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8 KULTUR JOKER Theater
Eines der schönsten Lustspiele
deutscher Sprache verdankt
sich einem Wettbewerb,
dessen Einsendefrist der Autor
verpasste. Die Uraufführung
von „Leonce und Lena“ erlebte
Georg Büchner nicht. Sie fand
erst 1895 stand, Büchner war
bereits 1837 an Typhus gestorben.
Hätte er die Geschichte
der Nebenumstände dieses
Dramas geschrieben, wären sie
anders ausgefallen. Dann hätte
er vermutlich gewonnen, doch
das Preisgeld wäre gestohlen
worden oder er hätte sich mit
dem Geld verspekuliert. „Leonce
und Lena“ ist ein Stück
voller Finten. Die Schlimmste
und Beste ist, dass ein Paar, das
von seinen Eltern füreinander
bestimmt ist, vor der Hochzeit
flieht, sich zufällig trifft und
sich unsterblich ineinander
verliebt. Und mit der Hochzeit,
mit der es das Establishment
zu übertölpeln glaubt, seine
eigentliche Bestimmung erfüllt.
Kann man sich zugestehen,
unter diesen Bedingungen
glücklich zu werden? Die Finten
finden sich aber auch in den
raffiniert-witzigen Sentenzen,
die voller Paradoxien sind. Das
Schöne ist auch, Büchners Humor
braucht einen Widerpart,
er schraubt sich erst im Dialog
in seine eigentliche Höhe.
Selbstoptimierung bis zum
Gefühls-Zombie, Ausbeutung
und Zerstörung von Natur und
Mitmenschen– und das alles
unter dem kapitalistischen
Credo von Leistung und Erfolg:
Neben anderen literaturwissenschaftlichen
Interpretationen
ist Wilhelm Hauffs
1827 erstmals veröffentlichtes
Kunstmärchen „Das Kalte
Avatare im Liebesglück
„Leonce und Lena“ von Georg Büchner am Theater im Marienbad
Christoph Müller, Nadine Werner und Thönes Benedikt
Es ist so naheliegend wie ambitioniert,
Büchners Stück auf
den Spielplan eines Kinderund
Jugendtheaters zu setzen.
Denn Leonce und Lena sind
jung wie der Frühling, tragen
aber den Winter im Herzen.
Und weil die „heutige Jugend“
nicht nur einen Ennui an der
Welt spürt, die ihr überlassen
wird, sondern auch konkrete
Forderungen stellt, hat Regisseur
Sascha Flocken ihr den
revolutionären Büchner zur
Seite gestellt, der den Palästen
den Krieg erklärt. Der Witz in
„Leonce und Lena“ ist ja nicht
Bilder, Klischees, Fantasien
„Das kalte Herz“ nach Wilhelm Hauff im Theater Freiburg
Herz“ vor allem eine Geschichte
über Strukturwandel
und Industrialisierung samt
ihren Chancen und Gefahren.
Das könnte absehbar wie ein
Berthold Brecht und ziemlich
moralisch werden, aber Hauff
macht daraus eine Fantasy-
Odyssee mit schillerndem Anti-Helden,
Zauberei und einer
dringlichen Frage: Wozu nützt
allein ein selbstbezüglicher,
er macht sich über die deutsche
Kleinstaaterei lustig, den
Reformstau und dass man all
das schön reden konnte. Lena
Drieschner fläzt sich auf der
Bühne des Theater im Marienbad,
die durch eine torähnliche
Konstruktion bestimmt
ist. Alles ist mit metallisch
schimmernder Folie ausgekleidet
(Ausstattung: Jens Dreske).
Der perfekte Hintergrund für
Selfies. Auf den beiden Projektionsflächen
sind Selbstporträts
mit leidlich witzigen
Filtern zu sehen, dann lässt sie
eigentlich so ein dummes Herz
mit all seinen Gefühlen, Ängsten
und Sorgen? Wäre das
Leben ohne nicht viel leichter?
Toller Stoff also auch für junge
Leute, deren heißes Herz oft
so wenig in unsere Welt passen
will. Jetzt feierte die Uraufführung
des gleichnamigen
Musiktheaterstückes unter der
Regie von Michael Schachermaier
(Bühnenfassung für das
Theater Hof von Reinhardt
Frieseoch) im Großen Haus des
Theater Freiburg rauschende
Premiere – soweit ein paar verstreute
Zuschauer*innen mit
Mundschutz ihre Begeisterung
rauschen lassen können. Aber
Corona ist da schnell vergessen:
Eindrücklich und berührend
- diese Inszenierung ist
ein bildermächtiges Geschenk
in kargen Zeiten, das man sich
nicht entgehen lassen sollte!
Zumal Exil46 (Friederike
Hess-Gagnon, Tilmann Collmer,
Dina Fortuna Bollon und
Timo Stegmüller) richtig coole
Musik dazu macht.
