darauf angewiesen,
sich zu „objektivieren“, in
sinnfällige Realität zu verwandeln.
Nichts Neues unter der Sonne, außer
der Sonne selbst und der lebendig organisierten
Natur? Coccia Essays, seine
suchenden Denkbewegungen, regen
diesbezüglich zu Fragen an.
• Emanuele Coccia. Die Wurzeln der
Welt. Eine Philosophie der Pflanzen.
Hanser Verlag 2019
• ders. Sinnenleben. Übersetzt aus
dem Italienischen von Caroline Gutberlet.
Edition Akzente Hanser. München
2020 . Cornelia Frenkel
Die geistesgeschichtliche Bedeutung des
Isenheimer Altars –
und „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“
E
s gibt Gemälde, die sind
mehr als das, etwa die
Mona Lisa sowie Malereien
von Holbein und
Van Eyck. Auch der Isenheimer Altar,
geschaffen von Matthias Grünewald
im 16. Jahrhundert, gehört
in die Reihe der bemerkenswerten
Kultobjekte, zudem ist er Weltkulturerbe.
Ursprünglich diente er in
der Spitalkirche der Antoniter-Ordensgemeinschaft
in Isenheim bei
Colmar der Heilung Kranker, sollte
bei der Erlösung von der Pest und
der damals grassierenden Vergiftung
„Antoniusfeuer“ helfen, die Leidenden
unterstützen und aufbauen.
Aber der Künstler Grünewald hat
mit seinen Altargemälden, die aus
Bibel-Geschichten komponiert sind
und diese sichtbar erzählen - etwa
„Kreuzigung“ und „Auferstehung
Christi“, das „Engelskonzert“, der
„Besuch des heiligen Antonius beim
heiligen Paulus Eremita“, „Johannes
der Täufer mit dem Opferlamm“ und
die „Versuchung des heiligen Antonius“
- so ausdrucksstarke visuelle
Ereignisse geschaffen, dass sich die
Bilder seines mehrteiligen Flügelaltars
anscheinend bis in die Gegenwart
als komplexe Projektionsfläche
für unterschiedliche Gefühls- und
Leidenszustände eignen.
wAb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erfährt der Isenheimer Altar
eine stürmische Rezeption in Bildender
Kunst, Literatur, Philosophie und
Musik; Lovis Corinth, Erich Heckel,
Otto Dix, Max Beckmann, Paul Hindemith
sowie zahlreiche Autoren der
Literatur der Klassischen Moderne,
etwa Joris-Karl Huysmans, Rilke, Ricarda
Huch, Canetti, ließen sich von
diesem Meisterwerk der Renaissance
inspirieren. Ein kürzlich von den Literaturwissenschaftlern
Werner Frick
und Günter Schnitzler herausgegebenes
Buch „Der Isenheimer Altar.
Werk und Wirkung“ zeigt all dies mit
fächerübergreifenden Beiträgen im
Detail auf. Neben der Rezeption und
den intermedialen Bezügen nimmt
der Band auch die Hintergründe der
Entstehung des Altars in den Blick,
untersucht seine ikonografischen Besonderheiten
sowie die Biographie
von Matthias Grünewald (etwa 1475-
1528). Laut neuesten Forschungen
schuf er den Isenheimer Alter, der die
Grausamkeit des Todes und die Erfahrung
von Schmerzen darstellt, die
jeden Körperteil erfassen können, in
den Jahren 1512 bis 1516. Der Band
ist eine wahre Fundgrube, höchst
spannend zu lesen ist z.B. wie sich
Paul Hindemiths Oper „Mathis der
Maler“, 1938 uraufgeführt, auf Grünewalds
Meisterwerk bezieht .Zuletzt
hat Brigitte Kronauer in ihrem Buch
„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“
einen außergewöhnlichen Dialog
mit dem Isenheimer Altar geführt.
Es handelt von Personen, für die ein
unerwarteter Umbruch zur Hinterfragung
der eigenen Biographie führt;
die Schlussgeschichte ist hier unter
dem Titel „Grünewald“ einem alten
Mann gewidmet, einem Literaturprofessor,
der nach und nach Figuren
und Vorkommnisse seiner Geschichte
und in seinem aktuellen Lebensumfeld
auf die Bildtafeln von Matthias
Grünewald bezieht, sich quasi in ihnen
spiegelt. Hier entdeckt er seinen
Kummer, Schönes und Schäbiges,
„Sünden“ und „Heilige“, während er
ein gedankliches Netz von Zusammenhängen
und Verweisen webt und
Grünewalds Darstellungen detailliert
vor Augen führt, darunter die erlösende
Auferstehungsszene oder die
von Höllenwesen umgebene Heimsuchung
des Antonius. Die Figur des
alten Mannes macht dem Leser deutlich,
dass ein Nachdenken über die
eigene Existenz ohne Auseinandersetzung
mit der Kunst fast unmöglich
ist, ja sinnlos. Die Schmerzen des auf
den Tod zugehenden Ich-Erzählers
finden ihre Parallele
in denen
jener Kranken,
die einst vor diesem
Altar Linderung
suchten.
Der Dialog mit
dem Kunstwerk
hilft ihm, seinen
Zustand zu erdulden,
er ist nicht
fromm, sondern
glaubt an die
Kraft der Kunst,
die eben mehr
ist als gefälliges
Bild und Unterhaltung,
nämlich
vielmehr einer
Künstlerexistenz
abgerungen wurde
– sie will den
Rezipienten herausfordern,
nicht
einfach nur trösten. Der Isenheimer
Altar, der von ungebrochener Anziehung
ist, wird momentan restauriert.
• Werner Frick / Günter Schnitzler
(Hg.). Der Isenheimer Altar – Werk
und Wirkung. 386 S., zahlr. Abb.,
Rombach 2019
• Brigitte Kronauer. Das Schöne,
Schäbige, Schwankende. Klett-Cotta
2019
• Musée Unterlinden. F - 68000 Colmar.
www.musee-unterlinden.com.
Mo, Mi bis So 9 bis 18h, Do 10-20h,
Di geschlossen Cornelia Frenkel
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