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Die neue Macht der Moral

Wie vielfältig ist unsere Gesellschaft? Und wie halten wir es mit Ansichten, die uns nicht passen? Und wie steht es um das Verhältnis von Marken und Moral? Moral ist eine der wenigen Dinge, die jeder nur für sich selbst entwickeln kann. Zugleich ist Moral etwas, was wir vor allen Menschen, quer durch alle Kulturkreise erwarten. Galt früher der Grundsatz: Alle Menschen sind gleich, so betonen wir heute das Recht auf Anders-sein und den Schutz fragmentierter Lebensentwürfe. Das sorgt regelmäßig für Streit. Medien und Marketing tragen dabei erheblich zur Polarisierung bei: Extreme Positionen sind einfach oft spannender und damit berichtenswerter. In der aktuellen Ausgabe des UmweltDialog-Magazins beleuchten wir auf 80 Seiten zahlreiche Aspekte rund um die Frage, warum gerade heute von uns Moral und Glaubwürdigkeit eingefordert wird.

Wie vielfältig ist unsere Gesellschaft? Und wie halten wir es mit Ansichten, die uns nicht passen? Und wie steht es um das Verhältnis von Marken und Moral? Moral ist eine der wenigen Dinge, die jeder nur für sich selbst entwickeln kann. Zugleich ist Moral etwas, was wir vor allen Menschen, quer durch alle Kulturkreise erwarten. Galt früher der Grundsatz: Alle Menschen sind gleich, so betonen wir heute das Recht auf Anders-sein und den Schutz fragmentierter Lebensentwürfe. Das sorgt regelmäßig für Streit. Medien und Marketing tragen dabei erheblich zur Polarisierung bei: Extreme Positionen sind einfach oft spannender und damit berichtenswerter. In der aktuellen Ausgabe des UmweltDialog-Magazins beleuchten wir auf 80 Seiten zahlreiche Aspekte rund um die Frage, warum gerade heute von uns Moral und Glaubwürdigkeit eingefordert wird.

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<strong>Moral</strong><br />

Stellen wir am Ende die falschen<br />

Fragen?<br />

<strong>Die</strong> Soziologin Zeynep Tufekci hat das<br />

Phänomen sehr treffend mit Fanverhalten<br />

im Fußballstadion verglichen: <strong>Die</strong><br />

Fanblöcke <strong>der</strong> Heim- und Gastmannschaften<br />

versammeln sich in „gegnerischen<br />

Ecken.“ Ihre Gesänge, Kommentare,<br />

Buhrufe etc. werden nicht als<br />

Information wahrgenommen, son<strong>der</strong>n<br />

als Provokation, auf die man entsprechend<br />

reagiert. Wird die eine Seite laut,<br />

wird die an<strong>der</strong>e Seite lauter. <strong>Die</strong> Spirale<br />