Denn nach etwas Anlauf
stimmt hier alles, wird man
eingesaugt in diese rustikalmagische
Schwarzwald-Welt:
Die mal rauhen, mal bittersüßen
Songs von Martin Jaques,
dem Frontmann der britischen
Foto: MINZ&KUNST
Kultband Tiger Lillies, passen
in ihrem düsteren Jahrmarktstil
kongenial zum fantastischen
Bühnenbild von
Volker Hintermeier, der für
die Drehbühne nicht nur das
Gasthaus „ALTES ERZ“ wie
eine pralle Europa-Park-Kulisse
entworfen hat, sondern
auch einen Tentakel-Krallen-
Wald aus riesigen, verkohlten
Tannen-Ästen, die zum
eisernen Gefängnis mutieren.
Mit Gazevorhängen und einer
extremen Licht-und Schattenführung
(Mario Bubic) wird
daraus ein bewegtes Tableau
aus Traumszenen in Schwarz,
Rot, Weiß. Grün findet sich
da nur in den eher klassischen
Kostümen von Su Bühler, die
dem Glasmännchen eine Koboldmütze
aufsetzt und den
Holländer-Michel in Frackmantel
und Zylinder steckt.
Bilder, Klischees, Fantasien –
die Figuren werden zu Allegorien,
der Wald zum mächtigen,
aber schon verletzten System.
Mittendrin sitzt der arme
Köhlersohn Peter Munk (wandelbar:
Thieß Brammer) allein
an seinem Meiler: Rußgeschwärzt
und verachtet. Denn
während die Glasbläser und
Holzfäller gute Geschäfte machen,
stirbt seine Zunft gerade
einen Gummiball aufprallen,
macht Liegestützen und sinkt
erschöpft zusammen. Mit Lena
Drieschner und Julia Schulze
mussten gleich zwei Umbesetzungen
vorgenommen werden.
Drieschner ist kein bloßer Ersatz
für Nadine Werner, es ist
ein Gewinn, sie als Leonce den
umfangreichsten Part sprechen
zu hören. Ihr melancholisches
Aufbegehren passt perfekt in
Flockens Inszenierung. Benedikt
Thönes übernimmt in
schillernd bunten Hosen Lena,
es ist ein Rollentausch, der
ganz selbstverständlich daherkommt.
Christoph Müller gibt
den lernfähigen Hofmeister,
der seine Gunst der Stunde erkennt,
während Julia Schulze
als Gouvernante seine politisch
gesinnte Gegenspielerin ist.
Und Daniela Mohr spielt den
König, der nun ein virtuelles
Volk zu leiten hat.
Flocken findet eine sehr zeitgenössische
Ästhetik. Rosetta
wird virtuell zugeschaltet, hat
dann aber schnell die Faxen
ihres halbherzigen Liebhabers
dicke und verlässt den Chat.
Die Liebenden jedoch könnten
sich an ihren Sneakern erkennen,
tun dies jedoch immer
noch an der Sprache und den
Gefühlen. Als sie verheiratet
werden sollen, ploppen anstatt
der veralteten Spieldosenfiguren
Avatare auf, die was Gesundheit,
Gehorsam und Moral
angeht, mit vier Sternchen bewertet
werden. Die Liebe geht
dann gegen unendlich. Was
Sascha Flockens Inszenierung
so besonders macht, ist, dass er
Büchners Sprache für zumutbar
hält. Man kann hier nur
hoffen, dass die Inszenierung
auch ihr junges Publikum erreicht.
Denn sie ist sehenswert
und nimmt Publikum und Text
gleichermaßen ernst.
Annette Hoffmann
aus. Dabei will er doch nur tanzen
mit Lisbeth (tolle Stimme,
tolles Spiel: Gioia Osthoff),
aber dazu hat er weder Geld
noch eine saubere Hose. Gegen
Traum-Bräutigam Jakob
(Musical-Star: Tim Al-Windawe)
kann er einpacken. „The
Grass is always greener on
the other Side“, singt der Chor
ironisch dazu (musikalische
Leitung: Johannes Knapp, Nikolaus
Renke). Das wird wie
alle Songs übertitelt und wäre
auf Deutsch wirkungsvoller,
zumal das Englisch manchmal
grottig klingt. Jedenfalls
geht Peter auf Anraten seiner
Mutter (Anja Schweitzer) zum
Glasmännlein (Inga Schäfer,
Gänsehaut-Mezzosopran) und
wünscht sich törichtes Zeug,
weswegen er auch scheitert
und geradewegs dem Holländer-Michel
(auch Wirt und
Priester: Henry Meyer) in die
Krallen stolpert. Und schwups
wird aus dem dreckigen
Habenichts ein Gewinner –
mit einem Herz aus Stein und
einem Leben ohne Liebe..
Gibt´s ein Happy End?
Weitere Termine 7.11., 19.30
Uhr; 8.11., 15 Uhr. Ab 12 Jahren.
Weitere Infos: www.theater.freiburg.de
Marion Klötzer