Grenzenlos Winter 2020
18 / FLORA UND FAUNAWann die Natur Kraft sammeltWährend der kalten Jahreszeit regenerieren sich Fauna und Flora,oft im Verborgenen, oft aber auch in geschützten Räumen.Nach den Pflanzen kann man denKalender stellen.“ Erhard Maroschekaus Lermoos beobachtetaufmerksam die Flora seiner Heimat,so aufmerksam, dass er keine Zweifelhat, dass es der 2. Juni sein muss, wenn dererste Frauenschuh wieder aus dem Bodenlugt. „Manchmal geht es natürlich auch einpaar Tage hin oder her, zum Beispiel, wennein milder Winter den Frühling beschleunigthat. Oder wenn der Vollmond, nach dem sichdiese Pflanze richtet, noch auf sich wartenlässt“, berichtet er. „Aber im Laufe der Zeitbekommt man dafür ein ziemlich gutes Gespür.“Auch für den Umstand, dass es hier inden Nördlichen Kalkalpen eine ganz anderePflanzenwelt gibt als im Zentralmassiv, desbasischen Bodens wegen. Von den Alpenrosenzum Beispiel lässt sich hier nur die„behaarte“ Variante sehen, Rhododendronhirsutum genannt, und vom Enzian bevorzugtdie Clusius- oder Kalk-Glocken-Variante.Während sich der Laie noch über solche feinenUnterschiede wundert, erkennt sie derExperte auf den ersten Blick, zum Beispielam kürzeren Stängel.Im Laufe der Zeit – das sind bei Maroschekinzwischen so viele Jahre, dass ihm selbstkleinste Abweichungen auffallen. Beim Wegzur Arbeit im Gemeindeamt, bei Wanderungendurchs Moos zwischen Ehrwald, Lermoosund Biberwier, bei Ausflügen hinauf überdie Baumgrenze. Gäste der Tiroler ZugspitzArena kennen ihn von den Kräuterwanderungen,bei denen er sein Wissen mit ihnenteilt und sie auf die mitunter unscheinbarenNaturschätze seiner Heimat aufmerksammacht. Seine Spezialität sind Orchideen, vondenen er inzwischen 43 Arten in der Regionausfindig gemacht hat und die zuverlässigeDatenlieferanten für seinen Blumenkalendersind: „Um den 1. Mai herum fängt esmit dem Kleinen Knabenkraut an und dannkommt jede Woche eine neue Art hervor“, soseine Beobachtung.Im Winter, wenn sich die Pflanzen unterdie Bodenkrume zurückziehen und oft auchnoch mit Schnee bedeckt sind, führen sie
19– ähnlich wie zahlreiche Tiere – eine Art Winterschlafoder Winterruhe. Da ist nichts zuahnen von den spektakulären Ausbrüchendes Blauen Eisenhuts im Sommer oder denTeppichen von Sibirischer Schwertlilie, die ingroßen Gruppen bevorzugt Sumpflandschaftenbesiedeln. „Nicht sichtbar bedeutet abernicht unberührbar“, sagt Maroschek. Zumalsie inzwischen gerne ihre Ausweichquartieredort suchen, wo ihnen die Skipistenviel Raum bieten. „Die klassischen Bergmähder,also Wiesen am Steilhang, wachsenimmer mehr zu, weil sich ihre Bewirtschaftungkaum noch lohnt“, berichtet der Pflanzenkundige.„Also siedeln die Pflanzen um.Gerade die sonnenreichen Südhänge, dieSkifahrer besonders schätzen, sind ihnen dahochwillkommen.“Winterruhe: das kostbarste GutEine Bitte, die auch Wolfgang Striegel,Revierförster der Bayerischen Staatsforstenin Garmisch-Partenkirchen, im Sinne derihm anvertrauten Tiere gleich an den Beginndes Gesprächs stellt. „Die Winterruhe ist daskostbarste Gut, um das Überleben der ganzenTiervielfalt in unserer Heimat zu sichern“,betont er. Denn jede Störung, sei sie auchnoch so gering, schrecke das Wild hoch undbringe dessen Stoffwechsel auf Hochtouren– obwohl derselbe gerade auf „Sparflamme“eingestellt sei, nicht auf „Stand-by“. Dakönne jeder Schreck, jede Fluchtbewegunglebensbedrohlich werden, sagt Striegel. „Vorallem die gefiederten Angehörigen der Raufußhühnersind da besonders empfindlich,weshalb wir auch eigeneSperrzonen eingerichtethaben, um sie vor Störungenzu schützen.“ Derverwehrte Zugang, der manche Routengehervon der Ideallinie abbringt, sei kein Vorschlagzur Güte, betont der Förster, „sondernaktiver Lebensschutz für die Vögel.“Auch die Zäune, die im Winter die Arealeschützen, in denen sich Rotwild aufhält,sind wohlbedachte Schutzeinrichtungen.„Wir hören oft Fragen wie: Warum sperrt ihrdie Tiere im Winter eigentlich ein?