kennt nur eine Richtung. Thomas<br />

Schmid findet: „Das Ergebnis ist deshalb<br />

auch keine Debatte, son<strong>der</strong>n eine<br />

Art Stammeskrieg: Ständig will belegt<br />

sein, zu welcher Gruppe man gehört,<br />

und dass die an<strong>der</strong>e Gruppe nicht nur<br />

im Unrecht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Feind ist.“<br />

Aber was heißt überhaupt Identität?<br />

Fragen wir den renommierten Kultursoziologen<br />

Andreas Reckwitz: „Was<br />

Identität zunächst bezeichnet, ist das<br />

Selbstverstehen von Individuen. Das<br />

scheint mir erstmal so ein allgemeines<br />

Phänomen zu sein in <strong>der</strong> spätmo<strong>der</strong>nen<br />

Gesellschaft. Es gibt zwar Klassen,<br />

aber mit dem Klassenbewusstsein, das<br />

heißt, mit dieser kollektiven Identität<br />

als Teil einer Klasse, das ist nicht so<br />

weit verbreitet. Stattdessen spielen<br />

dann teilweise an<strong>der</strong>e Identitätsmarker<br />

eine Rolle.“<br />

Und an <strong>der</strong> Stelle kommen dann auch<br />

wie<strong>der</strong> Unternehmen ins Spiel: Purpose<br />

und progressive Werte sind heute<br />

ein mächtiges Branding- und Rekrutierungsinstrument.<br />

Allein in den USA<br />

beläuft sich das jährliche Volumen für<br />

Diversity-Trainings auf rund acht Milliarden<br />

US-Dollar pro Jahr, wie Iris Bohnet,<br />

Harvard-Professorin für öffentliche<br />

Politik, nachgerechnet hat. Ihr Fazit<br />

fällt allerdings ernüchternd aus: „Ich<br />

habe lei<strong>der</strong> keine einzige Studie gefunden,<br />

in <strong>der</strong> festgestellt wurde, dass<br />

Diversity-Training tatsächlich zu mehr<br />

Vielfalt führt.“ Diversity-Trainings stellen<br />

nach Ansicht von Bohnert nicht die<br />

<strong>Macht</strong>frage im Unternehmen, etwa bei<br />

<strong>der</strong> Teilhabe von Frauen im Vorstand,<br />

son<strong>der</strong>n beschäftigen die Mitarbeiter<br />

damit, die entsprechenden Seminare<br />

durchzustehen.<br />

In die gleiche kritische Richtung argumentiert<br />

auch Willis Krumholz in<br />

seinem frechen Essay „How To Keep<br />

Corporate Wokeness From Destroying<br />

America“. Einige <strong>der</strong> großen Konzerne<br />

heizen demnach den <strong>neue</strong>n Hype<br />

um „Wokeness“ gezielt an. Nike und<br />

die NBA seien Paradebeispiele: <strong>Die</strong> gesamte<br />

Kampagne um den Football-Spieler<br />

Colin Kaepernick, <strong>der</strong> mit seinem<br />

Kniefall bei <strong>der</strong> Hymne zu einem <strong>der</strong><br />

Vorreiter <strong>der</strong> Black Lives Matter-Bewegung<br />

wurde, brachte Nike viel Anerkennung<br />

ein. Das Unternehmen trete<br />

mutig für Menschen- und Bürgerrechte<br />

ein, so <strong>der</strong> breite Tenor in den sozialen<br />

Netzwerken. Zugleich wurde aber jede<br />

Diskussion über Menschenrechtsverletzungen<br />

in den Lieferketten, insbeson<strong>der</strong>e<br />

in China, ausgeblendet. Nike<br />

hat erfolgreich mit Hilfe von <strong>Moral</strong> ein<br />

Thema besetzt, um ein an<strong>der</strong>es zu unterdrücken.<br />

Das sei kein Einzelfall, findet Willis<br />

Krumholz: In den letzten 20 Jahren<br />

sind die Unternehmensgewinne auf<br />

Rekordhöhen geschnellt. Da die Rendite<br />

an die Kapitaleigner in Prozent des<br />

Volkseinkommens (BIP) im Vergleich<br />

zur Geschichte nach wie vor extrem<br />

hoch ist, hat sich <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Arbeit<br />

am Volkseinkommen auf Rekordtiefststände<br />

bewegt. Krumholz: „<strong>Die</strong> Beibehaltung<br />

des Gesprächs über Rasse, weiße<br />

Privilegien, Geschlecht und sexuelle<br />

Min<strong>der</strong>heiten, die allesamt amorph und<br />

schwer lösbar sind, rückt das Gespräch<br />

weg von Klassen- und Wirtschaftsprivilegien.“<br />

Zurück zum Anfang: Irgendwer ist halt<br />

immer aufgeregt. Vielleicht ist diese<br />

Grundanspannung das Merkmal unserer<br />

Zeit. Da hilft eigentlich nur Gelassenheit<br />

und Toleranz. O<strong>der</strong> wie es Kurt<br />

Tucholsky schon in den mindestens<br />

genauso erregten 1920er Jahren richtig<br />

erkannte: „Das Ärgerliche am Ärger ist,<br />

dass man sich schadet, ohne an<strong>der</strong>en<br />

zu nützen.“ f<br />

Wird die eine<br />

Seite laut,<br />

wird die<br />

an<strong>der</strong>e Seite<br />

lauter. <strong>Die</strong><br />

Spirale kennt<br />

nur eine<br />

Richtung.<br />

Ausgabe 14 | November 2020 | Umweltdialog.de<br />

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