“, erzähltStriegel. „Aber eigentlich sperren wir dieMenschen aus, damit die Tiere an ihren Futterstellenund Rückzugsorten ungestört bleiben.“Schließlich hätten sie sich im Laufe derEvolution darauf eingestellt, mit wenig Nahrungdurch die kalte Jahreszeit zu kommen.Entsteht aber Stress, wächst der Nahrungsbedarf„und es kommt zum Wildverbiss anden Rinden und Knospen von Bäumen undSträuchern. Dann vervielfacht sich der Schadenund die ganze Natur leidet.“Tierische Ruhe hoch obenManch tierischer Rückzugsort in den Bergenist sowieso unzugänglich. Sobald sichdie Pflanzen in den Boden zurückziehen,genießen zum Beispiel Gämse und Murmeltieredie Abgeschiedenheit der Felsweltoberhalb der Baumgrenze. „Die lassen esdann ruhig angehen“, sagt Friedrich Hofherr,der sie während seiner Arbeit im Sommerregelmäßig beobachtet. Er ist Hirte auf derEhrwalder Alm. Während der Skibetrieb dortden Winter über läuft, „geben die Zweibeinerden Ton an und ziehen sich die Vierbeinerund die Vögel zurück.“ Seine Hütte, in der erlebt und arbeitet, hat er nach dem letztenAlmabtrieb Ende September abgeschlossenund wird erst im Frühjahr dorthin zurückkehren.Mehr als 400 Tiere sind ihm dannanvertraut, die ihre Freiheit und die frischeNahrung auf den Sonnenhängen nach derWinterzeit im Stall sehr genießen. „Die Distelnoder die wilde Minze mögen sie nicht,die habe ich dann aber schon entfernt“, sagtHofherr.Dass Menschen und Tiere andere Pflanzenschätzen oder gar genießen, sei nicht nurGeschmackssache, merkt Lisa Strakeljahnan. Die Grainauerin begleitet seit einigenJahren Gäste und Einheimische bei Kräuterwanderungen.„Ich war der Natur schonimmer sehr verbunden, wir haben am Waldgewohnt“, erzählt sie. „Da kommt man nichtumhin, dass man beim Hinsehen nicht nur
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18 / FLORA UND FAUNA
Wann die Natur Kraft sammelt
Während der kalten Jahreszeit regenerieren sich Fauna und Flora,
oft im Verborgenen, oft aber auch in geschützten Räumen.
Nach den Pflanzen kann man den
Kalender stellen.“ Erhard Maroschek
aus Lermoos beobachtet
aufmerksam die Flora seiner Heimat,
so aufmerksam, dass er keine Zweifel
hat, dass es der 2. Juni sein muss, wenn der
erste Frauenschuh wieder aus dem Boden
lugt. „Manchmal geht es natürlich auch ein
paar Tage hin oder her, zum Beispiel, wenn
ein milder Winter den Frühling beschleunigt
hat. Oder wenn der Vollmond, nach dem sich
diese Pflanze richtet, noch auf sich warten
lässt“, berichtet er. „Aber im Laufe der Zeit
bekommt man dafür ein ziemlich gutes Gespür.“
Auch für den Umstand, dass es hier in
den Nördlichen Kalkalpen eine ganz andere
Pflanzenwelt gibt als im Zentralmassiv, des
basischen Bodens wegen. Von den Alpenrosen
zum Beispiel lässt sich hier nur die
„behaarte“ Variante sehen, Rhododendron
hirsutum genannt, und vom Enzian bevorzugt
die Clusius- oder Kalk-Glocken-Variante.
Während sich der Laie noch über solche feinen
Unterschiede wundert, erkennt sie der
Experte auf den ersten Blick, zum Beispiel
am kürzeren Stängel.
Im Laufe der Zeit – das sind bei Maroschek
inzwischen so viele Jahre, dass ihm selbst
kleinste Abweichungen auffallen. Beim Weg
zur Arbeit im Gemeindeamt, bei Wanderungen
durchs Moos zwischen Ehrwald, Lermoos
und Biberwier, bei Ausflügen hinauf über
die Baumgrenze. Gäste der Tiroler Zugspitz
Arena kennen ihn von den Kräuterwanderungen,
bei denen er sein Wissen mit ihnen
teilt und sie auf die mitunter unscheinbaren
Naturschätze seiner Heimat aufmerksam
macht. Seine Spezialität sind Orchideen, von
denen er inzwischen 43 Arten in der Region
ausfindig gemacht hat und die zuverlässige
Datenlieferanten für seinen Blumenkalender
sind: „Um den 1. Mai herum fängt es
mit dem Kleinen Knabenkraut an und dann
kommt jede Woche eine neue Art hervor“, so
seine Beobachtung.
Im Winter, wenn sich die Pflanzen unter
die Bodenkrume zurückziehen und oft auch
noch mit Schnee bedeckt sind, führen sie